Google Über dieses Buch Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde. Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch, das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist. Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin¬ nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat. Nutzungsrichtlinien Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen. 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Google Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser We lt zu entdecken, und unterstützt Au toren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen. Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter http : //books . google . com durchsuchen. Digitized by ^ooQie Grc:,:;,. c ^aiarzt iür KcrVw\"i!c "Gingen. idcn Digitized by LjOOQie Digitized by LjOOQie Aerztliche uapia;uc , Aj3kj jnj izjrjw^ 2 7.Z 'S?.) 3 • zr;?vQj r) ^JJV^og r.:i3£ Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes. Herausgegeben von Dr. L. Becker Dr. A. Leppmann Br. F. Leppmann Geb. Santt&tsrath, Königl. Physikus, Vertrauensarzt Saaitätsrath, Königlicher Physikus, Amt der Beobachtungsanstalt für geistes- prakt. Arzt, von Berufsgenossenschaften und Schiedsgerichten. kranke Gefangene in Moabit-Berlin, Speaialarat für Nerven- u. Geisteskranke. Jahrgang 1900. Berlin 1900. Verlag von Richard Schoetz. Lnisenstrasso 36. Digitized by AjOOQLe JAN 6 1922 Digitized by Google Sachregister. (Die fettgedruckten Zahlen bezeichnen Original-Artikel.) Abasie. 310. Abkühlung der Leiche bei gewaltsamem Tod. 398. Abortivmittel. 394. Abreissung eines Stücks des Fersenbeins. 76. Abscesse im Douglas’? eben Raum bei Blind¬ darmentzündung. 182. Abschätzung des Unfallschadens. 485. Absplitterung des Warzenfortsatzes. 416. Abstinente Aerzte. 482. Abwasserreinigung. 78. Acetylen. 417. Actinomykose der Haut. 388. Aerztekammern. 128. Aerztliche Ehrengerichte. 191. Aerztliche Sachverständige in Amerika. 399. Aerztliches Studium der Frauen. 336. 510. Aethemarkose. 92. Aethermissbrauch in Ostpreussen. 315. Aethylchloridnarkose. 197. Aetiologie der Geschwülste. 105. 116. S. auch Carcinom. Aetiologie der progressiven Paralyse. 200. 488. Aetiologische Bedeutung des Traumas. 446. Alimentäre Glykosurie. 93. Alkoholismus. 66. 172. 211. 222 .305. 480. Alkoholismus-Behandlung. 58. 167. 275. 367. 397. 512. Amnesie. 161. 243. Amputationsneurome. 228. Amputationsnachbehandlung. 14. 413. Aneurysma der Arteria glutaea und ischiadica. 14. Aneurysma der Arteria occipitalis. 202. Aneurysma der Carotis interna. 324. Angulus Ludovici. 423. Anilinvergiftung. 19. 467. Anilismus. 221. Ankylostomiasis. 402. Anleitung zum Invaliditätsgesetz. 128. Anleitung zur Verhütung von Geschlechts¬ krankheiten. 319. Anstaltsbehandlung der Alkoholisten. 397. Ansteckungsgefahr im Eisenbahnwagen. 16. 296. Antiseptik in der Geburtshilfe. 351. Antitoxinbehandlung. 118. Anzeigepflicht für Schälblasen. 172. Anzeigepflicht für Tuberkulose. 44. Anzeigepflicht für Wochenbettfleber. 463. Aortenaneurysma. 266. Aortenzerreissung. 277. 317» Apathie nach Thyreoidingebrauch 434. Aphasie. 53. Arbeiterinnenschutz. 512. Apraxie. 397. Arbeiterversicherung des Deutschen Reichs. 44. 230. Argyrosis der Bindehaut bei Protargolgebrauch, 289. Arthromotor. 241. Arsenikgehalt d. Gehirns u. d. Schilddrüse. 167. Arseniknachweis. 116. Arsenikvergiftung. 77. 481. Arsenwasserstoffvergiftung. 444. Arzneibuch. 404. 491. Arzneiverkehr. 418. Arzt als Inhaber e. Privatkrankenanstalt. 501. Asepsis. 476. Asepsis bei Impfpocken. 121. Asyle für unheilbare Trinker. 66. Atlas der Bakteriologie. 63. Atlas der Hautkrankheiten. 169. Atlas der speziellen pathol Histologie. 273. Atlas der Unfallheilkunde. 127. Atlas der Verbandlehre. 149. Atrophie des rechten Arms nach Verletzung des linken. 36. Atrophie der Zunge. 102. Atropinvergiftung. 73. 306. Aufenthaltsräume für Eisenbahnbeamte. 24. Aufgaben des Schularztes. 1. Aufschrecken am Tage. 186. Augenoiterung der Neugeborenen. 25« Augenkrankheiten. 97. 142. 143. 195. 202. 245. 295. 457. Augenmuskellähmung bei Migräne. 309. 326. Augenverletzung. 16. 37. 38. 97. 143. 150. 245. 271. 272. 434. 435. 458. Augen Verletzung und Hirnhautentzündung. 257. Ausbildung von Desinfektoren. 419. Ausladungen umschriebener Gebärmutterab- schnitte. 82. Aussatzhäuser. 166. Ausschabung der Gebärmutter. 337« 863. Austern. 121. 167. Automatisme ambulatoire. 74. Azoospermie. 389. Badewesen im Mittelalter. 265 Badewesen der Neuzeit. 395. Bakterien in der Butter. 80. Bakterien in Milchprodukten 80. Bakterien, Lebensbedingungen. 483. Bakteriologie. 63. 511. Ballongasvergiftung 181. Bauchfellentzündungen und Verwachsungen nach Quetschung des Bauches. 40. 505. Bauchbruch. 430. 440. Bauchfell-Fettgewebsnekrose. 182. Bauchfell-Tuberkulose. 437. Bauchhöhle, Fremdkörper in der. 308. Bauchmuskelzerrei8sung. 285. 292. Bauchschuss. 285. Bauchverletzungen. 429. Bayerisch esLandes-Versicherungsamt. Entscheidungen. Tod an Tuberkulose Un¬ fallfolge. 400. — Progressive Paralyse als Unfallfolge. 488. Beckenverietzungen bei künstlichen Geburten. 223. Begutachtung der Erwerbsfähigkeit nach Un¬ fallverletzungen. 42. 311. 312. Begutachtung der Folgen von Ischias. 161. Behandlung der akuten synovialen Gelenk¬ eiterungen. 475. Behandlung der chirurgischen Tuberkulose mit Zimmtsäure. 438. # Behandlung der habituellen Schulterverrenkung. 478. Behandlung inflzirter, perforirender Bulbus¬ wunden. 434. Behandlung der inoperablen Geschwülste. 208. 368. Behandlung der Knochenbrüche. 375. 376. 413. Behandlung der Nervenkranken. 506. Behandlung der Phlegmonen. 436. Behandlung der Rückenmarksverletzungen. 35. Behandlung der Spondylitis. 490. Beinverletzungen, Plattfussbeschwerden nach. 54. Bekämpfung der Tuberkulose (Saramelreferat). 137. Berechtigung zum ärztlichen Studium. 275. 404. 191. Beratung des Herzens. 124. Berufsgenossenschaften. 473. Berufskrankheiten. 402. 244. Beschäftigungstherapie. 244. 506. Beschnei düng. 199. Bestimmungen über die öffentl. Impfungen. 187. Bestrafung wegen falschen ärzt ichen Zeug¬ nisses. 252. Bestrafung wegen Betrugsvereuches. 64. Bestrafung wegen Rentenerschleichung. 424. Bestrafung eines Simulanten. 232. Besudelungstrieb. 456. Betriebsunfall und Gefässerkrankung. 153. Binokulares Sehen bei einseitiger Aphakie und einseitiger Sehschwäche. 15. Biologisches Ab Wasserreinigungsverfahren. 78. Bissverletzungen durch tolle Thiere. 388. Blase s. Harnblase. Blattern und Schutzpockenirapfung. 510. Bleifarben- und Bleizuckerfabriken. 493. Bleihaltige Gegenstände. 263. 329. Bleivergiftung. 168. 245. 263. 268. 288. Bleivergiftung, akute. 119. Bleivergiftung und Unfall. 465 . Blinddarmentzündung. 182. 218. 173. Blitzschlag. 197. 377. ßlutbrechen. 324. Blutreaction bei Zuckerkrankheiten. 414. Blutergelenke. 477. Blutschwitzen 262. Blutungen bei Influenza. 432. Blutungen ins Auge. 435. Blutuntersuchung. 300. 418. Blutvergiftung. 486. Blutvertheilung in verkohlten Leichen. 219. Bogengänge. 458. Borax als Konservirungsmittel. 436. Borsäure und Borax. 56. Bradycardie 201. Brandstiftung unter Alkohol-Einfluss. 305. Brommethylvergiftung. 55. Bromoformvergiftung. 142. 434. Brown-Söquard’sche Lähmung. 331. Bruchanlage und Erkrankung mit Bezug auf Dienstfähigkeit, Versorgungen und Ver¬ sicherungsanspruch. 17. Bruchanlage und Unfall. 146. Brunnenwasser. b9. 225. Bubo und Trauma. 286. Butter, Bakteriengehalt. 80. Carbolgangraen. 141. 323. Carboisäurevergiftung. 222. 372. CarbolVergiftung von der Haut aus. 305. Carcinom Aetiologie und Vorkommen. . 105. Carcinom, Ansteckungsfähigkeit. 115. 116. Carcinom, Behandlung. 208. 368. Carcinom der Kopfhaut. 368. Carcinom, Statistik. 104. 115. 116. 198. 321. 403. 449. Carcinom nach Trauma. 116. 368. Carcinom, Ursachen. 105. 115. 116. Carcinose der Nerven u. Hirnhäute. 330. Cavernitis und Lymphangoitis penis. 199. Chloraone. 141. 245. Chlorgehalt verunreinigten Brunnenwassers. 225. Chloroformvergiftung. 222. Chlorzinkätzung inoperabler Tumoren. 368. Cholera nostras. 39. Cholesteatoma verum. 506. Chondromatose des Kniegelenks. 226. Chorea. 391. 507. Chronische Bleivergiftung und Unfall. 405. Chylotborax. 198. Cocainisirung des Rückenmarks. 367.374.450. Cocainvergiftung, akut. 201. Coitusverletzungon. 12. 05. 223. Colchicum Vergiftung? 201. Conservirung von Fleisch. 119. Conservirung von Fleisch und Fisch. 164. Contagiosität des Erysipels. 321. Contusionspneumonie. 60. Conus terminalis. 183. Coxa vara traumatica. 477. Crödö sches Verfahren bei Neugeborenen. 25. Croup und Diphterie in Württemberg. 413. Dämmerzustand. 408. 414. 415. Dämmerzustand mit Amnesie nach leichter Hirn¬ erschütterung. 243. Darmbakterien u. ihre Gifte im Gehirn. 241. Darmblutung. 95. Darmkrankheiten. 177. 309. 354. 369. 466. Darmverengerungen. 453. Darmverletzungen. 267. 285. 430. 504. Darmverschliessung. 453. Darmverschlingung angeboren. 479. Darmverschlingung nach Gastro-Enterostomie. 227. Darstellung der Spuren von Messerscharten. 411. Definition des Begriffes Unfall. 461. Defloration. 320. Defloration, anatomischer Nachweis. 306. Degenerationscyste. 36. Digitized by Google IV Deliranten. 403. Dementia paralytica, Differentialdiagnose. 13. Desinfection. 183. 203. 353. 396. 419. Deutsche Gesellschaft f. Volksbäder. 64. 424. Diabetes, siehe Zuckerkrankheit. Diätetische Küche f. Magen- n. Darmkranke. 442. Diagnose der Lungenspitzenkatarrhe. 94. Diagnose der Schwangerschaft. 82. Diagnose der traumatischen Neurosa 93. Diagnose des Hungertodes. 411. Diagnostischer Werth der all ment Glycosurie b. traumat. Neurosen. 93. Diebstahl im epileptischen Dämmerzustand. 408. 414. Diphterie. 413. Diphteriebakterien i. d. Milch. 460. Dispositionsfähigkeit bei Aphasie. 53. Distorsion des unteren Kussgelenks. 179. Doppelmord d. Phosphor. 78. Doppelseitige Serratuslähmung. 498. Druckstauung. 259. 439. 504. Durchtrennung dor Sehnerven. 97. Echinokokkus. 37. Ehescheidungsgründe nach dem neuen Recht. 5. 204. Einfluss der jetzt üblichen Reglementirung der Prostitution auf die Häufigkeit der Ge¬ schlechtskrankheiten. 203. Einfluss erlassener Polizei Verordnungen auf die Genehmigung der Anträge zur Er¬ richtung von Privatkranken- etc.-Anstalten. 86 . Einfluss flüssiger Luft und flüssigen W T asser- stoffs auf Bakterien. 483. Einwanderung einer Kompresse aus der Bauch¬ höhle in den Darm. 97. Eisenbahnbeamte. 24. 291. 355. Eisenbahnhygiene. 16. 24. 296. Eisenbahnunfälle. 507. Eiterung durch chemische Mittel. 475. Eiterungen der grossen Gelenke. 476. Elektromagnet. 288. 455. Ellbogengelenk. 804. 484. Encephalopatbia saturnina. 245. Entmündigungsverfahren. 88. 169. Entotisches Geräusch in Folge Aneurysma der Art. occipit. 202. Entotische Geräusche ohne Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit. 196. Entwurf eines Gesetzes betreffend Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 169. Entwurf von Vorschriften über Verkehr mit Geheimmitteln. 83. Epidemie unaufgeklärter Art. 152. Epidemiologie der Malaria. 199. Epidurale Blutextravasate. 219. Epilepsia rainor. 350. Epilepsie. 94. 161. 266. 414. 415. 461. 480. 507. Epilepsie mit nachfolgender Paralyse. 74. Epileptiforme Anfälle in der Typhusrekon- valescenz. 119. Epileptischer Wandertrieb. 73. 74. 415. Epileptisches Irresein nach Trauma. 4o8. Epiphysenlösung am Ellbogen. 304. Epithelcysten an der Hand. 284. Epityphlitis traumatica. 180. Erblichkeit des Carcinoms. 449. Erblindung durch seelische Erregung. 41. Erblindung durch Teschingschuss. 16. Erdrosselung. 331. Erfahrungen mit dem starken Elektromagneten 288. Erhängungstod. 33. Erkältung als Krankheitsursache. 262. Erkrankungen in Folge Genusses verfälschter und verdorbener Nahrungsmittel. 212. Erreger der Masern. 168. Erschöpfungspsychosen. 220. Erschütterung des Nervensystems. 53. Erste Hilfe bei Unglücks fällen. 449. 483. Erstickung durch Einwirkung a. d. Hals. 346. Erstickung durch Schnuller. 449. Ertrinkungstod. 398. Erweiterung der Harnblase. 286. Erwürgung. 346. Erysipel, angebliche Kontagiosität. 321. Erzielung tragfähigor Stümpfe. 24. Eserinrausch. 168. Esmarsch’sche Blutleore, Kontraindikation. 479. Exarticulatio pedis sub talo. 413. Exhibitionismus. 456. Exostose am Oberarmknochen. 76. Exstirpation des Sternocleidomastoideus bei Schiel hals. 227. Fahrlässige Behandlung und Begutachtung Ohrenkranker. 38« Fahrlässige Tötung. 38. 887. 868« 445. Fall Neisser. 127. Fall Zehnder. 191. 275. Falsches ärztliches Zeugniss. 252. Familiäre Irrenpflege. 12. 58. Familienpflege der Trinker. 58. Fersenbein-Abreissung. 76. Fettembolie. 347. 451. Fettgewebsnekrose. 368. Fettgewebsnekrose des Bauchfells nach Ver¬ letzungen. 182. Findelwesen in Ungarn. 365. Fingerplastik. 226. Fissur des Stirnbeins. 161. Fleischbeschaugesetz. 251. Fleischvergiftung und Fleischkonservirung. 119. Fliegenlarven als gelegentliche Parasiten des Menschen. 463. Florencesche Reaktion. 475. Forensische Würdigung der Selbstanklagen von Geisteskranken. 94. Formaldohyd als Konservirungsmittel. 436. Formalin-Desinfektion. 183. 203. 396. 419. Foimalin-Vergiftung. 434. Formen des Hymens. 328. Fortschritte der Hygiene. 467. Fraktur des äusseren Gehörgangs. 96. Frakturen der Fusswurzelknochen. 76. 376. Frakturen der Gehörknöchelchen. 329. Frakturen des Kahnbeins. 76. Frakturen der Knöchel. 462. Frakturen des Kreuzbeins. 268. Frakturen der Mittelfussknochen. 75. 376. Frakturen des Schenkelhalses. 81. 477. Frakturen des tuberkulum majus humeri. 228. Frakturen der unteren Extremität. 388. Frakturen des Unterschenkels. 261. Frakturen der Wirbel. 367. Frakturenbefunde rätselhafte. 323. Frauenasyle. 435. Frauenstudium. 404. Fremdkörper im Auge. 435. Fremdkörper in der Bauchhöhle. 97. 308. Fremdkörper in der Blase. 268. Fremdkörper im Gehirn. 387. Fremdkörper in Gelenken. 476. Fremdkörper im Kehlkopf. 349. Fremdkörper in den Luftwegen. 370. Fremdkörper in der Lunge. 242. Fremdkörper, occulte. 75. Fremdkörper-Pathologie. 479. Friedreich’sche Krankheit. 117. Fürsorge für Geisteskranke. 207. Fussgelenk, unteres. 119. Fussgesch wulst. 179. Fussspuren. 411. Fusswurzelknochen. 376. 461. Uangraen d. untern Extremitäten. 228. Gangraon durch Carbolsäure. 141. 323. Gangröne foudroyante. 347. Gasgangraen. 450. Gastroenterostomie. 227. 354. Gebärmutter Perforation. 120. 887. 868, Gebührenordnung. 491. Gebühr*enwesen. Nachträgliche Liquidation in gerichtlichen Fällen. 20. — Verjährung ärztlicher Forderungen nach dem Neuen Bürgerlichen Gesetzbuch. 59. 250. — In der Gebühr für schriftliche Gutachten (§ 3, No. 6 des Gesetzes vom 9. März 1872) ist diejenige für die gewöhnliche zu vorige Untersuchung eingeschlosson; nicht aber diejenige für eine längere Beobachtung. 378. — Gebühr für ein von mehroren Aerzten abgegebenes Gutachten. 443. Geburtshilfe. Antiseptik. 351. Geburtshilfe vom physiatrischen Standpunkte. 230. Gefängnissarzt. 429. Gefässerkrankung nach Einathmung von Am¬ moniak. 168. Gefässunterbindung. 439. Gefässverlotzungen. 14. 186. 375. Geheiramittol. 83. Gehirnabscesse. 143. 183. 309. 391. 458. 459. Gehirnblutung. 12. 396. Gehirnerschütterung. 161. 243. Gehirnkrankheiten. 13. 124. 143. 182. 220. 245. 288. Gehirnlähmung nach Influenza. 350. Gehirnverletzung. 386. 387. Gehörgang-Fraktur. 96. Gehörgang-Verletzungen. 164. Gehörorgan. 121. 125. 224. 236. 328. 329. 416. 458. Gehörorgankrankheiten. 201. 220. 309. 329. 335. 344. 351. 352. 416. 480. Gehörs-Wahrnehmungen, subjektive. 352. Geisteskranke, Fürsorge. 207. Geisteskranke und Pflegschaft. 390. Geisteskranke, Selbstanklagen. 94. Geisteskranke, Todesursachen. 390. Geisteskranke Trinker. 58. Geisteskranke Verbrecher. 207. Geisteskrankheit als Ehescheidungsgrund. 24. Geisteskrankheit durch Unfall. 480. Geisteskrankheit oder Geistesschwäche. 881 « Geisteskrankheiten, Verhütung. 433. Geistesstörungen in der Armee. 152. Gelenkerjgüsse, Heissluftbehandlung. 413. Gelenkkörper. 476. Gelenkkrankheiten. 28. 226. 299. 303. 437. 475. 507. Gelenkoperationen. 225. Gelenkrheumatismus und Trauma. 288 . 258 . 820 . 504. Gelenkverletzungen. 95. 179. 304. 476. Gelenkversteifungen, Behandlung. 241. Gerichtliche Blutuntersuchungen. (Sammelr.) 300. 418. Gerichtliche Entscheidungen gegen Kurpfuscher. 212 . Gerichtliche Medicin. 425. 510. Gerichtliche Medicin in Amerika. 398. Gerichtliche Zahnheilkunde. 313. Gerichtsärztllche Beurteilung epileptischer Be¬ wusstseinsstörungen. 415. Geschäftsordnung der ärztlichen Ehrengerichte. 191. 252. Geschlechtliche Enthaltsamkeit. 444. Geschlechtskrankheiten. 172. 379. 424. 479. Geschwülste, Aetiologie. 105. 115. 267. 368. Geschwülste nach Verletzungen. 259.288. 368. Gesicbtsknochenbrüche. 375. Gesundheitsgefährlichkeit bleihaltiger Gegen¬ stände. 263. Gesundheitsgefährlichkeit des Wassergases 417. Gesundheitsgemässes Sprechen. 103. Gesundheitspolizei. 56. 482. Gesundheitsschädlichkeit der Acetylenbeleuch¬ tung. 417. Gesundheitsschädliche Geräusche. 489. Gesundhei'sschädlichkeit von Conservirungs- raitteln. 21. 264. 398. 436. Gesundheitsschädlichkeit v. Puppengeschirr mit hohem Bleigehalt. 329. Gesundheitsschädlichkeit der Trillerpfeifen. 263. Gewerbehygiene. 80. 104. 493. Gewerbekrankheiten. 242. 371. Gewerbekrankheiten der Lunge. 180. Gewerbekrankheiten des Ohrs. 125. Gewerbeunfälle am Auge. 143. Gewerbeunfallgesetz vom 30. Juni 1900. 379. Gewinnung tuborkelbazillenfreier Milch. 373. Gicht. 431. Glasbläsermund. 242. Gliedmassenverletzungen. 36. 54. 81. 168. 185. 230. 387. 399. 412. 465. 466. Gliom des Gehirns nach Unfall. 288. Glycosurie bei Psoriasis. 199. Glycosurie der Vaganten. 199. Graphologen. 315. Grossstädtisches Bettler- und Vagabundenthum. 206. Hämatorayelia traumatica. 162. Haemincrystalle 309. Hamatoporphyrinprobe 302. Hämaturie aus normalen Nieren. 162. Haftpflicht für den Schrecken. 444. Halbseitenläsion des Rückenmarks. 33. 310. Harnapparat-Verletzung. 145. Digitized by VjOOQLC V Harnblase, Chirurgie. 438. Harnblase-Erweiterung. 286. Harnblase, Fremdkörper in der. 268. Harnleiterverletzungen. 81. Hamröhrenverletzung. 182. Harnsteine. 348. Hausepidemie von Typhus und Cholera nostra. 39. Hautkrankheiten. 77.141.163.245.388.490.510. Hautkrankheiten durch Hyazinthenzwiebeln. 143. Hebammenwesen. 466. Heilbehandlung auf Kosten der Invaliditäts¬ versicherung. 232. 314. Heilerziehungsheim. 195. Heilung von Epilepsie durch Operation. 266. Heilung von Radialislähmung durch Operation. 244. Heilverfahren bei Unfallverletzten. 7« 31. Heimstätten wesen. 232. Hemiatrophia linguae. 93. Herausschneidung der Gaumenmandeln. 131. Hemia epigastrica. 430. (s. a. Bauchbruch.) Herzdämpfung und Brustwarzen linie. 484. Herzjagen. 442. Herzkrankheiten, traumatische. 59. 398. 493. Herzneurosen. 507. Herzschlag, Betriebsunfall. 292. Herzwunden. 503. Hilfsschulen für schwach befähigte Kinder. 247. Hirnblutungen. 396. Hirnhautcarcinose. 330. Hirnhautentzündung nach Augenverletzung. 257. Hirnhautentzündung bei Influenza. 167. Hirnhautentzündung bei Masern. 186. Hirnhaut-Tuberkulose. 77. Hörprüfung. 120. 202. 416. Hüftgelenk. 478. Hundswuth und Betriebsunfall. 145. Hungertod. 346. 411. Hyazinthenzwiebeln. 143. Hydronephrose. 325. Hygiene der Stimme. 102. Hygienisches Taschenbuch. 83. Hygienische Vorschriften für den Betrieb der Zinkhütten. 104. Hymen. 328. Hyoscinvorgiftung. 181. Hyperplasie der Rachenmandel. 224. Hysterie. 167. 267. Hysterisches Fieber. 327. Hysterische Psychose. 73. Hysterische Stummheit. Idiopathische Erweiterung der Speiseröhre. 354. Idiosynkrasie gegen Arsenik. 481. lleosacralgelenk-Entziindungen. 29. Impferkrankungen des Auges. 142. Impftechnik. 121. 329. Impfung von Tuberkelbazillen in die Nase. 167. Impfung und Mückenstiche. 122. lrapfvorechriften. 198. 216. Indikationen für Operation bei Mittelohr¬ erkrankungen. 351. Indikationen für Operationen am Warzonfort- satz. 352. Infektion von Adenoiden Vegetationen aus. 354. Influenza. 242. 350. 432. Influenza, chirurgisch wichtige Komplikationen und Nachkrankheiten. 369. Influenza, Gehirn lähmung nach. 350. Influenzabazillen als Ursache von Rippenfell-, Hirnhaut- u. Knochenmarkentzündung. 167. Infusoriendiarrhoe. 389. Instruktionskursus für Amtsärzte. 444. Internationales Arzneibuch. 404. Internationaler Congress für Unfallgesetzge¬ bung. 24. Internationale Syphiliskonferenz in Brüssel. 202 . Intubation. 438. Invalidenversicherungsgesetz. 103. 128. Invalidität- und Altersversicherung in Nor¬ wegen. 44. Invaliditätsversicherung. 34. 124. 232. 462. 490. 512. Irisrisse. 38. Irrenanstalten. 424. Irrenpflege. 12. Ischaemische Schmerzen. 118. Ischias. 54. 161. 268. 392. Jackson’sche Epilepsie durch Operation ge¬ heilt. 220. Jahresbericht der Elbschifffahrt und der See¬ berufsgenossenschaft. 296. Jahresbericht der Gewerbeinspektoren. 336. Jahresbericht der Knappschafts - Berufsge¬ nossenschaft. 360. Jodoformvergiftung. 264. Kahnbein. 76. 461. Kalkverletzungen d. Auges. 150. Kammergericht s-Ent Scheidungen: JederZusatz von Praeservesalz zum Schabe¬ fleisch ist gesundheitsschädlich. 20. — Der amerikanische Doktortitel. 184. — Aerzte dürfen die freigegebenen Arzeneien verkaufen. 272. — Die Honorarfrage als öffentliche Angelegenheit. 334. Kapselverengerung b. Gelenkaffektionen. 437. Kastration. 230. Kehlkopf, Fremdkörper im. 349. Kehlkopfkrankheiten bei Diabetes. 348. Kehlkopf, Selbstausschneidung. 399. Kehlkopfstenose, Plastik. 209. 438. Kehlkopftuberkulose. 359. Keimzerstreuung des Echinococcus. 37. Kindsmord durch Erdrosselung mit dem Nabel¬ strang. 331. Klappenverletzungen des Herzens. 398. Kleinhirnkrankheiten. 211. Klemmnaht. 437. Klimmzuglähraungen. 140. Klumpfuss. 438. Kniegelenk. 96. 100. 183. 226. 249. 438. Kniegelenk, Verstauchung. 95. Kniescheibe, Verrenkung. 478. Knochenbrüche, Behandlung. 375. 376. Knochenbrüche durch direkte Gewalt. 228. Knochenhautentzündung am Unterschenkel. 285. Knochenneubildungen. 241. 437. Knochenplastik. 437. Knochentuberkulose. 299. Kompress für innere Medizin. 64. Konträre Sexualempflndung. 263. Kopfschmerz, Lokalisation. 506. Kopfverletzung. 348. 361. 386. Körnerkrankheit. 395. s. a. Trachom. Korsakoffsche Krankheit. 268. Krampfaderbruch. 463. Krankenfürsorge der Versicherungsanstalt Ber¬ lin 1898. 34. Krankenhauslexikon. 423. Krankenversicherungsgesetz. 63.152. 274. 293. Krankenversicherungspflicht der Seeleute. 380. Krebs, s. Carcinom. Kreisarzt. 344. Kreisarzt und Doktortitel. 212. Kreuzbeinbruch. 268. Kreuzottern biss. 275. Kriminelle Verbrennung von Leichen. 398. Kurpfuscherei. 22. 24. 63. 212. 296. Kurpfuscherei in der Orthopaedio. 468. Liähmung des M. serratus ant. raaj. 462. 498. Lähmung des M. triceps nach Unfall. 85. Lähmung des N. facialis. 144. Lähmung des N. musculo cutaneus. 287. Lähmung des N. peroneus. 244. 507. Lähmung des N. radialis. 244. Lähmung des N. recurreus. 349. Lähmung des N. suprascapularis. 92. 244. Lähmung des Plexus brachialis. 140 286. 309. 432. Lähmung der Vorderarmbeugor. 288. Laryngitis diabetica. 348. Latente Organismen. 502. Laugenätzung. 95. Lebensversicherung und Kehlkopftuberkuloso. 359. Lebensversicherung und Ohr. 286. 844. Lebensversicherung, Trunksucht. 422. Leberkrankheiten. 221. Leberruptur. 268. 368. Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. 401. Lehrbuch für Heilgehilfen und Masseure. 21. Leichenschau. 295. Leichenverbrennung, kriminelle. 398. Leichenteile, vergrabene. 418. Leistenbruch als Betriebsunfall. 42. 509. Loistenbrüche, Entstehung. 323. Lepra. 380. Leukämie. 129. Lidgangraen. 142. Lippenkrebs. 321. Little’scho Krankheit und Unfall. 484. Lücke im Strafgesetzbuch. 467. Lues Cerebri. 13. Luftröhrenentzündung. 168. Lunge, Fremdkörper in der. 242. Lungenentzündung und Trauma. 60. Lungenheilstätte. 212. Lungenschlag. 101. Lungen-Schwimmprobe. 397. Lungen-Tuborkulose. 94. Lungenveränderungen durch Staub-Inhalation. 180. Lungenvenetzung. 163. Lungenzerreissung. 53. 263. Luxationsfraktur im Atlantooccipitalgelenke. 387. Lymphangoitis penis. 199. Lysolvergiftung. 55. IHagenblutung. 81. Magengeschwüre. 353. 505. Magenkrankheiten. 15. 162. Magenkrisen. 354. Magenleiden. 294. Magenverletzung. 430. 505. Malaria. 199. Malariakonforenz. 212. Masern, Erreger. 168. Masern, Komplikationen. 186. Massenerkrankung durch stark solaninhaltige Kartoffeln. 39. Massenerkrankungen an chronischen Arsenicis- mus. 7 7. Mastoid-Operationen. 352. Mastoiditis bei Diabetes. 121. Mauer feuchtigkeits-Bestimmung. 460. Maul- und Klauenseuche beim Menschen. 369. Medizinaletat in Preussen. 151. Medizinalreform. 64. 192. Medizinisches Wörterbuch. 378. Membranöse Dickdarmentzündung. 354. Meningitische Erscheinungen bei Typhus. 354. Meniscus-Ablösung. 476. Merkfähigkeit. 247. Messerschartenspuren. 411. Messingvergiftung. 371. Migräne mit Augenmuskellähmung. 309. 326. Migräninexanthem. 266. Milch-Bakterien. 459. 460. Milchfreier Butterersatz. 225. Milchhygiene. 289. 373. 459. 460. Milchkontrolle. 373. 459. Milchprodukte, Bakteriengehalt. 80. Milchthermophor. 459. Milzruptur. 242. 268. Mineralwässer. 360. Missbildungen des Gaumens. 103. Missstände bei Ausübung der bahn- und kassen¬ ärztlichen Praxis. Mittelfussknochenbruch. 267. 376, s. a. Fuss- geschwulst. Mittelohrkrankheiten. 351. 416. Mittheilungsbefugniss ärztlicher Gutachten. 478. Mitwirkung der Aerzte bei der Invaliditäts¬ versicherung. 462. Mitwirkung der Aerzte bei der Unfallversiche¬ rung. 485. Molkereien und Typhus. 224. Mord durch Schlag auf den Kopf. 33. Mortalität der Gliedraassenverletzungen. 387. Multiple Sklerose. 117. 304. Museum für Krankenpflege. 84. Muskelatrophien nach leichten Verletzungen. 327. Muskel- und Sehnenrisse im Biceps. 240. Muskelverknöcherungen. 322. Muskelverletzungen. 261. Muskelzerreissungen. 240. 267. 285, 292. Myxoedem. 330. Myxoedem und Unfall. 472. Mabelbruch. 439. Nabelschnurzerreissung. 96. 223. Nachbehandlung v. Operationen am Augapfel. 457. Nachweis von Arsen in Hautschuppen, Haaren etc. 16. Digitized by Google VI Nachweis einseitiger Taubheit. 120. Nahrungsmittel, konservirte. 20. 56. 165.398. 436. Nahrungsmittel, verfälschte und verdorbene. 56. 212. Nasenkrankheiten, Einfluss a. Athmung u. Herz. 499. Natürliche oder künstliche Mineralwässer. 360. Nebenwirkungen von Arzneimitteln. 78. 266. 268. 434. 481. Nephritis bei Varizellen. 221. Nervenheilstätten. 98. Nervensystem-Erkrankungen nach Unfällen. 21. Nervensystem-Erschütterungen. 53. 101. Nervöse Leberkolik. 221. Neuerungen im Entmündigungsverfahren. 98. 109 . Neues Invalidenversicherungsgesetz. 103. Neurasthenie. 20. (8. a. traumatische Neu¬ rasthenie). Neurasthenischer Schütteltremor n. Trauma.371. Neuritis optica. 202. Neuritis toxica. 328. Neuritis traumatica. 243. 432. Neurologie des Auges. 295. Neurome. 228. Neurose in Folge kranken Zahns. 481. Nierenkrankheiten. 37. 162. 221. 325. Nierenpalpation. 262. Nierenverletzung. 439. 483. Nikotinvergiftung. 480. Nirvaninanaesthesie. 374. Nitroglycerinvergiftung. 487. Noma. 369. 450. Nothwendigkeit von Volksheilstätten f. Nerven¬ kranke. 98. Nystagmus bei Ohrenkrankheiten. 309. Oberlandesgericht Rostock. Entschei¬ dung. Delirium tremens und Trunksucht des Versicherten bei Versicherung auf den Todesfall. 422. Oberverwaltungsgerichts - Entschei¬ dungen: Befreiung von der Gewerbe¬ steuer bei Privatirrenanstalten. 43. — Zum Nachweis der Gesundheitsgefährlich¬ keit einer Einrichtung ist es nicht erforder¬ lich, dass die Einrichtung bereits in einem Falle gesundheitsschädlich gewirkt hat. 82. — Gewerbesteuerbefreiung. 82. — Poli¬ zeiliches Einschreiten gegen die freige- gebene Ausübung der Heilkunde ist unzu¬ lässig. 122. — Vom Begriff .Erkrankt¬ sein“. 168. — Arztähnlicher Titel. 183. —Professeur honoraire ist weder ein akade¬ mischer Grad, noch ein arztähnlicher Titel. 184. — Unzulässige Anordnung zum Kran¬ kenhaus - Abonnement. 209. — Verbot, Knochen und Fett auszukochen. 209. — Beseitigung eines Pumpenbaums wegen Gesundheitsgefährlichkeit des Wassers. 229. — Vom Gltinickeschen Heilverfahren. 313. — Konflikt des Ministers zu Gunsten eines Arztes. 334. — Zurücknahme der Konzession zur Errichtung einer Kranken¬ anstalt durch einen Laien. 357. — Ver¬ sagte Konzession. 378. — Das Prädikat Hofarzt oder Hofzahnarzt darf ohne Ge¬ nehmigung nicht geführt werden. 401. — Nervöse Personen und Geräusche. 489. — Gesundheitsgefahr der Ziegeleien. 509. Objektiv wahrnehmbare entotische Geräusche ohne Beeinträchtigung der Erwerbsfähig¬ keit. 196. Obligatorische Leichenschau. 295. Occulte Fremdkörper. 75. Oeflfentliche Impfungen. 187. Ohr. 125. (8. a. Gehörorgan). Ohrenkranke. 38. Operation bei Eiterungen im Schädelinnern. 183. Operation bei Herzwunden. 503. Operation bei Krampfadergeschwüren. 54. Operation bei Unterleibskontusionen. 227. Operationsvademecum. 211. Ophthalmia electrica. 97. Opiumvergiftung. 78. Opticusatrophie durch elektrischen Strom. 372. Orthoform, Urticaria nach. 268. Orthopädie. 468. Orthopädie im Dienste d. Nervenheilkunde. 281. Ortsbestimmung der Gehirnkrankheiten. 182. Osteomyelitis. 167. 347. 370 Osteomyelitis des Atlas. 431. Osteomyelitis der Wirbel. 34. Osteoplastik. 437. Osteotomie. 478. Otitische Hirnerkrankungen. 143. 309. 458. 459. Pankreas, Chirurgische Krankheiten. 368. 375. Pankreas, Nekrose. 226. Pankreas, Verletzungen. 141. Paralysis agitans. 53. 417. 508. Puraphenylendiaminvergiftung. 393. Parasit auf der Hornhaut. 372. Parasiten in Geschwülsten. 116. Parenchymatöse Magenblutung. 81. Parese des N. peroneus. 244. Paroxymale Tacbycardie. 442. Pavor diumus. 186. Peliosis rheumatica und Trauma. 256* 455. Pemphigus neonatorum. 165. Penetrirende Stichwunde der Herzgegend. 163. Perforation des Uterus bei gynaekologischen Eingriffen. 120. Perigastritis adhaesiva. 76. Periostale Sehnenüberpflanzung. 284. Perniciöse Anämie. 201. Pest. 336. 360 380. 468. Pestgefahr. 404. Pfählungsverletzungen. 97. 144. Pflegschaft des B. G. B. 218. 390. Phenylhydrazinvergiftung. 266. Phosphorneuritis. 328. Phosphorvergiftung. 78. Physiologischer Schwachsinn des Weibes. 219. Physiologische und traumatische Geräusche am Becken. 29. Pikrinsäurevergiftung. 482. Plastische Operation bei Kehlkopfstenose. 209. Plattfussbeschwerden n. Bein Verletzungen. 54. Platzangst. 323. Pneumothorax durch einfachen Lungenzerreis- sung. 63. Pocken-Epidemie. 512. Poliomyelitis anterior in Folge peripherer Ver¬ letzung. 288. Polizeiärztin. 24. Polizeiärztliche Ueberwachung der Prostitution. 52. Poriomanie. 73. Posticuslähmung nach Fremdkörpern im Kehl¬ kopf. 349. Praeservesalz. 21. 264. Prellschuss. 411. Professionelle Peroneus-Lähmung. 244. Professur für Gewerbehygiene und soziale Me¬ dizin. 128. Prognostik der Geistesstörungen bezüglich § 156 9 B. G. B. 204. Progressive Paralyse. 74. 200. 488. Proraotionsordnung. 468. Prophylaxe bei Frauenkrankheiten. 83. Prophylaxe in der Geburtshilfe. 230. Prophylaxe bei Haut- und Geschlechtskrank¬ heiten. 187. Prophylaxe der Malaria. 199. Prophylaxe in der Psychiatrie. 273* Prophylaxe der Sterilität. 295. Prostitution. 52. 203. 435. Protargol. 289. Protozoen-Enteritis. 389. Prüfungsordnung für Aerzte. 232. Pseudarthrose nach Knöchelbruch. 462. Pseudotabes mercurialis. 507. Psoriasis und Glycosurie. 199. Psychiatrisches Städteasyl. 208. Psychosen bei Chorea. 391. Psychosen nach Bleivergiftung. 263. Psychosen nach Osteomyelitis. 370. Psychotherapie. 200. Ptomainparalysen. 306. Ptosis. 428. Pulsirender Exophthalmus. 144. 395. Pupillenstarre bei hysterischer Psychose. 73. Purpura fulminans. 78. Pylorusstenose nach Laugenätzung. 95. Quetschung des Bauches. 40. 429. 505. Quetschung des Brustkorbs. 259. 398. 439. Quetschung des N. radialis. 76. Quetschung des Unterleibs. 227. Rachenmandel. 224. 354. Radiusdefekt m. Klumphand. 226. Raupenhaar-Ophthalmie. 245. Rauchbelästigung. 416. Recht d. Schuldverhältnisse zw. Aerzten. 185 « 157 . Rechte u. Pflichten der Gift- u. Farbenhändler. 211 . Rechte und Pflichten der Drogisten und Ge¬ heimmittelhändler. 510. Redressement v. Kniegelenkskontrakturen. 438. Reflexepilepsie. 411. Reform des Hebammenwesens. 466. Keichs-Seuchengesetz. 63. 169. 192. 232. 273. 443. 491. Reichsversicherungsamts - Entschei¬ dungen: Traumatische Neurasthenie. 20. — Aerztliche Gutachten haben den Vor¬ zug vor Erklärungen von Laien. 41. — Erblindung durch seelische Erregang nach einem Brande. 41. — Leistenbruch als Betriebsunfall. 42. — Besserung der Er¬ werbsfähigkeit um 5 Prozent kann nicht als wesentlich angesehen werden. 42. — Zwei Obergutachten über den ursächlichen Zusammenhang zwischen einer tödtlich ver¬ laufenen Lungenentzündung, in einem Falle verbunden mit Brustfellentzündung und einem Trauma, das die Brust betroffen hat (Kontusionspneumonie). 60. — Aerzt- liches Gutachten und Augenschein des Schiedsgerichts. 62. — Erwerbsverminde¬ rung liegt nicht vor bei geringer Verstei¬ fung dos Nagelgelenks des rechten Zeige¬ fingers. 81. — Schonungsbedürftigkeit be¬ dingt Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Invalidengesetzes. 99. — Rente von 55 Prozent bei Kniegelenksverletzung. 100. — Keine Nervenerschütterung. 101. — Lun¬ genschlag kein Betriebsunfall. 102. — Zusammentreffen von Unfall und Invalidi¬ tätsversicherung. 124. — Berstung des Herzens kein Betriebsunfall. 124. — Tod in Folge eines Gehirnleidens kein Betriebs¬ unfall. 124. — Obergutachten über einen Fall von tötlich verlaufener Hundswuth. 145. — Bruchanlöge kann nicht durch Unfall entstehen. 146. — Leistenbruch kein Betriebsunfall. 146. — Uobertrei- bung. 147. — Grad der Erwerbsverminde¬ rung bei Verlust des linken Arms im oberen Drittel. 168. — Fingerverletzung. 184. — Verlust dos rechten Beins unter¬ halb des Knies. 185. - Weigerung, sich einer Operation zu unterziehen. 210. — Simulation, Schmerzen in der Brust nach Rippenbruch. 210. — Fehlen des Nagel¬ gliedes des linken Daumens. Trauraat- Hysterie 230. — Tuberkulöse Kniege¬ lenksentzündung und Unfall. 249. — Dem Schiedsgericht darf, wenn gegen ein von der Berufsgenossenschaft ein¬ gefordertes Gutachten eines ihrer Ver¬ trauensärzte Bedenken obwalten, das Rocht nicht versagt werden, einen andern Vertrauensarzt der Berufsgonossenschaft zu hören und dessen Gutachten der Ent¬ scheidung zu Grunde zu legen. 249. — Obergutachten betr. Kreuzbeinbruch und Quetschung des grossen Hüftnerven (Ischias traumatica). 268. — Verlust eines Auges. 271. 272. — Unfall und In¬ validität. 291. — Herzschlag, Betriebs¬ unfall. 292. — Zusammenhang eines Bauch¬ muskelrisses mit einer Verrichtung im Be¬ triebe, verneint. 292. — Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit kann nicht im wirt¬ schaftlichen Leben als ein messbarer Schaden in Betracht kommen, um einen Rentenanspruch zu bedingen. 311. — Ge¬ ringfügige Unterschiede in der Schätzung der Erwerbsunfähigkeit liegen innerhalb der natürlichen Fehlergrenze. 312. — Unter welcher Bedingung ist Nichtbefol¬ gung der Anordnung, angemessene Arbeit zu verrichten, als schuldhafte Verhinde¬ rung der Besserung zu betrachten. 312. — Tod durch Ueberfahren, nicht Gehirn¬ schlag. 331. — Wesentliche Besserung nervöser Beschwerden. 332. — Ursäch¬ licher Zusammenhang zwischen Fussleiden und Unfall verneint. ^3§2. — Rentenbe- Digitized by Google VII rechnung bei Verstümmelung zweier Zehen 383. — Lungenleiden als Folge eines Be¬ triebsunfalls. 355. — Tod durch Lungen¬ entzündung kein Betriebsunfall. 356. — Verletzung der Halswirbelsäule. 376. — Tod in Folge traumatischer Epilepsie. 377. — Folgen eines komplizirten Schä¬ delbruchs. 399. — Schwere Verletzung der linken Hand. 399. — Schwere Ver¬ letzung der rechten Hand. 399. — Ver¬ weigerte Krankenhausbehandlung. 421. — Tod mittelbare Folge des Unfalls. 422. — Obergutachten betr. traumatische Entstehung eines Nabelbruchs. 439. — Bauchbruch. 440. — Erhöhung der Er¬ werbsfähigkeit trotz unveränderten objek¬ tiven Befundes. 441. — Obergutachten betreffend traumatische Entstehung eines Krampfaderbruchs. 463. — Verbrennungen in der Trunkenheit, Betriebsunfall. 464. — Nervöse Unfallfolgen. 465. — Verlust zweier Glieder des Mittelfingers der rechten Hand. 465. — Verunstaltung der Hand. 466. — Obergutachten betreffend trauma¬ tische Entstehung eines Wasserbruchs. 486. — Bronchitis und Blutvergiftung. 486. — Tod durch Genuss von Sprengöi. 487. — Leistenbruch. Betriebsunfall. 509. Reichswohnungsgesetz. 396. Reinigung des Wassers. 289. Reise in die Schweiz im epilept. Dämmerzu¬ stand. 415. Ren mobilis, s. Wanderniere. Rentenerschleichung. 424. Rentensätze bei Augen Verletzungen. 271.272. Rentensätze bei Gliedmassenverletzungen. 81. 100. 168. 184. 185. 230. 333. 399. 465. 466. Rentensätze bei Schädelverletzungen. 399. Resorption eines überreifen Staars nach Ver¬ letzung. 458. Revision des Krankenvers.-Gesetzes. 152. Revolver Verletzung des Gesichts. 267. Rhinopharyngol. Operationslohre. 358. Rhinosclerom.: 380. 389. Rhythmisches Anziehen d. Zunge als Wieder¬ belebungsmittel. 167. Richter und Sachverständiger. 335. Rinnescher Versuch. 416. Rippenfellentzündung. 167. Riss in der Aorta und Unfall. Bl7. Röntgenbilder. 484. Röntgenstrahlen. 37. 81. 375. 376. 435. Rückenmark, Blutung durch Unfall. 162.182. Rückenmark, Kokainisirung. 367. 374. 450. Rückenmark, Krankheiten. 117.186. 304. 310. Rückenmark, Verletzungen. 35. 96. 183. 310. 331. 378. 387. Ruptur des langen Bicepskopfes. 267. Russbildner in unsern Wohnräuraen. 264. Sadismus. 305. Sächsisches Landes-Versicherungsamt, Ent¬ scheidung: Blitzschlag als Unfallfolge. 377. Sadebaumöl. 418. Salpeter Säuregehalt verunreinigter Brunnen¬ wässer. 225. Saltatorischer Krampf. 140. Samariter- und Rettungswesen. 295. 483. Samen. 475. Sammelforschung über den Krebs. 104. Sanitätsdienst bei den österreichischen Tabaks¬ fabriken. 80. Santoninvergiftung. 305. Scapulohumeralreflex. 262. 263. Schadenersatzanspruch gegen einen Arzt. 232. Schädelverletzungen. 258. 399. Schädelverletzung bei engem Becken. 223. Schädigungen d. M. cucullaris d. Unfall. 261. Schädlichkeit massigen Alkoholgenusses. 211. Schälblasen. 165. 172. Scharlach. 119. 416. Scharlach ähnliche Influenzaexantheme. 242. Scheidengewölbe-Verletzungen. 97. Sehenkelkopfexstirpation bei veraltetem Schon- kelhaisbruch. 81. Schiedsgerichte. 467. Schiefhals. 227. Schimmelpilze als Erreger von Luftröhren¬ entzündung. 168. Schlaflosigkeit. 117. Schnellender Finger. 412. Schulärzte. 1. 23. 212. 296. Schuldverhältnisse zwischen Aerzten. 1B5. 157. Schulhygiene. 221. Schultergelenk. 462. 478. Schussverletzungen der Augenhöhle. 37. 81.144. Schussverletzungen des Auges. 16. Schussverletzungen der Brust- und Bauchhöhle. 163. Schuss Verletzungen des Darms. 267. 285. Schussverletzungen des Gesichts. 267. Schussverletzungen des Kopfes. 81. 386. Schussverletzungen des Magens. 430. Schussverletzungen des Plexus brachialis. 433. Schussverletzungen des Rückenmarks. 96. Schutzpockenimpfung. 187. Schwach befähigte Kinder. 247. Schwangerschaftsdiagnose. 82. Schwefelkohlenstoffdelirium und Kopftrauma. B48 861. Schwefelsäure als Abortivum. 394. Schweinerothlauf. 37. Schweisse und Schweissbahnen vom Rücken¬ mark aus. 183. Sehnenplastik. 74. Sehnenüberpflanzungen. 284. Sehnenzerreissung. 36. 145. 239. 240. 478. Sehnerv, Durchtrennung. 97. Sehschwäche bei Bleivergiftung. 218. Sektionsprotokoll. 251. Selbstanklagen Geisteskranker. 94. Selbstmord d. Ausschneiden d. Kehlkopfs. 399. Selbstmord durch Erhängen? 33. Selbstmord durch Lysol. 55. Selbstmord durch Schuss. 258. Selbstmord oder Mord. 33. Seltenere Ursachen der Schlaflosigkeit. 117. Senile Epilepsie. 161. Sensibilitätsstörungen bei Tabes. 326. 455. Septische Netzhautveiänderungen. 295. Serum gegen Alkoholismus. 167. Sexuelle Perversität. 263. 305. 456. 493. Sexuelle Perversitäten in der Irrenanstalt. 328. Siechthum. 92. 297, Simulation. 210. 232. Simulation im Bahnbetriebe. 47. 69. Singstimme im jugendlichen Alter. 149. Sinusphlebitis. 164. Sittlichkeitsvergehen. 456. Sklerom in Ostpreussen. 389. Skoliose bei Ischias. 54. 392. Skoliose und Nervenleiden. 73. Skoliosis traumatica. 430. 452. Skorbut auf dem Lande. 198. Skrophulose und Trachom. 223. Solanin Vergiftung. 39. Spätepilepsie. 94. Spastische Kontraktion der Cardia. 452. Spastische Lähmung n. Unfall. 330. Specialarzt oder Specialasyl im Gefängniss. 429. Speiseröhre, Krankheiten. 354. 439. 452. Speiseröhre, spontane Zerreissung. 182. Spiegelschrift. 167. Spina bifida. 437. Spinale Ataxie, Uebungsbehandlung. 181. Spinalpunktion bei Hirnblutungen. 396. Splenectomio. 226. Spondylitis traumatica. 17. 302. Spondylitis typhosa. 302. Spontane Zerreissung der Speiseröhre. 182. Sprachstörungen. 221. 103. Spulwürmer als Krankheitserreger. 167. 8tadtärzte. 359. Starrkrampf n. Nierenoperation. 185. Statistik der Beanstandungen von Nahrungs¬ mitteln. 56. Statistik des Carcinoras. 115. 116. 321. 403. 198. 449. 104. Statistik der gewaltsamen Todesfälle in Amerika. 360. Statistik der gewerbl. Unfälle. 387. Statistik der Heilbehandlung d. d. Inval. Vrs. 319. Statistik des Lippenkrebses. 321. Statistik der Vergiftungen. B86. Status thymicus. 12 451. Stauungsblutungen nach Rumpfcompression.504. Stellung des Arztes unter d. neuen Unfall¬ gesetz. 231. Stelzfuss oder künstliches Bein? 176. Stempelpflichtigkeit des Titels Sanitätsrath. 423. Sternalwinkel. 423. Stichverletzung des Herzens. 503. Stichverletzung der Herzgegend. 163. Stichverletzung des Ohrs mit Ausfluss von Hirnwasser. 121. Stichverletzung des Rückenmarks. 310. Stichverletzung unter dem Warzenfortsatz. 267. Strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes. 401. Strychninvergiftung. 393. 394. 356. Strychninvergiftung d. Syrup. hypophosph. 299. Subcutane Knochenbrüche, Behandlung. 412. Sublimatvergiftung. 200. Sublimatvergiftung als Unfall. 372. Süssstoffe. 493. Suggestion u. Psychotherapie. 200. Suggestion bei Unfallkranken. 391. Syphilis, Beziehungen zum Gehörorgan. Syphilis insontium. 53. Sypurus hypophosphites. 299. Tabakfabriken. 80. Tabes dorsalis. 310. 325. 326. 415. 455. 508. Taschenbuch der medizinisch-klinischen Diag¬ nostik. 127. Taubheit, einseitige. 120. Taubstummheit. 283. Technik der speziellen Therapie. 251. Tetanie. 309. 505. Tetanie bei Scharlach. 119. Totanus. 118. Terpentinöl-Vergiftung. 78. Thermotherapie. 140. 413. 484. Thomsen’sche Krankheit. 331. Thrombophlebitis des oberen Längsblutleiters. 506. Thrombose der Art. basilaris. 508. Thyreoidin. 434. Tod in Aethernarkose. 92. Tod nach Ausschabung der Gebärmutter. 887 . 868 . Tod b. Ausschneidung d. Gaumenmandeln. 181 . Tod bei Ertrinken. 398. Tod durch Fettembolie. 347. 451. Tod durch Gehirnblutung nach dem Beischlaf. 12 . Tod des Kindes durch Zerreissung von Nabel- schnurgefässen. 23. Tod durch U eberfahren. 331. Tod durch Verblutung. 46. Todesursachen d. Geisteskranken. 390. Tötliche Cohabitationsverletzung. 66. Tötiiche Darmblutung nach Unfall. 95. Tollwuth. 11. 145. 388. Tonsillarabscess. 324. Trachom in der Ostschweiz. 223. 395. Trachom und Skrophulose. 223. Tragfähige Araputationsstümpfe. 413. Trainiren zum Sport. 22. Traumatische Atrophie des rechten Arms. 36. Traumatische Bauchbrüche. 430. 440. Traumatische Blinddarmentzündung. 180. Traumatische Brustfellentzündung. 60. Traumatischer Bubo. 286. Traumatischer Cavemitis. 199. Traumatischer Chylothorax. 198. Traumatische Coxa vara. 477. Traumatische Darmblutung. 95. Traumatische Darmverengerungen. 454. Traumatische Endocarditis. 494 « Traumatische Entstehung von Geschwülsten. 116. 259. 288. 368. Traumatische Entstehung innerer Kraukheiten. 125. Traumatische Entzündungen der Ileosakralge- lenke. 28« Traumatische Epilepsie. 377. 408. 461. Traumatische Epithelcysten. 284. Traumatische Erweiterung der Aorta abd. 266. Traumatische Exostose am Oberarmknochen. 76. Traumatische Facialislähmung. 144. Traumatische Fettgewebsnekrose des Bauch¬ fells. 182. Traumatische Gefässerkrankung. 153. Traumatischer Gelenkrheumatismus. 233. 320. 504. Traumatische Geräusche am Becken. 29. Traumatische Gliom. 288. Traumatische Herzkrankheiten. 59. 398. Traumatische Hysterie. 248. 267. Traumatische Ischias. 268. Traumatische Knochenneubildungen. 241. Traumatische Lähm. d. M. serratus. 498. Digitized by Google VIII Traumatische Lähmung des M. triceps. 85. Traumatische Lähmung des N. suprascapularis. 92. 244. Traumatische Lähmung des N. radialis. 244. Traumatische Lähmung des plexus brachialis 140. 286. 309. 433. Traumatische Leukaemie. 129. Traumatische Lungenentzündung. 60. Traumatische Magenkrankheiten. 15. 505. Traumatische multiple Sklerose. 117. 304. Traumatische Muskelatrophie. 327. Traumatische Muskelverknöcherungen. 322. Traumatischer Nahelbruch. 439. Traumatische Nephritis. 37. Traumatische Nervenkrankheiten. 21. 53.117. Traumatische Neurasthenie. 20. 297. 332. 371. 465. Traumatische Neuritis. 243. 432. Traumatische Neurosen. 47. 69. 93. 507. Traumatische oder habituelle Skoliose. 430. Traumatische Paralysis agitans. 53. Traumatische Paralysis progressiva. 488. Traumatische Peliosis rheumatica. 256. 455. Traumatische Perihepatitis. 505. Traumatische Perityphlitis. 173. 218. Traumatische Poliomyelitis ant. chron. 288. Traumatische Rückenmarksblutung. 162. 182. Traumatische Schädigungen des M. cucullaris. 261. Traumatische Scoliose. 452. Traumatische spastische Lähmung. 336. Traumatische tuberkulöse Basilarmeningitis. 77. Traumatische Tuberkulose. 400. Traumatische Verschlimmerung spastischer Cerebralparalyse. 484. Traumatische Wirbelerkrankungen. 17. 286. 302. 431. Traumatische Zerreissung der grossen Körper¬ schlagader. 277. 317. Traumatische Zuckerkrankheit. 406. Traumatischer Zwerchfellbruch. 180. Trichinenschau. 264. Trinker. 58. Trinkerheilanstalt. 275. Trionaivergiftungen. 55. Tripperspritzen. 390. Trockne Luft bei Behandlung der Mittelohr¬ krankheit. 329. Tromoparalysis tabioformis. 415. 508. Tropenhygienisches Institut. 24. Tuberkelbazillen, Einimpfung. 167. Tuberkelbazillen in Frauenmilch. 167. Tuberkelbazillen in Milch, Butter, Margarine. 289 Tuberkulose. 44. 137. 199. 400. Tuberkulose bei Eisenbahnbediensteten des Kniegelenks. 249. Tuberkulose der Knochen und Gelenke des Fuss&s. 299. Tuberkulose des Magens. 162. Typhus abdominalis. 39. 119. 354. 303. Typhus und Austern. 167. Typhus, Verbreitung. 141. 224. IJebernahrae des Heilverfahrens durch die Berufsgenossenschaften während derWarte- zeit. 7« 31« Uebertragung von Schweinerothlauf auf die Menschen. 37. Uebertragung der Tuberculose durch Circum- cision. 199. Uebungstafeln für Stammler. 335. Uebungstherapie. 181. Ulcus molle des Mastdarms. 479. Unfall. 461. (s. a. traumatische Krankheiten.) Unfall und Alkoholmissbrauch. 480. Unfall mit Carbolsäure. 372. Unfall und chronische Bleivergiftung. 405. Unfall und Diabetes mellitus. 406. Unfall und Epilepsie. 461. Unfall und Gelenkrheumatismus. 233. 320. Unfall und Gliederstarre. 484. Unfall und Invalidität. 291. Unfall und Gelenkstuberkulose. 249. Unfall und Krampfaderbruch. 463. Unfall und Lungenleiden. 355. Unfall und Myxoedem. 472. Unfall und Nabelbruch. 439. Unfall und Tollwuth. 145. Unfall und Tuberculose. 400. Unfall und Wasserbruch. 486. Unfallgefahr der einzelnen Erwerbszweige. 44. Unfallheilkunde. 102. 469. Unfallkranke 391 Unfallkranke der Göttinger Universitäts-Klinik. 283. Unfallkrankheiten. 446. Unfallnervenkrankheiten. 41. 47. 69. 93. 117. s. a. traumatische Nervenkrankheiten u. s. w. Unfallstatistik. 512. Unfallverhütungskommission. 359. Unfallverletzte. 275. Unfallversicherung in Oesterreich. 44. Unfallversicherung in Spanien. 492. Unfallversicherungsgesetz. 151. 231. 467. Unfälle durch Elektrizität. 97. 197. 372. 377. Unfälle durch Schrecken. 344. Unfallverletzung des Halses und der linken Brusthöhle. 445. Unterbringung der Deliranten in Kranken¬ häusern. 403. Unterbringung und Zurückhaltung von Geistes¬ kranken. 427. Untere Gliedmassen-Knochenbrüche. 387. Untere Gliedraassen-Gangraen. 228. Unterkieferverletzungen. 164. 439. Unterleibsbrüche. 150. Unterleibsquetschungcn. 000. Unterricht in der Unfallheilkunde. 469. Unterschenkel-Amputation nach Bier. 226. Unterschenkelbruch. 261. Unterschenkelgeschwüre. 54. Untersuchung conservirter Nahrungsmittel. 398. Untersuchung der Eisenbahnbeamten. 856. Untersuchung des Harns und sein Verhalten bei Krankheiten. 169. Untersuchung der Marktmilch. 373. Untersuchung der Wehrpflichtigen. 212. Urinbefunde nach Nierenpalpation. 262. Urningsparagraph. 492. Uterus und Magenleiden. 394. Vagabunden. 196. 209. Varicellen. 221. Vegetarische Ernährung. 436. j Verminderungen des Nervensystems bei Er¬ schütterungen. 53. Veränderung vergrabener Leichentheile. 418. Veränderung wachsenden Knochens d. Phos¬ phor. 209. Verblutungstod. 45. Verbrecher, Geisteskranke. 207. Verbreitung des Carcinoms. 449. Verbreitung der Geschlechtskrankheiten in Deutschland. 172. Verbreitung der Lepra. 380. Verbreitung der Tollwuth. 11. Verbreitung d. Typhus d. Austern. 121. 167. Verbreitung des Weichselzopfes. 353. Verbreitung der Zuckerkrankheit. 414. Verbrennung, Leichenbefund. 219. Verengerung des Pförtners. 95. Vererbung von Augenleiden. 202. Vergiftung durch Aetzlauge. 95. Vergiftung durch Anilin. 19. 457. Vergiftung durch Arsenik. 77. Vergiftung durch Arsenwasserstoff. 444. Vergiftung durch Atropin. 306. Vergiftung durch Ballongas. 181. Vergiftung durch Benzol- und Toluolderivate. 221 . Vergiftung d. Blei. 119. 168. 263. 288. 405. Vergiftung durch Brommethyl. 55. Vergiftung durch Bromoform. 142. 434. Vergiftung durch Carbolsäure. 222. 305. 372. Vergiftung durch Chlor. 141. 245. Vergiftung durch Chloroform. 222. Vergiftung durch Cocain. 201. Vergiftung durch Eserin. 168. Vergiftung durch Extr. fllicis (Tetanie). 505. Vergiftung durch Fleischgift. 127. Vergiftung durch Formalin. 43 L 505. Vergiftung durch Hyoscin 181. Vergiftung durch Jodoformglycerin. 264. Vergiftung durch Lysol. 55. Vergiftung durch Messing. 371. Vergiftung durch Nicotin. 480. Vergiftung durch Nitroglycerin. 487. Vergiftung durch Opium. 78. Vergiftung durch Paraphenylendianin. 393. Vergiftung durch Phenylhydrazin. 266. Vergiftung durch Phosphor. 78. 328. Vergiftung durch Pikrinsäure. 482. Vergiftung durch Ptomaine. 806. Vergiftung durch Sadebaumöl. 418. Vergiftung durch Quecksilber. 507. Vergiftung durch Santorin. 305. Vergiftung durch Schwefelkohlenstoff (acut). 848. 861. Vergiftung durch Schwefelsäure. 394 Vergiftung durch stark solaninhaltige Kar¬ toffeln. 39. Vergiftung durch Strychnin. 299. 893. 394. Vergiftung durch Sublimat. 200. 372. Vergiftung durch Terpentinöl. 78. Vergiftung durch Trional. 55. Vergiftung durch Wasserschierling. 293. Vergiftungen als Betriebsunfälle. 372. Vergiftungen in Betrieben und das Unfallge¬ setz. 238. Vergiftungen in Preussen 1897 und 98. 886. Verhütung von Geisteskrankheiten. 433. Verhütung von Geschlechtskrankheiten. 379. Verjährung ärztlicher Forderungen. 59. Verkehr mit Geheimmitteln. 183. Verkehr mit Arzneimitteln ausserh. der Apo¬ theken. 418. Verletzung durch einen Prellschuss ohne Schä¬ digung der Kleider. 411. Verletzungen s. a. Quetschungen, Schussver¬ letzungen, Stichverletzungen,Zerreissungen. Verletzungen der Arteria glutaea u. ischiadica. 14. Verletzungen der Augenhöhle. 395. Verletzungen des Bauches durch stumpfe Ge¬ walt. 429. Verletzungen der Bauchspeicheldrüse. 141. Verletzungen des Beckens bei Entbindung. 223. Verletzungen der Brusthöhle. 163. 198. 445. Verletzungen des Conus terminalis. 183. Verletzungen des Darms. 267. 285. 430. 504. Verletzungen des Ellbogengelenks. 484. Verletzungen der Gesichtsknochen. 144. Verletzungen des Gehörgangs. 164. Verletzungen der Gliedmassen, Mortalität. 387. Verletzungen der Halswirbelsäule. 376. Verletzungen des Harnapparats. 145. Verletzungen des Harnleiters. 81. Verletzungen des kindl. Schädels bei Becken¬ enge. 223. Verletzungen der Lunge. 53. 163. 263. Verletzungen der Niere. 439. 483. Verletzungen des N. facialis. 267. Verletzungen des Plexus sacralis. 304. Verletzungen des Rückenmarks. 35. 378. Verletzungen des Scheidengewölbes. 97. Verletzungen des Sehorgans durch Kalk. 150. Verletzungen des Sprachcentrums 437. Verletzungen des Truncus anonymus. 375. Verletzungen der Wirbelsäule. 387. s. a. Quet¬ schungen, Schussverletzungen, Stichver¬ letzungen. Vermeidung unbegründeter Rentenansprüche für Unterleibsbrüche. 150. Verrenkung des Kahnbeins n. unten. 461. Verrenkung der Kniescheibe. 267. 478. Verrenkung des Schultergelenks. 478. Verrenkungen im Hüftgelenk. 478. Verrenkungen im Kniegelenk. 185. Versaraminngsberichte: Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in München. 17. 40. — Verein der Bahn- und Kassenärzte im Bezirk Essen. 18. — Hygienekongress in Corao. 19. — Psy¬ chiatrischer Verein in Berlin. 57. 396. — Nürnberger Medizinische Gesellschaft. 59.268. — Freie Vereinigung der Chirurgen Berlins. 81. 182. 266. — Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz. 98. — Bahn- ärzte-Verein für den Bezirk Magdeburg. 143. — Medizinisch-Naturwissenschaftliche Gesellschaft zu Jena. 144. 268. — Ge¬ sellschaft der Charitö-Aerzte. 144. — Ver¬ ein der Aerzte zu Halle a. S. 144. — Verein für innere Medizin zu Berlin. 144. 266. — Gesellschaft der Aerzte in Wien. 145. 267. — Altonaer Aerztlicher Verein 145. — Ausschusssitzung des Verbandes Deutscher Bahnärzte. 166. — Sociötö de Mödecine publique et d’Hygiene professio¬ nelle. 167. — Acadömio de Mödecine. 167. — Sociötö de Biologie. 167. — Soci6t6 mödicale des Höpitaux. 168. — Biolo¬ gische Abtheilung des Aerztlichen Vereins Digitized by Google IX Hamburg. 182. — Wiener Medizinischer Klub. 183. 267. — Verein der Deutschen Irrenärzte. 204 — Deutsche Gesellschaft für Chirurgie. 208. 225. — Verein der Bahn- und Kassenärzte im Bezirk Katto- witz. 228. — Wanderversamralung der südwestdeutschen Neurologen und Irren¬ ärzte. 246. — Berliner Medizinische Ge¬ sellschaft. 266. — Wissenschaftlicher Verein der Militärärzte der Garnison Wien. 267. — Medizinische Sektion der Schlesi¬ schen Gesellschaft für vaterländische Kul¬ tur. 268. — Verein Deutscher Bahnärzte. 289. — Berliner Gesellschaft für Psychia¬ trie. 309. 330. — Sociötd de mddecine legale de France. 331. — Internationaler Medizinischer Kongress in Paris. 353. 374. 397. — Verein der Bahn-und Kassen¬ ärzte im Bezirk Erfurt. 354. — Preussi- scher Medizinalbeamten-Verein. 418. — 72. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Aachen. 436. 461. 483. — British Medical Association. 463. — Verein der Bahn- und Kassenärzte im Bezirk Halle. 485. Versicherungsgesetzentwürfe in Deutschland und der Schweiz. 231. Verstauchung des Kniegelenks. 95. Verwandtenheirath und Taubstumruheit. 283. Vibrationsmassage 329. Vicariirende Blutungen. 307. Vicariirende Funktion der Vorderarramuskeln. 288. Volksbäder. 64. Volksgesundheitspflege. 444. 493. Vorschriften zur Ausführung des Impfgesetzes. 193. Volks-Nervenheiistätten. 98. Volvulus coeci. 479. Vorsichtsmassregeln b. Selbstkatetrisiren. 273. Vortäuschungsraöglichkeit einseitiger schlaffer Ptosis. 4$8. Wäschedesinfektion. 353. Wanderniere. 324. 325. Wandertrieb. 73. 74. Warzentheil-Operationen. 352. Was müssen die Berufsgenossenschafteu von den Aerzten verlangen? 357. Wasserbruch. 486. Wassergas. 374. 417. Wasserreinigung. 289. Wasserschierlingvergiftung. 393. Wasserversorgungs-Anlagen. 246. 468. Weichselzopf, Verbreitung. 353. Weiträumige Bauweise. 435. Wiederanheilung des abgetrennten Daumen¬ endgliedes. 412. Wiederbelebungsmittel. 167. Wiederbeschäftigung v.Unfall verletzten.275.511 Willkürliche Knieluxation. 96. Wirbelbrüche Operation. 267. Wirbelbrüche Statistik. 375. Wirbelkrankheiten. 17. 34. 286. 302. 431. 490. Wirbelsäule-Verletzung 267. 376. 387. 452. Wochenbettfleber. 463. Wohnungsdesinfektion. 419. Wohnungshygiene. 2ß4. 396. 435. 460. Wortblindheit. 370. Zahnheilkunde i. d. gerichtlichen Medizin. 313. Zahnkrankheit als Ursachen e. Neurose. 481. Zellgewebsentzündungen. 392. 436. Zerreissung der Aorta. 277. Zerroissung der Arteria femoralis. 186. Zerreissung des Augapfels. 435. Zerreissung von Bauchmuskeln. 285. Zerreissung der Harnröhre. 182. Zerreissung der Leber. 268. Zerreissung der Lunge. 53. 263. Zerreissung der Milz. 242. 268. Zerreissung des Musculus biceps. 240. 267. Zerreissung des Nabelstrangs. 96. Zerreissung der Ohrmuschel u. des äusseren Gehörgangs. 416. Zerreissung des Plexus brachialis. 286. Zerreissung beider Quadricepssehnen. 240. Zerreissung von Sehnen. 145. 239. 478. Zerreissung der Speiseröhre. 182. Zerrung des Bauchfells. 40. Zeugungsfahigkeit. 389. Zimmerdesinfection. 183. 203. 396. Zinkhütten. 104. Zuckerkrankheit. 121. 348. 406. 414. Zündhütohenverletzung des Auges. 245. Zukunft der gerichtl. Medicin in Preussen. 425. Zulassung der Realgyranasialabiturienten zum ärztlichen Studium. 191« Zunahme der Krebserkrankungen. 198. Zusammenhang zw. Uterus u. Magenleiden. 394. Zusatz schwefelsaurer Salze zum Fleisch. 264. Zuverlässigkeit verletzter Personen nach schwe¬ ren Schädelverletzungen. 258. Zuziehung von Kurpfuschern bei Unfällen. 404. Zwerchfellbruch. 180. 349. 430. Abrahams, R. 305. Adler. 211. Alexander. 97. Allport. 329. Alt. 12. Altmann, L. 305. Ammann. 441. Amoedo. 313. Andrassy. 430. Andreae. 150. Andrews. 329. Angerer. 227. Annett. 289. Arnold, B. 413. Arnold, C. 491. Bach. 399. Bäck. 223. Bähr, F. 54.405.461.462. Bärri. 242. Baeumler. 180. Ballet u. Bernard. 327. Ballner. 460. Barabo. 268. v. Baracz. 103. Bardenheuer. 436. 437. Bardescu. 54. Bartz. 437. Bathen. 372. Bauer, C. 223. Bauer, P. 197. Bauer-Troppau. 411. Bayer-Cöln. 96. Bechterew. 262. Beck, M. 373. Becker, L. 288. 446. Becker, Ph. F. 371. Becker-Aachen. 438. Behla. 115. 116. 449. Beier. 169. Bell. 398. Benda u. Lilienfeld. 330. v. Bergmann. 201. 438. Bergmann-Wolfhagen. 753. Bernhardt. 162. 288. 309. 508. Bernstein, M. 379. Berry. 435. Bessel-Hagen. 226. Bettmann. 484. Beyer. 244. Autorenregister. (Die fettgedruckten Zahlen bezeichnen Original-Artikel.) Beythin. 263. Bezold. 416. Bier. 367. Blaschko. 203. Blencke. 117. Bloch. 80. Bloch, E. 370. Boas. 354. Bogatsch. 8. 71. Bohlen. 55. Bonhöflfer, 206. Bonsmann. 223. Bornträger. 264. 472. Bourget. 354. Braehmer. 270. Bräuninger. 244. Brandenburg. 245. Braquehaye 374. Brasch, M. 310. 330. Brassert. 433. Brauer. 245. Braun-Altona. 145. Braun-Fern wald. 120. Brauns. 355. I Bregraan. 74. Brennecke. 466. Brentano. 226. Bresgen. 489. Broca u. Sapelier. 167. Brodmann. 432. Brouardel. 398. 457. Brouardel, Ogier u. Vibert. 306. Brown. 186. , Brugisser. 349. Büdinger. 145. 1 Bum. 181. Bunge. 226. 228. Burgl. 53. 415. i Burghart. 94. I Burkhardt. 491. Burnett. 416. , Busse. 251. Byschowski. 480. Carwardine. 368. Castiaux u. Laugier. 398. Ceccherelli. 375. Celli. 199. Chipault. 375. I Chitrowo. 479. Clemens. 485. Coester. 117. Cohn, Th. 242. Cohnheim. 286. Corin. 398. Cotton, J. F. 304. Crone. 181. Czerny. 208. Dämmer. 505. Danker. 452 Dannemann. 208. Dansauer. 268. Danziger. 103. Däubler, C. 302. Deiters. 430. Descoust. 397. Destot. 376. Dieckerhoflf. 149. Dieulafoy. 353. I Dommer. 273. Donath. 73. Drastich. 267. Dubois. 200. Düms. 484. Dünschmann. 411. liürck. 273. Dreyer. 283. Dufour. 331. Dumont. 450. Dunbar. 78. Dunbar u. Dreyer. 459. Durran. 386. j Dwornitschenko. 302. Edel, M. 158. 861. 884. Eder. 200. Edinger. 506. Egger. 394. Ehret. 54. 161. Ehrle. 396. Eichel. 430. 431. Einhorn. 354. v. Eiseisberg. 226. Eitelberg. 328. Elben. 77. Eliot. 186. Elsner. 43. Emmert. 401. Engster. 434. Erb. 325. Erlenmeyer. 506. Eschweiler. 164. v. Esmarch. 83. Euphrat 39. Ewald. 81. Eyre. 460. Fick. 76. Fischer, L. 455. Fink. 352 Flachs. 329. Fischer-Dückelrnann. 230. Flesch. 240. Förster, A. 491. Förster-Königsberg. 353. Förster u. Frankel. 326. Fraenkel, A. 53. Fraenkel, B. 266. Fraenkel, C. 329. Fränkel, E. 102. Frank-Cöln. 437. 438. Franke 369. 505. Franz. 476. Friedemann. 203. Friedländer. 221. Frommer u. Panek 264. Fuchs, A. 263. Fuchs, T. 221. Fuchs, W. 273. Fürbringer. 178. Fürst, L. 225. 121. Gaertner. 329. v. Gaessler. 416. 1 Gallois 354. Garcin. 817. Gaupp, R. 304. Gautier. 167. Georgii. 460. Gerber. 389. Gerland. 482. Geyer. 77. Glauning. 434. Glücksmann. 501. Gluck. 226. Goldman, H. 402. Golebiewski. 102. Gollmer. 176. 841. Gowers. 350. Gradenigo. 201. Grahn. 246. Granler. 21. Graser 17. Gratz. 95. Grebner. 455. i Groenouw. 37. I Grünbaum. 267. , Guiast. 167. Gumpertz. 85. 185 . 157 . 331. I Gumprecht. 12. 251. | Gussmann. 223. Gutmann. 457. Guttmann-Otterndorf. 95. 201 . Guttmann-Halberstadt. 350. Guttstadt. 423. Habart. 267. Haberda. 214. 306. Haberkamp. 16. Hadenfeldt. 95. Hämig und Silberschmidt. 347. Haenel. 221. 263. Hagedorn. 309. Hahn, 0. 34. 303. 368. Hahn (Amtsgerichtsrat). 5. Halliburton. 436. Hammerschlag. 183. Handmann. 198. Hamier. 390. Harrington. 323. Hartraann-Jena. 475. Hartinann-Pfaffenhofen. 346. Hasslauer. 164. j Hauck. 117. I Hauenschild. 425. | Hausmann. 479. Haworth. 434. i Heermann. 535. ; Heidenbain. 413. Heim. 303. | Heimann, G. 886. 390. 414. 1 Heimann,Schw.Hall. 76 430. Hoimberger. 401. I Heintze. 182. ' Helm. 373. ' Henle. 464. Henneberg. 310. 396. 508. i Hennicke. 458. Hennig. 103. | Henschen. 328. I Hensgen. 483. ' Herhold. 96. 285. 1 Hernandez. 375. 1 Herrmann. 223. Digitized by Google X Herxheimer. 141. Herzfeld, J. 309. Herzfeld-Berlin. 485. Herzog. 55. Hesse. 165. 481. Hildebrand. 37. Hildebrandt. 418. Hilimann. 268. Hilse. 86. Hinshelwood. 370. Hippel. 428. Hirsch. 349. Hirsch, H. H. 14. Hirschberg. 395. Hofacker. 52. Hoffa. 74. 149. 227. 284. 478. 490. Hoffmann, Aug. 98.287.442. Hofmann, M. 244. Hohenthal. 140. Honigmann, D. 324. Hoole. 22. Hoppe. 305. 456. Hoppe-Seyler. 199. Horclcka. 121. Horowitz. 199. Hammel. 120. Huth, A. H. 284. Huth-Prenzlau. 288. Hg. 262. Ipsen, C. 302. Ischreyt. 295. Jacobsohn, L. 310. Jeney. 267. Jess. 511. Jessen. 505. Jessner. 490. Johnston. 372. Jolly. 310. 507. Jolly. 144. Jonas, £. 299. Joseph. M. 187. 511. Kaeppeli. 430. Kafemann. 358. 359. Kammer. 266. Kaplan. 57. 411. Kaposi. 169. Katz-Nürnberg. 59. 268. Katzenstein. 439. 476. Kaufmann-Zürich. 387. Kayser. 56. Kazowsky. 53. Keferstein. 419. Kehrer. 389. Keschmann. 395. Kötly. 220. Kienböck. 36. 183. Killian. 506. Kirchner. M. 1. 166. 388. Kirste. 268. Kirstein. 504. Kisch. 295. Kissinger. 387. 504. Klapp. 413. Klink. 243. Klüber. 434. Knapp. 288. Kobert. 16. Kobler. 288. 324. Koch, E. 337. Kockel. 411. Kolben. 73. Köllicker. 228. König, Fritz. Altona. 163. König, Franz, Berlin. 225. König, J., Münster. 225. König-Dalldorf. 330. Körner, 0. 102. 224. 506. Kolben. 73. Kornfeld. 240. 390. Kraepelin. 247. Krafft-Ebing. 391. Krahn. 369. Krapf. 179. Krecke. 392. Krenser. 94. 205. Kröhnke. 209. Krohne. 351. Kühn. 119. Kutschera, v. 129. Laborde. 167. Lam 373. Landau, L. 837. 363. Länderer. 507. Landouzy. 457. Landwehr. 97. Lange, F. 284. Lange-Hermstadt. 141. Laquer. 247. Laub. 15. Lauenstein. 323. Laugier. 398. Le Fort. 375. Lehmann u. Neuraann. 63. Lehr. 143. Leichtenstern u. Weischer. 348. Lenei. 204. 247. Lengnick. 116. 387. Lennhoff. 406. Leonpacher. 222. Leppmann, A. 213.297.425. Leppraann, F. 277. Lesage. 168. Leser. 211. Lettis u. Potts. 457. Leuw. 180. Lewin, S. 238. Lewschin. 387. y. Leyden. 266. Lieblein. 388. Liebmann, A. 103.221.335. Liebreich. 56. Liepmann. 397. Lilienstein. 507. Linow, 53. Lissauer. 96. Litten. 469. 493. Lobstein. 325. Loeblowitz. 435. Loehnberg. 121. Lohmar. 379. Longard. 437. Loos. 321. Lorenz. 438. Lorenz, H. 449. Lotheissen. 197. Lubarsch. 418. Lucas-Championöre. 376. Lüddekens. 122. j Lüth. 94. I Macfadyen u. Rowland. | 483. I Machol. 259. i Maeder. 198. | v. Mangold. 209. ! Mannaberg. 354. Marcinowski. 408. Marcuse, J. 66. 265. 395. I Maröchal. 243. I Maröchaux. 253. Marer. 78. I Mari. 475. Mariresco. 167. Markwald. 118. Martens. 453. Martin-Cöln. 439. Martin-Paris. 167. Martin-Lyon. 397. Marx. 11. 388. Matthäi. 211. Mathieu. 354. Mayer-Simraern. 78. 256. 475. Mendel, E. 387. Mendel, F. 97. Menge. 262. Merttens. 97. Messerer. 346. Meunier. 167. Meyer, G. 57. Meyer, F. 265. Meyer, Fr. (Landesrat.) 462. Michaelscn 25. Mills, Roberts. 185. Mintz. 285. Mock. 435. Model. 78. Moebius-Berlin. 353. Moebius-Leipzig. 219. Moeli. 57. 397. Mönkemölleru. Kaplan. 411. Moll 456. Morian. 439. Mosny. 167. Muck. 121. 143. 202. 458. 199. 308. Mühlig. 119. Müller-Aachen. 437. Müller, R., Berlin. 196. 351. 352. 459. Müller, Fr. E. 357. Müller, Erdmann. 480. Müller-Beckenried. 478. Mugdan. 293. Mulert. 165. Murray. 371. Mu8catello u. Gangitano. 450. Muthmann. 245. Maecke. 328. Nagelschmidt. Naunyn. 162. Neck. 504. Nessel. 394. Netter. 354. 1 Neugebauer, F. 1 Neumann, R. 63. Neumann-Wien. 199. ; Nouschläfer. 76. I Niebergall. 323. ; Niehues. 438. Noltenius. 329. > Nussbaum. 416. ' Oberst. 431. Ogier. 398. Okada. 309. ! Oppenheim-Berlin. 73.117. I 182. I Oppen heim-Basel. 38. I Ottolenghi. 398. I Paffrath. 445 ' Pagenstecher. 240. I Par tisch. 88. 109. I Partos. 2 »2. 1 Passow. 96. 459. I Paulsen. 149. Payr. 451. 478. Peiper. 461. Peltesohn. 286. Peretti. 98. Pergens. 289. Perthos. 260. Petersen. 227. Petit. 168. Petrucci. 432. Pefctorsson. 165. Petzold. 241. Pfeiffer-Berlin. 146. Pfuhl. 39. Piskocek. 82. Placzek. 428. 473. 498. Podwyssotzki. 116. Pollak. 393. Preobrashensky. 300. Preysing. 458. Pribram. 393. Pouchet. 398. Puchowski u. Katschkat- schew. 481. Quadflieg. 438. Quincke. 389. Racoviceanu-Pitosci. 374. Raecke. 220. Raramstedt. 144. 322. v. Ranke. 450. Redlich. 161. Reichard. 81. Reiche. 115. 449. Reichel. 226. Relchenbaoh. 261. Rcissmann. 285. Rönon. 168. Respinger. 321. Reuter. 219. Richter, M. 302. Riedinger. J. 452. Rieger. 232. Riemann. 37. Riese. 81. Rinne. 81. Robson. 375. Rodrigues. 328. Roger u. Garnier. Römer. 142. Röseler. 374. 417. Rösing. 429. Rose. 266. Rosenbaura. 285. Roth. 294. 167. Rothholz. 34. Rothschild. 198. 423. Rotter. 182. Roubinovith. 168. Rubinstein. 228. 286. Rubner. 264. Sachs, H. u. C. S. Freund. 21 . Sänger. 506. Salomon-Kiol. 389. Salomon-Savignö. 412. Salomonsohn. 415. Schaffer, 0. 83. 230. Schäflfer, E. 307. Schäflfer-Loun. 461. Schanz. 302. Schede. 268. Scheele. 242. Scholenz. 510. Schenk. 367. Schindler. 485 Schirmer 142. Schlegtendal. 224. Schlesinger, H. 286. 183. 8chlicht. 459 Schlockow, Roth, Lepp¬ mann. 334. Schloffer 454. Schmidt-Diburg. 142. Schmidt-Freiburg. 404. Schmidt, M. B., Strass¬ burg. 368. Schmidt-Völklingen. 478. Schmidt-Wuhlgarten. 58. Schmidt-Rimplor. 15. Schmock. 53. Schneider. 92. Schnitzler. 267. 502. Schober. 378. Scholder. 241. Scholtz, W. 116. Scholz, F. 43. Scholz, Fr. 378. Scholze. 245. Schönichen u. Kalberlah. 491. Schönstadt. 436. Schottmüller. 180. Schrimpel. 80. Schuchard, R. 412. Schuchardt— Gotha. 181. Schüller. 267. Schütz, J. 105. Schüler. 55. Schultze, E. 369. Schultze, Fr. 414. Schulz, J. 17. 302. Schulz, M. 198. 216. Schulze, F. 387. 437. 484. Schuster. 310. Schwabach. 201. Schwarze. 28. Sehrwaid. 110. Seifert und Müller. 127. Seiflfer. 309. 326. 331. 391. 508. Seitz. 241. Seilner. 242. Senator. 60. Severano 374. Seydel. 45. 263. Sieczkowska. 243. i Siemerling. 207. ■ Silberschmidt. 119. ; Simeon. 143. Siramond8. 162. 182. Sjölbrig. 116. t Sioli. 207. Smith. 222. 433. Solbrig. 165. Spitzer. 163. Sprengel. 477. Sprongeler. 200. Springfeld. 211. 510. SpringMd. u. Sieber. 294. Stein, J. 370. Stenger. 458. Stern-Cassel. 439. Stern-Düsseldorf. 439. Stern, E. 141. Stern, R. 15. 37. 125. Stewart und Collier. 286. Still. 186. Stolle. 181. Stolper. 35. 510. Strauss. 93. Stübbcn. 435. v. Stubenrauch. 209. Stüber. 479. Stummel. 182. Strümpell. 431. Sudeck. 412. Szalardi. 265. Szigeti. 399. Tarulla. 354. Tavel. 118. Terrien. 393. Thibaut. 167. Thiele. 179. Thiera. 40. 140. 461. 462. 484. Thiery. 376. Tilmann. 261. 477. Tietze. 412. H. Thompson. 185. Thorn. 36. Trnka. 75. Tschom. 294. Tuffler. 374. 376. Tuszkai. 394. Uflfelmann u. Pfeiffer. 467. Ughetti. 211. Uhleraann. 288. Uhthoff. 288. Ulbrich. 372. Varendorflf, von. 14. Viertel. 438. Violet 167. Vladim-Slavik. 33. Voelcker. 368. Vogel-Bonn. 55. Vogel-Hamburg. 183. Voigt-Erfurt. 355. Vogt. 244. Vollandt 223. Vossius. 202. Vulpius. 239. 438. Wachholz. 258. 302. Wagen mann. 144. Wagner-Aachen. 485. Wagner-Speldorf. 47. 69. Walter. 417. Wanitschek. 370. Watten. 503. Wattenberg. 74. Wegele. 442. Wehmer. 202. Weinlechner. 267. Weiss und KlingelhölTer. 38. Weissenfeld. 80. Welzel. 294. Wentscher. 75. Westphal. 309. 391. Westphalen und Fick. 76. Wiehmann. 65. Wickel. 13. 92. Widenmann. 144. Wiersma. 98. Wilbrandt u. Sänger. 295. Williamsou. 414. Winckler. 125. Windscheid. 149. Winterberg. 482. Witte. 143. Wittner. 161. Witzel-Dortmund. 439. Wohlgemuth. 228. Wolf-Danzig. 92. 820. Wolflf- Berlinchen. 218. 257. Wolflf-Harburg. 396. Würz. 367. Wuhrmann. 324. Wulff. 324. Wulflfert. 482. Zeitlmann. 291. Zeper. 143. Ziehen. 258. Ziemke. 397. 419. Zimmer. 195. Zinn. 119. Zorn 505. Zotos. 348. Zouche-Marshall. 449. Zum Busch. Druck von Albert D&mcke, Berlic-Schöneberg. Digitized by h. 97. lOOglC ▲Ile MenaekrlpU, MlUheHungen and redektloaellen Anftagea beliebe mu ra senden an Senitltsratb Dr. L Becker, Berlin 8W-, Oneiseneostr» 90. Korrekturen, Beeenslons-Exem* plare, Sonderebdrdcke an die Verlaftebnohbaadlungi Inserat« nnd Beilagen an die Annoncen-Expedition ron Rudolf Moese. Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und Unfall-Heilkunde. DU „Aentllcbe Bachrerstlndigen-Zeltung* erscheint monatlieb ■weimal. Dieselbe ist su bestehen durch den Buchhandel, die Poet (No. 86) oder durch die Verlagsbuchhandlung ron Richard Schoeti, Berlin NW., Luisenstr. 86, rum Preise ▼on lfk. 6— pro Vierteljahr. Aerztliche Herausgegeben von Dr. L. Becker und Dr. A. Leppmann Sanltltsrath, Königlicher Phjsikus, Vertrauensarxt Sanitltsrath, Königlicher Physikns, Ant der Beobachtungsanstalt für gelstes- Ton Beruikgenossensohaften und Schiedsgerichten. kranke Oefkngene ln Moabit-Berlin, 8posialarst für Herren- u. Geisteskranke. Verlag von Richard Schoetz, Berlin NW., Luisenstrasse 36. VI. Jahrgang 1900. Ml. Ausgegeben am 1. Januar. Inhalt: Originallen: Kirchner, Die Aufgaben des Schularztes. S. 1. Hahn, Die Ehescheidungsgründo nach dem neuen Recht. S. 5. Bogatsch, Mit welchem Rechte empfiehlt das Reichs-Versicherungs- arat den Berufsgonossenschaften die Uebernahmo des Heilver¬ fahrens während der Wartezeit, nnd wie setzen diese es am Besten ins Werk? (Fortsetzung.) S. 7. Referate: Allgemeines. Marx, Ueher die Verbreitung der Tollwuth und das Auftreten derselben beim Menschen, sowie die Erfolge der Be¬ handlung in neuester Zeit. 8. 11. Laub, Klinische Beiträge zur Lehre vom Status thyraicus. S. 11. Gum p recht. Mors praecox exhaomorrhagia corebri postcoitum. S 12. Psychiatrie u. Neurologie. Alt, Ueber familiäre Irrenpflege. S. 12. Wickel, Kasuistische Beiträge zur Differenzialdiaguose zwischen Lues cerebri diffusa und dementia paralytica. 8. 13. Chirurgie, v. Varendorff, Ueber die Verletzungen und Aneurysmen der Art. glutaea und ischiadica. S. 14. Hirsch, Erzielung tragfähigor Stümpfe durch Nachbehandlung. S.14. Innere Medizin. Stern, Ueber traumatische Erkrankungen der Magen¬ schleimhaut. S. 15. Augen. Schmidt-Rimpler, Ueher binoculares, stereoskopisches und körperliches Sehen bei einseitiger Aphakie und einseitiger Seh¬ schwache unter Berücksichtigung der Unfallgesetzgebung. S, 15. Haberkamp, Doppelseitige Erblindung durch Teschingschuss. S. 16. Hygiene. K o b e r t, Ueber die Ansteckungsgefahr in Eisenbahnwagen. S. 16. Aus Versammlungen und Vereinen. 71. Naturforscher-Versammlung zu München, Beurtheilung von Unterleibsbrüchen, — Spon¬ dylitis traumatica. S. 17. — Bahnärztl. Verein des Bezirks E88en, Versammlungsbericht. S. 17. Aus der italienischen Literatur. Vom Hygiene-Kongress zu Como am 28. September 1899. S. 19. Gebührenwesen. Nachträgliche Liquidation in gerichtlichen Fällen. S.20. Gerichtliche Entscheidungen: Aus dem Reichs-Versicherungsamt. Traumatische Neurasthenie. S. 20. Aus dom Kammergoricht. Jeder Zusatz von Präservesalz zum Schabefleisch ist gesundheitsschädlich. S. 21. Bücherbesprechungen und Anzeigen: Granier, Lehrbuch für Heil- gehülfen und Massöre. — Sachs u. Freund, Die Erkrank¬ ungen des Nervensystems nach Unfällen. — Hoole, Das Trai- niren zum Sport. S. 21. Tagesgeschichte: Die Ohnmacht der geltenden Strafgesetze gegenüber der Kurpfuscherei. — Anstellung von Schulärzten in Berlin. — Polizeiärztin in Berlin. — Warnung vor einem Kurpfuscher. — Aufenthalts- und Uebernachtungsräume für Eisonbahnbeamte. — Tropenhygienisches Institut in Hamburg. — Der internationale Kongress für Unfallgesetzgebung. S. 22. Fragen und Antworten. S. 24. Die Aufgaben des Schularztes. Von Dr. Martin Kirchner, Geh. Medizinalratb und Professor. Seit Pappenheim zum ersten Male die Forderung einer ärztlichen Schulaufsicht stellte (1859), vergingen noch 36 Jahre, ehe es zur ersten Anstellung von Schulärzten in Deutschland, und zwar in Wiesbaden (1895) kam. Mehr als ein Menschenalter, reich an Kämpfen und Missverständnissen schmerzlichster Art, musste vergehen, ehe dieser, dem Hygie¬ niker selbstverständliche Gedanke in die Praxis übersetzt werden konnte. Heut, wo wir am Abschluss dieser Ent¬ wickelung stehen, und die ärztliche Schulaufsicht sich bereits in mehreren deutschen Städten erprobt hat, heut, wo wir hoffen dürfen, bald in allen grösseren Städten Schulärzte in Thätig- keit zu sehen, können wir es uns versagen, auf die Zeit des Zweifels und der Kämpfe näher einzugehen. Für den Freund der Schule und der Jugend, der beide in Blüthe und Frische Behen möchte, ist es heut wichtiger, zu prüfen, wie die schul¬ ärztliche Thätigkeit gestaltet werden muss, damit sie den von ihr erhofften Nutzen voll ausüben, damit dieses in das Uhr¬ werk der Schule neu eingesetzte Rad ohne Reibungen in Wirksamkeit treten kann. Denn darüber darf man sich keiner Täuschung hingeben, dass die Frage des Schularztes auch dort, wo es zur Anstellung von Schulärzten bereits gekommen ist, sich noch immer im Stadium des Versuches befindet, des Versuches, den die Gegner der Einrichtung mit kritischem Auge beobachten, um bei erster passender Gelegenheit ihre Schwächen aufzudecken und wo¬ möglich die ganze Einrichtung wieder rückgängig zu machen Ist es doch bekanntlich viel leichter, Freunde zu gewinnen, als sich dieselben zu erhalten; eine Stellung zu erobern, als sie siegreich zu behaupten. Und ist es doch viel verhängnis¬ voller für eine Neuerung, wenn sie nach einer Prüfung wieder aufgegeben werden muss, als wenn es mit ihr garnicht zu einer Prüfung kommt. Denn in letzterem Falle bleibt immer noch die Hoffnung, dass ein künftiger Versuch gelingen wird, während im ersten Falle meist alles verloren ist. Gerade im Anfang muss daher besonders sorgfältig Alles vermieden werden, was die Einrichtung des Schularztes in Misskredit bringen kann. Dazu gehört Dreierlei: erstens eine wohlüberlegte Abgrenzung der schulärztlichen Aufgaben; zweitens eine gründliche Unterweisung der Aerzte sowohl als auch der Lehrer in der Schulgesundheitspflege; endlich drittens eine sorgfältige Auswahl der zum Schularzt wirklich geeigneten Persönlichkeiten. Die bekannte Reclam’sche These (1869) verlangte, dass in jeder Schulbehörde (Schulvorstand, Schulkommission), welche die Aufsicht des Staates über die Schulen einer Gemeinde ausübt, sowie in jeder höheren Schulbehörde einer Provinz Digitized by Google Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 1. oder eines Staates unter ihren Mitgliedern ein Arzt sein sollte, welcher die gleichen Rechte wie die übrigen Mitglieder besitzen und an allen Sitzungen, Berathungen und Abstimmungen theilnehmen sollte. Dies war sowohl zu viel als zu wenig; zu viel, als es ja zweifellos weder im Interesse der Schule noch des Schularztes selbst liegen kann, wenn letzterer das Recht bezw. die Pflicht hat, an allen Sitzungen u. s. w. der Schulbehörde theilzu- nehmen; es genügte doch wohl, dass sich dieses Recht auf diejenigen Sitzungen beschränkte, in denen Fragen der Schul¬ gesundheitspflege zur Erörterung stehen; zu wenig, als in dieser These von einer praktischen Thätigkeit des Schularztes, von einer Beaufsichtigung der Schuleinrichtungen und einer Ueber- wachung des Gesundheitszustandes der Schüler keine Rede ist. Sehr viel klarer, aber auch sehr viel fragwürdiger waren die Thesen, welche H. Cohn auf dem IV. Internationalen Kongress für Hygiene und Demographie in Genf 1882 aufstellte. Auch er forderte für den Schularzt Sitz und Stimme im Schul¬ vorstande, gab aber ausserdem eine genaue Aufstellung der schulärztlichen Pflichten. Cohn wünschte, dass der Schul¬ arzt bei Neubauten den Bauplatz und Bauplan hygienisch begutachten und den Neubau hygienisch überwachen, — bei Beginn jeden Semesters in jeder Klasse alle Kinder messen und setzen — alljährlich die Refraktion der Augen jedes Schulkindes bestimmen, — die Schülerzahl in den einzelnen Klassen bestimmen, schlechtes Schulmobiliar und Lehr¬ material entfernen, — mindestens monatlich einmal die Klassenzimmer während des Unterrichts besuchen und besonders auf die Beleuchtung, Lüftung und Heizung der Räume, sowie auf die Haltung der Kinder achten, — bei der Aufstellung desLehrplanes mitwirken, —dieBekämpfung ansteckender Erkrankungen von Schulkindern leiten und die von ihm über die Veränderungen der Augen bei den Schülern geführten Journale alljährlich einreichen sollte. Diese Abgrenzung der Aufgaben des Schularztes erregte lebhafte Misstimmung in Lehrerkreisen; nicht mit Unrecht, denn war schon ihre Form wenig conciliant, so schoss ihr Inhalt unzweifellos über das Ziel hinaus. Einerseits soll nach H. Cohn jeder praktische Arzt von dem Schulvorstande als Schularzt gewählt werden können, was gewiss keine genügende Gewähr für die Geeignetheit der Persönlichkeit zu diesem verantwortungsvollen Amte bietet, da wir vom Schularzt nicht nur grossen persönlichen Takt, sondern auch ein nicht gewöhnliches Maass vonschulhygienischen Kenntnissen verlangen müssen. Andererseits will Cohn diesem Schularzt eine diktatorische Gewalt beigelegt wissen: „seine hygienischen Anordnungen müssen ausgeführt werden;“ „seinen Anordnungen betreffs der Zahl, Lage und Grösse der Fenster, der Heiz- und Ventilations¬ einrichtungen, der Klosette, sowie der Subsellien muss Folge gegeben werden;“ er „hat die Pflicht, in Zimmern, welche dunkle Plätze haben, die Zahl der Schüler zu beschränken, ferner Schulmobiliar, weiches den Schüler zum Krummsitzen zwingt, und Schulbücher, welche schlecht gedruckt sind, zu entfernen.“ Derartige exorbitante Forderungen, welche den Schularzt zum unumschränkten Gebieter machen, kann man denselben Vorwurf nicht ersparen, der von Seiten der Lehrer nicht mit Unrecht gegen eine Reihe aus ärztlicher Feder stammender Schriften über Schulhygiene erhoben worden ist, dass sie über das Ziel hinausschiessen und eine zweckmässige Ab¬ grenzung zwischen den Rechten des Lehrers und des Arztes nicht ermöglichen. Wie viel mehr hätte schon C. J. Lorinser mit seinem 1836 erschienenen Aufsatze „Zum Schutz der Ge¬ sundheit in den Schulen“ erreicht, wieviel eher hätten seine ärztlichen Nachfolger im Streit um die Schulhygiene ihr schönes Ziel erreicht, wenn sie sich strenger an das Erreichbare ge¬ halten und mehr Werth darauf gelegt hätten, die Lehrerwelt für die Interessen der Schulhygiene zu gewinnen, anstatt durch rückhaltlose Aufdeckung der Schäden der Schule gleich alles auf einmal erreichen zu wollen. Es soll ihnen aus diesem Eifer kein Vorwurf gemacht werden; er wird auch nicht im Stande sein, ihr Verdienst um die gute Sache zu schmälern. Aber wie gross dieses auch ist, und wieviel namentlich auch H. Cohn für die Förderung der Schulgesundheitspflege gethan hat, so wenig darf man doch verschweigen, dass alle übertriebenen, und daher auch Cohn’s Forderungen die Erreichung des Zieles verzögert und die Be¬ seitigung der Widerstände gegen die Einführung des Schul- arztes erschwert haben, wie jeder zugeben wird, der sich der goldenen Mahnung: „Fortiter in re, Buaviter in modo“ erinnert. Eine hygienische Beurtheilung des Bauplatzes und Bau¬ planes von Schul-Neubauten durch einen Arzt ist zweifellos erforderlich. Ob hierzu aber der Schularzt, als welcher nach Cohn jeder Arzt angestellt werden können soll, die geeignete Persönlichkeit ist, muss billig bezweifelt werden. In Preussen müssen seit einer Reihe von Jahren die Baupläne von Schul¬ gebäuden dem Kreisphysikus zur Begutachtung vorgelegt werden, ebenso ist in Hessen seit 1884 der Kreisarzt die hiermit be¬ auftragte ärztliche Instanz. In Frankfurt a. M. sorgt seit Jahren der hochverdiente Stadtarzt für eine Berücksichtigung der schul¬ hygienischen Forderungen bei Schulbauten. Ueberall aber, wo eine Mitwirkung des Arztes bei diesen Bauten stattfindet, sind es die beamteten Aerzte, die dazu herangezogen werden — mit Recht, da man bei ihnen in erster Linie dasjenige Maass von Sachkenntnis, Erfahrung und Objektivität voraussetzen kann, welches zu einer fruchtbaren Beurtheilung so wichtiger Dinge unerlässlich ist. — Auch die Forderung, dass der Schularzt bei der Auf¬ stellung der Lehrpläne zugezogen werden soll, damit Ueber- bürdung vermieden werde, hat in Lehrerkreisen mit Recht verstimmt. Das Studium der Gesetze der geistigen Arbeit und der Ermüdung ist zwar in erster Linie ein physiologisches. Aber die diesbezüglichen Versuche der letzten Jahre, deren Methoden allerdings von hervorragenden Aerzten angegeben worden sind, wurden der Mehrzahl nach von hygienisch durchgebildeten Lehrern ausgeführt, denen man die Vorbildung und die Befähigung dazu auch nicht wird absprechen können. Sie bringen ausserdem zu diesem Versuche noch etwas mit, was der Mehrzahl der Aerzte nothwendig fehlen muss, die Kenntniss der pädagogischen Wirkungen der einzelnen Lehr¬ gegenstände und die Bekanntschaft mit der Begabung, dem Fleiss und dem sonstigen individuellen Verhalten des einzelnen Schülers. Ohne eine solche wird die Aufstellung der Lehrpläne in Gefahr gerathen, allzu sehr theoretischen Erwägungen Rechnung zu tragen und zu schablonisiren, anstatt zu individualisiren. Hygienisch denkende Lehrer haben begreiflicher Weise den Ehrgeiz, sich auch selbst hygienisch bethätigen zu dürfen. Man sollte diesen Ehrgeiz sich im Interesse der Sache zu Nutze machen und die Lehrer mit Allem betrauen, wozu nicht unbedingt ein Arzt erforderlich ist. Dass ein Arzt dazu er¬ forderlich sein sollte, alle Schüler halbjährlich zu messen und an ihrer Grösse entsprechende Subsellien zu plaziren, wie Cohn verlangte, ist nicht einzusehen. Das kann ein hygienisch gebildeter Lehrer eben so gut und mit einem bedeutend ge¬ ringeren Zeitaufwand und einer geringeren Störung des Unter¬ richts ausführen, wenn der Schularzt ihn überwacht. Nach Cohn’s ursprünglichen Forderungen sollte auf nicht mehr als 1000 Schulkinder ein Schularzt kommen. Bei den Aufgaben, die er dem Schularzt zuwies, ist man versucht, auch diese Zahl noch als zu hoch anzusehen. Allein es ist Digitized by Google 1. Januar 1900. Aerztliehe Sachverständigen-Zeitung. 3 kaum zu bezweifeln, dass ein derartig beschäftigter Schularzt bald sich höchst unbefriedigt fühlen und durch die nicht aus- bleibenden Reibungen mit Lehrern und Eltern zum grössten Theile lahmgelegt werden würde. Gegenüber diesem Zuviel begegnen wir in Schriften, welche aus der Feder von Lehrern stammen, vielfach einem Zuwenig. So erkennt H. Suck in einem 1899 erschienenen Aufsatz über „die gesundheitliche Ueberwachung der Schulen“ rück¬ haltlos tm, „dass die hygienische Beaufsichtigung der Schulen einer Verstärkung bedarf, und eine solche ist ohne Mithilfe des Arztes nicht durchführbar“, aber er führt aus, dass eigent¬ lich Alles, was man dem Schularzt zuzuweisen pflegt — regel¬ mässige Besichtigungen der Schule, Hinweis der Lehrer auf Befolgung hygienischer Regeln, sanitäre Ueberwachung der Schüler, Untersuchung ihrer Sinnesorgane, — theils nicht durch¬ führbar, theils überflüssig ist, und überweist dem Schularzt ledig¬ lich eine Kontrole der von dem Lehrer zu führenden Gesund¬ heitslisten und eine an diese sich anknüpfende Rathsertheilung. Mit einem solchen Schularzt wäre nichts anzufangen. Was hygienisch denkende Schulleiter und Lehrer ohne Mit¬ wirkung des Arztes leisten können, wenn siebei allen ihren päda¬ gogischen Massnahmen deren Wirkung auf die Gesundheit der Schüler berücksichtigen, sehen wir mit Genugthuung aus B. Sahwalbe’s „schulhygienischen Fragen uud Mittheilungen“ (Berlin 1898). Sehr beherzigenswert sagt er dort: „Die Lehrer sind nicht bloss für die geistige Entwickelung, sondern auch für die körperliche Wohlfahrt des Schülers während der Zeit¬ dauer des Aufenthalts im Schulhause verantwortlich“. Allein der folgende Satz: „Sie können durch fortwährende Ueber¬ wachung des Gesundheitszustandes und etwaiger besonderer Massregeln (Desinfektion, Spülung der Aborte, Beachtung der Myopen und Schwerhörigen etc.) viel mehr thun, als ein monatlich nur einmal erscheinender Arzt“, ist schon weniger einwandsfrei. Er zeugt doch von einer Unterschätzung des Blickes eines erfahrenen Hygienikers, der bei einem ein¬ maligen Durchwandern einer Lehranstalt am Gebäude, den Schuleinrichtungen und den Schülern selbst mehr sieht, als der noch so sehr für Schulgesundheitspflege interessirte Lehrer. So wenig es zu billigen ist, dass dem Schularzt Kompe¬ tenzen übertragen werden, welche über das rein ärztliche und hygienische Gebiet hinausgehen, so sehr ist auch davor zu warnen, dem Lehrer einen allzu grossen Einfluss auf eigentlich hygienische Fragen zu gewähren. Dass der Lehrer nach seiner Vorbildung und Leistungs¬ fähigkeit durchaus in der Lage ist, schulhygienische Fragen zu begreifen und unter Umständen sogar selbstthätig mit zu bearbeiten, wurde bereits zugegeben. Dass er bei ihrer prak¬ tischen Durchführung aber der tbatkräftigen Mitwirkung hygienisch durch gebildeter Schulärzte auf die Dauer sollte entrathen können, das ist ein Irrthum, welcher nicht nach¬ drücklich genug zurückgewiesen werden kann. Wer ein Instrument spielt, weiss aus Erfahrung, dass die Reinheit seines Klanges sehr von der Behandlung abhängt, welche es von Seiten des Spielers erfährt, und dass auch bei sorgfältigster Behandlung unter dem Einfluss der Wärme und Feuchtigkeit verschiedenartige Dehnungen der Saiten statt- finden, welche von Zeit zu Zeit eine Besichtigung durch den Instrumentenmacher und ein Stimmen erforderlich machen. Nun, auch der Mensch ist ein Instrument, aber ein viel kom- plizirteres und namentlich in der Zeit des schulpflichtigen Alters äusseren Einflüssen viel stärker ausgesetztes Instrument, als ein todtes Werk der Technik auch bei höchster Kunst¬ vollendung jemals sein kann. Zur Beurtheilung der Einwir¬ kung äusserer Einflüsse auf den Körper und Geist des wach¬ senden Menschen ist ein Mass anatomischer, physiologischer und hygienischer Kenntnisse erforderlich, wie es nur der Arzt durch ein langjähriges Studium und eine gründliche, praktische Erfahrung, niemals aber ein Lehrer auch in mehreren schul¬ hygienischen Kursen sich erwerben kann. Der in Lehrerkreisen früher so oft geäusserte und noch jetzt zuweilen auftretende Gedanke, dass der Lehrer durch den Schularzt depossedirt werden soll, sollte doch endlich schwinden und der Ueberzeugung Platz machen, dass eine mass voll ausgeübte schulärztliche Aufsicht den Lehrer in seinem schwierigen und verantwortungsvollen Amte nur fördern und ihn in die Lage setzen kann, sein hohes Ziel leichter, sicherer und früher, vor Allem aber ohne Schädigung der Gesundheit der Schüler zu erreichen. Auch das sollten die Lehrer end¬ lich einsehen, dass eine sorgfältige Durchführung der schul¬ hygienischen Vorschriften in erster Linie im Interesse der Lehrer selbst liegen muss, da dieser an Arbeit und Verantwor¬ tung reiche Stand um so leichter seine Aufgabe erfüllen und um so länger ohne eigene Gesundheitsschädigung arbeiten wird, je besser die Einrichtungen in seiner Schule sind. Auf dem XXV. Deutschen Aerztetage (1897) verei¬ nigten sich ein Arzt, Professor Thiersch-Leipzig und ein Schulmann, Direktor Dettweiler-Darmstadt, zu folgenden Thesen: „1. Die Mitwirkung der Aerzte zur Lösung schulhy¬ gienischer Fragen ist nothwendig. — 2. Den beamteten Aerzten ist überall die Begutachtung von Schulbauplänen, sowie die hy¬ gienische Aufsicht über Schulgebäude zu übertragen. — 3. Nach den bisherigen Erfahrungen ist die Einrichtung offizieller Schulärzte in Anlehnung an die Funktionen der beamteten Aerzte für Volksschulen grosser Städte zu empfehlen. Die Thätigkeit solcher Aerzte hat sich, unbeschadet der Befugniss der beamteten Aerzte, zu erstrecken auf die Hygiene der Schulgebäude und der Schulkinder. — 4. Die Regelung der Hygiene des Unterrichts einschliesslich der Frage der Ueber- bürdung erfolgt durch die obere Schulbehörde, der ein Arzt als ständiges Mitglied angehört. — 5. Die bisherigen Forschun¬ gen über Ermüdung an Schulkindern haben noch nicht zu einem abgeschlossenen Urtheil hinsichtlich ihrer praktischen Verwerth- barkeit für die Schule geführt. Zur weiteren Förderung dieser Frage empfehlen sich fortgesetzte, gemeinsam von Aerzten und Schulmännern auszuführende Versuche, denen überall die thatsächliclien Verhältnisse des Unterrichts zu Grunde zu legen sind. — 6. Es ist dringend wünschenswerth, dass die Lehrer aller Schulgattungen, insbesondere die Leiter, sich die Grund¬ sätze der Schulhygiene aneignen, um deren praktische Durch¬ führung zu sichern.“ Eine genauere Betrachtung dieser Thesen zeigt, dass sie der Schularztfrage nicht voll gerecht werden. Von der ganzen Einrichtung der Schulärzte ist darin nur an einer Stelle, fast beiläufig, die Rede, sie soll sich nur für Volksschulen grosser Städte empfehlen, und auch hier soll sie sich nur auf die Hygiene der Schulgebäude und Schulkinder erstrecken. Man fragt sich sofort, wo bleiben denn die höheren Schulen, und weshalb soll der Arzt bei der Beurtheilung der Lehrmittel und des Unterrichtsplanes nicht mitzureden haben? Hier kann Verfasser eine Bemerkung nicht unterdrücken, welche ihm die Herren Lehrer nicht verübeln wollen. Früher waren die Lehrer einig in der Abweisung aller schulärzt¬ lichen Einflüsse. Jetzt geben sie dieselben im Allgemeinen als berechtigt oder sogar als wünschenswerth zu; aber die Lehrer an höheren Lehranstalten lassen die Berechtigung dieses Ein¬ flusses nur für Volksschulen zu, während die Elementarlehrer sie auf höhere Lehranstalten beschränkt wissen wollen. Be¬ weis für die erstere Behauptung sind Männer wie Burger¬ stein, Dettweiler, Schwalbe u. A., Beweis für die letztere Digitized by Google 4 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 1. Männer wie die Stadtschulräthe Bertram in Berlin, Wehr- hahn in Hannover u. A. Mit Recht nahm der Deutsche Aerztetag statt der von Thiersch und Dettweiler aufgestellten eine einzige These von folgendem Wortlaut an: „Die bisherigen Erfahrungen lassen die Einsetzung von Schulärzten allgemein als dringend erforderlich erscheinen. Die Thätigkeit dieser Aerzte hat sich ebensowohl auf die Hygiene der Schulräume und Schulkinder, wie auf eine sachverständige Mitwirkung hinsichtlich der Hygiene des Unterrichts zu erstrecken.“ Geh. Obermedizinalrath Schmidtmann („Der Schularzt in Wiesbaden 1898“) bezeichnet in seinen einleitenden Be¬ merkungen zu seinem Reisebericht, den er in Gemeinschaft mit dem Geh. Oberregierungsrath Br an di über ihre im Aufträge des Kultusministers unternommene Reise nach Wiesbaden an den Minister erstattete, die Verpflichtung zu einem behördlichen Eingreifen bei höheren Schulen als zunächst nicht so naheliegend wie bei den Volksschulen, hebt aber nach seinen Beobachtungen in Wiesbaden hervor, dass sich die Einrichtung des Schularztes dort bewährt hat, und empfiehlt seine Einführung in anderen Städten und demnächst auch in ländlichen Orten. Und dies ist sehr richtig, denn gerade auf dem Lande liegen die schulhygienischen Einrichtungen, wie die Arbeiten von Berger» Solbrich u. A. zeigen, vielfach ausserordentlich im Argen, und es ist in der That nicht ersichtlich, aus welchem Grunde Thiersch und Dettweiler den Schularzt nur für Volksschulen grosser Städte forderten. Ueber die Einrichtung der Schulärzte in Königsberg, welches im Winter 1897/98 dem Beispiel von Wiesbaden nach¬ folgte, liegen überaus günstige Mittheilungen von E.v.Esmarch vor (Zeitschr. f. Schulgesundheitspflege XII. Jahrg. 1899 p. 373). Wir wissen, dass in neuester Zeit Berlin und Schöneberg im Begriff sind, zur Anstellung von Schulärzten zu schreiten. Die allgemeine Einführung von Schulärzten ist daher wohl nur eine Frage der Zeit, und es ist dringend geboten, dass sich Aerzte und Lehrer damit vertraut machen. In« erster Linie ist zu prüfen, was von der Vorbildung der¬ jenigen Aerzte zu fordern ist, welche als Schulärzte angestellt werden wollen. Der Besuch der Vorlesungen über Hygiene und der Nachweis von Kenntnissen in diesem Lehrfach in der ärzt¬ lichen Prüfung wird schon jetzt von jedem Arzte verlangt. Meiner Ansicht nach genügt dies jedoch nicht, vielmehr sollte jeder Schularztkandidat eingehendere Kenntnisse und womög¬ lich selbständige Arbeiten in der Schulhygiene nachweisen müssen. Dies könnte z. B. durch den Nachweis einer minde¬ stens sechsmonatlichen Assistentenzeit an einem hygienischen Institut geschehen. Auch sollte ein Arzt nicht sofort nach Erlangung der Approbation, sondern erst nach einer praktischen Thätigkeit von mindestens 5 Jahren Schularzt werden dürfen; eine solche Wartezeit ist wohl unbedingt erforderlich, um die Schule vor der Beurtheilung durch unfertige Anfänger zu bewahren, die mit ihren rein theoretischen Kenntnissen beim Mangel an Lebens¬ erfahrungen mehr Schaden als Nutzen stiften würden. Man fürchte nicht, dass bei der geringen Remuneration, welche die Schulärzte nur erhalten — 500 bis 600 M. jähr¬ lich — sich nur Anfänger für diese Anstellung finden werden. Die Thätigkeit ist so interessant, und die Hingebung des ärzt¬ lichen Standes für öffentliche Interessen so gross, dass es sicherlich nicht an einem Angebote fehlen wird, gross genug, um eine Auswahl nur tüchtiger Aerzte zu gestatten. Als ein weiteres Erforderniss für die Anstellung als Schul¬ arzt ist aber ein beträchtliches Mass persönlichen Taktes zu bezeichnen. Soll doch der Schularzt die Forderungen der Schulhygiene mit Ernst und Nachdruck vertreten, ohne bei Behörden und Lehrern auzustosseu. Jene wird er für sich \ gewinnen, wenn er sich bei seinen Vorschlägen stets in mass- vollen Grenzen hält und niemals vergisst, dass die Schulhygiene wie die Hygiene selbst Geld kostet, und dass das Geld vor¬ handen sein muss, wenn es ausgegeben werden soll. Ginge man in seinen Forderungen über die finanzielle Leistungs¬ fähigkeit der Schulbehörde hinaus, so machte man das Bessere zum Feinde des Guten und erreichte garnichts, während ein erfahrener Hygieniker nicht selten schon mit geringen Mitteln befriedigende Zustände zu schaffen weiss. Die Herstellung und Erhaltung eines gedeihlichen Ver¬ hältnisses zum Lehrerkollegium wird für den Schularzt nicht immer leicht sein. Er sollte sich nie den Anschein einer Auf¬ sichtsperson geben, sondern der vertraute Rathgeber der Schul¬ leiter zu werden suchen, den Lehrern aber nicht nur mit äusser- licher Höflichkeit, sondern mit derjenigen Rücksichtnahme und Achtung begegnen, welche sie in ihrem Amtslokal und an der Stätte ihrer schweren und verantwortungsvollen Thätigkeit füg¬ lich erwarten können. Der Schularzt sollte stets dessen ein¬ gedenk sein, dass der Lehrer, welcher sich seinen Rathschlägen gegenüber skeptisch verhält, dies in der Regel nicht aus Nörgelsucht thut, sondern in der Ueberzeugung, auf dem rechten Wege zu sein. Er wird, wenn er sich ausnahmsweise mit einem Lehrer auf eine schulhygienische Diskussion einlässt, einen, überzeugenden Gründen zugänglichen Zuhörer in ihm finden. Und nun, welches sind die Aufgaben des Schularztes? Die .,Dienstordnung für die Schulärzte an den städtischen Elementar- und Mittelschulen zu Wies¬ baden“ vom 13. Mai 1897 schreibt Folgendes vor. Die Schul¬ ärzte haben die neueintretenden Schüler genau zu unter¬ suchen und einen „Gesundheitsschein“ über jedes unter¬ suchte Kind auszufüllen; alle 14 Tage in der Schule Sprech¬ stunden abzuhalten, während deren 2—5 Klassen zu besichtigen und Schüler, die Aufmerksamkeit erfordern, genauer zu unter¬ suchen; mindestens je einmal im Sommer und im Winter die Schullokalitäten und deren Einrichtungen zu revidiren; im Winter in den Lehrer-Versammlungen kurze Vorträge über die wichtigsten Fragen der Schulhygiene zu halten und alljährlich einen schriftlichen Bericht über ihre Thätigkeit zu erstatten. Damit der Schularzt seine Befugnisse nicht überschreite, ist ausdrücklich bestimmt, dass die ärztliche Behandlung erkrankter Schulkinder nicht Sache des Schul¬ arztes ist, und dass ihm ein Recht zu selbständigen Anwei¬ sungen an die Schulleiter und Lehrer, sowie an die Pedelle und sonstigen Schulbediensteten nicht zusteht. Die Wägungen und Messungen der Schüler werden von den Klassenlehrern, und nur die Messung des Brustumfangs, und zwar nur bei verdächtigen Kindern, vom Arzte vorgenommen. Mit diesen Bestimmungen kann man sich im Allgemeinen einverstanden erklären, und mit Recht ist ihr wesentlicher Inhalt in die Dienstanweisung für die Schulärzte in Königs¬ berg übergegangeu. Dem Schularzt ist darin keinerlei dikta¬ torische Gewalt und doch die Möglichkeit gegeben, von allen Schuleinrichtungen fortlaufend Kenntniss zu nehmen und auch den Gesundheitszustand der Kinder dauernd im Auge zu behalten. Da er ausdrücklich gehalten ist, jede Klasse wenn möglich zweimal während eines Halbjahres zu be¬ suchen und in den Lehrerversammlungen schulhygienische Vorträge zu halten, so hat er genügende Gelegenheit, alle Räume zu überwachen und mit allen Lehrern in persönliche Fühlung zu treten. Seine Vorschläge in hygienischer Be¬ ziehung hat er in ein, für diesen Zweck bei dem Schulleiter ausliegendes Buch einzutragen und für den Fall, dass diesen Vorschlägen nicht in genügender Weise Rechnung getragen wird, steht ihm das Recht der Beschwerde an die Schulhygiene- Kommissiou zu. Behufs Erreichung eines möglichst zweck- Digitized by Google 1* Januar 1900. Aerztliche Sach verständigen-Zeitung; $ massigen, gleichartigen Vorgehens finden gemeinsame Be¬ sprechungen der Schulärzte statt. Ich zweifle nicht, dass innerhalb des Rahmens einer der¬ artigen „Dienstordnung“ für den denkenden Schularzt noch Raum genug vorhanden ist, nach bestimmten Richtungen hin Beson¬ deres zu leisten und gewisse Fragen, namentlich diejenige der Ueberbütdung, der Rückgratsverkrümmung, der Kurzsichtigkeit und der sogenannten Schulkrankheiten überhaupt, gelegentlich gründlicher zu prüfen. Er wird auch dazu die Genehmigung der Schulbehörde erlangen, wenn er durch sein ganzes Ver¬ halten und seine ganze Amtsführung zu erkennen giebt, dass er die Interessen der Schule allem anderen voranstellt. Der Vorschlag von Esmarch (1. c.), dass bei den regel¬ mässigen schulärztlichen Besichtigungen der Schullokalitäten und deren Einrichtungen der Baubeamte zugegen sein sollte, der auch in Königsberg bei denselben regelmässig zugezogen wird, verdient die wärmste Empfehlung. Hygieniker und Techniker können von einander viel lernen und durch ge¬ meinsames Arbeiten unendlich viel Gutes stiften. Zum Heile der Schulhygiene sollten Schulleiter, Schularzt und Schulbau¬ meister ein treu zusammenhaltendes Kleeblatt bilden. Das Bedürfniss einer eingehenden Ausbildung der Lehrer in der Schulgesundheitspflege wird allseitig, auch in Lehrer¬ kreisen anerkannt. In den Schullehrer-Seminarien und in den pädagogischen Seminarien der Kandidaten des höheren Schul¬ amtes findet die Schulhygiene schon Berücksichtigung, obwohl nicht durch Aerzte. Gewiss wird sich in nicht zu ferner Zeit die Nothwendigkeit heraussteilen, diesen Unterricht besonders sorgfältig in der Hygiene ausgebildeten Aerzten zu übertragen. Auch der tüchtigste Seminarlehrer und der erfahrenste Gymnasialdirektor kann die Schulgesundheitspflege nicht mit dem¬ selben Erfolg vortragen wie der ärztlich gebildete Hygieniker. Ob es wohlgethan ist, allgemein den Schulärzten hygie¬ nische Vorträge in Lehrerversammlungen aufzutragen, möchte zweifelhaft erscheinen. Nicht jeder tüchtige Praktiker eignet sich zum Lehrer, und nicht jeder Schularzt kann in frucht¬ bringender Weise hygienische Vorträge halten. Kaum auf einem Gebiet aber schadet etwas Mangelhaftes mehr als gar- nichts. Schlechte Vorträge fordern den Kundigen zum Wider¬ spruch heraus, ermuntern zum Spott und ertödten das Inter¬ esse. Wo aber bleibt die Achtung vor dem Schularzt, wenn er sich durch minderwerthige Vorträge bei den Mitgliedern eines Lehrerkollegiums Blossen gegeben hat? Zweckmässiger wäre es, wenn grössere Städte in jedem Winter für die Lehrer aller Schulanstalten einen etwa sechs- bis zehnstündigen Wiederholungskursus in der Schulhygiene durch einen anerkannten Hygieniker von Ruf abhalten Hessen und die Betheüigung an diesem Kursus, der mit freier Dis¬ kussion nach jeder Vortragsstunde verbunden sein müsste, den einzelnen Lehrern freistellten. Dies wäre der beste Weg, die schulhygienischen Kenntnisse in der Lehrerschaft zu verbrei¬ tern und zu vertiefen und zwischen Arzt und Lehrer das für ein gemeinsames Arbeiten unentbehrliche gegenseitige Ver¬ ständnis herzustellen. Letzteres würde wesentlich gewinnen, wenn die Schulärzte an diesen Kursen theilnehmen müssten. An der Schwelle des neuen Jahrhunderts fragen wir uns unwillkürlich: Wird der Schularzt halten, was wir uns von ihm versprechen? Wird er der ehrliche Makler zwischen Arzt, Elternhaus und Schule werden, als den wir ihn uns vorstellen? Wird er zur Lösung der so zahlreichen noch dunklen Fragen auf dem Gebiet der Schulgesundheitspflege beitragen? Möchte das neue Jahrhundert diese Fragen mit einem fröhlichen Ja beantworten! Wenn das geschieht, dann wird die Einführung der Schulärzte einen Markstein in der Ge¬ schichte der Schulgesundheitspflege bedeuten und der Beginn einer gesunderen und glücklicheren Zeit nicht nur für das heranwachsende Geschlecht, sondern auch für den so wichtigen und hochachtbaren Stand der Lehrer bilden. Die Ehescheidungsgründe nach dem neuen Recht. Von Amtsgerichtsrath Hahn-Berlin. Bisher war nur das Verfahren in Ehesachen für das Gebiet des deutschen Reiches durch die Civilprozessordnuug einheitlich geordnet, während das materielle Ehescheidungs¬ recht in den verschiedenen Bundesstaaten verschieden war. Durch das Bürgerliche Gesetzbuch ist auch auf diesem mate¬ riellen Gebiete Rechtseinheit geschaffen worden, und es gelten daher vom 1. Januar 1900 ab im ganzen deutschen Reiche nur die von dem neuen Gesetze zugelassenen Ehescheidungs- gründe. Das bezieht sich, wie im Einführungsgesetze (Art. 201) ausdrücklich verordnet ist, auch auf schwebende Prozesse: „Die Scheidung und die Aufhebung der ehelichen Gemein¬ schaft erfolgen von dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Ge¬ setzbuches an nach dessen Vorschriften.“ Das bedeutet, dass eine nach dem bisherigen Rechte wohlbegründete und nach klage, wenn sie nicht vor dem 1. Januar 1900 durch rechts¬ kräftiges Urtheil erledigt ist, hinfällig werden kann, sofern der ihr zu Grunde liegende Thatbestand nur nach dem bis¬ herigen, nicht nach dem neuen Rechte einen durchgreifenden Ehescheidungsgrund bildet. In der erwähnten Bestimmung ist von „Scheidung und Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft“ die Rede Es kann nämlich in Zukunft statt auf eigentliche Scheidung auch nur auf Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft (Trennung von Tisch und Bett) geklagt werden, sofern nicht der andere Theil widerspricht. Solche Aufhebung der ehelichen Gemein¬ schaft hat im Wesentlichen dieselben Wirkungen wie die Scheidung; nur ist die Eingehung einer neuen Ehe ausge-. schlossen, und andererseits können die Eheleute die Wirkung der Aufhebung einfach dadurch wieder beseitigen, dass sie die eheliche Gemeinschaft thatsächlich wiederherstellen, während im Falle der Scheidung förmliche Wiederverbeirathuog erfor¬ derlich ist (§§ 1575, 1576, 1586, 1587). Hiernach ist im Fol¬ genden, wenn von Ehescheidungsgründen die Rede ist, immer auch an „Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft“, die nur aus denselben Gründen verlangt werden kann, zu denken. Nach dem B. G. B. (§ §1565 fg.) kann ein Ehegatte nur in folgenden Fällen auf Scheidung klagen: 1. wenn der andere Ehegatte sich des Ehebruchs, der Bigamie (§ 171 Str. G. B.) oder der widernatürlichen Unzucht (§175 Str. G. B.) schuldig macht; 2. wenn der andere Ehegatte ihn böslich verlassen hat; 3. wenn der andere Ehegatte durch schwere Verletzung der durch die Ehe begründeten Pflichten oder durch ehrloses oder unsittliches Verhalten eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses ver¬ schuldet hat, dass dem Ehegatten die Fortsetzung der Ehe nicht zugemuthet werden kann; 4. wenn der andere Ehegatte in Geisteskrankheit ver¬ fallen ist, die Krankheit während der Ehe mindestens drei Jahre gedauert und einen solchen Grad erreicht hat, dass die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben, auch jede Aussicht auf Wiederherstellung dieser Gemeinschaft ausgeschlossen ist. Abgesehen von dem unter 4 aufgeführten Grunde der Geisteskrankheit, liegt diesen Bestimmungen das Prinzip der Verschuldung zu Grunde. Jede Scheidung aus Willkür (wegen „unüberwindlicher Abneigung“ oder „wechselseitiger Digitized by Google B Aerztliehe Sachverständigen-Zeitung. No. 1. Einwilligung“), ferner wegen Impotenz oder anderer körper¬ licher Gebrechen ist fortan ausgeschlossen; nur schweres Ver¬ schulden eines Ehegatten berechtigt den anderen, auf Scheidung zu klagen. Die unter 1 und 2 aufgeführten Scheidungsgründe sind „absolute“, insofern sie festbestimmte, schlechthin die Scheidung rechtfertigende Ehedelikte bezeichnen, während die Bestimmung unter 3 dem Ermessen des Richters Spielraum lässt, also „relative“ Scheidungsgründe umfasst: Verfehlungen aller Art, z. B. Nachstellungen nach dem Leben, Misshandlungen auch schwere, planvolle Verleumdungen, Trunksucht, lüder- liche Lebensführung, Versagung des Unterhalts. Verletzung der Strafgesetze u. s. w. können Scheidungsgründe sein, wenn durch das Verhalten des Gatten jene „tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses“ verschuldet ist. Hier aber ist der Punkt, bei dem auch in den Fällen unter 1 bis 3 die Zuziehung ärztlicher Sachverständiger nothwendig werden kann; denn ein „Verschulden“ liegt u. A. dann nicht vor, wenn der Ehegatte sich bei Begehung der Handlung, welche objektiv ein Ehedelikt darstellt, im Zustande der Willensunfreiheit befunden hat. Insbesondere wird also hier Geisteskrankheit als entschuldigendes Moment in Frage kommen können. Die Aufgabe des Sachverständigen wird dann eine ähnliche sein, wie auf dem Gebiete des Strafrechts (§51 Str. G. B.); er wird sich darüber äussern müssen, ob der Be¬ klagte bei Begehung des Ehedeliktes sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistes- thätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Die Scheidung einer Ehe wegen Geisteskrankheit ist durch das neue Gesetz besonders erschwert, und die neue Regelung wird auch den ärztlichen Sachverständigen unter Umständen vor eine neue und nicht eben leichte Aufgabe stellen. — Zunächst ist festzustellen, dass die „Geisteskrank¬ heit“ (die preussisch-rechtliche Unterscheidung zwischen Wahn- • sinn und Blödsinn kommt nicht mehr in Betracht) „während der Ehe mindestens drei Jahre gedauert“ hat. Dass dieser Zeitraum ein zusammenhängender sein müsse, fordert das Gesetz nicht; die in Kommentaren vertretene gegentheilige Auffassung erscheint nach der Fassung des Gesetzes nicht begründet. Es können also, wenn die Krankheit zeitweilig zurückgetreten war, die einzelnen Krankheitsperioden zusammen¬ gerechnet werden — sofern nur durch die freien Zeiträume die Identität der Krankheit im medizinischen Sinne nicht auf¬ gehoben erscheint; denn das Gesetz fordert, dass „die Krank¬ heit“, also eine und die nämliche Krankheit, mindestens drei Jahre gedauert habe. Dabei dürfte es m. E. nicht sowohl auf die Erscheinungsweise, als vielmehr auf die Ursache der einzelnen Erkrankungen ankommen. Erregungszustände in der einen und Trübsinn in der anderen Periode können sich als Erscheinungsformen einer und derselben Krankheit dar¬ stellen, so dass Zusammenrechnung der Zeiträume gerecht¬ fertigt sein kann. Wenn aber der Ehegatte, von einer akuten Paranoia genesen, später in Paralyse verfallen ist, so muss jener frühere Zeitraum bei Berechnung der dreijährigen Dauer ausser Betracht bleiben. Inwiefern bei periodischen Geistes¬ störungen die anfallsfreien Zeiten — lucida intervalla — in den dreijährigen Zeitraum eingerechnet werden müssen, weil die Krankheit, wenngleich sie vorübergehend nicht in die Erscheinung trat, doch virtuell fortbestand, ist eine weitere, gegebenen Falls vom ärztlichen Sachverständigen zu erörternde Frage. Die Krankheit muss einen solchen Grad erreicht haben, „dass die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben“ ist. Diese Voraussetzung wird nicht für den ganzen Zeitraum von drei Jahren, sondern nur für den 6tatus praesens und für die Prognose gefordert. Wie aber diese Voraussetzung begrifflich zu bestimmen sei, diese Frage wird — so fürchte ich — ein Kreuz für Sachverständige und Richter sein. Der Entwurf des B. G. B. wollte Geistes¬ krankheit als Scheidungsgrund überhaupt nicht anerkennen und in den Motiven ist diesbezüglich u. A. ausgeführt: insbesondere lasse sich eine scharfe Grenzlinie zwischen den verschiedenen Formen der Geisteskrankheit nicht ziehen, und es sei praktisch nicht ausführbar, diejenigen Fälle, in welchen durch die Geisteskrankheit jede geistige Gemeinschaft aufgehoben werde und der geisteskranke Ehegatte „daher als geistig todt“ zu betrachten sei, von anderen Fällen zu sondern. Dieser Ausführung entsprechend wird von den Erklärern des Gesetzes gefordert, dass dem kranken Gatten „das Bewusstsein des bestehenden ehelichen Bandes abhanden gekommen sein müsse.“ Eine so überaus einschränkende Auslegung erscheint aber durch die Fassung des Gesetzes nicht gerechtfertigt. Die „geistige Gemeinschaft“ unter den Eheleuten besteht doeh wohl in dem gemeinsamen Bewusstsein von den durch die Ehe begründeten gemeinsamen Interessen und Pflichten und in der Möglichkeit einer Verständigung darüber; ist solche Ver¬ ständigung durch die Geisteskrankheit des einen Theils aus¬ geschlossen, so ist das blosse „Bewusstsein des bestehenden ehelichen Bandes“ werthlos und die geistige Gemeinschaft trotzdem aufgehoben. Und muss nicht, wo geistige „Gemein¬ schaft“, also das Verhältniss der Geister zu einander in Frage steht, auch das geistige und sittliche Niveau des anderen Theils gebührend berücksichtigt werden? Man denke an einen geistig hochstehenden Mann, dessen Frau erkrankt und da¬ durch in ihrer Intelligenz so sehr geschwächt ist, dass sie zwar noch weiss, dass und mit wem sie verheirathet ist, dass sie aber im Allgemeinen etwa auf die geistige Stufe eines zehnjährigen Kindes gesunken ist; oder man denke an eine sittenreine Frau, bei deren Ehemanne sich die Geisteskrank¬ heit wesentlich in ethischen Defekten von solcher Art bekun¬ det, wie sie sohweren Verbrechern eigenthümlich sind; oder man denke an einen geisteskranken Ehegatten, dessen schwere Melancholie oder chronischer Affekt jede Erörterung gemein¬ samer Interessen ausschliesst. Mag in derartigen Fällen dem Kranken noch das „Bewusstsein des bestehenden ehelichen Bandes“ innewohnen — besteht deshalb wirklich noch eine geistige Gemeinschaft zwischen den Eheleuten? Wie soll sioh eine solche Gemeinschaft bekunden und bethätigen, wenn die Krankheit jede Verständigung und jeden Gedankenaustausch über die fundamentalsten gemeinsamen Interessen und Pflichten (z. B. Fragen der Kindererziehung!) unmöglich macht? Jeden¬ falls ist aus der Möglichkeit solcher Zweifel zu ersehen, dass es sich hier nicht ausschliesslich um eine medi¬ zinisch - wissenschaftliche Frage, sondern in erster Reihe um eine Frage der Gesetzesauslegung handelt. Deshalb wird von dem ärztlichen Sachverständigen nicht unbedingt gefordert werden können, dass er sich auch darüber äussere, ob er durch den Zustand des Kranken die geistige Gemein¬ schaft für aufgehoben erachte. Er wird sich begnügen dürfen, durch anschauliche Schilderung des Krankheitsbildes und durch klare Beurtheilung des Geisteszustandes des kranken Ehe¬ gatten im Allgemeinen den Richter in den Stand zu setzen, sich selbst ein Urtheil darüber zu bilden, ob die „geistige Ge¬ meinschaft zwischen den Eheleuten“ in dem Sinne, wie der Richter das Gesetz versteht, für aufgehoben anzu¬ sehen sei. Was die Prognose betrifft, so genügt es nicht, dass keine Hoffnung auf Genesung bestehe, sondern es muss auch jede Hoffnung auf eine Besserung solchen Grades aus¬ geschlossen sein, dass eine Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft angenommen werden könnte. Digitized by Google 1. Januar 1900. Aerztliche Sach verstand] gen-Zeitung. 7 Mit welchem Rechte empfiehlt das Reichs- Versicherungsamt den Berufsgenossenschaften die Uebernahme des Heilverfahrens während der Wartezeit und wie setzen diese es am Besten ins Werk? Vertrauensärztliche Studie aus dem gesummten Aktenmaterial der Sektion I der Schlesischen Eisen- und Stahl-Berufs¬ genossenschaft für die Jahre 1885—1890. von Dr. Bogattch-Breslau. (Fortsetzung.) Diesen allgemeinen Ausführungen möchte ich aus meinen Erfahrungen als Vertrauensarzt heraus noch einen spezielleren Anhang geben. Dr. Golehiewski u. A. haben schon seit Jahren darauf hingewiesen, dass jedes Handwerk, jede Arbeit allmählich bestimmte Veränderungen am Körper des Arbeiters hervor¬ zurufen pflegt. Wir Aerzte, welche viele Gutachten in Unfall¬ sachen abzugeben haben, müssen allen denen dankbar sein, welche es sich angelegen sein lassen, unsere Kenntnisse auf diesem Gebiete immer mehr zu erweitern. Denn nur auf diese Weise werden wir in den Stand gesetzt, ein bestimmtes Urtheil abzugeben, ob eine abnorme Körperbeschaffenheit eine Unfallfolge oder eine Gewerbekrankheit ist. Ich habe mir seit Jahren ein ähnliches Ziel wie die er¬ wähnten Aerzte gesteckt, indem ich meine Aufmerksam¬ keit gerade den Verletzungen zuwandte, die nach meiner Beobachtung vor allem bei unserer Berufs¬ genossenschaft sich finden, das sind die Verletzun¬ gen der Finger*). Gerade diesen Verletzungen wird weder von Seiten der Aerztewelt noch durch die Berufsgenossenschaften die Aufmerksamkeit zuge¬ wendet, die sie verdienen. Denn für manchen, der sich seinen Unterhalt durch seiner Hände Arbeit verdienen muss, ist der Verlust eines Daumens, selbst des rechten Zeigefingers schwerwiegender, wie der eines Auges, eines Fusses. Wie häufig nun Hand- und Fingerverletzungen bei der Eisen- und Stahl-Berufsgenossenschaft sind, zeigt die Tabelle IV. Nach derselben mussten von allen 11484 Unfällen, die vom 1. Oktober 1885 bis 31. Dezember 1896 gemeldet wurden, 2281 Akten angelegt werden. Von den 2149 Verletzten, über welche die Tabelle IV berichtet, haben 1036 Verletzungen der Oberextremitäten und davon wieder 38 Ver¬ letzungen der Mittelhand und 721 der Finger erlitten. Von den 721 Fingerverletzten erhielten 122 über¬ haupt keine Rente, bei 218 konnte die Rente all¬ mählich in Wegfall kommen und 381, d. h. etwa 53 Prozent aller Verletzten beziehen eine davon erhielten keine Rente geheilt wurden lanfende Rente beaiehen der Mittelhand 15 0 5 10 des Daumens 13 3 2 8 „ Zeigefingers 15 0 7 8 ff Mittelfingers 9 0 2 7 „ Goldfingers 7 1 5 1 „ Kleinfingers 4 2 1 1 mehrerer Finger 4 0 1 3 67 6 23 38 Eb beziehen mithin von 61 entschädigungspflichtigen Un¬ fällen dieser Gruppe noch 38, d. h. 62 Prozent eine Rente, während bei allen rentenberechtigten Brüchen von Vorderarm¬ knochen nur noch 34 Prozent und von allen Unterschenkel¬ brüchen nur noch 43 Prozent eine Rente erhalten. Fig. 9 . Nicht erkannter Bruch des 2 . Gliedes des Kleinfingers, unter starker Winkelstellung verheilt . Nachträgliche Amputation des unbrauchbaren 2, u. 3, Gliedes . Die Ursache für dieses ungünstige Heilresultat der Fingerbrüche ist eine zweifache. Es werden nämlich die Knochenbrüche leicht übersehen, — viele Brüche sind überhaupt nur mittelst Röntgenstrahlen festzustellen — und ausserdem sind die meisten bisher gebräuchlichen Behandlungsmethoden ungenügende. Die erschwerte Diagnose wird wiederum ver¬ ursacht durch die der Quetschung unmittelbar folgende Blutung in die Weichtheile, durch die Derbheit der Finger haut, durch die Kürze der gebrochenen Knochen, welche jedes genauere Fixiren der Bruchstücke sehr erschwert und endlich durch die Neigung des Patienten, jeder Schmerzerregung sich durch eine geeignete Bewegung zu entziehen. Alle diese Umstände machten es möglich, dass z. B. der Bruch des zweiten Klein¬ fingergliedes übersehen worden war, obgleich die Dislokation der Bruchstücke eine so hochgradige war, wie sie das Bild 9 dauernde Rente. Im Jahre 1898 wurden 264 Unfälle entschä¬ digungspflichtig, davon betrafen 122 = 46 Prozent Verletzungen der Oberextremitäten. Unter diesen befanden sich wieder 86 = 32 Prozent Verletzungen der Finger. Das ungünstigste Heilresultat finden wir bei den Brüchen der Mittelhand und der Finger. Gemeldet wurden 67 Knochenbrüche: *) Zur Veröffentlichung meiner Erfahrungen haben mich vor allem die ungünstigen Heilresultate Figur 10. veranlasst, wie sie die Tab. IV für die Verletzungen der Mittelhand xicht reponirtrr Bruch der 1. Phalanx des Zeigefingers , in Winkel- und Finger auf weist. Stellung geheilt . Digitized by Google 8 Aerzt liehe Sach verständigen-Zeitung. No. 1. demonstrirt. Diesem Uebelstande kann man mit Sicherheit nur durch eine Röntgendurchleuchtung entgehen. Wenn man das nebenstehende Bild (Fig. 10) betrachtet und bedenkt, dass bei Fingerbrüchen in gleicher Weise ein Knochenstück direkt in das andere eingekeilt ist, so erscheint es erklärlich, dass ein Schienenverband, der einfach die Bruchstücke fixirt, nur für die Fingerbrüche ohne Fragmentverschiebung ausreichend sein kann. In allen Fällen von deutlicher Verschiebung der Bruchstücke muss dagegen ein Extensionsverband an¬ gewendet werden. Geschieht dies nicht, so kann es selbst zu solch ungünstigen Verhältnissen kommen, wie sie Bild 11 vor Augen Fig. 11. Bruch des Gmndglicdes des Zeigefingers , mit starker Dislokation der Bruchstücke geheilt. führt. Ein guter Streckverband für einen Finger ist aber oft schwieriger, wie der für die grossen Knochen einer Ober- oder Unterextremität und zwar deshalb, weil die Extension sich meist schlecht anbringen lässt. Es sind bisher verschiedene Methoden empfohlen worden, ohne dass man eine derselben als vollkommen zweckdienlich bezeichnen könnte. Manche beseitigen die Dislokation der Fragmente nur durch manuelle Extension und suchen die richtige Stellung der Bruchstücke dadurch zu erhalten, dass sie den Finger stark in allen Gelenken über eine Bindenrolle beugen und in dieser Stellung durch Heftpflasterstreifen fixiren. Nach dem Belicht des Herrn Dr. Schmidt befestigt man in dem Knappschaftslazareth zu Silkingen die Extension an dem Fingernagel, in den vorher mit einem Drillbohrer ein Loch gebohrt wurde. Wir haben dies Verfahren nicht versucht, weil nach unseren Be¬ obachtungen jeder Arbeiter durch die Arbeit die Fingernägel vorn so abnützt, dass sie kaum um Millimeterbreite das Nagel¬ bett überragen. Anders läge die Sache, wenn es sich um einen Privatpatienten mit wohlgepflegten langen Fingernägeln handelte. Ob aber auch ein solcher Patient lange mit dem Verbände sich befreunden würde, ist mir zweifelhaft, da ein ständiger Zug an einem Fingernagel lästig empfunden werden muss. Und in der That berichtet auch Herr Dr. Schmidt, dass bei einem Theil der so behandelten Verletzten der Fingernagel sich allmählich abgelöst habe. Wir haben noch die besten — wenn auch nicht immer voll befriedigenden — Resultate dadurch erreicht, dass wir die Extension in ähnlicher Weise, wie sie von Bardenheuer empfohlen worden ist, zur Anwendung brachten. Wird der Knochenbrüch übersehen, oder gelingt es nicht” die Dislokation der Bruchstücke dauernd zu beseitigen, so bilden dieselben nach der Heilung einen Winkel, dessen Spitze so gut immer gegen die Grifffläche des Fingers gekehrt ist, (8. Bild 10 und 11). Diese abnofmaie Heilung hat nun ver¬ schiedene Uebelstände im Gefolge; der Knochenvorsprung kann bei jedem Zufassen durch Druck auf die Weichtheile starke Schmerzen erzeugen und so nicht nur den Finger selbst un¬ brauchbar machen, sondern auch die unverletzten Finger in ihrer Leistungsfähigkeit beschränken. Fig. 12. Bruch des Mittelgliedes in starker Winkelstellung geheilt. Nachträgliche Alnneisseluug des Knochen cor Sprunges. Die abnorme Heiluug kann aber auch die Bewegungs- fähigkeit der peripher von der Verletzung liegenden Finger¬ glieder sehr beeinträchtigen, ja selbst dadurch aufheben, dass die Knochenfragmente die Beugesehnen aus ihrer normalen Lage verschieben, oder dadurch, dass diese direkt durch die Knochennarbe mit den Bruchstücken verlöthet werden. Wir haben versucht, nachträglich derartige Störungen zu beseitigen durch Loslösung der Sehnen und Abmeisselung des Knochen¬ vorsprungs (s. Bild 12). Wenn auch diese Operation in Fällen, wie sie das Bild 11 demonstrirt, sich zur Beseitigung von Schmerzen nützlich erweisen mag, so haben wir von ihr für die Mobilisirung des Fingers keinen Erfolg gesehen. Fig. IS. Bruch des Grundgliedes , in starker Winkelsteflung geheilt. Dadurch kann die Gelenkfläche des Grundgliedes nur noch theilweise ausgenutzt trerden. Digitized by Google 1. Januar 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 9 Tritt diese Verlöthung der Sehnen mit der Knochennarbe nicht ein, so bleibt trotzdem die Beugefähigkeit des Fingers im Mittelgelenk ständig beschränkt. Der Grund hierfür liegt, wie ein Blick auf Bild 13 zeigen wird, darin, dass das Mittelglied nicht mehr im Stande ist, die ganze Gelenkfläche des Grundgliedes für die Beugung auszunützen. Wenn auch bei allen nicht zu alten Verletzten ein Ersatz durch neue Knorpelbildung gegen die Beugefläche des Fingers zu von der Natur geschaffen wird, so bleibt doch immerhin die Beuge¬ fähigkeit des Fingers gegen die Norm zurück. Die Folge davon ist häufig eine fast gänzliche Gebrauchsunfähigkeit des ganzen Fingers (s. Bild 14). Den Gegensatz zu diesen un¬ günstigen Heilresultaten stellt das folgende Bild dar, bei dem die Dislokation der Bruchstücke frühzeitig genug nach der Durch¬ leuchtung beseitigt werden konnte. Schon bei der Entlassung aus un¬ serer Behandlung war der Finger nahezu vollständig gebrauchsfähig. Es steht aber zu erwarten, dass mit dem Schwunde der Kuochennarbe seine Beugefähigkeit wieder ganz hergestellt wird (». Bild 16). Fi;/. 11. Bruch des Grundgliedes des Ze igefi ngers , unter 117 nkcl - Stellung rerheilt. Zeigefinger fast völlig unbrauchbar. (Die - ses Bild stellt denselben Finger wie Fig. 10 dar.) Noch ungünstiger wie die winklige Einkeilung der Bruch¬ stücke wirkt oft die starke Verschiebung derselben auf den Gebrauch des verletzten Fingers. Besonders leicht tritt eine Verschiebung ein, wenn die Bruchstelle in der Nähe eines Gelenks sich befindet und dadurch das eine Fragment sehr kurz ausfallt. Dieses Ereigniss finden wir am häufigsten am Daumen. Ich habe z. B. innerhalb von 2 Wochen drei der¬ artige Fälle gesehen. Zuweilen ist die Dislokation so stark dass die Lage des kurzen Bruchstückes eine ganz ab¬ norme wird (8. Bild 16). Wird der Bruch rechtzeitig erkannt, so kann man durch einen fixirenden Verband wenigstens meist noch eine Anheilung des kurzen Bruchstückes an das längere erzielen. Leider aber wird die Verletzung meist als eine einfache Quetschung auf¬ gefasst und der Verletzte frühzeitig (in dem dem Bild 16 zu Grunde liegenden Falle schon nach 14 Tagen) in die Arbeit geschickt. Die Folge hiervon ist meist die Bildung eines falschen Gelenks (Pseudarthrose), durch das die Gebrauchs¬ fähigkeit des Fingers sehr herabgesetzt wird. Verbessern lassen sich die Verhältnisse dann nur noch auf operativem Wege, indem man nach Resektion eine Versteifung des Fingers herbeiführt. Wir haben bisher in zwei Fällen auf diese Weise erreicht, dass der Verletzte statt eines zweigliedrigen unbrauch¬ baren Daumens einen eingliedrigen brauchbaren erhielt. Nicht selten klagen Leute, die eine Quetschung des Fingers erlitten haben, auch nach Vertheilung aller sichtbaren Folgen der Verletzung weiter über Beschwerden im Nagel- gliede beim Zufassen. Auch über diese Fälle hat das Röntgen¬ licht Aufklärung gebracht. Es handelt sich in solchen Fällen meist um Brüche des Nagelgliedknochens, die durch die ge¬ bräuchliche Untersuchung nicht diagnostizirbar waren. Da infolgedessen die Anlegung eines fixirenden Verbandes unter¬ blieb, die Leute vielmehr die Arbeit bald wieder aufnahmen, so erfolgte auch keine Verheilung der Bruchstücke. Digitized by Google 10 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 24. Es muss zugegeben werden, dass besonders beim Zufassen mit den Fingerspitzen eine solche Unfallsfolge störend ein¬ wirken kann. Fig. 17. Lösung des Epiphysenknorpels des Na¬ gelgliedes. Heilung durch Resektion des Knorqels. Bei jugendlichen In¬ dividuen kann es durch eine Quetschung zur Lö¬ sung eines Epiphysen¬ knorpels kommen. Wird diese Fingerverletzung, deren sichere Diagnose wohl nur mittelst Rönt¬ genbildes möglich ist, nicht erkannt, und wird der Finger nicht zur rechten Zeit in eine ge¬ eignete Ruhestellung ge¬ bracht, so kann die Ge¬ brauchsstörung eintre- ten, welche wir vor ei¬ niger Zeit bei dem Be¬ sitzer des nebenstehend abgebildeten Fingers kennen lernten (Bild 17). Der Daumen war im Nagelgliedgelenk verdickt, auf Druck sowie bei aktiven und passiven Bewegungen schmerzhaft. An der Innenseite des Gelenks fand sich als Komplikation eine Gelenkfistel. Wir exstirpirten den losen Gelenkknorpel und hatten die Freude, den Mann nach einer medico-mechanischen Nachbehandlung mit wieder gebrauchsfähigem Daumen ent¬ lassen zu können. Ausser Frakturen schädigen auch Quetschungen, besonders die der Gelenke, nicht selten in beträchtlichem Grade die Ge¬ brauchsfähigkeit der Finger. Begeht der behandelnde Arzt hierbei den Feh¬ ler, den Finger mehrere Wochen lang in einem steifen Verbände zu fixiren, so kann es (Bild 18) zu einer dauernden Versteifung der betroffenen Gelenke kommen, wie es bei dem Verletzten der Fall war, dessen Unfall verspätet zur Kenntniss der Berufsgenossenschaft kam. Durch lange Ruhestellung der Grundgelenke des 4. und 5. Fingers war eine vollständige Versteifung der¬ selben eingetreten, die den Mann zeitlebens um mindestens 20 pCt. in¬ valide macht. Auffallend häufig werden noch Sehnenverletzungen übersehen. Wenn auch nicht jede Sehnennaht einen guten Erfolg erzielt, so ist sie doch stets zu versuchen, da ohne dieselbe naturgemäss die Gebrauchsfähigkeit des verletzten Theiles dauernd geschmälert oder aufgehoben sein muss. Da auch die Sehnenplastik in den letzten Jahren wesentliche Fort¬ schritte gemacht hat, sollte kein Arzt es unterlassen, derartige Verletzte einem geeigneten Krankenhause zu überweisen, so¬ bald er die Diagnose einer Sehnenverletzung gestellt hat und nicht selbst in der Lage ist, die durchtrennten Sehnen zu ver¬ einigen. Klagt ein Stahlarbeiter auffallend lange über Schmerzen nach einer anscheinend ganz geringfügigen Handverletzung, so ist stets eine Durchleuchtung der betroffenen Extremität geboten. Durch sie werden manchmal Fremdkörper Fig. 18. Quetschung des Hand¬ rückens. Versteifung des Grundgelenks des 4. u. 5. Fingers in Folge zu lange liegenden Verbandes. als Ursache der Klagen festgestellt. So hatte der Verletzte K. (s. Bild 19) eine kleine Wunde am Daumenballen erli tten, die nach wenigen Tagen verheilt war. Trotzdem gab er nach Ablauf der Karenzzeit an, ständige Schmerzen im Daumen zu haben, und trat mit Rentenansprüchen her¬ vor. Die Durchleuchtung des Daumens machte tbatsächlich einen Stahl¬ splitter sichtbar, nach dessen Entfernung auch die Klagen über Schmer¬ zen verschwanden. Eine gleiche Auf¬ merksamkeit wie Kno¬ chen- und Sehnenver¬ letzungen muss der be¬ handelnde Arzt auch allen Verletzungen der Haut, allen Schnitt- und Quetschwunden der Weich teile der Hand und Fig. 19. Finger zuwen en, d. . Stahlsplitter über dem Sehnenbein. allen den Verletzungen, die nur unter Narbenbildung zur Heilung gelangen können. Handelt es sich um eine glatte Schnittwunde, so ist die Heilung ohne Eiterung mit allen Mitteln anzustreben. Ist die Wunde vernarbt, so muss frühzeitig mit Bewegungen der Finger behufs Dehnung der Narbe begonnen werden. Die gleiche Aufmerksamkeit muss der Arzt der Narbenbildung ent¬ gegenbringen, w enn er in die Lage kommt, gequetschte Theile des Fingers operativ zu entfernen. Er darf hierbei nicht ver¬ gessen, dass ein verkürzter Finger mit reichlicher, normaler, frei beweglicher Haut an seiner neugeschaffenen Spitze weniger schadet wie ein normal langer Finger, der an seiner Spitze mit einer schlechten Narbe bedeckt ist. Kann der Operateur die Lage der Narbe bestimmen, so soll er sie so zu legen suchen, dass sie beim Anfassen und Festhalten von Gegen¬ ständen keinem abnormen Druck und keiner abnormen Deh¬ nung ausgeselzt ist. Handelt es sich um grössere Haut- oder Weichtheildefekte, seien sie nun durch Verbrennung oder Quetschung entstanden, so muss, soweit es möglich ist, jede grössere flächenhafte Narbe ver¬ mieden werden, denn solche Flächennarben sind meist wenig widerstandsfähig, nicht nach¬ giebig, haben grosse Neigung zum Wundwerden und schränken meist die Gebrauchsfähigkeit der Finger nicht unerheblich ein, denn die Haut auf derRüokenfläche der Fin¬ ger muss sehr verschieblich, die auf der Grifffiäche fest und wider¬ standsfähig sein. Lässt man selbst eine leichtere derartige Fig. 20. Abquetschung der Weich- theile der Daumenspitxe. Narbenbildung stört sehr den Gebrauch des Fingers . Digitized by Google 1. Januar 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 11 Verletzung, wie sie Bild 20 darstellt, durch allmähliche Ver¬ narbung heilen, so kann, besonders wenn Daumen oder Zeige¬ finger betroffen sind, eine dauernde Arbeitsbeschränkung des Verletzten daraus resultiren. Bedeckt man dagegen den Hautdefekt bei Zeiten durch Thierschsche Hautlappen, so wird die Verletzung höchstens eine vorübergehende Schädi¬ gung der Gebrauchsfähigkeit des Fingers bedingen. Noch mehr wie bei kleineren Defekten muss von diesen Haut¬ transplantationen bei grösseren WeichtheilVerletzungen Ge¬ brauch gemacht werden. Was man damit erreichen kann, zeigen die Bilder 21 und 22. Diesem Verletzten war Fig. 21. Abriss der Haut des Handrückens. Heilung durch Transplantation Thierschscher Hauilappen. Vollständige Funktions¬ fähigkeit der Hand } wie Fig. 22 zeigt. durch einen Treibriemen fast die ganze Haut des Hand¬ rückens abgerissen worden. Als er auf Veranlassung der Fabrikleitung schon am 4. Tage nach dem Unfälle sich im Institut einfand, lagen die Sehnen des 2.-5. Finger¬ streckers frei zu Tage. Hätte man bei dem Verletzten nach der früher üblichen Art die Heilung durch eine Eiterung erstrebt, so würde mit voller Sicherheit die vollständige Ge¬ brauchsunfähigkeit des 2.-5. Fingers die Folge gewesen sein. Die rechtzeitige Bedeckung der grossen Weichtheil wunde durch mehrere Thierschsche Hautlappen, welche dem Ober¬ schenkel entnommen wurden, lieferte das Resultat, welches die Bilder 21 und 22 demonstriren: es konnte der am 10. No¬ vember 1898 verletzte Arbeiter bereits am 4. Februar 1899, also noch vor Ablauf der 13. Woche, zur Arbeit mit einer Gewöhnungsrente von 15 Prozent entlassen werden. Auch diese Rente konnte Ende September eingestellt werden. Die Kosten betrugen für chirurgische und medico-mechanische Behandlung 235 Mk., wovon die Beihilfe der Krankenkasse abging. Hierzu kommt die 15 Prozent Rente für 8 Monate, so dass die ganzen Kosten bis zur völligen Wiederherstellung des Verletzten 300 Mk. nicht wesentlich überschritten. Als weitere Unfallsfolge möchte ich noch die sogenannte Glanzhand anführen. Dieselbe kann sich nach Verletzungen oder entzündlichen Prozessen, welche eine längere Ruhe¬ stellung der Hand bedingen, entwickeln. Die Haut der Finger ist in diesem Falle häufig faltenarm, ja faltenlos und auf¬ fallend gespannt; sie ist einfach atrophirt oder teigig ge¬ schwollen, auch sklerosirt. Im vorgeschrittenen Stadium er¬ innert der Zustand der Hand direkt an Skleroderma und führt Fig. 22. zu starker Bewegungsbeschränkung oder gänzlicher Versteifung der Finger, sowie zu grosser Empfindlichkeit gegen Abkühlung. Solche Leute verlieren häufig den vollständigen Gebrauch der betroffenen Hand. (Schluss folgt) Referate. Allgemeines. lieber die Terbreitnng der Tollwath and das Auftreten derselben beim Menschen, sowie die Erfolge der Be¬ handlung in neuester Zeit. Von Dr. Marx. (Deutsche Vierteljabreschrift fUr Client). Gesundheitspflege. 91. Bd., 4 . Heft, 2. HÄlfte.) Nach einer kurzen Darstellung des Verlaufs der Wuth- krankheit beim Thiere, speziell beim Hunde, bespricht der Verf. die Verbreitung der Tollwuth in neuerer Zeit. Nach Kirchner (Klinisches Jahrbuch, Bd. VII) wurden vom 1. Ja¬ nuar 1891 bis 31. Dezember 1897 im preussischen Staat 648 Personen von tollen bezw. tollwuthverdächtigen Thieren gebissen, von diesen starben 25 oder 3,9 Prozent an Tollwuth. In nennenswerther Ausbreitung wurde die Tollwuth in Deutsch¬ land nur in den an Russland und Oesterreich-Ungarn an- stossenden Grenzgebieten beobachtet, wofür der Grund darin gelegen ist, dass die Krankheit fortwährend durch Hunde, welche über die Grenze von Russland und Oesterreich-Ungarn in unsere Grenzbezirke überlaufen, eingeschleppt wird. Von den preussischen Provinzen blieben von Bissverletzungen durch tolle Thiere gänzlich verschont: Hannover, Westfalen, Hessen- Nassau, Rheinprovinz und die hohenzollernschen Lande; in verschwindendem Grade waren heimgesucht: Brandenburg, Schleswig-Holstein und Sachsen, während in Pommern 6, in Digitized by Google 12 Aerztliohe Saohverständigen- Zeitung. No. 1. Westpreussen 13, in Posen 14, in Ostpreussen 30 und in Schlesien 80 derartige Verletzungen im Jahre 1897 vorkamen. Im Jahre 1898 wurden 254 Bissverletzungen von Men¬ schen amtlich gemeldet, über die Hälfte mehr als im Vorjahr. Von den 254 Gebissenen blieben 52 ohne ärztliche Behand¬ lung; von diesen erkrankten und starben an Lyssa 4 = 7,69 Prozent. Bei 149 Gebissenen fand ärztliche Behandlung statt. Von diesen Behandelten wurden 53 alsbald nach erfolgter Ver¬ letzung, 19 nachträglich der Schutzimpfung nach Pasteur unter¬ worfen, im Ganzen 72 oder 29 Prozent der Verletzten. Von diesen 72 ist keiner, von 130 anderweitig ärztlich Behandelten, aber nicht geimpften, sind 2 oder 2,31 Prozent an Tollwuth gestorben. Eine kurze geschichtliche Darstellung der Pasteur'schen Schutzimpfung und ihre Einführung in Preussen durch Errich¬ tung einer besonderen Abtheilung zur Schutzimpfung gegen Tollwuth im Institut für Infektionskrankheiten in Berlin im Jahre 1898 bilden, ergänzt durch die zur Zeit in Preussen gütigen sanitätspolizeilichen Vorschriften, den Schluss der fleissigen Arbeit. Roth (Potsdam). Klinische Beiträge zur Lehre vom Status thymicus. Aus d. II. medizin. Abtheilung der K. K. Krankenanstalt „Rudolf¬ stiftung* in Wien. (Primararzt Dr. E. Bamberger.) Von Dr. M. Laub. (Wiener klinische Wochenschrift, No. 44, 1809). Die Lehre vom Status thymicus hat besonders für den ärztlichen Sachverständigen Interesse, da sie die Erklärung für manche plötzlichen Todesfälle bringt, die zu begutachten bis dahin Schwierigkeiten bot. Die vom Verf. mitgetheilten vier einschlägigen Fälle hatten sowohl in klinischer als auch in anatomischer Beziehung manches Gemeinsame. Zunächst handelte es sich durchwegs um junge Leute zwischen 18 und 23 Jahren, welche plötzlich aus voller Gesundheit, nachdem sie am Tage vorher oder sogar noch am selben Tage ihrer Beschäftigung nachgegangen waren, erkrankten und binnen wenigen, höchstens 18 Stunden, starben. Alle boten nahezn dasselbe klinische Bild dar, das durch das Auftreten schwerster Erscheinungen von Seiten des Gehirns charakterisirt war: tiefstes Koma beherrschte das Krankheitsbild. In einem Falle gesellten sich noch allgemeine epileptiforme Krämpfe, in einem anderen Stimmritzenkrämpfe hinzu, während in einem dritten Falle Erbrechen als weiteres cerebrales Symptom auftrat. Bei der Autopsie konnten in allen Fällen Oedem des Gehirns und Hyperplasie, beziehungsweise Persistenz der Thymus und Hyperplasie des gesammten lymphatischen Apparates, sowie auch mehr oder weniger hochgradige Hypoplasie des Gefäss- syßtems, inbesondere der Aorta, konstatirt werden. Für das Hirnoedem fand sich kein anderes erklärendes Moment, als die lymphatisch-chlorotische Konstitutionsanomalie; bei dieser besteht offenbar die Disposition zur Bildung eines Gehirn¬ oedems, welches dann durch irgend einen Reiz ausgelöst werden kann. Ein solcher Reiz kann sowohl psychischer wie somatischer Natur sein (Aufregung, Schrecken, kaltes Bad, leichtes Unwohlsein, Ueberanstrengung, Chloroform etc,) —y Mors praecox ex haemorrhagia cerebri post coitum. Von Prof. F. Gumprecht in Jena. (Deutsche mediiinische Wochenschrift No. 45, 1899.) Verf. berichtet über einen, in unmittelbarem Anschluss an eine Cohabitation erfolgten Todesfall, als dessen Ursache eine Ponsblutung festgestellt wurde. Die Trägerin der Blutung, eine 32jährige Frau, war nicht erheblich arteriosklerotisch, hatte sich weder gewohnheitsmässig, noch unmittelbar vorher dem Alkoholgenuss ergeben, und war, von einer für den Tod in diesem Falle gleichgiltigen Tubeneiterung abgesehen, gesund und kräftig. Aehnliche Fälle sind bereits mehrfach zur Veröffentlichung gelangt. Dem Wesen nach ist die Apoplexia e cohabitatione nichts anderes, als jede andere Apoplexie bei plötzlicher Blutdrucksteigerung. — y. Psychiatrie und Neurologie. Ueber familiäre Irrenpflege. Von Dr. Conrad Alt, Dir. d. Landes-Heil- u. Pflegeanst. Ucht8pringe (Altmark). (Sammlang sw&ngl. Abb. &. d. Geb. d. Nerven- n. Geisteskrnnkh. II. Bd. Heft 7—8 1899.) Ein geschichtlicher Ueberblick über die Entwicklung der Familienpflege in den einzelnen Staaten leitet den Aufsatz ein, dem der Verfasser, entsprechend der Wichtigkeit des Gegenstandes, ein Doppelheft der von ihm herausgegebenen Sammlung gewidmet hat. Aber diese Geschichte ist keine Zusammenstellung toter Einzeldaten, sie lebt und redet, sie predigt von der uralten Familienpflege der Campine (Gheel in Belgien) bis zu den mannigfachen Versuchen der letzten Jahre in Deutschland, durchweg die Wahrheit des Satzes: Die Fa¬ milienpflege ist eine wohl durchführbare und, sobald sie in zweckmässiger Weise durchgeführt wird, eine segensreiche Ergänzung der sonst üblichen Mittel zur Pflege und Heüung Geisteskranker. Dieselbe Erfahrung hat der Verf. auch be¬ züglich der seiner eignen Obhut anvertrauten Kranken ge¬ macht, nachdem er in der Nähe der Anstalt Uchtspringe eine eigenartige Form der Familienpflege eingeführt hat. Ganz allgemein gesagt, bietet die Familie den Kranken, was ihnen keine, auch nicht die beste Anstalt bieten kann, „die voüe Existenz unter Gesunden, die Rückkehr aus einem künstlichen und monotonen in ein natürliches, soziales Medium.“ Damit ist in nuce schon ausgedrückt, was für Kranke sich dazu eignen, in Familien verpflegt zu werden, wie die Familien beschaffen sein müssen, ‘denen die Kranken überantwortet werden, und dass eine sachverständige Aufsicht der Familien¬ pflege nothwendig ist. Nichts illustrirt die Vorzüge der Fa- milienpfiege besser und giebt gleichzeitig deutlichere Anhalt¬ spunkte für ihre Durchführung, als ein Eingehen auf die von den Gegnern der Einrichtung aufgestellten Behauptungen. 1. „Die Einrichtung birgt Gefahren für die gesunde Be¬ völkerung“. Angeblich sollen die Bewohner von Irrendörfern selbst geistig entarten — das hat in Gheel die Erfahrung widerlegt. Die Kinder der Pfleger sollen moralisch geschädigt werden — das Gegentheil ist der Fall. Verständniss für die Kranken, Mitgefühl, Selbstbeherrschung lernen die Bewohner der Irrendörfer. Die Kranken sollen durch Erregungszustände den Gesunden gefährlich werden — dies ist thatsächlich nicht der Fall; denn in Gheel ist in 5 Jahren nur einmal durch einen Kranken ein Sittlichkeitsverbrechen, in Schottland in 40 Jahren ein Mord verübt worden. Indessen ist hier ein Fingerzeig gegeben, dass eine sorgfältige sachverständige Auswahl von nöthen ist. Die sexuell Erregten, die Gewalt¬ tätigen, die Brandstifter sind von der familiären Pflege natür¬ lich auszuschliessen. Aber, heisst es dann weiter, 2. „Die Zahl der dann übrig bleibenden Kranken ist zu gering, als dass es die Mühe der neuen Einrichtung lohnen und die Anstalten wesentlich entlasten könnte“. Alt wider¬ legt auch dies. Geeignet sind die Rekonvaleszenten von akuten Störungen und eine Anzahl chronisch Kranker, unter denen gelegentlich sogar ein scheinbar Unheilbarer in der Familien¬ pflege Genesung findet. Da sind zuerst Idioten und Schwach¬ sinnige. Wenn diese in der Anstalt an Ordnung gewöhnt, nach einem etwaigen Erregungszustand beruhigt sind, kann Digitized by Google 1. Januar 1900. Aerztliche ßachverständigen-Zeitung. 13 die Anstalt häufig nichts mehr mit ihnen anfangen, sie bleiben da eine Last für die überfüllten Häuser, zum finanziellen Schaden der zu ihrer Unterhaltung Verpflichteten; denn für’s bürgerliche Leben oder für die eigne Familie sind sie nicht oder wenigstens noch nicht reif. In der Pfiegerfamüie da¬ gegen können sie dauernd Beschäftigung finden, oder, falls sie soweit erziehbar sind, hier den Uebergang zum Leben draussen durchmachen. Auch Kranke, die zu Erregungs¬ zuständen neigen, sind hier nicht ausgeschlossen, denn den aufmerksamen Beobachtern, die sie umgeben, entgeht das Nahen dieser Zustände kaum und durch ärztliche Anordnung können alsbald Gegenmassregeln getroffen werden. Epileptiker können nur mit grosser Vorsicht ausge¬ wählt werden; Hysterische dagegen eignen sich vorzüglich. In d8r Anstalt, besonders wenn sie zu mehreren sind, ein be¬ ständiger Stein des Anstosses, leben sie sich, geeignete Pfleger vorausgesetzt, im Hause oft sehr gut ein. Geeignete Fälle finden sich demnächst unter den sekundär Schwachsinni¬ gen, den V errückten, den Paralytikern im Remissions¬ stadium, den leichten Zirkulären, chronisch Melan¬ cholischen und chronisch Manischen. Alles in allem mindestens 15% aller Geisteskranken! 3. „Es fehlt in der Nähe der Anstalten an einer geeig¬ neten Bevölkerung“. Man möge diesen Einwurf nicht vor¬ schnell machen. Denn in Gegenden, wo Familienpflege in grossem Stil neu eingeführt worden ist (Lierneux—Belgien 1884) hat man Behr gute Erfolge erzielt. Allerdings muss man „ländliche Gegenden mit solchen Familien bevorzugen, die eine redliche, menschenfreundliche und geduldige Ge- müthsart, dann aber auch eine gewisse Intelligenz und mitt¬ leren Wohlstand aufweisen“: kleine Ackerbürger, Handwerker, Förster und andre Unterbeamte in oder ausser Dienst. Aeltere Wärter oder Wärterinnen, die sich in der Nähe der Anstalt verheirathet haben, geben einen guten „Stamm“. Verf. hat, um genügende Pflegekräfte für seine neue Anstalt heran¬ zuziehen, eine Kolonie von verheiratheten Wärtern gegründet, gleichzeitig als Ausgangspunkt einer ausgebreiteteren Familien¬ pflege. Und schon ist eine solche nicht nur bei den mit je einem Häuschen, Garten und Ackerland versehenen Wärter¬ familien, sondern auch bei geeigneten Leuten in der Nachbar¬ schaft in Gang gekommen. In der Umgebung kommunaler und andrer Riesenanstalten freilich wird man meist nur ver¬ einzelte geeignete Familien finden. Will man diese Anstalten ernsthaft entlasten, so müssen in geeigneter Gegend kleinere Zentralen — Asyle — als Durchgangsstation für die ringsum in der Familienpflege zu verteilenden Kranken er¬ richtet werden. Der Asylleiter, ein Irrenarzt natürlich, auf dessen Persönlichkeit dabei viel ankommt, muss mit Hilfe seiner Untergebenen die Familienpflege seines Bezirks ordnen und beaufsichtigen. 4. „Die Billigkeit der Verpflegung in Familien wird durch das Zurückhalten von Kranken, die ebensogut zu Hause leben könnten, aufgewogen.“ Das trifft wiederum nicht zu. Zur Selbstständigkeit, zum Wunsche, wieder ganz frei zu leben, werden die Pfleglinge hier mehr als in der Anstalt angeregt. Ausserdem aber kostet der Familienpflegling erfahrungsgemäss pro Tag nicht mehr als 1 Mark. Der Bau eigener Zentralen würde die Kosten pro Kopf und Tag etwa auf 1 M. 30 Pf. steigern, also nicht bis zu dem von den Anstalten günstigen¬ falls geforderten Preise. Am bedeutungsvollsten und berech- tigsten ist der Einwand 6. den Anstalten würde ein gutartiges, versöhnendes, arbeitsames Element entzogen werden. Dem stellt A. die Er¬ wägung gegenüber, dass es gerade Aufgabe der Anstalt ist, immer wieder die Anfangs minder brauchbaren und arbeits¬ fähigen Leute zur Arbeit und Ordnung zu erziehen, und dass hierfür die Anwesenheit vieler gut erzogener, die schon alle Arbeit verrichten, gelegentlich geradezu ein Hemmniss ist. Ausserdem bleiben unter den geschlechtlich Erregten, den zeitweise Gewaltthätigen, kurz den zur Familienpflege unge¬ eigneten, immer etliche tüchtige Arbeiter. Manche friedferti¬ gen Naturen wollen auch garnicht aus der Anstalt fort, und die sollen ruhig darin bleiben. Zudem werden doch nicht blos angenehme, sondern, wie oben erwähnt, auch recht stö¬ rende Elemente, hysterische, schrullenhafte Leute, die sich in dem straffen, ordnungsmässigen Betriebe ständig gekränkt fühlen und in der grossen Anstalt den rechten Resonanzboden für ihre Quengeleien finden, fortgeschafft. Und endlich — das Wohl der Kranken ist wichtiger als das der Anstalt. Als Anhang folgen die für die Uchtspringer Familienpflege geltenden Bestimmungen. Möge die Schrift den Bestrebungen des Verfassers viel neue Anhänger werben! F. L. Kasuistische Beiträge zur Differentialdiagnose zwischen Lnes cerebri diffusa und dementia paralytica nebst einem anatomischen Befände. Von Dr. Carl Wickel-Tübingen, früher Marburg. (Arch. f. Piych. Bd. 30. H. 2.) In grösster Ausführlichkeit werden die Krankengeschichten von drei Frauen und drei Männern mitgetheilt, die theils in jüngeren Jahren (25) theils im reifen Alter (bis zu 51) seelisch erkrankt sind. Jedesmal hatte das Leiden Aehnlichkeit mit Lähmungsirrsein. Ziemlich regelmässig begann es mit Reiz¬ barkeit einer-, Gleichgiltigkeit gegen wichtige Angelegenheiten andrerseits, und Stimmungswechsel. Es folgte dann jeweils ein Zustand seelischer Erregung, meist mit wechselnder Stimmung, die oft jäh umschlug, die Verstandeskräfte nahmen — mit Ausnahme einer Kranken — deutlich ab. Lichtstarre oder wenigstens Reaktionsträgheit der Pupillen war, abge¬ sehen von dem eben erwähnten Falle, einer- oder beiderseits vorhanden, Sensibilitätsstörungen und Silbenstolpern gleichfalls wenigstens zeitweilig. — Minder verwerthbar für die Deutung des Krankheitsbildes waren andre Erscheinungen, wie Ver¬ wirrtheit, heftige Kopfschmerzen und vorübergehende Sinnes¬ täuschungen bei einzelnen Kranken. Auch die Thatsache, dass bei fünf derselben syphilitische Ansteckung nachgewiesen werden konnte, sprach für Lähmungsirrsein ebensogut als für Gehirnlues. Dagegen wurde Verf. durch eine dritte Reihe von Beobachtungen bestimmt, bei vier seiner Kranken reine Ge¬ hirnlues und bei zweien eine solche in Verbindung mit später ausgebildeter Paralyse anzunehmen. Es bestanden nämlich manche Abweichungen, die nicht dem Lähmungsirrsein zu¬ kommen, sondern direkt auf Hirnsyphilis hinweisen: flüchtige Augenmuskellähmuogen, verschieden lange anhaltender, theils völliger Sfcrachverlust, theils Verlust der Wortbilder (amnes¬ tische Aphasie), kurz währende, plötzliche Halbseitenlähmung, einmal Stauungspapille. Es bestanden ferner die erfahrungs¬ gemäss während der Paralyse ungemein seltenen körperlichen Zeichen der fioriden Lues; Ausschläge, Geschwüre, Papeln, die bei Jod- und Quecksilberbehandlung zurückgingen. Die Krankheitseinsicht war fast stets vorhanden. Am Massgeb- lichsten war der Verlauf der Krankheit: Im ersten Fall bleibt die massige Geistesschwäche seit drei bis vier Jahren unverändert; im zweiten tritt in derselben Zeit unter Anwen¬ dung von Quecksilber eher eine Besserung ein; der dritte Fall verläuft in der letzten Zeit unter dem Bilde fortschreiten¬ der Verblödung; im vierten, der übrigens recht wenig an Paralyse gemahnt und eine 25 jährige betrifft, tritt nach spezifischen Kuren endlich Heilung ein; der fünfte ergiebt Digitized by Google 14 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 1. eine an Heilung grenzende Besserung, gleichfalls unter anti luetischer Behandlung, nach 2 l /2 Jahren; beim sechsten ver¬ ändert sich auf die spezifische Kur hin das Befinden nach der ungünstigen Seite, Anfälle von Sprachlosigkeit treten ein, Ver¬ zweiflung wechselt mit hohem Glücksgefühl und lächerlichem Grössenwahn, zahlreiche Krampfanfälle beschliessen die Scene. In diesem Falle wurde die Leichenöffnung ausgeführt und ergab neben allgemeiner Meningitis und Faserschwund in der Rinde, syphilitische Arterienerkrankung im Gehirn. F. L. Chirurgie. Ueber die Verletzungen und Aneurysmen der Art. glutaea und ischiadica. Inaugural-Dissertation von Richard v. Varendorff, Ass.-Arzt am Landkrankenhause zu Hanau. 1899. Die unter Professor v. Büngner entstandene Arbeit giebt ein übersichtliches Büd von den bisher zur Beobachtung und Behandlung gekommenen Fällen von Verletzungen und Aneu¬ rysmenbildung der wichtigsten Gesässarterien. Die relativ geschützte Lage dieser Gefässe bringt es mit sich, dass die Zahl der bis jetzt beschriebenen Fälle keine zu grosse ist. Im Ganzen liegen der Dissertation, in welcher die Kranken¬ geschichte eines Falles von spontanem Aneurysma der Arteria ischiadica ausführlicher geschildert und durch zwei Abbildun¬ gen illustrirt wird, zu Grunde: 13 Fälle von Verletzung der Art. glutaea und ischiadica, 24 Fälle von traumatischem und 31 Fälle von spontanem Aneurysma der Glutaealarterien. Aus den diagnostischen und therapeutischen Bemerkungen Ver¬ fassers sei Folgendes hervorgehoben: Was zunächst die nicht immer leicht festzustellende Verletzung eines grösseren Ge- fässes der Gesässgegend betrifft, so sind, neben der Richtung und dem Verlauf des Wundkanals, für die Diagnose die Blutungserscheinungen von grösster Bedeutung. Eine heftige Primärblutung ist ein untrügliches Kennzeichen der Arterien¬ verletzung. Doch kann dieselbe fehlen, ohne dass darum die Arterie intakt zu sein braucht. Es kann in ausgedehntester Weise nach innen bluten; dann werden die Mm. glutaei von ihrer Unterlage abgewühlt, emporgehoben und es entsteht ein primäres arterielles Haematom. Auch beim Fehlen jeglicher Blutung gestattet ein Symptom, das Auftreten eines bei der Auskultation wahrnehmbaren, mit dem Pulse isochronen hauchenden oder schabenden Geräusches am Orte der Ver¬ letzung, eine absolut sichere Diagnose auf Arterienverletzung. Für eine solche spricht auch die in der Mehrzahl der Fälle nach einiger Zeit auftretende Nachblutung. Was die Therapie betrifft, so ist die doppelte Unterbindung in loco bei Ver¬ letzungen der Art. glutaea und ischiadica als das Normal- verfahren anzusehen. Die nicht minder oft schwierige Dia¬ gnose des Glutaealaneurysma gründet sich hauptsächlich auf den Symptomencomplex von Pulsationen, Geräuschen mit aneurysmatischem Charakter und ischiadischen Schmerzen. In differentiell-diagnostischer Beziehung kommen besonders Abscesse und Myeloid-Sarkome in Betracht. Ein dauernder sicherer Heilerfolg ist nur durch eine aktive chirurgische Therapie zu erreichen. Das rationellste Heilverfahren, so¬ wohl hinsichtlich der relativen Gefahrlosigkeit als auch hin¬ sichtlich der Sicherheit des Erfolges, ist die Operation nach Antyllus (Spaltung des Sackes nach centraler und peripherer Unterbindung des Arterienstammes und sämmtlicher vom Aneurysma ausgehenden Seitenäste). Wenn irgend möglich empfiehlt es sich, die Exstirpation des Sackes gleich anzu- schliessen. Die Zahl der bisher beobachteten Fälle von trau¬ matischem Glutaealaneurysma steht vor der Anzahl der spon¬ tan entstandenen nur unwesentlich zurück. Als Ursache für die letzteren kommen hauptsächlich in Frage die Arteriosklerose und der akute Gelenkrheumatismus, bezw. die in seinem Ge¬ folge auftretende Endocarditis. Traumatischen Einwirkungen leichterer Art ist keine Bedeutung beizumessen; höchstens können sie bei krankhaft verändertem Arteriensystem als Ge¬ legenheitsursache eine Rolle spielen. Für die operative Be¬ handlung der spontanen Glutaealaneurysmen kann nur die Liga¬ tur der Hypogastrica zur Anwendung kommen, doch ist die¬ selbe nicht ungefährlich, zumal bei bestehenden hochgradigen Arterienveränderungen. Ein nahezu ungefährliches Verfahren bei mindestens der gleichen Sicherheit des Erfolges stellt die Injektion von Eisenchlorid dar. Vielleicht bietet die neuer¬ dings empfohlene Gelatinebehandlung noch günstigere Aus¬ sichten. —y. Erzielung tragfätaiger Stümpfe durch Nachbehandlnng. Aus der chirurgischen Abtheilung des Bürgerhospitals in Köln. (Dirig. Arzt: Geh. San.-Rath Prof. Dr. Bardenheuer.) Von Dr. Hugo Hieronymus Hirsch. (Deuttche medlt ln Ische Wochenschrift No. 47, 1899). Bisher versuchte man die Tragfähigkeit der Schaftstümpfe durch Besonderheiten des wundärztlichen Eingriffes zu er¬ reichen, Bestrebungen, die erst in jüngster Zeit von prak¬ tischem Erfolg gewesen sind. Verf. zeigt einen neuen Weg, auf dem es gelingt, den Stumpf des nach dem gewöhnlichen Verfahren abgesetzten Gliedes in kurzer Zeit tragfähig zu machen. Er unterwirft denselben nach beendeter Wundheilung einer konsequenten, zielbewussten Nachbehandlung, deren Massnahmen in Folgendem bestehen: 1) Bleibt der Kranke — es sei ein Unterschenkel-Amputirter — zunächst nach wie vor dauernd zu Bett, nach wie vor mit gehörig hochgelagertem Stumpf. 2) Ein- oder zweimal des Tages wird das Stumpf¬ ende bis zu einer halben Stunde massirt, zuerst eine Zeit lang trocken, dann mit 2% Salicylsäure-Olivenöl. 3) Nach jeder Massirung wird der Stumpf wieder gehörig mit Watte und Gazebinden verbunden. 4) Es wird eine Kiste oder ein Holz¬ rahmen in das Bett hinein, vor die untere Querwand desselben gelegt; hiergegen hat der Kranke mit dem hochliegenden, watteumwickelten Stumpfe 1—2 stündlich etwa 5—10 Minuten lang Tretübungen auszuführen. 6) Sowohl nach jeder Massirung, wie auch nach jeder Tretübung hat der Behandelte mit dem verstümmelten Gliede etwa 2—4 Minuten lang Frei¬ übungen anzustellen, kräftige Beuge- und Streckbewegungen der erhaltenen Gelenke, in langsamer, taktgemässer Aufein¬ anderfolge. 6) Erhält der übende Stumpf allabendlich ein warmes Sodabad. Mittels dieser vereinigten Maassnahmen ist in den behandelten Fällen erreicht worden, dass Küble, Schwellung und dunkle Röthe, die Zeichen von Stauung des Blutes, schwanden, dass derbe Zelleinlagerungen sich auflösten, dass feste Verwachsungen der Narben sich lockerten, dass die Haut am Ende des Stumpfes leicht verschieblich wurde und dass kleine, harte Auflagerungen, die sich am Rande der Knochensägefläche gebildet hatten, sich zurückbildeten. Gleich¬ zeitig wurde durch diese Nachbehandlung einer Muskelatrophie vorgebeugt, das Allgemeinbefinden günstig beeinflusst und der Stumpf widerstandsfähiger gegen äussere Reize gemacht. Hat man dies Alles erreicht, so wird 7) ein kleiner Sack mit Haferspreu neben das Bett gestellt, auf welchem dann der Kranke 1—2 stündlich 5—15 Minuten lang Steh Übungen zu verrichten hat. Er stellt sich erst mit etwas gespreizten Beinen — den gesunden Fuss auf dem Boden, den Stumpf auf dem weichen Sack — und stützt noch zur Sicherung des Gleichgewichts die Hände auf den Bettrand auf. Dann wiegt er die Körperlast hin und her, bald mehr den Stumpf belastend, Digitized by Google 1. Januar 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 15 bald mehr den gesunden Fuss. Später übt er dann, das gesunde Bein erhebend, auf dem Stumpf allein zu stehen. Nach der Uebung im Stehen, die man mannigfach abändern kann, steigt der Kranke jedesmal wieder ins Bett, macht einige kräftige Freiübungen und legt den Stumpf wieder hoch. Ist so der Behandelte schliesslich dahin gelangt, dass er ohne irgend welche Beschwerden den Stumpf ausgiebig zum Stehen benutzen kann, dann verlässt derselbe dauernd das Bett und erhält vorläufig einen einfacheren Gliedersatz, in welchem er sofort mit alleinigem Aufstützen der Endfläche des Stumpfes, ohne Krücken und ohne Stock, fest und sicher umhergehen kann. Bis zur Fertigstellung des endgiltigen Gliedersatzes, der sich von den bisher gebräuchlichen dadurch unterscheidet, dass er allein das Ende des Stumpfes und gar nicht die Seitenflächen stützt, macht der Kranke weiter fleissig Steh¬ übungen, aber jetzt mit dem blossen Stumpf und auf dem harten Fussboden; Anfangs erhält er wohl noch ein zusammen¬ gefaltetes Tuch unter den Stumpf gelegt, nachher tritt er unmittelbar auf den Boden. Auch diese Uebungen werden gut vertragen, wenn jedesmal hinterher das verstümmelte Glied in freier Luft kräftig gebeugt und gestreckt wird. Es stärkt sich darnach die Hornschicht der zur Stumpfbedeckung verwandten Haut, und so vermehrt sich die Widerstandskraft der Sohle des Stumpfes noch weiter, Nach denselben Grund¬ sätzen verfährt man bei Amputationen an anderen Stellen und erreicht durch diese rationelle Nachbehandlung eine Trag¬ fähigkeit des Stumpfes nach 4—8 Wochen. —y. Innere Medizin. lieber traumatische Erkrankungen der Magen¬ schleimhaut. Von Prof. Dr. R. Stern-Breslau. (Deutsche medizinische Wochenschrift I8w9, No. S8.) Die praktische Ausführung der Unfallgesetzgebung fordert von den Aerzten ein sorgfältiges Studium der bisher sehr ver¬ nachlässigten ätiologischen Beziehungen zwischen Trauma und inneren Krankheiten. Verf. will hier nur die Erkrankungen der Magenschleimhaut behandeln, während er bezüglich der anderen Magenkrankheiten auf sein im Druck befindliches 2. Heft „Ueber traumatische Entstehung innerer Krankheiten verweist. Die veranlassenden mechanischen Einwirkungen können sowohl direkte als indirekte sein; dass durch solche Einwirkun¬ gen Einrisse, auch Substanzdefekte in der Magenschleimhaut entstehen können, sei ganz sicher. In Bezug auf die patho¬ logische Anatomie der traumatischen Erkrankungen seien wir noch sehr unvollkommen unterrichtet, da bezügliche Obduk¬ tionen fehlen; die meisten Fälle dieser Art sind nach kurzer Zeit völlig geheilt. Wunden der Magenschleimhaut zeigten grosse Tendenz zur Heilung; das lehrten klinische Erfahrungen und die bekannten Thierversuche von Quincke, Daettwyler, Ritter undVanni u. A. Die von verschiedenen Autoren ver¬ öffentlichten klinischen Beobachtungen theilt Stern in zwei Gruppen: 1. rasch zur Heilung gelangende und 2. chronisch verlaufende Fälle. In Bezug auf die erste Gruppe ist zu be¬ merken, dass „eine einfache traumatische Magenschleimhaut- zerreissung zunächst dieselben Symptome machen kann, die wir als die klassischen des Ulcus ventriculi zu betrachten gewohnt sind: Blutung, spontanen Schmerz und Druckempfind¬ lichkeit in einem circumscripten Bereich.“ In Bezug auf die zweite Gruppe existirten Fälle, in denen das Trauma in ein¬ wandfreier Weise festgestellt ist, wo es sich um kräftige Männer in mittlerem Lebensalter bandelt, bei welchen nichts für die Annahme eines bereits vor dem Trauma vorhandenen Ulcus sprach. Für diese Fälle scheint die Prognose nicht so günstig wie für die der 1. Gruppe. Stern geht dann weiter auf die in letzter Zeit mehrfach diskutirte traumatische Ent¬ stehung des Magencarcinoms ein. „Trotz der auf diesem Gebiete herrschenden Unsicherheit zwingt uns die Ausführung der Unfallgesetzgebung, Entschei¬ dungen zu treffen, die natürlich nicht den Anspruch erheben dürfen, als wissenschaftliche Urtheilssprüche zu gelten, sondern auf eine Abwägung von Wahrscheinlichkeiten hinauslaufen. Die meisten Aerzte stehen heute — wie ich meine, mit Recht — auf dem Standpunkt, dass es gerade wegen der Unsicherheit unserer Kenntnisse nicht gestattet ist, die Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs zwischen einem Trauma und einer später an der Stelle der Verletzung sich entwickelnden Geschwulst a limine abzulehnen. Denn wir dürfen keinesfalls unter unse¬ rer Unkenntniss den Arbeiter, bezw. seine Hinterbliebenen leiden lassen.“ Für die Abwägung jener Wahrscheinlichkeit kommen in Betracht: der Ort und die Art der Verletzung und die zeit¬ liche Entwicklung der Geschwulst nach dem Trauma. In Bezug auf die Zeit meint St., dass ein Magencarcinom, dessen Wachsthum durch ein trauma ausgelöst worden sein soll, frühestens nach einigen Wochen die ersten Symptome machen und kaum vor einigen Monaten einen palpablen Tumor bilden kann. Andererseits „darf man sagen, dass, wenn sich inner¬ halb der Zeit, welche maligne Neubildungen erfahrungsgemäss in der grossen Mehrzahl der Fälle zu ihrer Entwicklung brauchen, d. h. innerhalb von 2—3 Jahren nach dem Trauma, gar keine Symptome zeigen, für ein später auftretendes Carci- nom zwar vielleicht noch die Möglichkeit, nicht aber eine ärzt¬ licherseits zu begründende Wahrscheinlichkeit des Kausal¬ zusammenhanges besteht. Ausnahmen würde man unter zwei Bedingungen gelten lassen dürfen: wenn sich nach dem Trauma zunächst chronische, entzündliche Prozesse entwickeln, an die sich dann erst nach Jahren ein Carcinom anschliesst, oder wenn bei der Sektion ein Zusammenhang der Neubildung mit einer von der Verletzung herrührenden Narbe sich ergiebt.“ Augen. Ueber binoculares, stereoskopisches und körperliches Sehen bei einseitiger Aphakie und einseitiger Seh¬ schwache unter Berücksichtigung der Unfallgesetzgebung. Von Prof. H. Schmidt-Rimpler in Göttingen. (Wiener medislniscbe Wochenschrift, No. 43, 1899.) Die Frage, ob körperliches Sehen und eine richtige Schätzung der Tiefendistanzen bei einem Individuum vor¬ handen ist, hat in neuerer Zeit eine besondere praktische Be¬ deutung durch die Unfallgesetzgebung gewonnen, da bei Fällen einseitiger Sehscbädigung der etwaige Verlust des körperlichen Sehens für die Abmessung der Verringerung der Erwerbs¬ fähigkeit zu berücksichtigen ist. Die hierdurch bedingte reelle Herabsetzung der Erwerbsfähigkeit fällt freilich durchschnitt¬ lich nicht sehr ins Gewicht, sobald erst einige Monate der Gewöhnung vergangen sind, wo manche Arbeiten etwas lang¬ samer und unsicherer ausgeführt werden. Wenigstens gilt dies von jugendlichen Individuen, und für die Richtigkeit dieser Behauptung spricht die Thatsache, dass man Schielende und Einäugigsehende in allen Geschäftszweigen in voller Thätigkeit antrifft. Eine schnelle und entsprechend feine Tiefenschätzung, ohne dass die Hilfsmittel der Kopfbewegung, der Augenkonvergenz oder der Akkomodation benützt werden, kann nur ein mit beiden Augen gleichzeitig Sehender aus- Digitized by Google 16 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 1. führen. Aber nicht jeder Binocularsehende vermag dies; be¬ sonders störend wirken starke Refraktionsdifferenzen, wie man sie nach Unfällen durch traumatische Staare und folgende Linsenentfernung eintreten sieht. In der Göttinger Klinik an- gestellte Versuche haben ergeben, dass, wenn ein Auge aphakisch ist, trotz guten Sehvermögens und Korrektion durch Brillen¬ gläser selbst bei dem Vorhandensein eines binocularen Seh¬ aktes, der eine stereoskopische Verschmelzung ermöglicht, dennoch in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle keine ex¬ akte Tiefenschätzung möglich ist. Viel geringere, oft keine Schädigung der Tiefenschätzung entsteht hingegen, wenn durch einen Unfall eine einseitige Verminderung der Sehschärfe ein- tritt. Selbst bei erheblichen Sehdifferenzen zwischen beiden Augen, wenn keine oder nur geringe Differenz der Refraktion vorhanden ist, kann sie normal bleiben. Soll man sich hier¬ über, wie bei Unfallattesten erforderlich, äussern, so wird in der Regel schon der Feststellung des binocularen Einfachsehens im Stereoskop oder auch des Auftretens übereinanderstehender Doppelbilder bei Vorhalten eines Prismas vor ein Auge ge¬ nügen, um ein Körperlichsehen, falls dasselbe früher be¬ standen, auch als nach dem Unfall verblieben anzunebmen. Anders hingegen liegt die Sache bei grossen Refraktions¬ differenzen, also bei etwa eingetretener Aphakie; hier müssen reelle Proben in der Tiefenschätzung vorgenommen werden. Durchgehend wird sich freilich herausstellen, dass sie die mo¬ nokulare nicht erheblich übersteigt. — y. Doppelseitige Erblindung durch Teschingschnss. Von Dr. Haberkamp. (Archiv für Augenheilkunde 1809, Bd. 38, 8. 205—208.) Ein junger Bergmann erhielt, wahrscheinlich beim Wildern, einen Teschingschuss von rechts her. Das Projektil durch¬ schlug das Jochbein, nahm seinen Weg quer durch den rechten Bulbus, welcher in Folge dessen vollständig schrumpfte, durch¬ drang die Nasen- und die linke Augenhöhle. Die Verletzung der Regio olfactoria führte zum Verluste des Geruches. Der linke Augapfel erlitt wahrscheinlich eine starke Erschütterung; denn es trat vollständige Netzhautablösung mit Erblindung ein. Auf seinem ferneren Wege drang das Geschoss vermuthlich in die Schädelhöhle ein, durchbohrte den Schläfenlappen des Grosshirns und die Schuppe des Schläfenbeins, um unter der Kopfschwarte liegen zu bleiben. Möglicher Weise fand auch keine Eröffnung der Schädelhöble statt, indem das Geschoss aus der linken Augenhöhle durch den grossen Keilbeinflügel in die Schädelböhle gelangte. Die Kugel wurde durch einen Einschnitt oberhalb des linken Gehörganges entfernt. Groenouw. % Hygieine. Ueber die Ansteckungsgefahr in Eisenbahnwagen. Von Prof. R. Kobert-Rostock. (Deutsche Aersteieitung, Heft 13, 1890.) Es lässt sich nicht leugnen, dass die Vorkehrungen, welche die Eisenbahn-Verwaltungen getroffen haben, um Reisende gegen Ansteckung durch übertragbare Krankheiten zu schützen, noch weit hinter den Anforderungen Zurückbleiben, die wir auf Grund unserer heutigen hygien ischen Erkenntniss erheben müssen. Man braucht dem Sad^^^ügen nur die Namen einiger Krankheiten zu nennen, um des Beweises für diese Verf. macht zur wirksamen Ab einige sehr beachtenswertb gipfeln: 1. Umfangreiche I densten Eisenbahnzüge sei* sten, Tuberkulose, thoben zu sein, henden Gefahren in Folgendem m der verschie- gen der Universi¬ täten, des Reichsgesundheitsamtes, der hygienischen Institute der grossen Städte u. s. w. behufs genauerer Feststellung der Gefahren. 2. Erlass eines Reichseisenbahngesetzes, welches die Interessen des Publikums und der Hygiene den Eisenbahn¬ verwaltungen gegenüber energisch zum Ausdruck bringt, letz¬ teren aber auch das Recht verleiht, die wünschenswerthen hygienischen Neuerungen mit drakonischer Strenge durchzu¬ führen. 3. Solche von den Eisenbahnen ausgehende Neuerun¬ gen könnten folgende sein: Die Sammet- und Plüsch¬ überzüge der Sitzplätze und die haarigen Teppiche der Fuss- böden sind für immer zu beseitigen und durch glatte, wasch¬ bare Ueberzüge zu ersetzen. Winkel und tote Räume (z. B. unter den Sitzen) sollen nach Möglichkeit beseitigt werden. Die tägliche gewöhnliche Reinigung des Wageninneren muss auf nassem Wege vorgenommen werden können. Aufstellung von Behältern für Speisereste, Papier u. dgl., Anbringung von zwei Wandspucknäpfen in jedem Wagenabtheil. Ausspeien an die Erde zieht nicht nur sofortige Ausweisung, sondern auch Geldstrafe nach sich. Die Benutzung der gewöhnlichen Wagen ist nur Gesunden gestattet. Kranke irgend welcher Art (eine wohl etwas zu weit gehende Forderung. Ref.) erhalten gegen ärztlichen Schein das Recht, besondere — etwas bequemere — Wagenabtheile zu benutzen, die unter sachgemässer Aufsicht alltäglich, bezw. nach jeder Benutzung der Formalindesinfek¬ tion unterworfen werden. Als Kranke haben sich auch alle solche Personen zu betrachten, welche Husten, Wunden oder Eiterungen, Ausschläge etc. haben. (Auch diese Forderung erschwert höchstens die Durchführung der dringend nothwen- digen Separirung. Ref.). Die Beförderung von solchen Kranken, welche spätestens eine Stunde vor Abgang des Zuges einen ärztlichen Schein am Schalter abgegeben haben, muss die Bahnverwaltung übernehmen, während sie solche Patienten, welche sich mit ihrem Schein erst später melden oder gar keinen Schein haben, nur so weit, als der Platz gerade reicht, zu berücksichtigen braucht. Kranke, welche in die Abtheile für Gesunde steigen, werden bestraft und von der Weiterbe¬ förderung ausgeschlossen. 4. Die Aerzte übernehmen von sich aus gegen eine sehr geringe Entschädigung die Verpflichtung, jedem ansteckenden Kranken, den sie mit der Eisenbahn fort- scbicken, einen mit Datum und deutlicher Unterschrift des Arztes versehenen Fahrberechtigungsschein auszustellen, der am Schalter vorzuweisen ist. Name und Krankheit des Pa¬ tienten braucht er nur bei besondere gefährlichen Krankheiten, z. B. Lepra, zu enthalten. Die ärztlichen und hygienischen Vereine übernehmen es einerseits als Ehrenpflicht, den Eisen¬ bahnen bei der Einführung der neuen Massnahmen nach Kräften beizustehen; andererseits dürfen sie auch nicht eher ruhen, als bis die Reichsregierung den Eisenbahnen die ge¬ nannten Massnahmen aufgezwungen und dadurch das Publi¬ kum gesichert hat. Fälle von muthmasslicher Ansteckung in Eisenbahnwagen sind von den Vereinen zu sammeln und zu veröffentlichen. An die Regierungen und ärztliche Gesell¬ schaften der Nachbarländer sind Gesuche zu richten, in gleicher Weise vorzugehen. 5. Belehrung des Publikums. — Wird man auch nicht allen Punkten dieses umfangreichen Programmes vorbehaltlos zustimmen können, so wird sich doch schon Man¬ ches erreichen lassen, wenn die Hauptforderungen, die Verf. erhebt, Erfüllung finden. Gar zu viel Illusionen wird man sich freilich in Bezug auf die Anerkennung dieser in den Verkehr, wie in die Freiheit des Einzelnen tief einschneidenden Forder¬ ungen nicht hingeben dürfen, um so rathsamer ist es, nicht zu viel zu fordern. -y. Digitized by Google 1. Januar 1900. A ärztliche Sach verständigen-Zeitung. 17 Aus Vereinen und Versammlungen. lieber die Bruchanlage und -Erkrankng in ihrer Be¬ deutung für die Militfirdiensttauglichkeit und der Ent¬ scheid über Yersorgungs- bezw. Entschädigungsansprüche hat Herr Prof. Br. Graser-Erlangen in der gemeinschaft¬ lichen Sitzung der Abtheilung für Militär-Sanitätswesen und Unfallwesen auf der 71. Versammlung deutscher Natur¬ forscher und Aerzte in München einen sehr bemerkens- werthen Vortrag gehalten, aus dem wir nach der Münch. Med. Wochenschrift No. 50 Folgendes referiren: Man hätte seit der Unfallgesetzgebung an den Bezeichnungen gerüttelt: es müsse festgehalten werden, dass man unter einem Bruch den fertigen pathologischen Zustand verstehe, dass ein Ein¬ geweide unter Vorstülpung des parietalen Bauchfells ” aus der Bauchhöhle hervorgetreten ist; ein ausgebildeter Bruch } hat eine Bruchpforte, einen aus parietalem Peritoneum be¬ stehenden Bruchsack und eineu Bruchinhalt (Eingeweide). — Der Redner stellt „trotz entgegenstehender Ansichten nam¬ hafter Autoren z. B. Linhart“ die Ansicht auf, dass bei einem normalen Manne durch die Häufung schädlicher Einflüsse (schwere körperliche Arbeit im Stehen, vornehmlich in ge¬ bückter Stellung) ein Leistenbruch erzeugt werden kann; es handelt sich dabei in der Regel um ganz unscheinbare auf lange Zeit sich erstreckende fast unmerkliche Minirarbeit, eine durch längere Zeit fortwirkende Häufung von Schädlichkeiten. Die ersten Stadien der Bruchbildung werden von den aller¬ meisten Menschen garnicht an sich beobachtet. In einer An¬ zahl von Fällen werden aber besondere Gelegenheitsausnahmen angeführt, bei denen der Bruch hervorgetreten sei, und man hat diese Brüche als „Gewaltbrüche“ als „hernie de force“ bezeichnet. Die Statistik darüber schwankt in sehr weiten unsicheren Grenzen, zwischen 3 und 40 Prozent. Die absolute plötzliche Entstehung eines Bruches mit allen nothwendigen Attributen sei jedenfalls so enorm selten, dass man sie praktisch vollständig unbeachtet lassen kann. Sie sei theoretisch unwahrscheinlich, und käme sie ein¬ mal vor, dann hätten wir es bestimmt mit einer so schweren plötzlichen Erkrankung zu thun (Shock, heftigste Schmerzen, Erbrechen u. s. w.), dass sofort nach dem Arzt geschickt und das Eiett aufgesucht würde. Anders stände es mit mit den¬ jenigen sehr häufig vorkommenden Fällen, in welchen der Patient auf’s Bestimmteste behauptet, dass er früher keinen Bruch batte, und dass mit einem Male bei einer besonderen Veranlassung ein solcher zum Vorschein gekommen sei. Die Vorstellung sei leicht, dass unter einem gewaltigen Ruck die Baucheingeweide, ein nachgiebig gewordenes, auf der Unter¬ lage gelockertes Bauchfell ein Stück weit vorgetrieben und so ein seit längerer Zoit vorbereiteter Bruch fertig wird. Es wäre ohne Weiteres zu begreifen, dass in einem kleinen Bruch bei starker Anstrengung der Bauchpresse unter Dehnung des Bauchringes und Vergrösserung des Sackes ein grösseres Stück Darm und Netz herausgepresst wird, und so eine elastische Einklemmung beim Nachlass der Bauchpresse entsteht. „In 90 Fällen von hundert geht die Ausstülpung allmählich vor sich, in 9 von hundert geht es ruckweise, und einmal ist es ein be¬ sonders kräftiger Ruck, der vorwärts gemacht wird.“ Das ruckweise Vergrössern oder Zumvorscheinkommen schliesst aber die Thatsache einer durch Unfall bedingten Schädigung nicht aus; doch komme man bei Unfallsbrüchen über eine Wahr¬ scheinlichkeitsdiagnose nicht hinaus. Besondere Anzeichen der gewaltsamen Vortreibung in Gestalt von Sugillationen, von Oedemen, von Druckschmerzen sucht man vergebens, wenn nicht gleichzeitig Einklemmung vorhanden. Der Redner fasste seine sehr klaren und eingehenden Erörterungen über das in den letzten Jahren gelegentlich der Begutachtung von Unfallverletzten so vielfach besprochene Thema in folgenden Schlusssätzen zusammen: 1. Die Mehrzahl der Leistenbrüche bei Erwachsenen ent¬ steht in Folge einer ganz allmähligen Ausstülpung des Bauch¬ fells unter Mitwirkung der Eingeweide. 2. Eine plötzliche gewaltsame Entstehung eines Leisten¬ bruches in allen seinen Bestandtheüen ist theoretisch sehr un¬ wahrscheinlich, durch die praktische Erfahrung nicht erwiesen. 3. Eine plötzliche Vergrösserung eines in der Entwickelung begriffenen Leistenbruches ist sehr wohl möglich und muss unter besoneeren Umständen als Unfall im Sinne des Gesetzes betrachtet und entschädigt werden. 4. Die Diagnostik eines Unfallbruches kann sich nicht auf ein bestimmtes Symptomenbild stützen und kann in den meisten Fällen nur die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit feststellen. 5. Es giebt eine Reihe von Zuständen, welche man als Bruchanlagen, d. h. als eine die Entstehung von Leisten¬ brüchen erleichternde besondere Leibesbeschaffenheit be¬ zeichnen muss. Ueber Spondylitis traumatica hielt Dr. Schulz (Hamburg-Eppendorf) ebenfalls auf der Naturforscher-Versammlung in München einen Vor¬ trag, von dem das Centralblatt für Chirurgie, No. 50, einen Selbstbericht bringt, aus welchem wir Folgendes entnehmen: Dr. H. Kümmell-Hamburg hat zunächst im Jahre 1891 das Symtomenbild der traumatischen Spondylitis als ein besonderes von den übrigen Wirbelverletzungen zu trennendes aufgestellt.*) Die Ursache der Erkrankung bildet stets ein Trauma, sei es, dass ein schwerer Gegenstand auf Kopf, Nacken oder Rücken des Pat. herniederfällt, oder dass durch plötzliches Rückwärts¬ knicken des Oberkörpers eine Quetschung der Wirbelsäule entsteht. Im weiteren Verlaufe derselben lassen sich nun 3 Stadien unterscheiden: Das der Verletzung unmittelbar folgende Stadium des Choks, nach dessen Ueberwindung sich eine gewöhnlich nur kurze Zeit anhaltende lokale Schmerz¬ haftigkeit der Wirbelsäule und eventuelle Rückenmarks¬ erscheinungen anschliessen. Sodann das Stadium des rela¬ tiven Wohlbefindens und der Wiederaufnahme der Arbeit. Drittens das Stadium der Gibbusbildung und erneut einsetzen¬ der Schmerzen an der alterirten Partie der Wirbelsäule. Die Dauer der beiden ersten Stadien wird nach Art und Schwere des Unfalls im einzelnen Falle wechseln, der Uebergang von dem einen zum anderen sich mehr oder weniger verwischen; darin aber liegt das Charakteristische der traumatischen Spon¬ dylitis : Der Gibbus und seine Begleiterscheinungen überraschen uns resp. den Verletzten dann, wenn der Unfall fast vergessen ist und der betreffende Pat. schon lange Zeit wieder ge¬ arbeitet hat. Die Ursache dies erverspäteten Gibbusbildung suchte Küm- m eil in einem rarefizirenden, entzündlichen Prozess der Wirbel¬ körper mit nachfolgendem Substanzschwunde, er betonte aber schon damals ausdrücklich, dass für viele Fälle eine Kom¬ pressionsfraktur, Fissur des Wirbelkörpers als ätiologisches Moment sehr wahrscheinlich sei. — K. hatte bereits selbst seine Ansicht in der Weise geändert dass wohl in allen Fällen von Spondylitis traumatica eine Kom¬ pressionsfraktur des betreffenden Wirbelkörpers Vorgelegen, und der späte Gibbus durch eine abnorme Weichheit und zu frühe *) Kümmell hat im Jahrgang 1895, No. 1 der Aerztl. Sachverst.- Zeitung eine Abhandlnng über diese Krankheitsformen veröffentlicht. Digitized by Google 18 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 1. Belastung des spärlichen Callas zu erklären sei, als im ärzt¬ lichen Verein zu Hamburg von Rumpel ein Wirbelpräparat demonstrirt wurde, welches diese Annahme besonders erhärtete, Durch die Anamnese des einem anderweitigen Leiden erlegenen Pat. wurde nachgewiesen, dass der Fall genau in den Rahmen des von Kümmel 1 gezeichneten Krankheitsbildes passte; die Autopsie ergab einen Kompressionsbruch des ersten Lenden¬ wirbels. Der Körper dieses Wirbels war fast zu einem gleich¬ schenkligen Dreieck mit seiner Spitze nach vorn eingedrückt, durch Synostosenbildung mit seinen beiden Nachbarwirbeln knöchern vereinigt. Von diesen Vereinigungsstellen ging eine knöcherne Masse aus, die als durch den Druck der Nachbar¬ wirbel herausgepresst und dann erstarrt zu sein schien. Die Menge dieser Knochenneubildung entsprach jedoch nicht dem durch die Kompression entstandenen Substanzverluste des komprimirten Wirbels. Die frühere Annahme, dass in den meisten Fällen die einwirkende schädigende Gewalt eine viel zu schwache sei, um einen Bruch zu Stande zu bringen, dass andererseits die geringfügigen, rasch vorübergehenden Schmerzen einer so schweren Verletzung, wie die Fraktur eines oder mehrerer Wirbelkörper sie bildet, nicht entsprechen würden, wurde durch diesen Fall widerlegt. Nun wäre es aber falsch, jetzt alle Fälle von traumatischer Spondylitis oder besser „ traumatischer Kyphose“ als Wirbelbrüche bezeichnen zu wollen. Wir haben es mit einem genau präzisirten Krankheitsbilde zu thun, dessen so ausserordentlich typischer Verlauf doch in keinem Falle mit dem Bilde einer akuten Wirbel¬ fraktur sich deckt. Gerade die Kenntniss der oben be¬ schriebenen Verletzung hat die Beurtheilung Unfallkranker, so weit sie die Wirbelsäule betrifft, wesentlich gefördert. Diese mitgetheilten Beobachtungen seien an der Hand von 17 hierher gehörigen, in der chirurgischen Abtheilung des Neuen allgemeinen Krankenhauses behandelten Fällen gemacht. Die Untersuchung letzterer besonders bewies, dass die Prognose der traumatischen Spondylitis im Allgemeinen eine nicht un¬ günstige ist. Besonders die vergleichende Kontrolluntersuchung solcher Fälle, die auf Unfallrente keinen Anspruch haben, zeigte, dass nach 12—20monatlicher Ruhepause die Verletzten ihre frühere Erwerbsfähigkeit wieder erlangten. Selbstver¬ ständlich richtet sich diese Prognose nach einer zweckmässigen Behandlunng. Dieselbe ist eine rein mechanische und findet, nach absoluter Ruhelage von Anfang der Verletzung an, ihren Ausdruck in entsprechender Anlegung von Stützapparaten. Sehr interessant war die sich an diesem Vortrag schliessende Diskussion, in welcher Oberst (Halle) die Meinung äusserte, dass er nicht glaube, dass sich an eine leichte Verletzung eine rarefizirende Ostitis anschliessen kann; alle Fälle der sog. Spondylitis traumatica seien als Frakturen aufzufassen. Das Neue bestehe darin, dass solche Frakturen durch gering¬ fügige Veranlassungen entstehen können. Da die Frakturen anfänglich als Kontusionen aufgefasst werden, verlassen die Kranken zu früh das Bett und nach einiger Zeit bildet sich dann die Verbiegungaus. — Trendelenburg erwähnte, dass er noch keinen Fall von Spondylitis traumatica gesehen, da¬ gegen sehr viele Fälle von Kompressionsfraktur; eine solche könne im Anfang sehr leicht übersehen werden. — Kümmell äusserte sich dann dahin, dass er die Anschauung, dass es sich um eine rarefizirende Ostitis handle, aufgegeben habe und jetzt auch das Vorliegen einer Kompressionsfraktur annehme; viele Fälle hätte er von Anfang an beobachtet, der Gibbus fehlt im Anfang und bildet sich erst nach Monaten aus. — Verein der Bahn- und Kassenärzte im Bezirke der Königlichen Eisenbahn-Direktion Essen. VI. Generalversammlung am Dienstag, 4. Juli 1899, Nachmittags 3 Uhr, im Saale der Gesellschaft „Erholung“ — Ruhrort. Anwesend 60 Mitglieder. Als Vertreter der Königlichen Eisenbahn - Direktion Herr Regierungsrath Polomski aus Essen. In üblicher Weise ehrt die Versammlung das Andenken an die im letzten Jahre verstorbenen drei Mitglieder (Uhlen¬ bruck-Oberhausen, Bergkammer-Essen und Gerdes-Wit- ten) durch Erheben von den Sitzen. Bis jetzt haben 134 Bahn- und Kassenärzte ihren Beitritt zum Verein erklärt, von denen zwölf (sieben durch Sterbefall, vier durch Aenderung ihres Wohnsitzes und einer aus anderen Gründen) bereits wieder ausgeschieden sind. Mitgliederzahl: 122. Kassenbestand Ende vorigen Jahres 195,36 M, dazu Einnahmen 297 M., ab Auslagen 239,01 M. — Bestand also heute 253,35 M. Entlastung wird ertheilt. Durchs Loos scheidet in diesem Jahre der Schrift- und Kassenführer (Berns-Mülheim) aus dem Vorstande aus. Wird wiederge¬ wählt. Der Vorsitzende (Sanitätsrath Dr. Wahl-Essen) berichtet dann kurz über die Sitzung des Ausschusses des Verbandes Deutscher Bahnärzte in Berlin am 24. Mai d. J., in der be¬ schlossen wurde, dass in diesem Jahre kein allgemeiner deut¬ scher Bahnärztetag stattfinden soll, und theilte ferner mit, dass mit Ausnahme von drei Direktionsbezirken jetzt überall in Preussen Bahnärztevereine gegründet sind; dass eine Kom¬ mission von drei Bahnärzten (je einer aus den Direktionsbe¬ zirken Erfurt, Halle und Magdeburg) gebildet worden ist mit dem Aufträge, die Frage der Hörprüfung nochmals eingehend zu erörtern und in der nächsten Ausschusssitz.ung darüber zu be¬ richten. Dann berichtete er etwas eingehender über den Tu¬ berkulosekongress, an dem er als Vertreter des Vereins theil- genommen hatte. " Herr Regierungsrath Polomski erörterte dann in einem längeren Vortrage die Stellung der Eisenbahn Verwaltung zu verschiedenen Honorarfragen: Bezahlung der Gesundheitszeug¬ nisse für neu einzustellende Arbeiter und Hilfsbeamte, Be¬ zahlung der ausführlicheren Gesundheitszeugnisse, die für die Anstellung als Beamter erforderlich sind, und endlich die Er¬ höhung des Honorars für geburtshilfliche Hilfeleistungen bei den Frauen der Beamten. In der sich daran anschliessenden, lebhaften, längeren Besprechung kam verschiedentlich die Enttäuschung vieler, namentlich älterer Bahnärzte, die schon lange vor der Verstaatlichung Bahnärzte gewesen waren, fast keine Geburtshilfe mehr austiben und durch den Ausfall der Bezahlung für die zur Erlangung der Anstellung als Beamter erforderlichen, zahlreichen Gesundheitszeugnisse einen nicht unwesentlichen Einnahmeausfall erleiden, recht kräftig zum Ausdruck. Die Ausführungen des Herrn Vertreters der Direk¬ tion lassen sich kurz dahin zusammenfassen: 1. Eine besondere Honorirung für Gesundheitszeugnisse soll in Zukunft nur bei solchen Bewerbern um Beamtenstellen stattfinden, die bisher noch in keinem Dienst- oder Arbeits- verhältniss zur Eisenbahn standen. Dieses Honorar (drei Mark) hat der Bewerber zu tragen. (Anmerkung: Für alle ande¬ ren Bewerber und diese [die früheren Rottenarbeiter, Hilfs¬ bremser, Hilfsrangirer, Hilfsheizer u. s. w.] bilden die weitaus überwiegende Mehrheit [75—90 pCt. und noch mehr] müssen also in Zukunft diese Gesundheitszeugnisse unentgeltlich aus¬ gestellt werden, während sie bis jetzt auch von diesen bezahlt werden mussten.) Digitized by LjOOQie 1. Januar 1900. Aerztliche Sachverständigen' Zeitung. 19 2. Die Erhöhung des geburtshilflichen Honorars für die | Entbindung von Beamtenfrauen von 10 auf 15 Mark ist in den nächsten Etat eingestellt, und 3. die Erhöhung der Untersuohungsgebühren für neu in den Dienst der Eisenbahn eintretende Arbeiter und Hilfsbeamte von 1 Mark auf 1,50 Mark ist auch in den nächsten Etat ein¬ gestellt. (Anmerkung: Diese Erhöhungen bedürfen nooh der Genehmigung durch den Minister, die bis jetzt noch nicht be¬ kannt geworden ist) Hierauf sprach Herr Dr. Hirschland jr.-Essen über trau¬ matische Neurose. Der Redner gab einen kurzen historischen Ueberblick der Lehre von der zuerst railway-spine bezw. -brain, später bei uns allgemein traumatische Neurose genann¬ ten Affektion, wie sie von Erichsen, Riegler, Oppen¬ heim, Strümpell u. A. zuerst beschrieben und alsdann der Gegenstand so vieler Kontroversen gewesen ist. Er machte auf die Schwierigkeit der Ausschliessung der Simulation auf¬ merksam, und theilt die Krankheitsbilder, wie sie nach Eisen¬ bahn- und anderen Unfällen zu beobachten sind, in neurasthe- nische, hysterische und hypochondrische. Die einzelnen Sym¬ ptome der Krankheit wurden besprochen, und daran Betrach¬ tungen geknüpt, inwieweit dieselben simulirbar sind, und inwie¬ weit dieselben als Grundlagen wirklich vorhandener Krank- beitszustände aufzufassen seien. — Anschliessend an diesen Vortrag hielt dann Herr Dr. R. W agner-Speldorf einen ausführlichen Vortrag über „Simula¬ tion im Bahnbetriebe mit besonderer Berücksichtigung der sogen, traumatischen Neurose". (Dieser Vortrag wird in einer der nächsten Nummern in extenso veröffentlicht werden.) Die dann folgende Dampferfahrt, an der auch der Eisen¬ bahn-Direktionspräsident, Herr Becher aus Essen, theilnahm, dauerte über eine Stunde und war vom herrlichsten Wetter begünstigt. Alle Kollegen aus dem Industriebezirke, die bis jetzt Ruhrort und seinen grossartigen Hafen — den grössten Binnenhafen des europäischen Festlandes nur vom Hörensagen kannten, waren erstaunt ob der ungeheuren Ausdehnung der Hafenanlagen — nur einen Theil derselben konnten wir in schneller Fahrt in einer Stunde durchfahren — der grossen An¬ zahl prächtiger Dampfer (Rhein- und Seedampfer) und statt¬ licher Schiffe, von denen einige 30—36000 Centner = 150 bis 180 Doppel wagen Kohlen fassten, und all’ der anderen klei¬ neren und grösseren Fahrzeuge, die in schier unendlicher Menge die Häfen und den Rheinstrom durchfurchten. Dann ging’s zum festlichen Mahle, bis der nimmer ruhende Zeiger zum Aufbruch in die Heimath mahnte. Dr. Berns-Mülheim, Ruhr. Mittheilungen aus der italienischen Literatur. Tom Hygiene-Kongress zu Como am 28. September 1899 sei hier kurz das Folgende nach der Gazzetta degli ospedali, 1899, 121 und 122 erwähnt: Abba und Rondelli theilen ihre Untersuchungen über Formaldehyd-Desinfektion mit. Das Mittel eignet sich nicht zur Desinfektion der Luft, sondern für Kleider, Wäsche und dergl. Ueber die Desinfektion der Wohnräume Tuberkulöser einigt man sioh dahin, dass als bestes Mittel Sublimat anzuwenden sei, dass aber für die ärmeren Klassen die Kommunen für ein Lokal zu sorgen hätten, in welchem die Wohnungsinsassen während der Desinfektion unterzubringen seien, so lange bis frische Luft nnd Licht die Desinfektion vervollständigt hätten. Auch für die Desinfektion der Eisenbahn-Wagen wird eine international zu vereinbarende Massregel empfohlen. Im Uebrigen wird über die Verbreitung der Tuberkulose in Italien verhandelt und die Einrichtung von Sanatorien an¬ gestrebt. Den Serum-Schutz-Impfungen bei Diphterie wie beim Te¬ tanus redet Marenghi das Wort. Einen breiten Raum nahmen die Verhandlungen über die Möglichkeit der Pest-Invasion und die Schutzmassregeln gegen dieselbe in Anspruch. Torni berichtet über die Pest in Oporto. Die Krankheit sei dort nicht durch Insektenstiche verbreitet. Klinische und pathologisch-anatomische Untersuchungen sprächen nur für eine Verbreitung durch den Magen- und Darmkanal und dafür, dass die pneumonischen und septicämischen Formen sekundäre Erscheinungen seien. Die mit französischem Heilserum ausgeführten Versuche seien vollständig erfolglos geblieben. Bezüglich der Ueber- tragung durch den See-Verkehr einigt man sich darüber, dass Quarantaine vollständig nutzlos sei: der Schwerpunkt liege in hygienischen Massregeln, wie sie in anderen Epidemien ange¬ wandt werden und in der Isolirnng und der Desinfektion, ferner einer prompten Diagnose und Anzeige der verdächtigen Fälle. Galeotti berichtet über das von ihm und von Lustig dargestellte Pestheilserum, mit welchem von 30 Kranken 23 geheilt sein sollen. Auch in Bombay sei er seitens der Stadt¬ behörden aufgefordert, grössere Quantitäten zu liefern. Es sei dort mit Hilfe desselben die Mortalität auf 49 Prozent herunter¬ gegangen, während sie sonst 80 Prozent betrage. Auch die Schutzimpfungen nach der Methode Haffkin hätten gute Resul¬ tate ergeben. Terni behauptet, vom Pestheilserum weniger Erfolge ge¬ sehen zu haben; er hat aus dem soliden Theil der Pestba- zillen-Körper, nach Abtötung der Bacillen selbst, einen Impf¬ stoff dargestellt, welcher, dem Menschen einverleibt, im Blute Schutzstoffe zu erzeugen vermag, deren Wirksamkeit sich bei Kulturen nachweisen lässt Damit dem Ernst auch der Scherz nicht fehle, lenkt weiterhin Sormani (Pavia) die Aufmerksamkeit der Hygie¬ niker auf die in Italien in schnellem Niedergang begriffene Sterbeziffer, während die Geburtsziffer beständig , steige. Die Bevölkerungszunahme gehe in einem viel höheren Masse vor sich, als es die ökonomischen Hilfsquellen des Landes wünschen lassen. Es müsse ein Mittel gegen diese Bevöl¬ kerungszunahme geben, und er sei den Malthusianischen Ideen nicht abgeneigt. Ihm antwortet Maggiora, dass diese Verhältnisse nicht Gegenstand hygienischer Sorge, sondern mit Freuden zu be- grüssen seien. Italien habe noch Sümpfe und Land genug, welches der Reinigung und Verbesserung harre, um dann alle seine Einwohner ernähren zu können. Den Präventivimpfungen mit Tuberkulin bei Kühen und auch beim kleinen Schlachtvieh redet Lanzilotti (Milano) das Wort. Luzzani plaidirt für ein Gesetz, welches schwangere Frauen und Mädchen der arbeitenden Klasse in den beiden letzten Monaten der Schwangerschaft zu arbeiten verbietet. Soffiantini und Franceschini beantragen eine staat¬ liche Prophylaxis gegen syphilitische Krankheiten nach dem Vorschlag, wie ihn Fournier in Brüssel maohte; Zwei Fälle von Vergiftung durch Anilinöl beschreibt Marchesi aus dem Hospital zu Novara. Es handelte sich um zwei Arbeiter, welche mehrere Stunden hindurch damit beschäftigt waren, Anilinöl aus einem grossen Bottich auszu¬ füllen und in Ballons einzugiessen. Einige Zeit nach dieser Arbeit erkrankten Beide mit Digitized by Google 20 Aerztliche Sachverstfindigen-Zeitung. No. 1. Schwindel, Brechneigung, intensivem Kopfschmerz, dann folgte allgemeine Blässe, sehr kleiner Puls und Cheyne Stoke’sche Athmung, später Erbrechen von stark nach Anilinöl riechenden Massen u. s. w. In dem einen Falle waren die Erscheinungen weit aus¬ gesprochener als im anderen, obwohl die Schädlichkeit in beiden Fällen die gleiche war. M. schreibt dies auf eine chronische Lungenaffektion, von der er annimmt, dass sie als locus minoris resistentiae die Wirkung des Giftes er¬ höht habe. Bemerkenswerth erscheint in beiden Fällen das blaue Aussehen der Schleimhäute, der Geruoh des Athems nach Anilin, das Erbrechen von Massen, welche nach Anilin rochen, obwohl die Schädlichkeit nur durch die Athmungsorgane auf¬ genommen war. Bisher noch nicht erwähnt ist, dass Amblyopie-Anilin- Vergiftung nach M. eine Amblyopie mit Verkleinerung des Gesichtsfeldes und peripherischem Skotom machen kann, welohe hier in beiden beschriebenen Fällen beobachtet wurde. Hager (Magdeburg). Gebührenwesen. Nachträgliche Liquidation in gerichtlichen Fallen. In der Untersuchungs-Sache wider K. hatte der Unter¬ zeichnete in seiner Liquidation für zwei Reisen und ein Gutachten liquidirt, die angewiesen wurden. Zufällig ersah er ein Jahr später, dass er vergessen hatte Tagegelder zu liquidiren und stellte bei der Staatsanwaltschaft den An¬ trag, diese nachträglich anzuweisen. Es erfolgte Abweisung, unter Hinweis auf erfolgte Verjährung (über drei Monate § 16 der Geb.-Ordnung). Darauf wurde ein neuer Antrag an die Oberstaatsanwaltsohaft gestellt mit folgender Begründung: „Es konnte in Frage kommen, ob hier nach Wahl nicht Tage¬ gelder, sondern Gutachten liquidirt war. Dies musste aber verneint werden, weil das Gutachten motivirt und nach den Vorbesuchen auf Grund auch der Akten abgegeben, für eine einzelne Verrichtung an den betreffenden Besuchstagen aber überhaupt nichts liquidirt war. Ebenso wie nun eine Ueber- sohreitung der Gebühren zur Rückgabe der Liquidation an den Aussteller bezw. zur Herabsetzung derselben seitens der nachprüfenden Stelle geführt hätte, musste auoh eine ver¬ sehentliche Minderliquidation analog behandelt werden.“ Auf diesen Antrag folgte die Verfügung des Oberstaats¬ anwaltes: „Ihre Gebühren sind meines Dafürhaltens nicht vexjährt. Ich habe deshalb den Herrn Ersten Staatsanwalt zu Nei8se ersucht, Ihre Liquidation erneut zu prüfen und, sofern nicht andere Bedenken bestehen, zur Festsetzung und An¬ weisung zu bringen.“ Es wäre in der That eine Härte gewesen, für dies Ver¬ sehen eine empfindliche, sozusagen Geldstrafe dem Liquidenten aufzuerlegen. Dr. Herrn. Kornfeld-Grottkau. Gerichtliche Entscheidungen. Ans dem Reichs-Versicherungsamt. Traumatische Neurasthenie. Rek.-Entsch. vom 30. September 1899. Der Geschirrführer P. aus H. bezog für die Folgen eines am 30. November 1896 erlittenen Betriebsunfalls — links¬ seitigen Rippenbruch mit nachfolgender Herzschwäche — auf Grund eines Gutachtens des Dr. med. B. zu H. vom 18. März 1897 und eines Gutachtens des Geheimen Sanitätsraths Dr. R. vom 23. März 1897 eine Entschädigung in Form der jährlich 626 M. betragenden Vollrente. Am 17. August 1897 bekundete Professor Dr. S. nach längerer Beobachtung des Klägers, dass derselbe in Folge bedeutender Herzschwäche und Arterioskle¬ rose noch völlig erwerbsunfähig sei. Am 29. Juli 1898 wurde Kläger vom Geheimen Sanitätsrath Dr. R. einer Revisions¬ untersuchung unterzogen, über welche der Sachverständige im Wesentlichen Folgendes beriohtet: „Die Herzdämpfung ist von normaler Ausdehnung, der Herzstoss von normaler Stärke. Der Puls ist regelmässig. — Die objektiven Erscheinungen, auf Grund deren Prof. Dr. S. die Beschränkung der Erwerbsfähig- keit des P. beurtheilte, waren: Starke Abmagerung, träge Re¬ aktion der Pupillen, Abnormitäten der Herztöne, Kleinheit des Pulses und Wechsel in der Frequenz derselben. Dr. R. findet die Gesichtsfarbe gesunder als vordem, die Reaktion der Pu¬ pillen ist eine normale, die Herztöne sind vollkommen rein der Puls ist nicht abnorm klein oder verlangsamt und schwankt mit seiner Häufigkeit innerhalb der normalen Grenzen. Da gegen besteht noch die Steigerung der Sehnenreflexe und die Herabsetzung der Hautreflexe an der vorderen Seite des Rumpfes und vor Allem, die Dürftigkeit der Ernährung. Trotzdem Bind nach Dr. R.’s Ansicht, die objektiv nachweisbaren Besserungen so erheblich, dass eine Herabsetzung der Rente auf 50 Prozent gerechtfertigt erscheint." Dementsprechend setzte die Berufs¬ genossenschaft die Rente vom 1. September 1898 aul 50 Pro¬ zent herab. Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt und ein Gutachten des Sanitätsraths Dr. L. in H. unter dem 30 August 1898 ausgestellt, welcher P. nur um 20 Prozent erwerbs¬ fähig erachtete und konstatirte, dass dessen Augen sohwaoh und der Augenhintergrund trübe war, dass ferner derselbe an seinem vergrösserten Herzen ein diastonisches Klappengeräusch hatte, welches bei Bewegungen der Arme noch viel deutlicher hervortrat, ferner, dass er am Magen einen harten Knoten von Wallnussgrösse hatte, der schmerzhaft bei Druck war Das Schiedsgericht erachtete aber das Gutachten des Sanitäts¬ raths Dr. L. für nicht beweiskräftig und wies die Berufung als unbegründet ab. Gegen diese Entscheidung legte P. Rekurs beim Reichs-Versicherungsamt ein und beantragte, die Berufs- genossenschaft zu einer Rente von 80 Prozent zu verurtheilen Auf Beschluss des Reichs-Versicherungsamts ist der Direktor der psychiatrischen und Nervenklinik Geheimer Medizinalrath Professor Dr. H. in H. um ein Gutachten darüber ersucht worden, ob und wann in den Verhältnissen des Verletzten eine wesentliche Veränderung eingetreten ist. Das Gutachten ist vom Assistenzarzt Dr. Z. unter dem 9. Juni 1899 erstattet und vom Professor H. gebilligt worden. Zu diesem Gutachten wurde u. A. Folgendes ausgeführt: Da die Gutachten des Dr. R. und des Professor Dr. S. bezüglich der damals vorhanden gewesenen Symptome nicht unwesentlich differiren, kann die Frage, ob in den Verhältnissen, welche die Berufsgenossen¬ schaft veranlasst haben, dem Kläger als Entschädigung für die Folgen des Unfalls die Vollrente zu gewähren eine wesent¬ liche die Erwerbsfähigkeit erhöhende Veränderung eingetreten ist, nicht mit Sicherheit beantwortet werden, sondern es wird Sache der richterlichen Beurtheilung sein, welcher, thatsächlich Befund zu Grunde zu legen ist. Was die Frage nach der augenblicklichen Erwerbsbeschränkung betrifft, so ist hervor¬ zuheben, dass der Kranke neben einer fraglos vorhandenen traumatisch bedingten Neurasthenie in dem Bauchbruch ein chirurgisches Leiden hat, das ihm ohne Zweifel sehr erheb¬ liche Beschwerden macht. Inwieweit die neurasthenische Dis¬ position diese Schmerzen erhöht, soll hier nicht erörtert werden, jedenfalls ist die Gesammtheit der Beschwerden ganz abge- Digitized by Google 1. Januar 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 21 sehen von der zum grossen Theil unbewusst krankhaften Nei¬ gung zu übertreiben, sehr wohl dazu angethan, die Leistungs¬ fähigkeit zumal eines nicht mehr sehr widerstandsfähigen be¬ reits leichte Altersveränderungen zeigenden Mannes erheblich herabzusetzen und beschränkt im vorliegenden Falle den Ex- ploraten um 66 2 / 3 Prozent in seiner Erwerbsfähigkeit. Das Reichs-Versicherungsamt änderte darauf die Vorentscheidung mit folgender Begründung ab: Das Rekursgericht hat keine Bedenken getragen, sich dem soeben erwähnten Gutachten des Dr. Z. und des Prof. Dr. H. vom 9. Juni 1899 anzuschliessen. Danach leidet der Kläger in Folge des Unfalles vom 30. No¬ vember 1896 noch an einem kleinen Bauchbruch der linea alba und an einer traumatisch bedingten Neurasthenie, die sich namentlich in einer Schlaffheit der Muskulatur, in einer erhöhten mechanischen Muskelerregbarkeit, in einer erheb¬ lichen Steigerung der Sehnenreflexe und in Schwäche sowie Schwindelgefühl äussert. Durch diese Leiden wird der Kläger, wie die Sachverständigen überzeugend ausführen um 66 2 / 3 Prozent in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt. Erwähnt man nun, dass der Kläger zu der Zeit, als ihm die Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit zugesprochen wurde, unstreitig in Folge des Unfalls völlig erwerbsunfähig war, so unterliegt es keinem Zweifel, anzunehmen, dass in seinem Zustande eine wesentliche Besserung eingetreten ist. Die Voraussetzung für die Anwendung des § 65 des Unfallversicherungsgesetzes ist somit erfüllt und die Herabminderung der Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit gerechtfertigt. M. Aus dem Kammergericht. Jeder Zusatz von Präservesalz zum Schabefleisch ist gesundheits¬ schädlich. Entscheidung vom 23. November 1899. Ein Flei8ohermeister B. war wegen Vergehens gegen das Nahrungsmittelgesetz vom 14. Mai 1879 vom Schöffengericht verurtheilt worden, weil er Präservesalz dem Schabefleisch zugesetzt hatte. Gegen diese Entscheidung legte B. Berufung ein. In der Hauptverhandlung hat der Angeklagte zugegeben, dass er am 13. April 1899 dem in seinem Laden zum Ver¬ kauf gebrachten Schabefleisch Präservesalz zugesetzt habe. Er hält sich jedoch für straflos, da er in seinem Laden ein für alle Kunden sichtbares Plakat angebracht habe, in welchem er seine Kunden von dem Zusatz von Präservesalz zu dem in seinem Laden zum Verkauf gebrachten Schabefleisch benach¬ richtigt habe, da weder der Zusatz von Präservesalz, wenn er 0,2 Prozent nicht übersteige, als gesundheitsgefährlich erachtet werden könne und das bei ihm von dem Chemiker Dr. N. entnommene und untersuchte Schabefleisch nur 0,087 Prozent Präservesalz enthalten habe. Ein Zusatz bis zu 0,2 Prozent Präservesalz zum Schabefleisch sei deshalb auch vom Gericht bisher als zulässig erachtet worden, sofern ein Plakat im Laden die Kunden von dem Zusatze in Kenntniss setze. Dass nunmehr jeder Zusatz von Präservesalz als Verfälschüng und gesundheitsschädlich erachtet werde, sei ihm nicht be¬ kannt und wenn er aus Unkenntniss noch nach den früheren Grundsätzen verfahren sei, so habe er sich keiner Fahr¬ lässigkeit schuldig gemacht. Das Landgericht verwarf die Berufung und machte u. A. Folgendes geltend: Wie der in der ersten Instanz als Sachverständige eidlich vernommene Kreisphysikus Dr.Kl. bekundet hat, ist jeder Zusatz von Präserve¬ salz zum Schabefleisch als gesundheitsschädlich zu erachten. Dieses Gutachten entspricht dem Gutachten des Kgl. Sächs. Landes-Medizinal-Kollegiums vom 30. Januar 1896 und einem ausführlichen Gutachten des Reichs- Gesundheitsamts zu Berlin vom Jahre 1898. Das Gericht nimmt deshalb als notorisch an, dass jeder Zusatz an Präservesalz zum Schabefleisch geeignet ist, durch Genuss des Fleisches die menschliche Gesundheit zu beschädigen. Der Angeklagte kann sich aber auch weiter nicht darauf stützen, dass er aus Unkenntniss dieser Gutachten und in der Meinung, dass ein Zusatz von 0,2 Prozent Präservesalz statthaft sei, dem Schabefleisch die geringe Menge Präservesalz zugesetzt habe. Denn es liegt ihm als Fleischermeister im Allgemeinen die Pflicht ob, sich darüber auf dem Laufenden zu erhalten, was in seinem Ge¬ werbe gesetzlich erlaubt ist, und was verboten ist. Er hat aber weiter zugegeben, dass er die Allgemeine Fleischer¬ zeitung als Abonnent hält. Diese Zeituug hat aber gerade den Zweck, dem Fleischermeister das für sein Gewerbe Wissenswerthe bekannt zu machen und hat das Gutachten des Medizinal-Kollegiums, das den Zusatz von Präservesalz als schädlich bezeichnet, veröffentlicht. Wenn daher der An¬ geklagte es unterlassen hat, sich darüber zu informiren, dass nach den neueren Gutachten der Medizinal-Behörden jeder Zusatz von Präservesalz zum Schabefleisch als gesundheits¬ schädlich erachtet wird, so hat er fahrlässig gehandelt, wenn er mit Präservesalz vermischtes Schabefleisch zum Verkauf gebracht hat. Danach war die erstrichterliche thatsächliche Feststellung aufrecht zu erhalten und der Angeklagte nach §§ 12, 14 des Reichsgesetzes vom 14. Mai 1879 zu bestrafen. Diese Entscheidung wurde vom Kammergericht als nicht rechtsirrthümlich erachtet und die Revision zurückgewiesen; insbesondere habe der Vorderrichter ohne Rechtsirrthum an¬ genommen, dass jeder Zusatz von Präservesalz gesund¬ heitsschädlich sei. Auch sei zutreffend festgestellt worden, dass der Angeklagte fahrlässig gehandelt habe. M. Bücherbesprechungen und Anzeigen. Granier, Dr., Sanitätsrath und Physikus zu Berlin, Lehrbuch für Heilgehilfen und Massöre, im amtl. Aufträge des Kgl. Polizei-Präsidiums zu Berlin; 2. vermehrte Auflage, Berlin, 1900, Richard Schoetz, 165 Seiten, Preis 4 Mk. — Das Buch ist nicht nur im amtlichen Aufträge des Kgl. Polizei-Präsidiums zu Berlin verfasst, sondern auch durch Ministerial-Erlass v. 20.10.98 allen Regierungen zur Benutzung empfohlen. In dieser zweiten Auflage des rühmlichst bekannten Buches sind durch Ergänzungen und theilweise genauere Be¬ schreibungen der einzelnen Handreichungen und Hilfeleistungen bei Verbänden wesentliche Verbesserungen angebracht. Die Desinfektionsvorschriften sind eingehender behandelt, und das Massiren der einzelnen Körpergegenden ist ausführlicher beschrieben. — Sachs, Dr. Heinrich, Privatdozent u. Freund, Dr. C. S., Nerven¬ ärzte in Breslau. Die Erkrankungen des Nervensystems nach Unfällen mit besonderer Berücksichtigung der Untersuchung und Begutachtung. Berlin, 1899, Fischers Med. Buchhandlung (H. Kornfeld), 581 Seiten, Preis 15 Mk. — Ein eingehendes und den Gegenstand fast erschöpfend behandelndes Werk von hervorragender Bedeutung. Die Ver¬ fasser stützen sich grösstentheils auf das grosse Material des Instituts für Unfallverletzte in Breslau; die von ihnen beob¬ achteten Verletzten sollen einer Gesammtsumme von schätzungs¬ weise 30 Tausend Unfällen entsprechen; und die Verfasser befanden sich in der glücklichen Lage, dass sie einerseits eine sehr grosse Anzahl von Verletzten mit zu untersuchen Gelegen- Digitized by Google 22 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 1. heit hatten, bei denen Störungen des Nervensystems fehlten, während sie andererseits bei der Untersuchung von Verletzten mit nervösen Störungen Hand in Hand mit Vertretern anderer medizinischer Fächer, der Chirurgie, der Augenheilkunde, der Ohrenheilkunde, der inneren Medizin arbeiteten. Dadurch sind sie der Einseitigkeit rein spezialistischer Auffassungsart fern¬ geblieben und haben in Wirklichkeit ein Werk geschaffen, welches ein zuverlässiger Wegweiser jedem Arzte in dieser so besonders schwierigen Gutachterthätigkeit sein wird. — Es ist unmöglich, auf den Inhalt im Einzelnen einzugehen; es mag nur auf die ausserordentliche Sachkunde der Verfasser auch in Bezug auf die gerichtlich-medizinische Seite der ein¬ zelnen Fragen aufmerksam gemacht werden und auf die sehr reichliche und vorzüglich ausgewählte Kasuistik. Hoole, Henry, Dr., London. Das Trainiren zum Sport. Ein Handbuch für Sportsleute jeder Art. Uebersetzt von Dr. C. A. Neufeld in München. Verlag von J. F. Bergmann, Wiesbaden. 1899. Preis 2 M. Das vorliegende Buch hat in England, dem Mutterlande des Sports, viel Anklang gefunden und in kurzer Zeit drei Auflagen erlebt. Bei dem Interesse, das man heute auch in unserem Vaterlande dem Sport entgegenbringt, wird das Büchlein sicherlich auch in Deutschland zahlreiche Leser finden, um so eher, als sich Dr. Neufeld nicht mit einer ein¬ fachen Uebersetzung begnügt hat, sondern den Inhalt des Buches deutschen Verhältnissen angepasst hat. — y. Tagesgeschichte. Die Ohnmacht der geltenden Strafgesetze gegenüber der Kurpfuscherei wird durch folgende Verhandlung vor der Strafkammer des Landgerichts München gegen den Besitzer einer Drogerie Paul Strube, der fortgesetzt das Volta-Kreuz und die Volta-Uhr in grossen Mengen zu einem Preise von 3 Mark pro Stück verkaufte, während der -reelle Werth des Exeinplares einen Pfennig betrug, wieder einmal in deutlichster Weise gekennzeichnet. Nach der Augsburger Abendzeitung war Strube wegen Be¬ truges angeklagt, weil er ein absolut wirkungsloses Instrument, von dessen Unwirksamkeit er überzeugt sein musste, als Universalheilmittel anpries und verkaufte. Aus dem Thatbestande ist Folgendes erwähnens werth: Die Volta-Uhr wurde mit einer seidenen Schnur an die Kunden abgegeben. Ausserdem erhielt diese eiuen Prospekt, in welchem zunächst die Vorzüge der Volta-Uhr gegenüber dem Volta-Kreuz gepriesen und sodann hervorgehoben wurde, die Volta-Uhr sei nach streng wissenschaftlichen Prinzipien konstruirt, sie wirke direkt auf den Blutlauf, unterstütze die verschiedenen Funktionen des Körpers, befördere die Gesund¬ heit und Kraft des ganzen Organismus, sie vermöge einen schlummernden Nerv zu erwecken und eine schwache Muskel in ihre lebensfähige Wirkung zurückzurufen. Nach Aufzählung der verschiedensten nervöseu und anderer Erkrankungen und zwei Druckseiten voll Dankschreiben folgte eine Gebrauchs¬ anweisung, wonach die Uhr nach vorausgegangener Be¬ feuchtung an einer seidenen Schnur um den Hals gehängt vorn auf der Brust am blosseu Körper Tag und Nacht getragen werden muss. Am Schlüsse sprach der Prospekt sein Be¬ dauern aus, dass ein eingehendes Gutachten der hiesigen elektrischen Versuchsstation über die elektromotorische Kraft der Volta-Uhr leider nicht Platz finden könne. Wie die Untersuchung durch Sachverständige ergab, besteht die Volta- Uhr aus zwei dünnen, runden, etwa einmarkstückgrossen Kupferblättchen, von denen jedes von einem ringförmigen, etwa 1 cm breiten Streifen aus Zinkblech so umschlossen wird, dass die direkte Berührung der beiden Metalle vermieden ist. Zwischen den Kupferblättchen befinden sich zwei ein¬ fache Lagen rothen Flanells und zwischen diesen ein Pappen¬ deckelscheibchen. Zwischen Pappendeckel und Flanell ist noch ein minimaler hufeisenförmiger Magnet verborgen. Nach dem Gutachten der elektrotechnischen Versuchsstation wurden in der That bei der Befeuchtung des Filztuches der Volta-Uhr Spannungsdifferenzen zwischen der Zink- und Kupferelektrode und zwar in der Stärke von höchstens 0,78 Volt erzeugt; das Gutachten lehnte aber jede Aeusserung über die physiologischen Wirkungen der Uhr bei Auflegen derselben auf den Körper ausdrücklich ab. Seitens der Versuchsstation wurde ferner ausdrücklich verlangt, dass das Gutachten nur im vollen Wortlaut veröffentlicht oder sonst benützt werden dürfe. Der Prospekt beschränkte sich aber lediglich auf die Veröffent¬ lichung der ermittelten Spannungsdifferenz. Gerade aus diesem Umstande aber schliesst die Anklage auf die be¬ trügerische Absicht des Angeklagten, die auch dadurch nicht beseitigt werde, dass eine Anzahl Kunden Strube’ s durch die Volta-Uhr Heilung gefunden zu haben wähnen, da dieser Heilerfolg der Suggestion oder anderen Ursachen zuzuschreiben war. Für Annoncen verausgabte Strube ungefähr 30000 Mark. Der Umsatz betrug in der Zeit von October 1897 bis Februar 1898, in welcher Zeit am meisten inserirt wurde, einige tausend Stück per Monat. Die Anklage erblickt den Thatbestand des § 263 darin gegeben, dass das Mittel absolut wirkungslos ist, als wirkend aber angepriesen wurde, so dass also das Publikum, so weit kein Erfolg erzielt wurde, direkt geschädigt oder ihm wenigstens, soweit Erfolge eintraten, für ein an sich brauchbares Mittel ein viel zu hoher Preis ab¬ genommen wurde. Strube verwahrte sich mit aller Ent¬ schiedenheit gegen die Unterstellung einer betrügerischen Absicht. Er sei von der Wirksamkeit seiner Heilmittel fest überzeugt gewesen, um so mehr, als die Konstruktion derselben auf Grund von Erfahrungen der Wissenschaft und Technik, wie er sie in verschiedenen Broschüren niedergelegt gefunden habe, erfolgte. Er sei mit der peinlichsten Gewissenhaftigkeit zu Werke gegangen, um ja nichts Uurechtes zu thun. Hätte er geahnt, dass man ihm je betrügerische Absichten unter¬ stellen könnte, hätte er sicher das ganze Unternehmen liegen gelassen. Eine Reihe von Zeugen bekunden, dass die Volta- Uhr bei ihnen keine Wirkung hatte, während andere hin¬ wiederum erklärten, sie hätten nach dem Auflegen der Uhr entschieden Besserung verspürt. Ober-Ingenieur Schöpper und Patentanwalt Dedreux sind der Ansicht, dass der An¬ geklagte felsenfest von der Wirksamkeit seiner Mittel überzeugt war, so dass er sogar glaubte, ein Mittel gefuuden zu haben, das für die leideude Menschheit von ungeahnter Wohlthat sei. Herr Medizinal-Rat Prof. Dr. Messerer erklärte, dass die Volta-Uhr absolut keine physiologischen Wirkungen habe und wegen des ganz schwachen Stromes und des ganz minimalen Hautbezirkes, auf den dieser wirke, auch gar nicht haben könne und bezeichnete die ganze Sache als puren Schwindel, der um so verderblicher und gefährlicher sei, als gerade der ärmeren Bevölkerung auf diese Weise ihre sauer ersparten Pfennige abgenommen werden. Herr Professor Dr. Rieder bezeichnete die Volta-Uhr als ein Sympathiemittel, dem absolut keine physiologischen Wirkungen zukommen. — Herr Dr. Frhr. v. Schrenk-Notzing erklärte, dass, wenn die Aerzte auch verpflichtet sind, gegen das Kur¬ pfuscherthum mit Energie vorzugehen, man über ein auf¬ tauchendes Heilmittel doch mit dem Urtheil etwas zurückhalten müsse, denn die Erfahrung lehre, dass manches Heilmittel, Digitized by Google 1. Januar 1000. Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. 23 das anfänglich als Schwindel erklärt wurde, sich später doch als wirkliches Heilmittel wenigstens in seinem Kerne erwies. Den Volta-Uhren messe er zwar keine therapeutische und keine physiologische Wirkung bei, aber ihr Erfolg scheine ihm lediglich auf psychischem Gebiete zu liegen. Er sage in dieser Frage: non liquet. Auch sei die Frage noch nicht entschieden, ob und inwieweit die von Aerzten gereichten Arzneimittel the¬ rapeutisch oder psychisch wirken. Dies gelte in höherem Grade von der Elektrotherapie. Er verweise auf die Homöo¬ pathie, der man lange Zeit nur psychische, keinerlei thera¬ peutisch-physiologische Wirkungen zuschrieb. Heut zu Tage denke ein grosser Theil der Aerzte über die Homöopathie ganz anders, so dass ernst zu nehmende Aerzte sogar der Er¬ richtung eines Lehrstuhles für Homöopathie ernstlich das Wort reden. In Bezug auf die Elektrotherapie ist überhaupt noch nicht festgestellt, wie viel bei der elektrischen Einwirkung auf den Körper auf Rechnung des psychischen Faktors zu setzen ist. Selbst die Medizin müsse mit der Einbildungs¬ kraft des Patienten rechnen und rechne auch mit derselben, denn in vielen Fällen werde viel mehr durch die Einwirkung auf die Einbildung des Patienten als durch das gereichte Mit¬ tel Erfolg erzielt. Er betrachte die Volta-Uhr nicht als Heil¬ mittel, wohl aber als ein nicht einmal ungeschickt zusammen¬ gestelltes Amuiet. Solche Amulete haben schon in zahlreichen Fällen Heilerfolge erzielt, weil sie eben auf die Einbildungs¬ kraft des Patienten wirken, eine Wirkung, die bei der Heilung einen grossen Faktor bildet. Daher werden in der Medizin immer mehr Amulets angewendet. Er greife zum Beispiel zur Hebung der Schlaflosigkeit eines Patienten auch lieber zu einem Sympathiemittel, wenn es Erfolg habe, als zu Morphium, wenn er auch des letzteren absolut sichere Wir¬ kung nicht bestreite. Auch bei den Heilmitteln der Me¬ dizin spiele die psychische Einwirkung eine grosse Rolle. — Es entspann sich nun eine lebhafte Kontroverse auf mehr wissenschaftlichem Gebiete über Elektrotherapie, Serum¬ therapie und Allopathie, worauf die Plaidoyers auf Nachmittag 4 Uhr vertagt wurden. Die Verhandlung endete nach kurzer Berathung mit der Freisprechung des Angeklagten Strube. In den Gründen ist zunächst darauf hingewiesen, dass die Sachverständigen-Gutachten bis zu einem gewissen Grade aus¬ einandergingen. Auch die Zeugen sind über die Wirkung der Volta-Uhr nicht einig. Während eine Reihe von Zeugen ab¬ solut keine Wirkung verspürte, bekundeten andere, dass sie nach Gebrauch des Volta-Kreuzes und der Volta-Uhr gesund geworden seien oder mindestens Besserung verspürt hätten, was sie dem Auflegen der Volta-Uhr zuschrieben. Aber abge¬ sehen hiervon sei das Gericht zu der Ueberzeugung gelangt, dass dem Angeklagten jedenfalls der Dolus gefehlt habe. Strube sei von der Heilwirkung des Volta-Kreuzes und der Volta-Uhr, wie sich aus den Aussagen von Zeugen ergebe, vollkommen überzeugt gewesen und sei in dieser Meinung durch die ihm zugegangenen Mittheilungen über erzielte Heil¬ erfolge und durch die vielen ihm übersandten Dankschreiben bestärkt worden. Nachdem dem Angeklagten nach der Ueber¬ zeugung des Gerichts der Dolus gefehlt habe, bestand für das Gericht keine Veranlassung, auf die Würdigung der weiteren Thatbestandsmerkmale einzugehen. Soweit der Thatbestand. Das Gutachten des Herrn von Schrenk-Notzing wird von dem Pfuscherthum gebührend ausgenützt werden. Anfechtbar erscheint es uns nur in seinem ersten Theile, worin er dieses Mittel in Parallele stellt mit andern Heilmethoden, die zuerst abgelehnt wurden und schliesslich doch in den Heilschatz aufgenommen wurden. Dass dergleichen objektiv werthlose Mittel, wenn sie in geeigneter, suggestiver Form angepriesen und angewandt werden, auch hie und da, vermittelst psychischen Einflusses, Besserungen erzeugen können, ist nicht von der Hand zu weisen. Nur ist ein solcher therapeutischer Gewinn selbstver¬ ständlich völlig unerheblich gegenüber dem grossen Schaden an Volksgesundheit und Volkswohlstand, welcher durch der¬ gleichen Ausnützung der Beschränktheit erzeugt wird. Dass es dem gewiegten Pfuscher unter ähnlichen Um¬ ständen leicht werden wird, sich von vornherein den Beweis seiner Gutgläubigkeit zu präpariren, ist zweifellos. Deshalb weisen dergleichen Vorkommnisse mit Macht auf die Lücke in unserm Gesetz, welche nur durch ein Verbot der Kurpfuscherei geschlossen werden kann, der Pfuscherei, die heutzutage mit einem Machtmittel arbeitet, dass in dem Umfange früher unbekannt war, das ist die Zeitungsreklame. L. Anstellung von Schulärzten in Berlin. In der Sitzung vom 21. Dezember 1899 hat der zu diesem Zweck eingesetzte Ausschuss der Berliner Stadtverordneten¬ versammlung folgende Beschlussfassung vorgeschlagen: Die Versammlung erklärt sich damit einverstanden, dass zunächst ein Versuch mit der vertraglichen Annahme von 20 bis 24 Schulärzten vom 1. April 1900 auf vorläufig zwei Jahre gemacht werde. Diese Schulärzte sind auf die einzelnen Schul¬ kreise möglichst gleichmässig zu vertheilen. — Die Grund¬ sätze für die Anstellung der Schulärzte sind fol¬ gende: Für jeden Schulkreis werden bei einigen Gemeinde¬ schulen vom Magistrat Schulärzte angenommen; einem Arzte sollen nicht mehr als vier Schulen übertragen werden. Dem Schularzt liegt ob: 1. die Prüfung der für den ersten Eintritt in die Schule angemeldeten Kinder auf ihre Schulfähigkeit, die Eltern bezw. Erziehungsverpflichteten haben das Recht, der Untersuchung beizuwohnen; 2. die Prüfung der für den Nebenunterricht vorgeschlagenen Kinder auf körperliche oder physische Mängel, insbesondere auch auf die etwaigen Fehler an den Sinnesorganen, erforderlichen Falles unter Mitwirkung von Spezialärzten; 3. auf Ersuchen der Schul-Kommission bezw. des Rektors die Prüfung eines angeblich durch Krankheit am Schulbesuch verhinderten Kindes; 4. die Abgabe eines schrift¬ lichen, von den zuständigen Organen der Schul-Verwaltung erforderten Gutachtens, a) über vermuthete oder beobachtete Fälle ansteckender Krankheiten oder körperlicher Behinde¬ rungen von Schulkindern, b) über vermuthete oder beobachtete, die Gesundheit der Lehrer oder Schüler benachtheiligende Einrichtungen des Schulhauses und seiner Geräthe. 5. Der Schularzt ist verpflichtet, das Schulhaus einschliesslich der Schulklassen während oder ausserhalb des Unterrichts nach vorheriger Anmeldung bei dem Rektor in angemessenen Zeit¬ räumen zu besichtigen und die von ihm beobachteten hygie¬ nischen Mängel dem Rektor mitzutheilen. 6. Die in amtlicher Eigenschaft gemachten Beobachtungen darf er nur nach Ge¬ nehmigung der Schul-Deputation veröffentlichen. 7. Die Schul¬ ärzte werden periodisch zu Berathungen berufen, welche von einem dazu vom Vorsitzenden der Schul-Deputation bestimm¬ ten Mitgliede der Schul-Deputation geleitet werden. 8. Der Schularzt soll in der Nähe der Schule wohnen. Er erhält für jede Schule ein Honorar von jährlich 500 Mk. Die Versamm¬ lung sieht einem Berichte des Magistrats über die gemachten Erfahrungen für die Zeit vom 1. April 1900 bis 31. März 1901 seiner Zeit entgegen. In der darauf folgenden Erörterung des Antrages wurde von einem Stadtverordneten die Forderung aufgestellt, dass den Eltern der Kinder gestattet werden sollte, ihre Kinder von ihrem Digitized by Google 24 A erztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 1. Hausarzt untersuchen zu lassen. Nachdem aber der Oberbürger¬ meister Kirchner bei dem bestehenden Schulzwange das Recht für die Behörde gefordert hatte, die Gesundheitsvehältnisse der Schulkinder amtlich feststellen zu lassen, und nachdem derselbe hervorgehoben batte, „dass privatärztliche Atteste doch nicht immer so unanfechtbar seien, sodass in vielen Fällen die Schul-Deputation schon eine amtliche Nachprüfung derselben veranlassen musste“, wurde der Ausschussantrag angenommen. Somit wird nun also nach langen Verhandlungen endlich wirklich auch in Berlin am 1. April 1900 mit der Anstellung von Schulärzten vorgegangen werden. Möge dieser erste schüchterne Versuch endlich zu definitiver allgemeiner Ein¬ führung von Schulärzten führen. Polizeiärztin in Berlin. Die Bemühungen, die Anstellung des Fräulein Dr. med. H. als Polizeiärztin für die Untersuchung der Prostituirten dadurch zu ermöglichen, dass ihr vom Reichskanzler auf Grund wissenschaftlich erprobter Leistungen die inländische Approbation ohne besonderes Examen ertheilt werden sollte, sind, wie die „Deutsche med. Wochenschrift“ mittheilt, er- gebnisslos gewesen. Man wird also für’s Erste warten müssen, bis eine der zur Zeit an einer deutschen Universität Medizin studirenden Damen ihre Approbationsprüfungen vor einer deutschen Prüfungskommission beendigt hat. Warnung vor einem Kurpfuscher. Der Polizei-Präsident von Berlin erlässt unter dem 17. De¬ zember 1899 folgende Bekanntmachung: Neuerdings erbietet sich der hier Schützenstrasse No. 6 a wohnhafte Reisende Eduard Damp, der sich auch fälschlich als Schiffsoffizier a. D. bezeichnet, wiederum in Annoncen und in einer von ihm verfassten Broschüre: „Wie ich von meinem langjährigen Lungen- und Kehlkopfleiden geheilt bin“ zur Vornahme von Kuren. p. Damp, welcher nicht die geringste Vorbildung für die ärztliche Kunst genossen hat, verabfolgt seinen Patienten Leinsamenthee und Spartiumthee. Die Untersuchungen haben ergeben, dass der Spartiumthee ein heftig wirkendes Herzgift enthält, dass die zum Preise von 12,80 Mark abgegebenen Mittel einen Werth von höchstens 1,50 Mark besitzen und dass die genannte Broschüre völlig werthlos ist. Ich warne daher dringend, sich in Krankheitsfällen an den p. Damp zu wenden. Aufenthalts- und Uebernachtungsräume für Eisenbahn¬ beamte. Wohl aus Anlass einer Anregung aus den Kreisen der Eisenbahnärzte (vergl. diese Zeitung Jahrg. 1899, No. 21) ist jetzt auf dem Centralbahnhof in Mainz im Interesse des Zug- und Lokomotivpersonals jetzt eine Einrichtung geschaffen, wie eine solche praktischer, vollkommener und besser wohl auf keinem zweiten Bahnhof anzutreffen ist. Es ist dies ein aus 26 Räumen bestehendes Gebäude, das als Aufenthalts¬ und Uebernachtungslokal für das im Eisenbahndienste am härtesten dem Wind und Wetter ausgesetzten Zug- und Lokomotivpersonal eingerichtet ist. In demselben befinden sich mit Töpfen und Pfannen ausgerüstete Küchen, in welchen ununterbrochen kochendes Wasser zur Bereitung von Kaffee und Thee vorhanden ist. Die Schlafzimmer, in welchen die peinlichste Reinlichkeit gehalten wird, sind nach den Beamten¬ stellungen getrennt und ebenso sind besondere Aufenthalts¬ räume für pausirendes Personal eingerichtet. In den Schlaf¬ räumen sind vollständige Betten mit besonderer Wäsche; Wasch- und Baderäume mit Brause- und Wannenbäder vervollkommnen die Einrichtung. Ein Hauswart sorgt dafür, dass ein Verschlafen des Personals nicht vorkommt. Tropenhygienisches Institut in Hamburg. In den Reichshaushaltsetat für das Jahr 1900 ist zum ersten Male ein Posten für das neu zu errichtende tropen¬ hygienische Institut in Hamburg eingestellt worden. Zu der am 1. Oktober 1900 zu eröffnenden Anstalt „für Schiffs- und Tropenkrankheiten“ gewährt die Marineverwaltung einen jährlichen Zuschuss von 20500 Mark, wofür dem Reiche in der Anstalt fünf Arbeitstische überlassen werden; auch ist die Entsendung eines medizinischen Assistenten sowie einer Anzahl von Aerzten zur besonderen Ausbildung Vorbehalten. Der internationale Kongress für Unfallgesetzgebung. Der internationale Kongress für Unfallgesetzgebung und soziale Versicherung, der bekanntlich seine 5. Tagung im näch¬ sten Jahr zu Paris abhält, wird gleich seinen Vorgängern da¬ zu beitragen, die Kenntniss der deutschen Sozialgesetz¬ gebung im Ausland zu verbreiten* indem er Gelegenheit giebt zu vergleichenden Studien über die Fortschritte, die die ver¬ schiedenen Nationen während der letzten Jahre auf sozialpoli¬ tischem Gebiet zu verzeichnen haben. Auch werden die Theil- nehmer am Kongress in der Weltausteilung eine reich¬ haltige Sammlung von Unfallverhütungsapparaten, Kranken¬ hauseinrichtungen, sozialer Statistik u. s. w. einem eingehen¬ den Studium unterziehen können. Fragen und Antworten. Herr Dr. P. in D. schickt folgende Anfrage: Hat der ärztliche Sachverständige eo ipso das Recht, aus dem Unfall- Gutachten Angaben, die ihm selbst Unbequemlichkeiten machen können (Alkoholismus), oder die geeignet sind, schädlich auf den weiteren Verlauf der Heilung des Verletzen, ev. auf seinen Gemüthszustand einzuwirken, fortzulassen, und diese nur etwa als „Bemerkung zu den Akten“ der Berufsgenossen¬ schaft mitzutheilen? Ich habe unangenehme Erfahrungen durch die offene Angabe Vorgefundener Uebertreibung und Simulationen gemacht, auch gefunden, dass die zeitliche Be¬ grenzung des Rentenbezuges häufig „Unfallneurose“ bewirkt. — Hierauf folgende Antwort: In No. 12, S. 265 des vorigen Jahrganges dieser Zeitung ist eine Rek.-Entsch. des R. V. A.’s mitgetheilt, worin, wie schon früher öfters, ausgesprochen wird, dass die Unterlagen für die Feststellungs-Bescheide den Unfallverletzten bezw. Rentenbewerbern mitgetheilt werden müssen, jedoch die ärztlichen Gutachten nur ihrem wesent¬ lichen Inhalt nach; und es wird seitens des R. V. A.’s empfohlen, „solche sachlich entbehrlichen Bemerkungen im Gutachten, die den Rentenbewerber beunruhigen oder verletzen könnten, in den für ihn bestimmten Abschriften fortzulassen.“ — Danach sind wir Aerzte in solchen Fällen auf die Diskretion der Berufsgenossen¬ schaften angewiesen. Wir halten es nötigenfalls durchaus angemessen und für unser Recht, die betreffenden Angaben, welche dem Aussteller des Gutachtens Unannehmlichkeiten verursachen könnten, in einer besonderen Bemerkung zu den Akten der Berufsgenossenschaft bezw. der requi- rirenden Behörde mit dem Ersuchen um Diskretion mitzutheilen. — B. Verantwortlich für den Inhalt: Dr. L. becker in Berlin. — Verlag und Eigenthom ron Richard Schoeta in Berlin. — Druck von Albert Damcke, Berlin. Digitized by Google m« luNfkilpt*, IQttbcUnncca und rndaktion«U«ii laftagn belieb« du ra eenden an Sanit&tarath Dr. L Beeker f Berlin 8W n Ghieleeneuetri M, Korrekturen, Resensione-Ex #m- plare, Bonderebdrfloke an die Y erlagtbuohhandlun£ Ineerete and Beilagen an die Annoncen-Expedition ron Rudolf Moeee. Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und Unfall-Heilkunde. Die „Aanäloht SaohventAndigen-Zeitung* ereebeint monatlich ■waiaeaL Dieaelbe ist au bemiehen durch den Buohhandel, 41« Post (Ha 861 oder durch dis YsrlagsbuehhandlunK Ton Rleherd 8ehoets, Berlin NW., Luisenstr. 86, sum Preise ron Mk. &.— pro Yierteljabr. Aerztliche Her ansgegeben ▼on Dr. L. Becker Dr. A. Leppmann Banltltsr ath, Kttaigllefe«r Phjsikus, Yertrauensant Banitttsrath, Königlicher Phjsikus, Aist der Beobachtengsanstalt für geistea- Ton Beruibgenoasensohaften und Schledsgerichten. kranke Gefhngene in Moeblt-Berlin, 8pesialarst für Herren- tu Qclsteekranka. Verlag von Richard Schoetz, Berlin NW., Luisenstrasse 80. VI. Jahrgang 1900. M2. Allsgegeben am 15. Jannar. Inhalt Origin&lien: Michaelsen, ZurBeurtheilungdesCredAschen Verfahrens bei Neugeborenen. 8. 25. Schwarze, Ueber physiologische nnd traumatische Geräusche am Becken und über traumatische einfache und tuberkulöse Ent¬ zündungen der üeosacralgelenke. S. 28. Bogatsch, Mit welchem Rechte empfiehlt das Reichs-Versicherungs¬ amt den Berufsgenossenschaften die Uebernahmo des Heilver¬ fahrens während der Wartezeit, nnd wie setzen diese es am Besten ins Werk? (Schluss.) S. 31. Referate: Allgemeines. Vladim- Slavik, Selbstmord durch Erhängen oder Mord durch Schlag auf den Kopf? S. 33. Rothholz, Die Krankenfürsorge der Versicherungsanstalt Berlin im Berichtsjahre 1898. S. 34. Chirurgie. Hahn, Ueber die akute infektiöse Osteomyelitisd.WirbeL S.34. Stolper, Die Behandlung der Rückenmarksverletzungon. S. 35. Kienböck, Ein Fall von Atrophie des rechten Armes nach Trauma des linken Armes. S. 36. Thorn, Ueber partielle subkutaneZerreissung einer Beugersehne. S.36. Innere Medizin. Stern, Ueber traumatische Nephritis. S. 37. Hildebrand, Uebertragung des Schweinerothlaufs auf den Menschen. S. 37. Riemann, Ueber Keimzerstreuung des Echinococcus. S. 37. Augen. Groenouw, Schussverlotzung der Augenhöhle mit Nach¬ weis des Geschosses durch Röntgenstrahlen. S. 37. Weissu. Klingelhöffer, Ueber dasVorkommenvon Irisrissen. S.38. Ohren. Oppenheim, Fahrlässige Behandlung und fahrlässige Be¬ gutachtung von Ohrenkranken. S. 38. Hygiene. Euphrat, Eine Hausepidemie vou Typhus abdominalis uqd Cholera nostras. S. 39. Pfuhl, Vergiftung mit stark solanlnhaltigen Kartoffeln. S. 39. Aus Versammlungen und Vereinen. Natur forsch er-Versammlung zu München, Ueber chronische Bauchfell-Entzündungen und Ver¬ wachsangen nach Quetschung des Bauches oder Zerrung des Bauchfells. S. 40. Gerichtliche Entscheidungen: Aus dem Reichs-Versiohernngsamt Aerztliche Gutachten haben den Vorzug vor Erklärungen von Laien. — Erblindung durch seelische Erregung nach einem Brande. — Leistenbruoh als Betriebsunfall — Die Besserung der Erwerbsfähigkeit um 5 Prozent kann nicht als wesentlich angesehen worden. 8. 41. Aus dem Oberverwaltungsgericht. Befreiung von der Ge¬ werbesteuer bei Privatirrenanstalten. 8. 43. BOcherbesprsohungen und Anzeigen : E1 s n e r, Die Praxis des Chemikers. — Scholz, Von Aerzten und Patienten. 8.43. Tagesgesohiohte: Anzeigepflicht bei Tuberkulose. — Arbeiterversiche- rang des deutschen Reichs. — Unfallgefahr der einzelnen Ge- werbszweige. — Invaliditäts- und Altersversicherung in Nor¬ wegen. — Amtliche Unfallversicherung in Oesterreich. S. 44. Zur Beurtheilung des Crede’schen Verfahrens bei Neugeborenen. Von Dr. Miohaeisen-Görlitz, Angenant. Ueber den grossen Nutzen, welchen das Credö’sche Ver¬ fahren znr Verhütung der Blennorrhoe der Neugeborenen aus¬ übt, herrscht heutzutage wohl nor eine Meinung. Umstritten ist nur erstens die Frage, ob durch das Verfahren normale Augen geschädigt werden können, nnd zweitens die Frage, ob sich dasselbe zur obligatorischen Einführung in die Hebammen¬ praxis eignet. Von Cohn wird bekanntlich ein schädigender Einfluss der Methode auf normale Augen rundweg geleugnet. Charakte¬ ristisch dafür sind seine Worte*): Wenn irgend ein gesundes Kind durch diesen Silbertropfen eine nennenswerthe Augen¬ erkrankung bekommen hätte, so wäre ein soloher Fall längst bekannt gemacht worden; aber weder in der Literatur noch in meiner Praxis habe ioh etwas Derartiges gesehen." In dem Bericht über die Sammelforschung über Verbreitung und Ver¬ hütung der Angeneiterung der Neugeborenen in Deutschland, Oesterreich-Ungarn, Holland und in der Schweiz führt Cohn *) Lehrbuch der Hygiene des Auges S. 56. allerdings an, dass zwei Aerzte Schaden von dem Verfahren gesehen hätten, fügt aber hinzu, dass Beide nicht zugegen waren bei Anwendung desselben, welches wahrscheinlich beide Male von Aerzten nicht riohtig gemacht worden war, indem wohl zu viel Arg. nitr. eingeträufelt wurde. Ein unzweifelhafter Fall, dass bei richtiger Anwendung des Verfahrens eine dauernde Schädigung eines normalen Auges zu Stande gekommen wäre, ist auoh von den Gegnern desselben meines Wissens nicht veröffentlicht worden und bei der tausendfältigen straflosen Anwendung desselben auch schwerlich zu erwarten. Wohl aber ist es allgemein bekannt, dass durch das Verfahren, auoh wenn vorsohriftsmässig nur ein Tropfen eingeträufelt wird, sehr leicht eine Reizung der Binde¬ haut entsteht, welche in der Regel allerdings binnen ein bis zwei Tagen wieder verschwindet, gelegentlich aber auoh wohl unter dem Bilde einer etwas heftigeren Entzündung auftreten kann. Daraus ergiebt sich der weitere Nachtheil, dass unter Umständen zwischen der reaktiven Reizung und echter Blennorrhoe Verwechslungen Vorkommen können und das Gutachten der wissenschaftlichen Deputation für das Medi¬ zinalwesen vom Jahre 1887 kam aus diesem Grunde zu dem Schluss, dass es sioh nicht empfiehlt, das Verfahren den Heb¬ ammen in der Privatpraxis zu überlassen. Von anderen Seiten ist aber, wie mir scheint mit Recht, auch das Bedenken erhoben worden, dass die richtige Anwen- Digitized by Google 26 Aerztliche Saohverständigen-Zeitung. No. 2. dang des Verfahrens von den Hebammen keineswegs unter allen Umständen erwartet werden könne. Trotzdem verdient es bemerkt zu werden, dass von 110 Augenärzten, die Cohn in seiner Enquete befragt hat, die überwiegende Mehrzahl, nämlich 79, sich für Einführung des Cred^’schen Verfahrens ausgesprochen hat und zwar 40 für fakultative, 39 für obli¬ gatorische, gegen dieselbe nur 15, während 16 keine bestimmte Stellung nehmen, sodass von 94 Augenärzten sich also 16% gegen, 84% für Credä ausgesprochen haben. Bei dieser Saohlage erscheint mir die Veröffentlichung eines Falles von Wichtigkeit, in welchem thatsächlich durch die von der Hebamme zum Zwecke der Verhütung der Blennorrhoe bewirkte Einträuflung bei zwei neugeborenen Kindern eine schwere Verätzung beider Hornhäute bewirkt worden ist und zwar unter Umständen, welche die Hebamme vom forensischen Stand¬ punkt schuldfrei an dem Vorkommnisse haben erscheinen lassen. Leider hat sich die Beschaffenheit der von der Heb¬ amme eingeträufelten Flüssigkeit nicht genau feststellen lassen, doch hat die gerichtliche Verhandlung zu der Ueberzeugung geführt, dass es sich um eine Höllensteinlösung handelte, deren Konzentration die einer 2%igen wahrscheinlich bei Weitem übertraf. Ich berichte zunächst über die Vorgänge, welche zu der Verätzung geführt haben, genau, nur mit Abkürzung einiger Namensbezeichnungen, nach den amtlichen Feststellungen, wie sie in den Qründen des in dieser Sache ergangenen gericht¬ lichen Urtheils enthalten sind: Am 14. Oktober 1898 war die Hebamme W. zur Entbin¬ dung bei der Ehefrau des Tischlers K. hier. Nach der Ent¬ bindung wollte sie eine Einträuflung in die Augen des neuge¬ borenen Kindes mit einer 2 %igen Höllensteinauflösung, wozu sie nach der Hebammenordnung befugt ist, vornehmen. Das diese Auflösung enthaltende Fläschchen, welches sie zu diesem JZwecke in ihrer Tasehe bei sich führte, war ausgelaufen. Sie schickte nun die anwesende Schwester der K., eine verehe¬ lichte D., mit diesem Fläschchen, auf dem ein aufgeklebter Zettel den Inhalt als 2%ige Höllensteinauflösung angab, zur W.’sohen Droguerie, weil es dahin der nächste Weg war, mit dem Aufträge, darin die bezeichnete 2%ige Auflösung zu holen. Dem Auftrag gemäss verlangte auch die D. in jener Droguerie von dem in derselben beschäftigten Droguisten Z. eine 2%ige Höllensteinauflösung in das Fläschchen. Dieser weigerte sich, dieselbe zu machen, weil sie so etwas nicht machen dürften, sie nur in der Apotheke gefertigt werden dürfe. Da aber die D. weiter darum bat, wandte er sich an den Inhaber der Droguerie, Herrn H. Dieser verstand sich dazu, und während er die Lösung machte, befragte er die D., f ür wen sie dieselbe hole. Z. sah, wie Herr H. den Höllenstein aus einer Glasbüohse entnahm, abwog und auch Wasser in das Fläschchen dazuhineinwog. Oereinigt wurde das Fläschchen vorher nicht, sondern nur ausgeschwenkt. H. übergab das Fläschchen mit der Lösung der D. mit dem Aufträge, der Hebamme zu sagen, dass sie das Fläschchen noch umschütteln solle. Die D. hat das der Hebamme gesagt und hat auch diese, bevor sie die Einträuflung vornahm, das Fläschchen umgeschüttelt. Sie träufelte in jedes Auge des Kindes nur einen Tropfen von der in dem ihr von der D. übergebenen Fläschchen enthalte¬ nen Lösung. Es geschah dies bei vollem Tageslicht am Fenster. Dieses Fläschchen that sie dann in ihre Tasche. Am andern Morgen hatte die Hebamme W. eine Entbin¬ dung beim Tischler W. Auch hier träufelte sie aus demselben Fläschchen in jedes Auge des neugeborenen Kindes nur einen Tropfen. An diesem Morgen wusch die Hebamme W. demK.’schen Kinde beim Baden die Augen mit Verbandwatte. Das Kind hatte die Augen dabei mehr geschlossen, so dass ihr nichtB auffiel. Aber der D. ist es aufgefallen, als das Kind die Augen aufschlug, dass diese verändert waren, ein grauer Schleier darüber war. Am folgenden Tage bemerkte auch die Heb¬ amme die Trübung. An dem W.’schen Kinde wurde ebenfalls eine Trübung bemerkt. Am 17. Oktober wurden beide Kinder zu Augenärzten gebracht loh bemerke hier, dass das K.’sclie Kind in die Klinik des Herrn Dr. Lessbafft, das W.’sche dagegen zu mir gebracht wurde. Sofort bei der Untersuchung des letzteren fiel mir auf, dass die Hornhaut des rechten Auges bis auf eine ganz schmale Randzone total getrübt und dabei in ihren oberen Schichten aufgequollen war, während das linke Auge nur eine Trübung und Quellung des unteren Drittels der Hornhaut aufwies. Ausserdem waren sämmtliche Lider ziemlich stark geschwollen, Hessen sich jedoch leicht ectropioniren und zeigten sich auf ihrer Innenfläche mit fest haftenden grau-weissen Membranen bedeckt. Aus der leicht zu öffnenden Lidspalte quoll eine geringe Menge eitrigen Sekrets. Obgleich diese Augen-Affektion nach Aussage des Vaters schon am Tage der Geburt resp. nach einer von der Hebamme bewirkten Einträuflung begonnen haben sollte, dachte ich im Hinblick auf die bekannte Ungefährlich- keit des Credd’schen Verfahrens von vornherein nicht an Ver¬ ätzung, glaubte vielmehr, es mit einer schweren diphteritisohen Erkrankung resp. einer besonders bösartigen Mischform der Gonorrhoe zu thun zu haben. Indessen schon die geringe Masse des Sekrets, sodann der relativ geringe Grad und die mehr sukkulente Art der Schleimhautschwellung sprachen doch sehr gegen diese Deutung. Ferner ergab eine sorgfältige mi¬ kroskopische Untersuchung des Sekrets keine Spur von Gono- coccen noch überhaupt von Bakterien und endlich lieferte auch die im hygienischen Institut der Universität Breslau freundliohst vorgenommene spezielle Prüfung eines Membranstückohens auf Diphtheriebazillen ein negatives Resultat. An Keratomalacie andrerseits war sohon wegen des blühenden sonstigen Zustandes des sehr kräftigen Kindes nicht zu denken, und der weitere Verlauf sprach durchaus für Verätzung. Denn unter einfacher Reinigung der Augen mit Borwasser und kalten Umschlägen, die nach 2 Tagen behufs leichterer Abstossung der Membranen durch warme Umschläge ersetzt wurden, verminderte sich zu¬ sehends die Sekretion und versiechte nach 3 Tagen fast voll¬ ständig, am vierten waren auch die Membranen abgestossen und unter regelmässig fortgesetzten feuchten Verbänden stellte sich das linke Auge bald vollkommen wieder her. Am rechten bildete sich eine Keratocele aus, die jedoch allmählich wieder zurückging und unter fortschreitender Vernarbung, welche am 7. November die Hornhaut wieder glatt und seitlioh vaskularisirt erscheinen liess, kam es zu einer allmählichen Aufhellung der Trübung, welche so erfreuliche Fortschritte machte, dass nach Verlauf von mehreren Woohen selbst ein Theil der Pupille wieder frei geworden war und nur ein laterales, breites, ad- härentes Leukom an die Sohwere des überstandenen Prozesses erinnerte. Am 20. Oktober 98, also am fünften Tage nach der Geburt hatte ich Gelegenheit, auf Betreiben der Angehörigen, welohe durch Andeutungen der Hebamme auf die Augen-Affektion des W.’schen Kindes aufmerksam geworden waren, auch das K.’sche Kind in meiner Sprechstunde zu sehen und überzeugte mich leicht, dass es sich bei demselben um genau die analogen Zerstörungen der Hornhaut beider Augen handelte, nur dass in diesem Falle umgekehrt die linke Hornhaut total, die rechte nur in ihrer unteren Hälfte getrübt war. Von Membranbildung war wenigstens in diesem Stadium nichts mehr naohzuweiseu, die Sekretion wie bei dem W.’schen Kind gering. Diese Uebereinstimmung des klinischen Bildes, sowie der Digitized by Google 15. Januar 1900. Aerztliche Sachverständigen*Zeitung. 27 Umstand, dass eine in Bezug auf die Schwere und den Be¬ ginn des Prozesses so ungewöhnliohe Augen-Affektion sich in beiden Fällen zuverlässig nach einer von derselben Heb¬ amme mit demselben Mittel gemachten Einträuflung entwickelt batte, machte mir die Diagnose einer Verätzung völlig zweifel¬ los und veranlasste mich, das Vorkommniss dem Herrn Königl. Kreisptiysikus mitzutheilen, durch dessen Vermittlung die König¬ liche Staatsanwaltschaft gegen den Droguisten H. wegen fahr¬ lässiger Körperverletzung die Anklage erhob. Inzwischen kehrte das K.’sohe Kind wieder in die Be¬ handlung des Herrn Kollegen L. zurück, und dieser bestätigte mir auf mein Befragen, dass er den Verdacht, dass es sich auch bei diesem Kinde um eine Aetzung handle, theile. Aller¬ dings war das K.'sche Kind ein zu früh gebornes, sehr schwäch¬ liches, welches in Folge allgemeiner Schwäche auch am 15.2. 99 d. i. zufällig einen Tag vor der gerichtlichen Verhandlung starb. Deshalb lag einerseits von vornherein der Gedanke au Keratomalaoie sehr nahe, andrerseits war der Verlauf ein sehr viel schwererer. Das linke Auge stellte sich überhaupt nicht wieder her, sondern ging in Folge von Perforation zu Grunde, während auf dem rechten eine einfache, theilweise die Pupille deckende Hornhauttrübung übrig blieb. In dem bei der gerichtlichen Verhandlung von den be¬ theiligten Aerzten erforderten Gutachten konnte ich meiner¬ seits meiner Ueberzeugung nur dahin Ausdruck geben, dass es sich that8ächlich in beiden Fällen um eine Verätzung handelte, Herr Dr. Lesshafft hielt eine solche in seinem Falle für höchst wahrscheinlich, wenn auch nicht für zweifellos erwiesen, während der Kreisphysikus Herr Dr. Braun sich unter Würdi¬ gung aller begleitenden Umstände ebenfalls unumwunden für eine Verätzung aussprach, indem er besonders darauf hinwies, dass etwas anderes als die von der Hebamme eingeträufelte Flüssigkeit unmöglich in die Augen gelangt sein könne, und dass insbesondere bei dem K/schen Kinde durch den schwächlichen Allgemeinzustand zwar der schwere Verlauf der Affektion, nicht aber der frühe Beginn derselben erklärt werden könne. Fraglich blieb hiernach nur noch die Beschaffenheit der von der Hebamme verwendeten Lösung. Ich hatte meiner¬ seits ursprünglich am ehesten an eine Verwechslung des Höllen¬ steins mit konzentrirter Karbolsäure gedacht, doch ergab die Verhandlung, dass von dem Droguisten offenbar eine Höllen¬ steinlösung zubereitet worden war. Es blieb daher nur die Annahme übrig, dass derselbe sich beim Abwägen in der Kon¬ zentration der Lösung geirrt haben musste. Ich schätzte die thatsächlioh verwendete Lösung nach dem Grade der Aetz- wirkung auf mindestens eine zehnprozentige. Am wahrschein¬ lichsten blieb, dass der Droguist sich beim Abwiegen um eine Dezimalstelle versehen und statt der zweiprozentigen eine zwanzig¬ prozentige Lösung angefertigt hatte. Im Einzelnen ergab die Verhandlung laut Tenor des gerichtlichen Urtheils hierüber Folgendes: Der Angeklagte will nur eine zweiprozentige Höllen¬ steinlösung zubereitet haben und zwar in folgender Weise: Er habe aus dem mit der betreffenden Aufschrift versehenen Höllensteingefäss Höllenstein entnommen, ihn zerklopft und ein Dezigramm davon abgewogen, dieses in das Fläschchen ge- than und 5 Gramm Wasser dazu hineingewogen. Er giebt zu, dass es schnell gemacht worden. Als die Hebamme W. in dem Geschäft des Angeklagten am 16. Oktober, nachdem sie die Verschleimung der Augen bei dem K.'sehen Kinde wahrgenommen, an den Ange¬ klagten die Frage richtete, ob er die Lösung gemacht, dieser es auch bestätigt, wobei sie ihm von der Verschleimung der Augen des Kindes erzählte, kam Angeklagter bald darauf zur W. selbst in ihre Wohnung und wollte das Fläschchen heraus¬ haben, um es zu untersuchen. Die W. verweigerte es, goss aber in ein anderes Fläsohohen, welches Kölnisches Wasser enthalten und längere Zeit leer gestanden, den Inhalt aus ersterem. Zur W. that er dann die Aeusserung: er wüsste es nicht, er könnte es nicht herausfinden, es könnten ein Paar Körnohen zu viel sein. Als die W. auf Geheiss des Kreis¬ physikus das Fläschohen, in welchem, wie eben erwähnt, der Inhalt aus dem anderen hineingegossen worden, abholte, sagte der Angeklagte, sie solle dem Kreisphysikus sagen, er habe schon untersucht, es sei die richtige Lösung. Das zurückgegebene Fläschchen enthielt nur wenige Tropfen noch, und hat sich daraus feststellen lassen, dass die Flüssig¬ keit eine Höllensteinlösung war, nicht aber mehr die Stärke derselben. Ebensowenig gewährte das andere Fläschohen einen Anhalt.“ Nach alledem hielt es der Gerichtshof für festgestellt, „dass bei beiden Kindern die Augenerkrankung hervorgerufen ist durch die von der Hebamme bewirkten Einträuflungen, dass diese Einträufiungen geschehen sind aus einem Fläschchen, welohes die vom Angeklagten zubereitete Höllensteinlösung enthielt, dass bei beiden Kindern sich die Folgen der Einträufiungen im Ver¬ lauf von 2 Tagen in einer Trübung der Augen gezeigt haben, dass die festgestellte Trübung der Hornhäute in einer Verätzung ihren Grund hat, dass eine das Mass einer zweiprozentigen weit überschreitende Lösung eine solche Verätzung zu bewirken geeignet ist,“ kam weiterhin zu dem Schlüsse, dass der Ange¬ klagte als ein gelernter Apotheker bei der Anfertigung der Lösung diejenige Aufmerksamkeit aus den Augen gesetzt hatte, zu welcher er vermöge seines Berufes und Gewerbes besonders verpflichtet war und verurtheilte ihn desswegen sowie, weil er ohne polizeiliche Erlaubnis Arzneien, nämlich eine Lösung zubereitet hatte, deren Handel nicht freigegeben ist, zu einer Geldstrafe von 500 Mark. Das Urtheü ist rechtskräftig geworden und hat übrigens auch dem Kaiserlichen Gesundheitsamt auf dessen Wunsch zur Einsicht Vorgelegen. Bei der Beurtheilung des vorstehenden Falles wird man zugeben können, dass derselbe dem Credöschen Verfahren als solchem nicht zur Last fallt, da keinesfalls anzunehmen ist, dass die zur Einträufelung verwendete Flüssigkeit eine nur zweiprozentige Höllensteinlösung gewesen sei. Jedenfalls aber scheint mir durch diesen Fall der Beweis dafür erbracht zu sein, dass bei mangelnder Umsicht durch das Credösche Ver¬ fahren schwerer Schaden angerichtet werden kann. In diesem Falle lag die Schuld an dem Drogisten, welcher sich bei An¬ fertigung der Lösung offenbar geirrt hatte. Ob dergleichen nicht ebensogut in einer Apotheke möglich ist, will ich um¬ soweniger entscheiden, als Herr K. selbst approbirter Apotheker ist. Doch sollten meines Erachtens die Hebammen jedenfalls darauf hingewiesen werden, sich die zu ihrem Gebrauche fertige Höllensteinlösung nur auf ärztliches Rezept machen zu lassen, damit auf diese Weise die Wichtigkeit einer genauen Dosirung schon äusserlich gekennzeichnet wird. Gegen die Hebamme ist in diesem Falle ein gerichtliches Verfahren nioht eröffnet worden. Gleichwohl scheint mir auoh ihr Verhalten keineswegs einwandsfrei zu sein. Dass ioh dem nicht zustimmen kann, dass eine Hebamme sich auf einfache mündliche Bestellung die Höllensteinlösung in einer Droguen- handlung anfertigen lässt, ist bereits erwähnt. Ich glaube ferner, dass, wenn die Hebamme auf der Höhe ihrer Aufgabe gestanden hätte, die Augenerkrankung der beiden Kinder von ihr schon am ersten Tage hätte bemerkt werden müssen, wie dieses ja bei dem K.'schen Kinde sogar von einem Laien, nämlich der Tante des Kindes, thatsächlich geschehen ist, und dass dann sofort ärztliche Hilfe hätte requirirt werden mü-sen. Digitized by oogle 2Ö Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 2. Endlich war es auch zweifellos sehr unklug von der Hebamme gehandelt, dass sie, nachdem sie sich selbst von dem ange¬ richteten Schaden überzeugt hatte, den ganzen Inhalt des von ihr verwendeten Fläschohens dem Drogisten auf dessen Bitte zur Verfügung stellte, anstatt wenigstens einen Theil davon ihrer Vorgesetzten Behörde, d. i. also dem Herrn Kreisphysikus, zur Untersuchung einzubehalten. Bei alledem wurde ihr von dem letzteren in öffentlicher Gerichtsverhandlung das Zeugniss ausgestellt, dass sie eine unserer tüchtigsten Hebammen sei. Es mag sein, dass bei der jetzigen Ausbildung unserer Hebammen von ihnen gar nicht erwartet werden kann, dass sie sich auch in besonderen Fällen richtig zu verhalten wissen werden. Darin liegt aber gerade meines Erachtens ein sehr wesentliches Bedenken gegen die obligatorische Einführung des Credd’schen Verfahrens. Der Fall z. B., dass einer Hebamme ihr Fläschohen ausgelaufen ist, oder dass sie dasselbe überhaupt nicht zur Hand hat, kann sich offenbar sehr leicht wiederholen, und wie sich unter sol¬ chen Umständen eine ungewandte Person fern ab von Arzt und Apotheker verhalten wird, mag dahingestellt bleiben. Mir ist erst vor Kurzem ein circa drei Wochen altes Kind in die Sprechstunde gebracht worden, welches auf beiden Augen eine im Abklingen begriffene Blennorrhoe mit leichter Homhaut- verschwärung zeigte, und dessen Mutter auf mein Befragen angab, es wäre dem Kinde nach Beginn der Entzündung von der Hebamme Eiswasser ins Auge eingegossen und die Hinzu¬ ziehung eines Arztes für unnöthig erklärt worden. Ob sich die Sache thatsächlich so verhielt, ist in diesem Falle nicht festgestellt worden. Die Hebamme bestritt es. Doch halte ich dergleichen ebenso für möglich wie den Fall, dass sich eine Hebamme mangels einer 2prozentigen Argentumlösung ver¬ sucht fühlen könnte, anstatt dessen vielleicht eine antiseptische Lösung von Karbol oder Sublimat, das sie ja bei sich führt, in einer ungeeigneten Konzentration anzuwenden. Ich be¬ zweifle ferner, ob es die Hebamme mit der Anwendung nur eines Tropfens der 2prozenten Höllensteinlösung immer so ge¬ nau nehmen wird, wie es erforderlich scheint und ebenso theile ich die Bedenken jener Autoren, welche die Hebammen im Allgemeinen nicht für befähigt halten, die auf die Credö’sche Einträuflung folgende Reaktion von einer wirklichen Blennorrhoe genügend zu unterscheiden. Mag daher das Credd’sche Verfahren in Entbindungsan¬ stalten auch noch so segensreich wirken, für die Privatpraxis halte ich es auch meinerseits nicht für geeignet. Ueber physiologische und traumatische Geräusche am Becken und über traumatische einfache und tuberkulöse Entzündungen der lleosacralgelenke. Von Dr. Schwarze. Wir kennen an vielen Gelenken des Körpers Geräusche, welche wir Mangels anderer Veränderungen als physiologische anzusehen gewohnt sind, und durch welche eine Erwerbsbeein¬ trächtigung nicht bedingt ist. In der mir zugänglichen Literatur habe ich nicht gefun¬ den, dass solche Geräusche auch am Becken beobachtet worden sind, und doch bin ich etwa sechsmal in der Lage gewesen, bei Unfallverletzten dort Geräusche zu hören und zu fühlen, über deren Ursprung und Dignität bezüglich des vorangegan¬ genen Unfalls ich mir zunächst nicht klar wurde. Ich konnte zwar mit Sicherheit ausschliessen, dass diese Geräusche in den Hüftgelenken entstanden, an denen man auch zuweilen, wenn auch seltener als z. B. im Schultergelenk, physiologische Geräusche zu hören bekommt, aber damit war für die Lokalisation der in Rede stehenden Geräusche nichts gewonnen, und auch die Untersuchung mit dem Phonendoskop liess mich im Stich. Die typischen Stellen, an denen ich Ge¬ räusche in meinen Fällen fand, waren 1. vorn, etwa in der Mitte der Leistenfurche, und 2. hinten am Hüftbeinkamm, näher oder entfernter vom Ileosacralgelenk. Da die häufigsten Stellen der Beckenring-Frakturen und Fissuren gerade durch die Schambeinäste und hinten durch die Hüftbeinkämme in der Nähe der lleosacralgelenke zu gehen pflegen, so lag der Gedanke eines solchen nicht fest geworde¬ nen Bruches, also einer Art Krepitationsgeräusches, nahe und die geklagten Beschwerden der Träger erschienen mir begreiflich. Andrerseits aber musste man sich überlegen, dass gerade die Krepitation bei dieser Art von Brüchen am häufigsten fehlt; auoh fehlte der lokalisirte Bruchschmerz an den genannten Stellen. Wenn es sich auch ferner stets um Quetschungen des Beckens durch auffallende Lasten oder um Fälle auf das Gesäss oder den Rücken handelte, also an und für sich um Verletzungen, bei denen man an Brüche oder Luxationen denken konnte, so waren die Unfälle an sich nicht so schwere gewesen. Vor Allem aber waren die Verletzten zu der Zeit, in der ich sie zu sehen bekam, meist 13 Wochen nach dem Unfall, schon wieder viel zu gut auf den Beinen und zu wenig beschränkt in ihren Bewegungen des Rumpfes und der Glied¬ massen, als dass man einen Beckenbruch annehmen konnte, der auch niemals Symptome Seitens der Weichtheile, der Blase oder des Mastdarms gemacht hatte. Als ich in Folge dieser Zweifel eine grössere Anzahl ge¬ sunder älterer und jüngerer Menschen und mich selbst auf das Vorkommen von Geräuschen am Becken untersuchte, fand ich, dass sie namentlich bei älteren Männern nicht so selten sind und zwar immer typisch an den oben genannten Stellen. Ich konnte das in der Leistengegend entstehende Geräusch häufig fühlen bei starker Abspreizung und Auswärtsrollung des gestreckten Beines in horizontaler Rückenlage oder auch bei passiver Abspreizung und Auswärtsrollung des im Knie- und Hüftgelenk stark gebeugten Beines. Das neben dem Hüftkreuzbeingelenk zu fühlende Geräusch entstand bei einzelnen Personen schon, wenn in aufrechter Stellung das gestreckte Bein seitlich so weit wie möglich er¬ hoben wurde, bei den Meisten aber, wenn das gestreckte Bein nach vorn möglichst erhoben und möglichst kreisförmig nach hinten und wieder nach unten in die Standstellung geführt wurde, anscheinend immer in dem Momente, ehe das Bein von hinten nach unten gesenkt wurde. Je mehr darauf ge¬ halten wurde, dass die Stellung des Rumpfes eine streng senk¬ rechte war, desto leichter und lauter konnte das Geräusch erzeugt werden. Oft gelang es, beide Geräusche nach einander bei der oben beschriebenen Bewegung zu erzeugen. Auch an meinem Körper ist mir dies oft gelungen, während es mir an manchen Tagen überhaupt misslang, die Geräusche zu erzeugen, wie es mir schien, immer dann, wenn ich durch Turnen oder Reiten reichliche Muskelübung gehabt hatte. Während das vordere Geräusch nur selten ohne gleich¬ zeitiges Zufühlen zu konstatiren war, war das hintere oft so laut und hart, dass es mehrere Meter weit und beinahe beäng¬ stigend zu hören war. Wo und wie entstehen diese Geräusche? Bezüglich deB Ersteren kam ich durch häufige Untersuchungen zu der An¬ sicht, dass es durch den Schleimbeutel erzeugt wird, welcher zwischen dem m. üeopsoas und dem horizontalen Schambein¬ ast liegt und die Bewegungen dieses Muskels erleichtern soll. Digitized by Google 16. Januar 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 29 Bekanntlich liegen in der näheren Nachbarschaft dieses Sohleimbeutels noch drei andere; nämlich einer, relativ gross, zwischen dem m. obturator internus und Knochen, welcher seine Fortsätze zwischen die Faszikel des Muskels und der ihn begleitenden mm. gemelli hineinschickt; ein zweiter zwischen der Sehne des Muskels und dem Hüftgelenk, der mit ersterem öfter kommunizirt, und ein dritter zwischen m. quadratus fe- moris und Trochanter minor (nach Quain-Hoömann). Der bei weitem grösste dieser vier Schleimbeutel ist der unter dem m. Ileopsoas, der nicht selten mit der Hüftgelenkkapsel kom¬ munizirt. Dass es aber gerade dieser Schfeimbeutel ist, welcher das Geräusch hervorruft, glaube ich damit beweisen zu können, dass ich es auch —• allerdings nur in einem Falle — bei einer Frau fühlen konnte, welche die oben beschriebene Beinbewegung ausführen musste, während ich den Finger in der Scheide hatte und diese Gegend abtastete. Diese Um¬ stände und die verschiedene Faltung und Füllung der Schleim¬ beutel, welche an anderen Körperstellen Analogien hat, erklärt dies Geräusch ohne Weiteres als ein völlig physiologisches, das ohne weiteren Zusammenhang mit einer Verletzung vor¬ handen sein kann und häufig vorhanden ist. Nun könnte man natürlich einwenden, dass, wenn es nicht regelmässig vorhanden ist, es gerade immer dann ent¬ stehen wird, wenn ein Bruch oder eine Einknickung des horizon¬ talen Sch&mbeinastes oder des angrenzenden Hüftbeintheilos vorhergegangen war, welcher eine Verdickung oder Verschie¬ bung des Knochens an dieser Stelle erzeugt hat, dass es also erst recht ein Symptom solcher Verletzungen sei. Hierüber fehlt mir die Erfahrung, aber wenn dies der Fall wäre, könnte man doch wohl zunächst annehmen, dass es dann von chi¬ rurgischer Seite längst erwähnt und anerkannt wäre, während man gerade weise, dass bei derartigen Brüchen Krepitations¬ geräusche fehlen! Dass eine selbständige oder traumatische Entzündung dieses Schleimbeutels jemals beobachtet worden ist, habe ich bei meiner Literaturdurchsicht nicht ermitteln können und erscheint mir von vornherein schon deshalb sehr unwahrscheinlich, weil bei den so sehr häufigen Eiterungen des so dicht benachbarten bezw. kommunizirenden Hüftgelenks sicher ein derartiges Vorkommniss bekannt wäre. Ich glaube mich deshalb auf Grund des Vor¬ kommens bei vielen niemals am Becken Verletzten zu dem Schlüsse berechtigt, dass das über dem hori¬ zontalen Schambeinaste häufig bei Bewegungen des Beines zu fühlende Schleimbeutel-Geräusch ein phy¬ siologisches ist, welches niemals bei vorangegan¬ genen Verletzungen in der Beckengegend nach irgend einer Richtung hin verwendet werden kann und keinerlei Beschwerden macht. Derartige Be¬ hauptungen entbehren m. E. stets der Begründung. Die Entstehung des hinteren Geräusches ist eine wesent- ‘ lieh andere! Es entsteht nach meinen Untersuchungen im Hüftkreuzbeingelenk selbst. Ich bin zu dieser Ansicht durch meine geburtshilflichen Erfahrungen gelangt! Wer recht viel Zangenentbindungen gemaoht hat, namentlich auoh solche am hochstehenden Kopfe, der wird wohl ebenso wie ich zuweilen bei den Traktionen ein recht unangenehm knackendes Geräusch gehört haben, beinahe als ob Knochen bricht. Später findet man aber zum Glück weder am Kinde noch an der Mutter irgend eine Knochenverletzung. Ich will damit nicht etwa die Sympbysentrennungen in Abrede stellen, welche thatsächlioh bei derartigen gewaltsamen Entbindungen beobachtet worden sind, kann aber umgekehrt versichern, dass in meinen relativ häufigen Fällen, in denen ich das Geräusch gehört habe, sicher eine Symphysenruptur nicht stattgefunden hat, zumal diese doch im Wochenbett deutliche Symptome machen. Erst ein Fall deutlicher Entzündung des Ileosacralgelenkes, den ich in den Charitö-Annalen (Jahrgang XVH, Bericht über die Ent¬ bindungsanstalt) beschrieben habe, brachte mich darauf, dass in diesen Fällen die vorderen Bänder des genannten Gelenkes gerissen waren. Dass ich damit Recht habe, geht, wie ich glaube, aus der Anatömie des genannten Gelenkes hervor. Luschka schreibt 1854 über die Bänder desselben, dass das vordere überhaupt kein deutlich geschiedenes Ligament ist, sondern nur eine „stellenweise Anhäufung der übrigens kon- tinuirlichen Faserung der Knochenhaut“, während das hintere ein massives Band ist, welches eine Art von Bandscheibe zwischen Tuberositas ossis sacri et ilium bildet“. Dass diese vordere Gelenkverbindung zwischen den beiden Knochen that¬ sächlioh eine sehr labile ist, haben wir gelegentlich der mo¬ dernsten geburtshilflichen Operation, der Symphyseotomie kennen gelernt In Leichenversuchen, die ich seiner Zeit zur Fest¬ stellung der Art der Beckenerweiterung bei dieser Operation machte (über Symphyseotomie Berl. Klin. Woch. 1893/8) konnte ich dieses Klaffen des Gelenkes durch Bandzerreissung auf der vorderen Seite erzeugen, sobald der Symphysenspalt 3—4 cm breit wurde. Dass eine so weite Auseinanderpressung durch eine auf das Becken auffallende Last oder durch einen Fall auf das Gesäss bezw. Kreuzbein zu Stande kommen sollte ohne weitere Brüche am übrigen Beckenring, erscheint zunächst unwahrscheinlich, wenn auch bei der Elastizität des Becken¬ ringes nicht ganz unmöglich. Aber man braucht diese gezwun¬ gene Erklärung gar nicht, sondern die Zerreissung der vorderen Bänder wird schon durch den Mechanismus der Hüftkreuz- beingelenke glaubhafter. Die Untersuchungen von Walcher haben nämlich ergeben, dass diese Gelenke eine verhältniss- mässig recht ausgiebige Beweglichkeit besitzen um eine hori¬ zontale Axe, welohe man quer durch das Kreuzbein, etwa in Höhe des zweiten Sakralloches, legt. Ich will mich nicht in nähere Details einlassen, thatsächlioh aber wird bekanntlich die Konjugata vera durch diese Bewegung der Hüftbeine nach unten, wie sie bei der sog. Walcher’schen Hängelage benutzt wird, um 1—1,5 cm erweitert. Nun kann ich mir sehr wohl vorstellen, dass durch einen Fall auf die Kreuzbeingegend oder durch Auffallen einer schweren Last auf das Becken bei einer gleichzeitig nach unten gesenkten Stellung des Kreuzbeines zu den Hüftbeinen und bei Auseinanderpressung des Beckenringes die Federung desselben zwar einen Bruch verhütet, dass aber der Ring an der schwächsten Verbindungsstelle, nämlich dem schwachen inneren lleosacral-Ligament, platzt ohne weitere Verletzungen. Ich stehe mit dieser Ansicht nicht in der Luft, sondern auf der Basis erstens zweier selbst beobachteter Fälle von geburtshilflicher Verletzung des genannten Gelenks und zweitens auf der Basis zweier Unfälle bei Männern, in denen die Dia¬ gnose gar nicht anders als auf eine Verletzung des genannten Gelenkes gestellt werden konnte. Weiter unten werde ich auf die Krankengeschichten noch zurückkommen. Um so mehr erfreut war ioh, als in diesem Jahre Barden¬ heuer & Sohede auf der Münchener Naturforscherversammlung ihre Erfahrungen über Tuberkulose des Ileosacralgelenkes mit¬ theilten. Beide zusammen haben 46 Fälle beobachtet, auf die ich später noch zurückkomme. Aber bezüglich der Aetiologie haben (naoh Referat) Beide die Affektion fast ausnahmslos bei Arbeitern im dritten Dezennium durch traumatische Einflüsse entstehen sehen und zwar durch häufig wiederkehrende Er¬ schütterungen des Rumpfes, wie sie durch starke Arbeit und häufiges Heben schwerer Lasten gegeben werden. Um nun zunächst auf meine Fälle zu kommen, an denen ich die Diagnose der Entzündung des Ileosacralgelenkes stellte, so betrafen die beiden geburtshilflichen Beobachtungen eine Digitized by Google 30 Aerztliche Sachverständigen- Zeitung. No. 2. spontane und eine Zangenentbindung. Im ersteren Falle (Charite-Annalen 6. 17) wurden alle Bewegungen des Beines nicht im Hüftgelenk, sondern in der Gegend des entsprechen¬ den Hüftkreuzgelenkes sehr schmerzhaft befunden, vor Allem aber Druck auf die hintere Seite des Gelenkes und von der Scheide aus der Druck auf die vordere Seite. Auch Druck vorn auf das Darmbein war in der Hüftkreuzbeingegend em¬ pfindlich. Die Schmerzen strahlten in die Glutaealgegend und den hinteren Theil des Oberschenkels hin aus, ohne dass die Druckpunkte des n. Isohiadicus schmerzhaft waren. Der zweite Fall glich diesem genau. Hier hatte ioh bei der Zangenentwicklung deutlioh ein knackendes Geräusch gehört, und dieses blieb wochenlang, bis mir die Patientin entschwand, bei ausgiebigeren Bewegungen des Beines be¬ stehen, nachdem alle schmerzhaften Symptome verschwunden waren, ausser dass die Patientin es vermied, sich längere Zeit auf das erkrankte Bein zu stützen. Dieser Fall mit seinem lauten Geräusch fiel mir sofort wieder ein, als ich vor einigen Jahren den ersten Fall bei einem Manne als Verletzungsfolge zu sehen bekam. Derselbe war auf einer Eisfläche beim Transport von Eis stark auf das Gesäss gefallen und hatte dann wochenlang ge¬ legen, als er mir zur Begutachtung zuging. Er klagte über Schmerzen in der rechten Heosacralgegend und hatte dort Druckschmerzen, auch Schmerzen bei ausgiebigen Bewegungen des Beins. Er will zunächst gehinkt haben, that dies aber bei meiner Untersuchung nicht mehr. Dagegen erhob er sich aus der liegenden Stellung noch schwerfällig, wie wir es bei Ver¬ letzten kennen, die eine Kontusion der Wirbelsäule erlitten haben. Bei seitliohen Erhebungen und kreisförmigem Führen des rechten Beines nach hinten hört man laut und fühlt man ein hartes Geräusch in der Gegend des rechten Ileosacral- gelenks. Dasselbe fühlt man aber auch beim Auflegen der Hand auf jeden Punkt der rechten Beckenhälfte. Vor Allem schmerzhaft war es dem Verletzten, wenn man ihn auf barte Unterlage ausgestreckt hinlegte und vom auf beide Darmbeine drückte. Dann wurde der Schmerz deutlich auf das rechte Hüftkreuzbeingelenk lokalisirt. Jetzt, ca. 3 Jahre nach dem Unfall, besteht als alleiniger Rest der Verletzung das beschriebene Geräusch, das der Mann durch eine bestimmte Erhebung des Beins hervorruft, während er wieder jede schwere Arbeit leistet und nach meiner Ansicht keine Beschwerden mehr hat, denn er giebt sich mit einer 10 pCt.-Rente zufrieden, was er wohl nicht thäte, wenn er Be¬ schwerden hätte. Der zweite Fall gleicht auch hier dem ersten in den Sym¬ ptomen, während die Ursache eine andere war. Ein sehr schwerer Maissack war einem jungen Stallmann, der gebückt stand, vom Wagen gegen das rechte Bein ge¬ fallen* hatte ihn nach hinten gerissen und lag auf seiner rechten Hüfte und wohl auch zum Theil noch auf dem Leib. Er hatte wegen Schmerzen in der Gegend des rechten Hüft- kreuzbeingelenks ca. 3 Wochen gelegen und kam mir 4 Wochen nach dem Unfall zur Beobachtung. Hier bestanden noch bei jedem Schritte und bei längerem Stehen die beschriebenen Sohmerzen und die übrigen Sym¬ ptome einschliesslich des Geräusches, die erst nach etwa einem halben Jahre schwanden, wenigstens stellte der Patient sich mir dann nicht wieder vor. Mit der Schilderung dieser Fälle musste ich schon ein Stück weiter in meinem Thema gehen, nämlioh in das Vor¬ kommen von isolirten traumatischen Entzündungen der Ileo- sacralgelenke. Ehe ich hiermit fortfahre, muss ich den ersten Theil meiner Arbeit über die Dignität des am Ileosacralgelenk zu hörenden Geräusches beenden. Ich glaube, man kann von den obigen pathologischen Fällen zunächst den Schluss ziehen> dass duroh die Verletzung eine Lockerung des Gelenkes, spe¬ ziell durch Bandfaserzerreissung auf der Vorderseite stattge- funden hat, und dass durch diese Lockerung bei bestimmten Bewegungen das Geräusch entsteht. Da es nun aber auch bei niemals am Becken Verletzten häufig genug vorkommt, muss man ohne Weiteres den Schluss machen, dass bei diesen eine physiologische geringe Lockerung des Gelenks besteht, für welche wir hinreichende Analogien, namentlich an den Fingergelenken, besitzen. Ich erwähnte bereits, dass das Ge¬ räusch bei mir und meinen Versuchspersonen zu Stande kommt, ehe das kreisförmig nach hinten geführte Bein nach unten gesenkt wird. Gerade in dieser Stellung findet aber die physiologisch stärkste Bewegung der sonst so wenig beweg¬ lichen Gelenke, nämlich um ihre Querachse, statt, und natür¬ lich wird bei einer etwas forzirten Drehung in dieser Achse das Geräusch am ehesten entstehen. Aas Vorstehendem lässt sich wohl der Schluss ziehen, dass an und für sioh ein Vorkommen dieses Geräusches kein pathologischer Zustand ist Dass, wenn am Becken Verletzte dieses Geräusch bieten, daraus allein ebenfalls noch kein Schluss auf eine Entzündung des Ileosaoralgelenks und somit auf Erwerbsbeeinträchtigung gezogen werden darf, son¬ dern dass dazu noch andere Symptome dieser Af¬ fektion gehören. Das Geräusch ist jedoch wichtig, weil es zur Untersuchung auf solche Symptome hin¬ deutet und mit denselben die Diagnose sichert. Ich konstatire auf Grund meiner obigen Beobachtungen also das Vorkommen einer isolirten, einfachen traumatischen Entzündung der Ileosakralgelenke, worüber ich in mehreren mir zugänglichen Lehrbüchern der Chirurgie Nichts gefun¬ den üabe. Um noohmals die Symptome der Affektion festsustellen, so bestehen diese 1. in lokalisirten spontanen und Druck¬ schmerzen der genannten Gelenke, namentlich bei längerem Stehen oder Stehen auf dem Bein der befallenen Seite; 2. in ausstrahlenden Schmerzen in die ganze Glutaealgegend und den hinteren Theil des Oberschenkels herab ohne Schmerz bei Druok auf den Hüftnerv; 3. für die Diagnose am wichtig¬ sten scheint mir die Untersuchung bei horizontaler Lage auf harter Unterlage. Gleichzeitiges Zusammenpressen oder Aus¬ einanderdrücken beider Hüftbeinstachel wird in der Gegend des befallenen Gelenkes schmerzhaft empfunden. Welche Wichtigkeit die ganze Diagnose dieser Gelenk¬ entzündungen hat, die nicht nur Kuriositäten sind, geht am Meisten aus der relativen Häufigkeit der tuberkulösen Form der Erkrankung hervor! Jch muss sagen, dass ich über die Zahl von 20 Fällen, die Bardenheuer in den letzten 5—6 Jahren gesehen hat, sehr erstaunt war, und dazu erwähnte Schede 26 von ihm operirter Fälle! Nach den Beobachtungen dieser Chirurgen (Nach Referat) handelt es sich meist um primär lokale Tuberkulose. Dieselbe befällt fast ausnahmslos Arbeiter im 3. Dezennium und soll durch häufig wiederkehrende Erschütterungen des Rumpfes, wie sie durch starke Arbeit und Heben sohwerer Lasten ge¬ geben werden, entstehen. Meist ist das Kreuzbein am tiefsten erkrankt, quer durch dasselbe geht das Leiden oft bis in das gleiche Gelenk der anderen Seite. Zu den von mir schon oben erwähnten Symp¬ tomen der einfachen Entzündung tritt allmählich eine Ver¬ dickung an der vorderen und hinteren Seite des Gelenkes. Ab- scessbildung tritt ein entweder unterhalb des hg. Poupartii oder oberhalb der mm. glutaei oder in der Iliacalgegend oder Digitized by Google 15. Januar 1900. Aerztliche 8 ach verständigen-Zeitung. 31 vor resp. hinter dem Gelenk, genau der Gelenkfuge entsprechend. Während Bardenheuer bei Abscessbildung jedesmal die Resek¬ tion empfiehlt, weil sonst der Ausgang in Amyloid oder allge¬ meine Tuberkulose eintritt, glaubt Schede, das man häufig ohne Resektion mit Jodoforminjektionen auskommt. Die Ope¬ ration ist stets eine sehr eingreifende, da es schwierig ist, die Eiterung zu verfolgen. Von Schede’s 26 Fällen sind 20 geheilt. Nach diesen Mittheilungen erübrigt wohl ein weiterer Hin¬ weis auf die Wichtigkeit schon der einfachen Entzündungen genannter Gelenke für die Unfallspraxis! Mit welchem Rechte empfiehlt das Reichs- Versicherungsamt den Berufsgenossenschaften die Uebernahme des Heilverfahrens während der Wartezeit und wie setzen diese es am Besten ins Werk? Vertrauensärztliche Studie aus dem gesammten Aktenmaterial der Sektion I der Schlesischen Bisen- und Stahl-Bern fs- genossenschaft für die Jahre 1885—1896. Dr. Bogatsch-Breslan. (Schluss.) Sind Verletzungen von Fingern hochgradig, wie dies be¬ sonders durch Quetschungen zwischen Walzen, durch Räder¬ werk jetzt häufig der Fall ist, so soll sich jeder Arzt, ehe er durch eine langdauernde Behand- ( lung einen derartigen Finger zu erhalten sucht, stets die Frage vorlegen, ob der Finger selbst im günstigsten Falle der Heilung dem Verletzten nicht eher ein Arbeits- hinderniss als eine Beihilfe für die Arbeit abgiebt. Er darf vor allem i V hierbei auch nicht ausser Acht lassen, dass bei älteren Leuten die unvermeidliche Ruhestellung auch der unverletzten Finger sehr leicht zu einer theilweisen oder gänzlichen Versteifung derselben führt. Entschlies8t sich der Arzt dagegen in solchen zweifelhaften Fällen frühzeitig zur Entfernung des verletzten Fingers, so ist bei glattem Heilungsverlauf schon nach kurzer Zeit die Operationsnarbe verheilt und damit die Ursache zur Versteifung der unverletzten Finger vermieden. Welche Summen ein zu konservatives Vorgehen des Arztes die Berufsgenossenschaften kosten kann, ersah ich bei dem dieser Arbeit zu Grunde liegenden . 23 Aktenstudium. Einem Verletzten Total versteifter Zeigefinger, Waren durch e , ine K"* 8 *®® ein welcher ein grosses Arbeite- Thel1 der Nagelglieder des 3.-5. hindern iss abgiebt. Nach- Fingers fast losgetrennt worden; trägliche Amputation. sie hingen nur noch an der Haut der Grifffläche. Der Arzt, in dessen Krankenhaus der Verletzte sofort gebracht wurde, hoffte dem Mann die Finger in normaler Länge erhalten zu können, nähte die Wunden und fixirte die Finger in gestreckter Stellung auf einem Holzbrettchen. Er erzielte hiermit allerdings, dass die fast abgetrennten Fingerkuppen wieder anheilten; da aber die Ruhestellung der Finger über 2 Monate gedauert hatte, war es zu einer gänzlichen Verwachsung derSehnen des oberflächlichen und tiefen Fingerbeugers mit ihren Sehnenscheiden gekommen, und auch eine medico-mechanische Nachbehandlung vermochte nur die Beweglichkeit des 2.-5. Fingers im Grundgelenk wieder herzustellen. Dem Manne musste, da er seine rechte Hand nur noch in sehr unvollkommenem Grade gebrauchen konnte, eine Rente von 50 Prozent zugesprochen werden, während er höch¬ stens eine Rente von 25 Prozent erhalten hätte, wenn die fast abgetrennten Fingerkuppen sofort abgeschnitten und die Finger- stümpfe durch Weichtheil genügend bedeckt worden wären. Nicht minder unangebracht war die konservative Be¬ handlung bei den beiden Verletzten, welche die nebenstehen¬ den Bilder demonstriren. Bei dem einen war es nach einer starken Quetschung des Zeigefingers zu einer vollständigen Versteifung sämmtlicher Fingergelenke ge¬ kommen, so dass der Finger mit dem zugehörigen Mittelhandknochen einen einzigen Knochen zu bilden schien. Der Verletzte war derartig bei der Ausübung seines Schlosserhandwerks behindert, dass er sofort in die Ab¬ setzung des Fingers einwilligte. Auch der zweite Verletzte liess sich seinen Kleinfinger entfernen, da ihm derselbe in der Stellung, in der er geheilt war, fast jeden Ge¬ brauch der Hand unmöglich machte. Welche Verheerungen die Zell¬ gewebsentzündung an den Fingern anrichtet, habe ich schon an an¬ derer Stelle durch Wort und Bild geschildert. Nicht selten begnügen sich die Aerzte damit, die durch die Entzündung zum Absterben ge¬ brachten Sehnentheile zu entfernen. Was soll aber der seiner Beugesehne beraubte Finger dem Verletzten noch nützen? Im Gegentheil, er ist bei vielen Verrichtungen direkt ein Hinderniss. Denn er hindert nicht selten die Gebrauchsfähigkeit der anderen Finger.und erregt bei XaekMlgliebe Amputation , kühlem Wetter stets Kältegefühl und (fa dcr xieinfimjer den Ge- Schmerzen. Man entschliesse sich brauch des 3. u. 4. Fingers daher auch in solchen Fällen recht- ganx auf hebt. zeitig zu einer Entfernung des un¬ brauchbar gewordenen Fingers, denn nach Beendigung der Zellgewebsentzündung lassen die Verletzten in Erinnerung an die eben überstandene langwierige Wundbehandlung nur sehr selten eine nachträgliche Amputation des Fingers zu. Bei Ausführung einer derartigen Operation sollte der behandelnde Arzt sich nicht begnügen, nur den versteiften Finger zu ent¬ fernen, sondern müsste dabei meist auch zugleich einen Theil des zugehörigen Mittelhandknochens mitabtragen. Wer häufig Gelegenheit hat, Fingerverletzungen in den verschiedenen Stadien der Heilung zu sehen, der erfährt, was sehr vielen nicht bekannt sein mag, dass die Finger unter einander sich in der richtigen Stellung erhalten. Schafft man nun zwischen zwei Fingern eine Lücke durch die Entfernung des zwischen¬ liegenden, so haben die erhaltenen Finger die Neigung, mit ihren Spitzen sich zu nähern. Dieses Abweichen der Finger Digitized by Google 32 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 2. von der normalen Richtung wird aber desto augenfälliger, je grösser die Lücke ist. Aber auch noch anderes muss der Arzt, wenn er bei Hand- und Fingergelenkverletzungen gute Heilresultate er¬ zielen will, berücksichtigen. Vor allem muss er bei allen älteren Leuten, welche zu Rheumatismus und Gicht neigen, und bei denen sich Andeutungen von Dupuytren’scher Sehnen¬ kontraktur finden, auf das Bestimmteste vermeiden, die Finger beim Anlegen des Verbandes stets in derselben Stellung zu fixiren. Hier kommt es ganz auffallend schnell zu Ver¬ wachsungen der Sehnen mit den Sehnenscheiden, die, wenn sie erst fest geworden sind, durch keine Heilmethode mehr beseitigt werden können. Wie schnell die Verlöthung eintritt, sah ich voriges Jahr bei einem Verletzten der chemischen Industrie-Berufsgenossenschaft, welcher in Folge einer Hand¬ quetschung drei Wochen lang in halb gekrümmter Stellung j Fig. 25. Quetschung der r. Hand, besonders des Daumens. Unfähig¬ keit, kleine Gegenstände mit dem r. Daumen und Zeigefinger , ebenso wie mit den unverletzten linken Fingern zu erfassen. der Finger einen Verband getragen hatte. Als er in der vierten Woche nach dem Unfall in unserem Institut erschien, konnte er die Finger aus der innegehabten Stellung heraus weder weiter beugen noch strecken. Da ich glaubte, er wolle mir eine Bewegungsbehinderung Vortäuschen, ergriff ich seine Hand, um passive Bewegungen der Finger auszuführen. Bei dem Streckversuch schrie der Verletzte laut auf, zugleich fühlte ich mit meiner in der Hohlhand liegenden linken Hand ein Knirschen, als wenn Verwachsungen gelöst würden. Jetzt konnte der Verletzte, nachdem der Schmerz abgeklungen war, zu seiner Freude die Finger sofort etwas bewegen und schon nach acht Tagen war er im Stande, sie in vollständig nor¬ maler Weise zu beugen und zu strecken. Wäre er in der üb¬ lichen Weise erst nach Ablauf der Karenzzeit nach Breslau gekommen, so wäre er sicher zeitlebens im Gebrauch seiner verletzten Hand wesentlich beeinträchtigt geblieben. Sehr zeitig muss der Arzt bei Handverletzungen seine Aufmerksamkeit auch den kleinen Mittelhand- und Finger* muskeln zuwenden. Geschieht das nicht, so tritt sehr häufig eine Insuffizienz dieser Muskeln ein. Handelt es sich hierbei um die kleinen Muskeln des Daumens, so verlieren solche Verletzte die Fähigkeit, in normaler Weise kleine Gegenstände mit den Spitzen von Daumen und Zeigefinger zu erfassen; sie können das Erfassen und Festhalten, dann nur noch so ausführen, dass sie sie mit der Daumenkuppe gegen die Aussenfiäche des Nagelgliedes vom Zeigefinger drücken. Fig. 26. Quetschung der r. Rand. Unfähigkeit, die Finger in nonnaler Weise zur Faust zu schliessen. (5. Bild 25.) Besonders schwer trifft eine derartige Unfallsfolge Frauen, welche durch Nähen, Sticken ihren Unterhalt er¬ werben, oder Männer, welche z. B. der Feinmechanikbranche angehören. Betrifft die Schädigung die Geigermuskeln, so ver¬ liert der Verletzte die Fähigkeit, die Finger im Grundgelenk in normaler Weise zu beugen, wodurch es schliesslich zur völligen Versteifung der Grundglieder kommen kann; solche Menschen sind aber dann nicht mehr im Stande, Gegenstände mit der vollen Faust zu erfassen. Fig. 27. Unfalls folg, durch frühzeitige Nachbehandlung beseitigt. Beide Schädigungen werden bei der Untersuchung Ver¬ letzter und bei der Rentenabschätzung leider häufig übersehen. Durch eine rechtzeitig eingeleitete elektrische und heilgym¬ nastische Kur ist oft eine vollständige Wiederherstellung des Verletzten möglich, wie die nebenstehenden Bilder zeigen. Digitized by LjOOQie 15. Januar 1900. Aerztliehe Sachverständigen*Zeitung. 33 Schliesslich möchte ich noch von Nervenverletzungen die Verletzung des Ellennerven erwähnen, welche zuweilen dicht oberhalb des Handgelenks bei Stahlarbeitern durch abgesprun¬ gene Stahlsplitter bedingt werden. Während es jetzt leicht ist, derartige Verletzungen zu diagnosticiren, war es früher vor Entdeckung der sogenannten Röntgenstrahlen nicht mög¬ lich. Ich entsinne mich noch deutlich eines Verletzten, welcher im Jahre 1892 beim zusammennieten grosser Eisentheile eine Verletzung in der Nähe des Handgelenks erlitten hatte, und bei dem sich trotz eingeleiteter Behandlung mittelst Elek¬ trizität ein hochgradiger Schwund der vom Ellennerven versorgten kleinen Handmuskeln entwickelt hatte. Erst im Jahre 1897, als er wieder einmal zur Nachuntersuchung mir zugeschickt wurde, konnte ich feststellen, dass ein kleiner Stahlsplitter noch immer im Nerven festsässe, der unbedingt seiner Zeit eine Durchtrennung des Nerven bewirkt hatte. Wäre damals schon diese genaue Diagnose möglich gewesen, so hätte möglicherweise durch Anlegung der Nervennaht die dauernde Erwerbsbeeinträchtigung des Verletzten vermieden werden können. — Die vorstehende Arbeit ist im Jahre 1898 von mir in An¬ griff genommen worden, um dem Vorstande der Sektion I der Schlesischen Eisen- u. Stahl - Berufsgenossenschaft den Nach¬ weis zu liefern, dass das von der Sektion gehandbabte Ver¬ fahren bei der Uebernahme des ersten Heilverfahrens und der medico-mechanischen Nachbehandlung in der That gleich- mässig den Interessen der Verletzten und der Berufsgenossen- sohaft dient. Die Arbeit war mithin nur für einen kleinen bestimmten Leserkreis bestimmt. Die in der letzten Zeit gerade von der Zentrale Berlin ausgehenden Veröffentlichungen ver¬ schiedener Berufsgenossenschaften über die günstigen Resultate des von ihnen eingeschlagenen Verfahrens bei der Uebernahme des Heilverfahrens reiften in mir der Entschluss, den interes- sirten Kreisen zu zeigen, dass auch fernab von dem Getriebe der Hauptstadt den für die Berufsgenossenschaften brennendsten Punkten die vollste Aufmerksamkeit zugewandt wird. Ich habe daher die aus dem Studium von über 2000 Akten zu Tage geförderten Resultate, sowie meine auf einer mehr als 13 jährigen Thätigkeit als berufsgenossenschaftlicher Ver¬ trauensarzt beruhenden Erfahrungen einem weiteren Leser¬ kreise zugängig gemacht. Wenn ich mit meiner Arbeit etwas zur weiteren Klärung des viel umstrittenen Punktes der Uebernahme des ersten Heilverfahrens beitragen sollte, so würde mir dies ein reichlicher Lohn für die auf ihre Ab¬ fassung verwendete Zeit und Mühe sein. Referate. Allgemeines. Selbstmord durch Erhängen oder Mord durch Schlag auf den Kopf! Fakultätsgutachten, mitgetheilt von Dozent Dr. Vladim-Slavik. (Wiener klinische Randsch&u No. 47, 1899.) Das im Nachstehenden wiedergegebene Fakultätsgutachten hatte die von zwei Gerichtsärzten in verschiedenem Sinne beantwortete Frage, ob es sich im gegebenen Falle um einen Selbstmord durch Erhängen oder um einen Mord durch Schlag auf den Kopf handelte, zu entscheiden. Auch ohne Voraus¬ schickung genauerer Details dürfte die Entscheidung verständ¬ lich sein, da sich die näheren Umstände und fraglichen Punkte aus dem Gutachten selbst ergeben. Dasselbe lautet: I. Bei der Sektion des Franz B. (eines 13jährigen Knaben) wurden zwei Gruppen von Veränderungen gefunden: A. Ueber den ganzen Körper ausgebreitete Todtenflecke; Augenlider livid verfärbt; am Halse, welcher vom Hemde entblösst war, eine unterbrochene Strangulationsfurche, welche bis zur Mitte der Kopfnicker reichte und unter welcher nirgends Blutaustritte konstatirt werden konnten; die Gehirnmasse „etwas erweicht“ und blutreich; in den Blutleitern und Halsgefässen dunkel- rothes resp. schwarzbraunes dickflüssiges Blut; Lungen ange¬ wachsen, das Lungengewebe oedematös; die Schleimhaut des Kehlkopfes und der Bronchien mit röthlichem Schleime bedeckt; in der rechten Herzkammer eine geringe Menge geronnenen Blutes. B. Auf dem rechten Oberschenkel drei »Streifen“ von bläulicher Farbe mit bräunlichem Saume; über dem linken Scheitelbeine eine Suffusion von mehr als Linsengrösse, eine zweite von Hellergrösse; eine Suffusion über dem ganzen Hinterhaupte; zwischen harter Hirnhaut und den weichen Gehirnhäuten ein Blutaustritt von Guldenstückgrösse. II. Da keine krankhaften Veränderungen vorgefunden wurden, in Folge deren der Tod hätte eintreten können, ist die Ansicht gerechtfertigt, dass es sich um einen gewaltsamen Tod handelt. Es ist zu entscheiden: a) ob als Todesursache die gefundenen Verletzungen zu betrachten sind, wie die Gerichtsärzte in Ch. behaupten, oder b) ob es sich um eine andere Art der Tödtung handelt. Ad a) Die konstatirten traumatischen Veränderungen können nicht als Todesursache angesehen werden, weil sie von unbedeutender Ausdehnung sind, und weil weder Schädel¬ knochen, noch grössere, »im Schädelraume liegende Gefässe oder das Gehirn verletzt wurden“. Uebrigens kann betreffs der Kopfverletzungen nicht nachgewiesen werden, ob sie während des Lebens, in der Agonie oder nach dem Tode ent¬ standen sind, da diese Blutaustritte nicht näher beschrieben sind. Die Möglichkeit, dass sie durch einen Sturz des Sterben¬ den oder des Todten entstanden sind, kann nicht ausge¬ schlossen werden; eine solche Entstehungsart wäre hier um so leichter möglich, als in der Schädelhöhle ein grösserer Blutreichthum, die Hirnmasse blutreich und die weichen Schädeldecken beträchtlich imbibirt gefunden wurden. Ad b): Da folglich die Vorgefundenen traumatischen Ver¬ änderungen nicht als Todesursache angesprochen werden können, handelt es sich darum, Symptome zu finden, welche auf eine andere Todesart hinweisen würden. Die sub A an¬ geführten Veränderungen können Zeichen von Erstickung sein, und zwar in Folge des Erhängens. Da in diesem Falle keine Zeichen vorgefunden wurden, welche für eine andere Art des Erstickungstodes oder überhaupt für eine andere gewaltsame Todesart sprechen würden und da ein Befund vorliegt, welcher mit dem Befunde beim Erstickungstode in Folge Erhängens in vieler Hinsicht übereinstimmt, so ist der Tod durch Er¬ hängen hier als sehr wahrscheinlich anzunehmen. Für diese Todesart würden sprechen: der um den Hals vermittelst einer Schnalle befestigte Riemen, dessen Ende augenscheinlich abgerissen ist, und der Befund des zweiten Theiles des Riemens, welcher auf einem Zweige der Eiche befestigt war, unter welcher die Leiche lag. Ferner würden dafür Umstände sprechen, aus welchen hervorgeht, dass F. B. an diesem Aste hing und, als der Riemen riss, herunterfiel, was auch die Lage der Leiche beweist. Ein weiteres An¬ zeichen für diese Todesart wäre die unterbrochene Strangu¬ lationsfurche, welche sich bis zur Mitte der Kopfnicker hinzieht. Die Gerichtsärzte in Ch. gaben freilich das Gutachten ab, dass das Strangulationswerkzeug erst nach dem Tode ange¬ legt wurde; sie wurden zu dieser Ansicht durch das Fehlen von Blutaustritten im Unterhautzellgewebe und im Bindegewebe zwischen den Muskeln des Halses und durch das Fehlen einer Digitized by Google 34 A er zt liehe Sach verständigen-Zeitung. No. 2. Kehlkopfverletzung verleitet. Es ist richtig, dass sich beim Tode durch Erhängen Muskelrisse vorfiuden, manchmal auch Blutaustritte in ihrer Umgebung, Frakturen der Kehlkopf¬ knorpel, beziehungsweise des Zungenbeines, hin und wieder auch mit Blutaustritten in die Arterien des Halses und mit kleinen Rissen in ihrem Endothel, aber ein solcher Befund ist nicht die Regel; in einer grossen Anzahl von Fällen treten solche Veränderungen nicht ein, weshalb daher nicht aus ihrem Fehlen dahin geurtheilt werden darf, dass der Tod nicht in Folge Erhängens eingetreten ist, dass also in diesem Falle das Strangulirungswerkzeug erst nach dem Tode angelegt wurde. Blutaustritte im Unterhautzellgewebe am Halse sind bei Erhängten ein sehr seltener Befund. Für den Tod durch Erhängen würden noch weiter sprechen: die ausgedehnten, über den ganzen Körper verbreiteten Todten- flecke, die livide Verfärbung der Augenlider, alle konstanten Umstände, in Anbetracht welcher es ausgeschlossen werden kann, dass F. B. auf eine andere Weise getödtet und dann aufgehängt wurde. F. B. wurde vor der Mittagszeit von der Mutter gezüch¬ tigt, er ass nichts zu Mittag, aber steckte ein Stück Brot in den Sack, äusserte sich gegenüber seinem jüngeren Bruder, dass er sich in der Elbe ertränken werde — und Nachmittags wurde er vermisst, worauf ihn die Mutter sofort suchte (auf diese hatte sich der Verdacht der Thäterschaft gelenkt) und es auch überall anzeigte. Beim Lokalaugenschein wurden am Thatorte keine Zeichen eines Kampfes oder einer Gegenwehr gefunden. Auch an der Leiche fehlten solche; ebenso war die Kleidung unversehrt, die Hose war heruntergestreift, weil der Riemen zum Erhängen verwendet wurde. Wie aus dem Lokal¬ befund und den Zeugenaussagen hervorgeht, hing die Leiche an einem Aste von 4 cm im Durchmesser, in einer Höhe von 2 m und in einer Entfernung von 8 cm vom Stamme, also an einem Orte, an welchen der Selbstmörder leioht gelangen konnte, welcher aber für eine andere Person, die die Absicht hätte, die Leiche oder den in Folge eines Schlages auf den Kopf vielleicht bewusstlosen Knaben aufzuhängen, schwer zu¬ gänglich war. III. Aus allen konstatirten Umständen ist zu schliessen, dass es sich in diesem Falle um ein Erhängen in selbstmörderischer Absicht handelt. IV. Alle Kopfverletzun¬ gen können leicht durch den nach Reissen des Riemens er¬ folgten Sturz des Knaben, welcher entweder schon todt war oder in der Agonie sich auf dem Erdboden befand, erklärt werden. V. Die drei Streifen auf dem rechten Oberschenkel, welche im Obduktionsbefund ausführlicher beschrieben werden, sind während des Lebens entstanden. Ihr Sitz und Aussehen stehen in vollem Einklang mit der Angabe der Mutter, dass sie den Knaben Vormittags wegen Ungehorsams mit einem Peitschenstiel gezüchtigt habe. Diese Streifen sind als leichte körperliche Verletzung anzusehen. -y. Die Kranbenfursorge der Versicherungsanstalt Berlin im Berichtsjahre 1898. Von Dr. Julius Rothholz, Leiter d. statist. Bureaus d. Vors.-Anst. Berlin. (Die Arbeiterversorgung No. 33, 1899.) Wir entnehmen der uns vorliegenden Arbeit einige Zahlen¬ angaben, aus denen erhellt, in welchem Umfange die Ver¬ sicherungsanstalt „Berlin“ von ihrem Rechte, nach § 12 I. V. G. die Krankenfürsorge zu übernehmen, Gebrauch macht. Wäh¬ rend sich die Beträge für Invaliden- und Altersrenten zu¬ sammen noch nicht auf 700 000 Mark belaufen, wurden für Krankenfürsorgezwecke allein im vergangenen Jahre rund 800 000 Mark aufgewandt, wovon allerdings 560 000 Mark ein¬ malige Ausgaben für die neu zu errichtenden Heilstätten bei Beelitz darstellen. Der Bericht über die im Sanatorium Güter- gotz entfaltete Thätigkeit lautet recht erfreulich. Diese der Versicherungsanstalt für die Unterbringung von nicht tuber¬ kulösen, männlichen Kranken zur Verfügung stehende Anstalt war durch die Errichtung von 3 Döcker’schen Baracken in der Lage, die Belegungsziffer erheblich zu steigern. Gegenüber 279 Patienten im vorhergehenden Jahre, konnten im Berichts¬ jahre 339 aus der Behandlung entlassen werden. Der Mehr¬ zahl nach waren die Kranken verheirathet; an der Wieder¬ herstellung ihrer Ernährer waren 265 Frauen mit 477 un¬ mündigen oder arbeitsunfähigen Angehörigen interessirt. Um die in Behandlung sich befindenden von der Sorge für Weib und Kind zu befreien, beliess die Versicherungsanstalt ihnen das Krankengeld und verlieh im Bedarfsfälle auch besondere Familienunterstützungen. Für diesen Zweck wurden 4700 Mark verausgabt. Was die Heilerfolge betrifft, so konnten von den 339 Patienten 297 als erwerbsfähig entlassen werden, darunter waren 169 geheilt und 128 gebessert. 32 Prozent der Kranken litten an Affectionen der Haut, Knochen und Gelenke (meist Gelenkrheumatismen), 26 Prozent an Nervenkrankheiten, 15 Prozent an Krankheiten der Respirationsorgane (Tuberkulöse sind ja ausgeschlossen). Die Verpflegungsdauer belief sioh im Durchschnitt auf annähernd 80 Tage pro Fall, die Unkosten betrugen für jeden Verpflegungstag rund 4,20 Mark pro Kopf. Von den bisher seit Bestehen der Anstalt zur Entlassung ge¬ kommenen 980 Personen beziehen ungefähr 19 Prozent eine Invalidenrente; einer grossen Anzahl von Versicherten ist dem¬ nach durch Uebernahme des Heilverfahrens die Arbeitsfähig¬ keit erhalten geblieben. Auch zur Bekämpfung der Lungenschwindsucht ist seitens der Versicherungsanstalt viel gethan worden. Im Berichts¬ jahre kamen 266 männliche und 94 weibliche Lungentuber¬ kulose zur Entlassung. Besondere Anerkennung verdient das liberale Verfahren, die Vorzüge der Anstaltsbehandlung allen geeigneten Kranken zu Gute kommen zu lassen, ohne Rück¬ sicht auf die Höhe der geleisteten Beiträge. Die Männer wurden in den Heilstätten des rothen Kreuzes, in Görbers- dorf, Loslau und Andreasberg, die Frauen zumeist in Görbers- dorf behandelt. Die Kur dauerte durchschnittlich 3 Monate und verursachte im Ganzen 130 000 Mark Unkosten. Ueber 80 Prozent der Kranken konnten als erwerbsfähig entlassen werden; ob der erzielte Erfolg ein nachhaltiger ist, muss natür¬ lich erst die Zukunft lehren. —y. Chirurgie. Ueber die akute infektiöse Osteomyelitis der Wirbel. Von Dr. Otto Hahn. (Aas der Tübinger chirurgischen Klinik des Prof. Dr. von Brans.) (P. von Bruns. Beiträge zur klinischen Chirurgie. 25. Bd. 1. Heft. 8. 170.) Unter den bis jetzt bekannten 41 Fällen ist das männ¬ liche Geschlecht doppelt so häufig vertreten als das weibliche. Auch bei dieser Lokalisation der Erkrankung zeigt der jugend¬ liche, im Wachsthum befindliche Knochen die grösste Häufig¬ keit. Die Halswirbel waren 7 mal, die Brustwirbel 12 mal, die Lendenwirbel 17 mal, das Kreuzbein, hier namentlich die Massae laterales, 5 mal betroffen. Das relativ häufige Auf¬ treten der Osteomyelitis in den Lendenwirbeln begründet sich durch die häufigen Insulte, denen sie ausgesetzt sind. 6 mal wird ein vorausgegangenes Trauma als Ursache der Erkran¬ kung angegeben, während 15 mal betont ist, dass ein Unfall nicht vorherging; in den übrigen Fällen fehlt eine Angabe. Die Verletzungen waren: Tragen eines schweren Gegenstandes 3 mal, Fall auf die Seite 1 mal, Schlag auf den Rücken 1 mal, DigitizecLby toiOOQie 15. Januar 1900. Aorztliehe Sachverständigen-Zeitung. 35 Schlag auf den Rücken und Fall 1 mal. Es waren betroffen die Wirbelkörper 14 mal, Wirbelkörper und Dornfortsätze 1 mal, die Wirbelbogen 3 mal, Bogen- und Dornfortsätze zu¬ sammen 3 mal, Bogen, Dornfortsätze und Querfortsätze zu¬ sammen 2 mal, Dornfortsatz allein 1 mal, Dornfortsatz und beide Querfortsätze 1 mal, Querfortsatz und zwar je einer allein 6 mal, Zahnfortsatz des Epistropheus und Qelenkflächen des Atlas 1 mal; der ganze Wirbel zeigte sich erkrankt 3 mal. Die Wirbelkörper waren 14 mal, die übrigen Abschnitte des Wirbels zusammengenommen 18 mal ergriffen, während sich der ganze Wirbel 3 mal befallen zeigte. 21 Fälle von Wirbel- osteomyelitis kamen zur Autopsie. Die Rückgratshöhle und ihr Inhalt waren in 12 Beobachtungen betheiligt, lOmal fanden sich Eiteransammlungen im Wirbelkanal. Bakteriologisch wurden 12 mal Staphylokokken nachgewiesen, der Staph. pyo¬ genes aureus 7 mal, der Staph. pyogenes albus 2 mal. In den Fällen, wo der Staph. pyogenes aureus nachgewiesen war, war der Verlauf des Leidens ein recht akuter. Der in der Hälfte der Fälle plötzlich eintretende Beginn des Leidens macht Erscheinungen einer akuten Infektionskrankheit. Manchmal ist der Beginn weniger stürmisch, ja schleichend. Die Lokalisation der Schmerzen in der Wirbelsäule ist oft unbestimmt. Die Schwellung der Weichtheile ist abhängig von dem Sitz der Krankheit im Wirbel. Durchbruch von Eiter nach hinten findet sowohl bei Erkrankung der Wirbel¬ bogen und Fortsätze, als, wenn auch seltener, bei Erkrankung der Wirbelkörper statt. Im letzteren Falle verbreitet sich meist die Eiterung nach vorn und abwärts von den Wirbel¬ körpern mit ev. Durchbruch in Brust-, Bauch- und Rücken¬ markshöhle. Bei Halswirbelerkrankung kann sich ein Retro¬ pharyngealabszess bilden. Die tiefliegenden Abscesse führen vielfach zu Pyaemie. Die Erscheinungen vom Abdomen (Me¬ teorismus, starke Schmerzhaftigkeit im Leib) geben Anlass zur Verwechselung mit Typhus abdominalis und Peritonitis, auch Meningitis, Pneumonie, Pleuritis, Landry'sche Paralyse wurde diagnostizirt. Kontrakurstellung der Hüfte der be¬ troffenen Seite findet sich gerade so wie bei tuberkulösen Kongestionsabscessen. — Von den mitgetheilten Fällen sind 15 geheilt, 26 (60pCt.) gestorben. Von den geheilten Fällen waren 8 mal die Bogen und deren Fortsätze, 5 mal die Körper ergriffen, während in den tödtlich verlaufenen Fällen 13 mal die Körper ergriffen waren, darunter 3 mal mit gleichzeitiger Betheiligung der Bogen und 6 mal die Bogen und Fortsätze für sich, davon 2 mal die Querfortsätze allein. Lumbaltheil- und Kreuzbeinerkrankungen zeigen den grössten Prozentsatz an Todesfällen. 8 mal erfolgte völlige Heilung, die Dauer der Heilung währte durchschnittlich 2 3 ,/ 4 Monate. Verfasser giebt folgende Schlusssätze: 1. die akute Osteomyelitis der Wirbel nimmt keine Aus¬ nahmestellung ein gegenüber der anderer Knochen, was Vor¬ kommen, Aetiologie und Verlauf betrifft, jedoch weist sie in vielen Fällen schwere Komplikationen auf, bedingt durch das Uebergreifen der Eiterung auf die benachbarten Körperhöhlen und die nervösen Centralorgane. 2. Die Diagnose kann bei Berücksichtigung der bekannten Kennzeichen in den meisten Fällen gestellt werden; unüber¬ windlichen Schwierigkeiten kann sie begegnen durch früh¬ zeitiges Uebergreifen auf Rückenmark und Gehirn oder sonstige Komplikationen sowie durch frühzeitig einsetzende Pyaemie. 3. Die Prognose ist meist abhängig vom Charakter der Infusion und dem Allgemeinzustand des Patienten, vom Sitz an den einzelnen Abschnitten der Wirbelsäule und den ver¬ schiedenen Theilen der Wirbel, vom frühen Erkennen und Eingreifen. 4. Die Therapie greife so frühzeitig ein, als die Schwie¬ rigkeit der Diagnosestellung es im einzelnen Falle erlaubt, und sei möglichst aktiv. Sie hat jedoch da ihre Grenzen, wo der Prozess schon weit übergegriffen hat auf die Centralor¬ gane oder wo sonstige schwere Komplikationen bestehen namentlich bereits Pyämie eingetreten ist. G. Die Behandlung der Bückenmarksverletznngen. Von Dr. P. Stolper-Breslau. (AUgem. Med. Centralstg. 1898, No. 56/57.) I. Die Fürsorge für das Rückenmark selbst. Die grösste Rolle für die Ausdehnung der Verletzung spielt die Quetschung des Mark im Augenblick der Verletzung. Die nachträglichen Massnahmen — Reduktion und Trepanation — können nur den Zweck haben, die Formveränderung des Knochengerüsts zu beseitigen und durch Begünstigung der Blutzufubr die Heilungsmöglichkeit zu verbessern. Bei Ver¬ stauchungen und vielen Brüchen geht die Formveränderung von selbst zurück, bei reinen Verrenkungen ist die Einrenkung nach bestimmten Regeln ausführbar; bei den Knickungen der Wirbelsäule drückt meist schon ein Kissen den Höcker weg, und in den ganz schweren Fällen von völliger Uebereinander- schiebung, bei denen die Seitentheile sich gegen einander stauchen und eine Graderichtung verhindern, hat diese doch keinen Zweck, denn jegliches Festhalten der etwa gewinn¬ baren Stellung verbietet sich durch den unvermeidlichen Druckbrand. In leichteren Fällen gilt es zunächst, die wieder hergestellte Stellung zu sichern. Hierzu ist das beste Mittel ein für sechs bis acht Wochen angelegter Zug und Gegenzug. Verletzte Halswirbel sind sehr vorsichtig zu behandeln, gleich¬ zeitig durch einen Kragenverband grade zu halten und nicht zu früh passiv zu bewegen, auch wenn scheinbar blos eine Verstauchung vorlag. Die neuerdings viel empfohlene Eröff¬ nung des Wirbelkanals Frischverletzter ist in Fällen wirklicher oder scheinbarer Querschnittsdurchtrennung gefähr¬ lich — denn es bildet sich Druckbrand aus, der zu einer In¬ fektion der Rückenmarkshäute die günstigste Gelegenheit giebt —, bei völliger Durchtrennung nutzlos — denn die Nervenbahnen heilen nicht zusammen — und bei unvoll¬ kommener überflüssig — denn Reduktion durch Zug leistet hier dasselbe. Wenn man annimmt, dass nach gut reduzirten Rückgratsverletzungen irgend welche Theile dauernd weiter auf das Mark drücken, so geht man von falschen Vor¬ aussetzungen aus. Die Wirbelsäule ist ein sehr elastischer Körper, dessen Form im Moment der Verletzung zwar sehr verändert wird, im nächsten, aber durch Zurückschnellen mehr oder weniger zur Norm zurückkehrt. Die Wirbel sind von einer, vorn und hinten besonders kräftigen Brandmasse wie von einem Schlauch umgeben, der, auch wenn sie zerbrochen sind, ihre Theile so zusammenhält, dass durch Zug und Gegen¬ zug jede Form Veränderung am besten ausgeglichen wird und dass abgesprengte Knochentheile stets innerhalb des „Schlauche“ bleiben. Wegen etwaiger, von aussen auf das Mark drücken¬ der Blutung zu trepaniren, ist ebenfalls ungerechtfertigt, da eine solche nur in Verbindung mit schweren Brüchen und rettungsloser Querschnittslähmung entsteht. Freilegung des Rückenmarks am Frischverletzten ist nur ange¬ zeigt bei Wirbelbogenbruch, Schussverletzung des Rückenmarks und bei Stichverletzungen, wenn man vermuthet, dass ein Stück des Stichwerkzeugs stecken geblieben ist. Die späte Trepanation ist gerechtfertigt, wenn nach anfäng¬ lichem Rückgang der Lähmungen eine Verschlim¬ merung eintritt, die auf Verwachsungen zurückgeführt wer¬ den könnte. II. Die Fürsorge für die gelähmten Körpertheile. Digitized by Google 36 Aerztiiche Sach verständigen-Zeitung. No. 2. Hier ist das Meiste als bekannt vorauszusetzen, nur Einiges besonders zu erwähnen. Der Druckbrand ist nicht ganz zu verhüten. Sorgfältige Beschränkung jeden Drucks aufs Mindestmass und, sobald Gewebe abgestorben ist, geeignete Behandlung (Liq. Alutn. acet., Höllensteinsalbe mit Perubalsam) — das ist die Hauptsache. Nur kein flxirender Verband! Die Blasen- und Nierenstörungen fuhrt St., soweit sie bald nach der Verletzung auftreten, nicht auf einen aufsteigenden Prozess, sondern auf eine unter dem Einfluss der plötzlichen Kreislaufsstörung sich rasch entwickelnde, gleichzeitige Ne¬ phritis und Cystitis desquamativa zurück, die sich günstigen¬ falls rasch ausgleicht, vielleicht aber manchmal Ursache spä¬ terer Steinbildung ist. Mikroskopische Untersuchungen des Harns bei Lebenden und der Organe an der Leiche haben ihn zu dieser Anschauung geführt. Dem Verweilkatheter und der fortwährenden Drainage zieht er den einfachen Catheterismus vor, dem er jedesmal eine Ausspülung der Harnröhre voraus¬ schickt. Bezüglich der Darmlähmung ist daran zu erinnern, dass auch Lähmungen höherer Darmabschnitte Vorkommen, die von manchen Formen des Darmverschlusses und der Bauchfellentzündung so schwer zu unterscheiden sind, dass manchmal die Wirbelverletzung darüber ganz übersehen und ein verfehlter Eingriff im Bauche vorgenommen wird. Zum Schlüsse bemerkt Verf., dass noch viel Kleinarbeit nöthig sein wird, bis völlig klare Diagnosen über die Aus¬ dehnung und damit auch Anzeigen für die Behandlung von Rückenmarksverletzungen gestellt werden können. F. L. Ein Fall von Atrophie des rechten^Armes nach Trauma des linken Armes. Demonstration im Wiener medizin. Klub von R. Kienböck. (Wiener klinische Rundschau No. 45, 1899.) Ein 32jähriger Bauer, wolcher vorher gesund und zu schwerster Arbeit fähig gewesen sein soll, fiel Ende August von einem Wagen U /2 Meter hoch herab, das Wagenrad ging über den linken Arm, was eine komplizirte Fraktur des distalen Humerusendes zur Folge hatte. Das Bewusstsein war einige Zeit aufgehoben, nach dem Wiedererwachen konnte sich der Verletzte jedoch nach Hause begeben. Der rechte Arm blieb von dem Trauma zunächst unberührt und war in keiner Weise in seinen Bewegungen beschränkt. Auch sonst sollen keine Lähmungserscheinungen aufgetreten sein. Nach den Angaben des Kranken fing jedoch der rechte Arm schon wenige Tage nach der Verletzung an, magerer zu werden; seit einigen Wochen habe die Abmagerung keine Fortschritte mehr ge¬ macht. Der gegenwärtige Befund ist folgender: Der rechte Arm ist erheblich atrophisch, namentlich die Fingermuskulatur, soda88 die Bewegungen im Handgelenk und die der einzelnen Finger eine erhebliche Beschränkung erfahren haben. Da¬ gegen ist die Sensibilität normal, die tiefen Reflexe sind ge¬ steigert; sonst bestehen keine Störungen im Bereich des Ner¬ vensystems, namentlich ist der linke, verletzte Arm frei von Atrophie. Bei der Beurtheilung dieses interessanten Falles könnte man an eine links ascendireude und vom Rücken¬ mark aus rechts descendirende Neuritis denken, doch ist dieser Gedanke angesichts der Intaktheit des linken Armes abzu¬ weisen. K. ist geneigt, den Fall als eine chronische Polio¬ myelitis anterior anzusehen, entstanden auf dem Boden einer angeborenen Schwäche der Vorderhornzellen des Rücken¬ markes (darauf deutete auch die schwach entwickelte Musku¬ latur der unteren Extremitäten), welche die Disposition zu der Erkrankung unter dem Einflüsse des Trauma abgegeben hat; für eine gröbere Laesion des Rückenmarkes durch das Trauma selbst lag kein Anhaltspunkt vor. —y. Ueber partielle, subkutane Zerreissung einer Beuger¬ sehne am Vorderarm mit sekundärer Bildung einer ganglionähnlichen Degenerationscyste. Von Dr. Thorn. (Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 68, H. 4.) T. leitet seine Arbeit ein mit einem Hinweis auf eine, schon früher von ihm beschriebene, den Ganglien zuzurech¬ nende Cyste innerhalb einer Strecksehne. Er fand damals makroskopisch sowohl die transparente Balgwand und den charakteristischen Cysteninhalt, als auch mikroskopisch die proliferativen und degenerativen Gewebsvorgänge. Von praktischem Interesse ist eine derartige intratendinöse Cystenbildung, weil sie bei dem fortschreitenden Erwei¬ chungsprozess bei einem schwächeren oder stärkeren Trauma schliesslich zur Sehnenruptur führen muss. Gewissermassen der umgekehrte Verlauf wurde von T. in dem 2. hier genauer beschriebenen Falle beobachtet. Ein 20 jähriger, bisher gesunder Schriftsetzer fiel im April 98 beim Turnen vom Reck herab auf die Beugeseite der Finger und die linke Hohlhand. Es traten sofort heftiger Schmerz in der Hand und dem Vorderarm auf, zusammen mit einer diffusen Schwellung an der Flexorenseite des Vorderarms. Letztere soll allmählich bis zur Ellenbeuge gegangen sein. Durch Massage und Umschläge ging die Schwellung langsam zurück, dagegen blieb ein Defekt der Flexibilität der Finger II—V und des Handgelenkes derart, dass beim Versuche das Radiokarpalgelenk zu beugen oder eine Faust zu machen, beides nur in beschränktem Masse möglich war und Schmerzen verursachte. Der Mann hatte dabei das Gefühl, als ob sich ein beweglicher Körper am Handgelenk zwischen die Sehnen schöbe. Bei seiner Aufnahme 8 Monate später befand sich auf der Volarseite des linken Karpalgelenkes, ungefähr in dessen Mitte, etwas aufwärts vom proximalen Rande des Lig. carpi transv. vol. eine fast knochenharte Anschwellung von der Grösse und Form einer halben Pflaume, welche unter den Beugesehnen zu liegen schien und sich in gewissem Grade hin und her verschieben liess. Bei der Operation sah man nach Durchtrennung der Haut über der Geschwulst eine mit glashellem Inhalt erfüllte Cyste unter der Gliedfascie zwischen den oberflächlichen Beugesehnen liegen. Die Cyste riss beim soliren ein und entleerte einen gelatinösen, wasserhellen In¬ halt. Die Wand des überall abgeschlossenen Hoblraumes war von der gemeinsamen derben aponeurotischen Scheide der ober¬ flächlichen Beugersehnen gebildet. In dem Cystenhohlraum und an dessen proximalem und distalem Ende fest mit der innersten Wandschicht zusammenhängend, im Uebrigen duroh den sulzigen Inhalt von der Cystenwand getrennt, lag die Sehne, die Portio II, des oberflächlichen Fingerbeuges. Das mittlere Stück der Sehne hatte den silberigen Glanz verloren, seine Oberfläche war rauh, vielfach aufgefasert und hatte im Querdurchmesser eine vollständig unregelmässige Gestalt. Eine mikroskopische Untersuchung ergab, dass ein partieller Sehnenriss Vorgelegen hatte, welcher nur die äussersten Schichten der Sehne betroffen hatte. Peripher sah man stellenweise keine Spur von typischer Sehnenstructur, sondern nur degenerirende und proliferirende Gewebspartieen, während im Zentrum die regelmässigen, vorwiegend parallel gefaserten Fibrillenbündel mit den langgestreckten Kernen praevalirten. Der Entartungsprozess entsprach der Koagulationsnekrose. Es bestanden nach dem mikroskopischen Ergebniss zur Zeit der Operation noch degenerative Prozesse im Sehnengewebe, deren Ursprung wohl zweiflfellos das vorausgegangene Trauma gewesen ist, weil sie gerade die Teile der abgesprengten und durcheinandergeworfeneu Faserbündel betrafen, Digitized by Google 15. Januar 1900. Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. 37 Das pathologische Bild eines quer durch die Wand der Cyste gelegten Schnittes ergab Degeneration und Proliferation mit stellenweise enormer Gefässneubildung. Sehne und peri- tendinößes Bindegewebe hatten demnach auf Grund des gleichen Traumas dieselben Veränderungen durgemacht, die ähnliche der Ganglienbildung zur Bildnng eines cystösen Hohlraumes geführt haben. Subkutane Rupturen stärkerer Sehnen am Vorderarm sind gewiss selten, dagegen sind solche der Achillessehne, der Sehne des Quadriceps femoris, häufiger beobachtet worden. In keinem der in der Litteratur mitgetheilten Fällen von partieller oder totaler Sehnenzerreissung wurde aber die Bildung einer derartigen Degenerationscyste beobachtet, die vor der Operation für ein Ganglion gehalten wurde. Stabei (Berlin). Innere Medizin. Ueber traumatische Nephritis. Von Prof. Dr. R. Stern-Breslau. (Monatszchr. f. Unfallheilkd. 1899, No. 11.) Dass Stich- und Schusswunden der Nieren zu circum- scripter, oft in Eiterung ausgehender Entzündung führen können, sei längst bekannt. S. will sich auf die Frage be¬ schränken: Kommt Nephritis in Folge von subkutanen Nieren¬ verletzungen vor? Indem er die Schwierigkeit der kritischen Siohtung des sehr zerstreuten und im Ganzen ziemlich spär¬ lichen Materials hervorhebt, theilt er dasselbe in drei Gruppen: 1. Rasch zur Heilung oder zum Tode gelangende Fälle, in denen der Harnbefund demjenigen einer akuten Nephritis gleicht; 2. Fälle von langandauernder Eiweiss- und Cylinder- Ausscheidung ohne Allgemeinsymptome einer diffusen Nephritis; 3. Fälle von diffuser Nephritis nach Trauma. Seine Erörte¬ rungen über diese verschiedenen Gruppen von Fällen trau¬ matischer Nephritis fasst Stern dann in folgenden Sätzen zu¬ sammen : 1. Es kommen Fälle von Nierenverletzungen vor, in denen der Harnbefund während der ersten Tage demjenigen bei akuter Nephritis gleicht: ausser rothen Blutkörperchen auch Cylinder verschiedener Art und mehr Eiweiss, als dem Blut¬ gehalte entspricht. In einigen zur Autopsie gelangten Fällen dieser Art fand man keine Nephritis, sondern ausgedehnte Nekrosen. Der Verlauf derjenigen Fälle, in denen nicht durch gleichzeitige, anderweitige Verletzungen der Tod herbeigeführt wurde, war günstig, der Harn wurde in wenigen Tagen wieder normal, allgemeine Symptome der Nephritis fehlten. Auch hier kann es sich, wie bei den zur Autopsie gelangten Fällen, lediglich um Nekrosen gehandelt haben, doch ist die Möglich¬ keit einer circumscripten traumatischen Nephritis nicht auszu- schliessen. 2. In seltenen Fällen bleibt nach Nierenkontusion eine länger dauernde (selbst über Jahresfrist anhaltende) Albumi¬ nurie zurück, ohne dass sich sonstige Erscheinungen von Nephritis entwickeln. In den wenigen weiter verfolgten Fällen dieser Art schien völlige Wiederherstellung einzutreten. Ana¬ tomische Befunde fehlen bis jetzt. Wahrscheinlich handelt es sich um circumscripte entzündliche Vorgänge im Anschluss an Nierenverletzung. 3. In der Literatur existirt eine Anzahl von Fällen, in denen nach einem Trauma der Nierengegend diffuse Nephritis mit ihren charakteristischen Symptomen (ausser dem Harnbe¬ fund auch Oedeme, Netzhautveränderungen, Urämie) be¬ obachtet wurden. Ob in diesen Fällen ein Kausalzusammen¬ hang vorlag, wie manche Autoren annahmen, erscheint noch zweifelhaft. Mindestens für einen Theil dieser Fälle ist es wahrscheinlicher, dass schon vor dem Trauma eine latente chronische Nephritis bestand. Uebertragimg des Schweinerothlaufs auf den Menschen. Von Dr. Hildebrand, Bergheim. (Ztschr. f. Medizinal-Beamte, 1899, N. 16.) Bei einem Metzger zeigte sich einen Tag, nachdem er ein rothlaufkrankes Schwein geschlachtet batte, auf dem Rücken des rechten Daumens über dem rechten Gelenk eine runde, fünfpfennigstück-grosse, rothe Stelle, teigig anzufühlen, aus welcher sich auf Einschnitt eine seröse hellgelbe Flüssig¬ keit entleerte. Am dritten Tage erschien eine gleiche Röthung und Schwellung über dem zweiten rechten Daumengelenk. Nach fünf Tagen war ausser dem Daumen auch der Zeige¬ finger und die Mittelhand im Bereich der Finger-Handgelenke geröthet und geschwollen. Die Röthung schritt in Halbkreisen in Bandform, terrassenförmig vor. Acht Tage nach der In¬ fektion griff sie auf die Innenseite der Hand, zunächst auf den Daumenballen über und bildete hier eine zehnpfennigstück¬ grosse mit klarem Inhalt gefüllte Blase. Nach zwölf Tagen war die ganze Hohlhand und der Handrücken geröthet, in der Hohlhand befanden sich einzelne dunkle, blaugefärbte, erbsen¬ grosse Flecken. Auch der Unterarm war bis 4 cm über dem Handgelenk in Mitleidenschaft gezogen. Nach zwanzig Tagen war ein Stillstand eingetreten, nur die Röthung und Schwellung der Hohlhand schien noch stärker zu sein. Tags darauf war jede Schwellung und Röthung spurlos verschwunden. Die abge¬ blasste und gerunzelte Haut begann, in Schuppen und Fetzen sich abzulösen. Das Allgemeinbefinden des Kranken war bis auf eine gewisse Niedergeschlagenheit in den ersten Tagen, stet9 gut; Temperatursteigerung nie beobachtet. Patient ging vom vierten Tage an mit hochgebundenem Arm und Sublimat¬ kompressen umher. Der Inhalt der am achten Tage vor¬ handenen Blase wurde mikroskopisch untersucht und ergab Rothlaufbazillen in grosser Menge, die Reinkultur - Ueber- impfungen desselben auf Tauben hatten aus äusseren Gründen keinen Erfolg. T. Veber Keimzerstreuung des Echinococcus im Peritoneum. Klinische und experimentelle Untersuchungen. Von Dr. H. Riemann. Aus der Rostocker Chirurgischen Klinik. (Bruns Beiträge iar klinischen Chirurgie XXIV. Bd., Heft 1, Seite 187.) Zu den schon in der Literatur niedergelegten klinischen Fällen von Echinokokken - Aussaat im Peritoneum durch Punktion oder durch Ruptur, fügt der Verfasser vier neue recht prägnante Fälle. Durch Versuche stellte er fest, dass Tochterblasen des Echinococcus, die in die freie Bauchhöhle gelangen, hier nicht nur am Leben bleiben, sondern auch an Volumen zunehmen und sogar im Stande sind, Brutkapseln zu bilden und schliesslich auch Enkelblasen zu erzeugen. G. Augen. Schussverletzung der Augenhöhle mit Nachweis des Geschosses durch Röntgen-Strahlen. Von Dr. Groenouw. (Kilo. Monatsbl. f. Augenheilkunde, 1899, S. 151—161. Mit zwei Tafeln.) Verf. beschreibt zwei Fälle von Schussverletzungen der Augenhöhle; in dem ersten handelte es sich um unvorsichtigen Gebrauch einer Teschingpistole, in dem zweiten um einen Selbstmordversuch. Die letztere Beobachtung ist insofern be- merkenswerth, als es sich um einen von links her erfolgenden Digitized by Google 38 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No, 2. Schuss in die Schläfengegend handelte, wobei das Qeschoss den linken .Augapfel wahrscheinlich nur streifte, ohne dessen Sehnerven zu verletzen, dagegen den rechten Sehnerven traf und so zur Erblindung dieses Auges führte, während das linke Auge noch ein geringes Sehvermögen behielt. Die Kugel blieb hinten oben in der rechten Augenhöhle stecken. Bei den meisten Selbstmordversuchen durch Schläfenscbuss, welche zu Augenverletzungen Anlass geben, erblindet das auf der Ein¬ schussseite gelegene Auge, seltener beide Augen. Das umge¬ kehrte Verhalten, nämlich geringere Beschädigung des auf der Seite des Einschusses gelegenen Auges, und Erblindung des anderen Auges, wie im vorliegenden Falle, wird nur selten beobachtet. In dem ersten der vom Verf. mitgetheilten Fälle war eine Teschingkugel von vorn her in die rechte Augen¬ höhle gedrungen und in oder an deren äusserer Wand liegen geblieben; der Augapfel hatte nur eine leichte Kontusion er¬ litten. Um den Ort des Geschosses bei der Untersuchung mit Röntgenstrahlen richtig zu bestimmen, ist die Durchleuch¬ tung in verschiedenen Richtungen erforderlich. Es empfiehlt sich dabei, Metalldrähte um den Kopf des Untersuchten zu schlingen, welche möglichst genau mit dem Geschoss in einer Horizontal- oder Frontalebene liegen. In schwierigeren Fällen muss man eine photographische Aufnahme machen. Zwei Reproduktionen derartiger Photogramme sind der Arbeit bei¬ gegeben. Au to r referat. Ueber das Vorkommen von Irisrissen. Von Prof. Weiss und Dr. Klingelhöffer. (Arch. f. Aogenheilk. 1899, Bd. 39, S. 237—259.) Ausser der Iridodialysis kommen bei Kontusionen des Aug¬ apfels auch Zerreissungen des Sphincter Pupillae vor oder Risse, welche die zwischen pupillarem und ciliarem Rande gelegenen Irispartien durchsetzen. Die Verf. theilen zwei eigene derartige Fälle mit und geben eine tabellarische Ueber- sicht der bisher veröffentlichten Beobachtungen. Die auf das Auge einwirkenden Kräfte sind meist sehr heftige gewesen. Nur selten sind die Irisverletzungen unkomplizirt, in der Regel finden sich gleichzeitig Verschiebungen oder Trübungen der Linse, Glaskörperblutungen oder Aderbautrisse. Die Pupille ist meist erweitert und reagirt auf Lichteinfall gar nicht oder träge, doch kann sich die Pupillarreaktion später wieder her- stellen. Atropin und Eserin wirkt in einigen Fällen, in anderen nicht. Auch Akkommodationslähmung kommt vor. Groenouw. Ohren. Fahrlässige Behandlung und fahrlässige Begutachtung von Ohrenkranken. Rechtsgutachten von Prof. Dr. jur. Oppen he im-Basel. (ZeitBChr. f. Ohrenheilkunde, XXXV. Band, 3. Heft.) Die Ohrenheilkunde ist in Deutschland noch immer nicht Gegenstand der Prüfung im ärztlichen Staatsexamen. Diesem Uebelstande abzuhelfen, ist man in ohrenärztlichen Kreisen durch Eingaben an die Regierungen u. s. w. schon seit längerer Zeit bemüht, und die vorliegende Arbeit ist ein neuer Versuch, die Nothwendigkeit einer ohrenärztlichen Prüfung im Staatsexamen nachzuweisen. Sie ist den Behörden, in deren Händen die endgiltige Ausarbeitung der neuen Prüfungsordnung der Aerzte liegt, überreicht worden. Die Arbeit ist auf Anregung des Professors 0. Körner in Rostock entstanden. In einer Einleitung begründet dieser die Nothwendigkeit des Studiums der Ohrenheilkunde für den Medizinstudenten einmal mit der Hilfsbedürftigkeit der Kranken, dann aber auch mit den Gefahren, die dem lückenhaft gebil¬ deten Arzte selbst drohen, wenn er Ohrenkranke ohne die nö- thigen Kenntnisse behandelt. Ausserdem fordert Körner, dass mit der Prüfung in der Ohrenheilkunde allein die offiziellen Vertreter dieses Faches an den Universitäten, nicht aber, wie als geplant verlautete, der innere Mediziner oder der Chirurg im Nebenamte, betraut werden sollen. Körner stellt dann dem Verf. fünf Fragen und weist zur Information des Juristen auf eine Reihe von Uebelständen hin, die auf die mangelhafte Ausbildung der Aerzte in der Ohren¬ heilkunde zurückzuführen sind: viele Taubstumme verdanken ihr Leiden Ohrenkrankheiten und würden ihrem bedauerns- werthen Zustande nicht verfallen sein, wenn diese Krankheiten von vornherein sachgemäss behandelt worden wären; durch Ohrenkrankheiten, besonders durch Eiterungen der Pauken¬ höhle, gehen alljährlich viele blühende Menschenleben zu Grunde, weil der Arzt einfache Eingriffe am Ohr, z. B. den Trommelfellschnitt, nicht auszufübren versteht oder nicht recht¬ zeitig ausführt; umgekehrt wird durch unberechtigte, oft he¬ roische Eingriffe, namentlich beim Versuch, Fremdkörper zu entfernen, viel Unheil angerichtet; schliesslich kommt es be¬ dauerlicher Weise gar nicht selten vor, dass Aerzte ohne Kenntniss in der Ohrenheilkunde als Sachverständige vor Ge¬ richt Ohrenkranke begutachten und durch irrige Beurtheilung schädigen. Die 1. Frage lautet nun: »Was hat ein in der Ohren¬ heilkunde nicht unterrichteter Arzt straf- und civilrechtlich zu gewärtigen, wenn er Ohrenkranke durch Vornahme nicht sachgemässer Eingriffe oder durch Unterlassung sachgemäss erforderlicher Eingriffe schädigt?“ Hierauf antwortet der Verf. nach eingehender Erörterung und unter Begründung nach deut¬ schem Reoht, speziell mit Zugrundelegung des neuen Bürger¬ lichen Gesetzbuches: „Ein in der Ohrenheilkunde nicht unter¬ richteter Arzt, welcher Ohrenkranke aus Unkenntniss durch Vornahme nicht sachgemässer Eingriffe oder durch Unter¬ lassung sachgemäss erforderlicher Eingriffe schädigt, ist wegen schuldhafter Fahrlässigkeit strafbar und ausserdem civilrecht- lioh für den angerichteten Schaden haftbar.“ Wenn also z. B. ein Patient stirbt oder sein Gehör verliert, weil der Arzt aus Unkenntniss den Trommelfellschnitt unterlassen hat, so liegt eine strafbare Fahrlässigkeit des Arztes vor; desgleichen macht sich der Arzt der strafbaren Fahrlässigkeit schuldig, wenn er, durch Unkenntniss und mangelhafte Untersuchung ver¬ leitet, einen in das Ohr gerathenen und dort ganz unschäd¬ lichen Fremdkörper gewaltsam herauszieht und dadurch Ver¬ letzungen erzeugt, welche den Patienten des Gehörs berauben oder sogar zum Tode führen. Die 2. Frage: „Wie gestaltet sich die Verantwortlichkeit eines mit der Ohrenheilkunde nicht vertrauten Arztes, wenn er die Behandlung eines Ohrenkranken nur deshalb unter¬ nimmt, weil kein in der Ohrenheilkunde erfahrener Arzt in erreichbarer Nähe und der Kranke nicht transportfähig ist?“ Zusatz: „N. B. Ob ein Ohrenkranker transportfähig ist, kann oft nur ein mit der Ohrenheilkunde vertrauter Arzt ent¬ scheiden!“ Auch hier bleibt der Arzt, wenn er sich zu Ein¬ griffen verleiten lässt, die sein Wissen und Können übersteigen, für die Folgen verantwortlich, wenngleich nach Lage der Um¬ stände eine sehr milde Beurtheilung des Falles geboten wäre, welche ihm bei der Strafabmessung zu Gute kommen würde. Erklärt der Arzt, nur weil ihm die nöthigen Kenntnisse in der Ohrenheilkunde fehlen, einen Ohrenkranken für nicht trans¬ portfähig, und nimmt dann der Kranke körperlichen Schaden, weil er nicht an einen Ort verbracht worden ist, an welchem die nothwendigen Eingriffe sachverständig hätten vorgenommen werden können, so trifft den Arzt ebenfalls schuldhafte Fahr¬ lässigkeit, die er straf- und civilrechtlich verantworten muss. Die 3. Frage: „Kann ein mit der Ohrenheilkunde nicht Digitized by Google 15. Januar 1900. Aerztiiohe Sach verständigen-Zeitung. 89 vertrauter Arzt straf- und civilreehtlieh verantwortlich gemacht werden, welcher einen Ohrenkranken dadurch schädigt, dass er aus Unkenntniss ein falsohes Gutachten über den Kranken ausstellt?• Die Uebernahme der Begutachtung Bchliesst die Versicherung ein, dass der Arzt die erforderlichen Kenntnisse besitze. Giebt nun ein Arzt sein Gutachten ab, ohne die nöthigen Kenntnisse zu besitzen bezw. sich zu be¬ schaffen, so handelt er zweifellos schuldhaft fahrlässig und ist für seine Fahrlässigkeit verantwortlich. Strafrechtlich kann jedoch der Arzt für diese Fahrlässigkeit nicht belangt werden, weil es eine gesetzliche Strafbestimmung für die fahr¬ lässige Abgabe von ärzttichen Gutachten in Deutsch¬ land nicht giebt. Anders steht es mit der civilrechtlichen Verantwortlichkeit. Der Arzt haftet gemäss B. G.-B. § 276 für Fahrlässigkeit undjmuss den Schaden, welcher seinem Auftrag¬ geber aus seiner Fahrlässigkeit entsteht, ersetzen. Ist der Kranke der Auftraggeber, so ist ihm der Arzt haftbar. Ist ein Dritter, z. B. eine Versicherungsgesellschaft, der Auftrag¬ geber, so ist der Arzt dieser verantwortlich; dem Kranken steht aber in diesem Falle keinerlei Anspruch an den Arzt zu, vielmehr kann hier der Kranke sich nur an die Gesellschaft halten. Die 4, Frage: „Was hat ein beeidigter Gerichtsarzt (Physikus), der mit der Ohrenheilkunde nicht vertraut ist, straf- und civilrechtlioh zu gewärtigen, wenn er durch sein einem Gericht erstattetes sachverständiges Gutachten Ohren¬ kranke schädigt?“ An den Gerichtsarzt treten aus allen Ge¬ bieten der Heilkunde Fragen heran, er möchte zugleich Spezial¬ arzt in allen medizinischen Fächern sein. Kommen nun ver¬ zeihliche Irrthümer und Fehler in der Diagnose selbst bei Spezialärzten vor, so wird man um so mehr Rücksicht nehmen bei dem Gerichtsarzt, der mit allen Gebieten der Medizin, und oft gerade mit den komplizirtesten Fällen, amtlich in Berührung kommt. Fehler und Irrthümer dürfen ihm daher nur dann als schuldhafte Fahrlässigkeit angerechnet werden, wenn er sie hätte vermeiden können. Darum hat sich der Physikus, ehe er an die Begutachtung herangeht, zu versichern, ob er das erforderliche Wissen besitzt, und sich dieses — durch Literatur¬ studium oder Befragung des Spezialisten — zu beschaffen, falls er es nicht besitzt. Thut er das nicht, so handelt er fahrlässig, und darum gilt auch für den Physikus, dass er, wenn er mit der Ohrenheilkunde nicht vertraut ist und in Folge seiner Unkenntniss ein falsches gerichtliches Gutachten über einen Ohrenkranken abgiebt, sich einer Fahrlässigkeit schuldig macht und dafür verantwortlich ist. Die strafrechtliche Ver¬ antwortlichkeit ist hier insofern schwer, als der Physikus nach des Verfassers Meinung auf Grund des § 168 des Str.-G.-B. wegen fahrlässigen Falscheides mit Gefängniss bis zu einem Jahre zu bestrafen ist. Ob sich in praxi jeder Gerichtshof dieser Meinung des Verfassers und seinen die¬ selbe begründenden Ausführungen über die objektive Möglich¬ keit eines fahrlässig falschen Gutachter-Eides an- 8chliessen würde, darf wohl bezweifelt werden. Civilreehtlieh ist dagegen der Physikus dem durch sein falsches gerichtli¬ ches Ohrengutachten Geschädigten zweifellos nach §889adldes B. G.-B., nämlich wegen Verletzung seiner Amtspflicht, haftbar. Die 5. Frage: „Kann diejenige Regierung, welche einen Arzt approbirt hat, d. h. zur ärztlichen Praxis zugelassen hat, ohne den Nachweis von Kenntnissen in der Ohrenheil¬ kunde vorher zu verlangen, für die Schädigung von Ohren¬ kranken durch einen in der Ohrenheilkunde nicht unterrichte¬ ten Arzt haftbar gemacht werden?* Die Frage ist strikte zu verneinen, allerdings nur vom rechtlichen Standpunkte. Vom moralischen Standpunkte dagegen trifft die Regierung zweifel¬ los eine gewisse Verantwortlichkeit, und es erwächst daraus dem Staate die moralische Pflicht, die ärztliche Prüfungsord¬ nung in dem von Körner beregten Sinne zu ergänzen. Den Schluss bildet die ausführliche Schilderung eines typischen Falles fahrlässiger Begutachtung; der falsoh ur- theilende Physikus hatte nicht einmal jedes Ohr gesondert, mit Ausschluss des anderen, auf seine Gehörweite untersucht. Aehnliche Fälle, wenn auch nicht von beamteten Aerzten, sind auch dem Ref. und wohl manch anderem Ohrenarzte ebenfalls mehrfach vorgekommen. Bei der einschneidenden Bedeutung, welohe die in der Arbeit beantworteten Fragen für jeden ärztlichen Sachver¬ ständigen haben, empfiehlt es sich sehr, die Ausführungen im Einzelnen im Original nachzulesen; die Arbeit ist im Verlage von J. F. Bergmann in Wiesbaden auch als Sonderheft er¬ schienen. Richard Müller. NahrungB-Hygieine. Eine Hausepidemie von Typhus abdominalis und Cholera nostras, verursacht durch Verunreinigung eines Brunnens mit Rieseljauche. Von Dr. Hugo Euphrat in Weissensee-Berlin. (Deutsche mediiinitche Wochenschrift No. 47, 1899.) Nicht immer ist der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung so einwandsfrei klarzustellen, wie bei Gelegen¬ heit der vom Verf. beobachteten Hausepidemie. Der Besitzer einer zu Hohenschönhausen bei Berlin belegenen Gärtnerei hatte vor 3 Jahren sein Grundstück mit einem Anschlussrohr an die zum Berliner städtischen Rieselgute F. gehörige Riesel¬ wasserleitung versehen, und zwar hatte er das Rieselwasserrohr mit dem Wasserrohr in Verbindung gebracht, welohes früher, lediglich von dem Kesselbrunnen des Grundstückes mittels einer Dampfmaschine gespeist, den Garten bewässerte. Es war dabei verabsäumt worden, durch eine Absperrvorrichtung den Rückfluss des unter hohem Drucke stehenden Rieselwassers in die Dampfmasohine und den Brunnen zu verhindern. Dieser Fehler in der Anlage rächte sich, als vor Kurzem zum ersten Male der Garten berieselt wurde. Die Rieseljauche ergoss sioh nun nicht nur in die Röhrenleitung des Gartens, sondern auch in grosser Menge durch die Dampfpumpe in den Brunnen. Sämmtliche 17 Personen, die während dieser Zeit von dem verunreinigten Brunnenwasser tranken, erkrankten an profusen Durchfällen und Brechruhr, Krankheitserscheinungen, welche Wochen lang anhielten, da kein Arzt zu Rathe gezogen wurde, und die Ursache unaufgeklärt blieb. Schliesslich erkrankten nach 2-3 wöchentlichem Incubationsstadium auch 2 Kinder des Gärtners und dieser selbst, sowie zwei Gehilfen unter den typischen Erscheinungen des Typhus abdominalis. Andere Fälle von Ileotyphus wurden um diese Zeit im Orte nicht beobachtet. — y. Ueber eine Hassenerkrankung durch Vergiftung mit stark solaninhaltigen Kartoffeln. Von Prof. E. Pfuhl, Oberstabsarzt I. Kl. in Berlin. (Deutsche raedtaioische Wochenschrift No. 46, 1899). Es ist bisher in der Literatur noch keine Massenvergiftung duroh stark solaninhaltige Kartoffeln veröffentlicht worden, wo ein zur Vergiftung ausreichender Solaningehalt in den be¬ treffenden Kartoffeln nachgewiesen worden wäre. Die vom Verf. beobachtete Massenvergiftung, bei welcher dieser Nach¬ weis gelang, verdient deshalb besonderes Interesse. Nicht weniger als 56 Personen wurden von der Gesundheitsschädigung betroffen. Die Erkrankungen begannen mit Frost oder Frösteln, Fieber von 38 bis 39,5°, Kopfschmerzen, starken Leibschmerzen, Digitized by Google 40 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 2. Durchfällen und Abgeschlagenheit, in manchen Fällen mit Erbrechen, in einigen nur mit Uebelkeit, in mehreren mit Ohnmacht und in einem Falle mit Ohnmacht und Krämpfen. Die meisten der Erkrankten waren schläfrig und theilnahmlos. Im weiteren Verlaufe der Erkrankung zeigte sich siebenmal deutliche Gelbfärbung der Augenbindehäute, in einem Falle eine deutliche Gelbfärbung der Haut. Bei einem Kranken zeigte sich ein Bläschenausschlag an den Lippen, bei einem anderen Speichelfluss. Eine grössere Anzahl der Patienten klagte über Kratzen im Halse. Keine Pupillenerweiterung. Die Krankheitserscheinungen waren unter entsprechender Be¬ handlung nach mehreren Tagen behoben. In den Kartoffeln, die als Ursache der Massenvergiftung angeschuldigt werden mussten, konnte ein Solaningehalt von 0,88%» in den ge¬ schälten, gekochten Kartoffeln von 0,24%, nachgewiesen werden, d. h. das Sechsfache der normalen Menge. Auf die verabreichte Portion berechnet, hatte jeder der Erkrankten etwa 0,8 g Solanin zu sich genommen, eine Quantität, die zur Herbeiführung der geschilderten Vergiftungserscheinungen ausreichend ist. -y. Aus Vereinen und Versammlungen. Ueber chronische Bauchfell - Entzündungen und -Ver¬ wachsungen nach Quetschung des Bauches oder Zerrung des Bauchfells hielt Prof. Dr. Thiem-Kottbus auf der letzten Naturforscher- Versammlung in München in der Abtheiluug für Unfallwesen einen bemerkenswerthen Vortrag, aus'welohem wir nach der Monatsschr. f. Unfallheilkunde, 1899, No. 10, Folgendes ent¬ nehmen: Redner bespricht hauptsächlich die schwierig zu be¬ urteilenden Fälle, bei denen irgend ein mit dem Bauchfell überzogener Eingeweidetheil eine verhältnissmässig geringe Quetschung oder Zerrung oder einen Einriss erfährt, und wo¬ nach nicht blutige, seröse oder eitrige Ergüsse in den Bauch¬ raum eintreten, sondern die für das Bauchfell so charakteristi¬ schen Verlöthungen und Verwachsungen der im unversehrten Zustand glatt aneinander vorübergleitenden Bauchfellflächen in Betracht kommen. Es entstünden hier sowohl Verwachsungen aller mit Bauchfell überzogenen Organe untereinander, als auch mit der Bauchwand in einer grossen Mannigfaltigkeit. Nicht nur Leber, Milz, Netz, Magen, Darm, zum Theil auch Niere und Bauch¬ speicheldrüse können unter sich und mit der Bauchwand flächenhaft verwachsen, und diese flächenhaften Verwachsun¬ gen können unter der durch Peristaltik, Athmung und Körper¬ bewegung erfolgenden fortwährenden Zerrung zu langen Strängen ausgezogen werden. Th. erwähnt bezügliche Fälle theils aus seiner eigenen Praxis, theils aus der Literatur, in welchen bei Operationen, besonders gynäkologischen, die Be¬ deutung solcher Adhäsionen zu Tage getreten war, und er¬ innert auch an die von Fürbringer in der Aerztl. Sachverst.- Zeitung, No. 7 u. 9 veröffentlichten Artikel, in welchen auf einige der nach Bauchfellverwachsungeu eintretende Erschei¬ nungen, die häufig als Kolik- oder Hysterieanfälle gedeutet werden, hingewiesen wird. Thiem selbst hat in den letzten Jahren fünf Fälle beobachtet, die nach Art der Verletzung und des Befundes keinen Zweifel darüber aufkommen liessen, dass es sich um die besprochenen Verletzungsfolgen handelte. Von diesen fünf Fällen war zweimal hauptsächlich die Leber¬ gegend, zweimal die Magengegend und einmal die rechte Unterbauchgegend getroffen. Viermal handelte es sich um Quetschungen durch Gegenstände mit breiter Fläche und zwei¬ mal (da bei einem Manne zwei Verletzungen vorliegen) um ruckartige Zerrungen. Von diesen Patienten ist nur der eine vom Puffer in der linken Oberbauch- und Brustgegend ge¬ quetschte Bremser völlig geheilt und hat schon nach zehn Wochen wieder Dienst gethan. Die anderen vier Patienten beziehen jetzt nach drei Jahren noch Renten zwischen 20 und 66% pCt.; bei einem dieser Verletzten hat sioh U /2 Jahre darauf ein Aneurysma der Bauchaorta ausgebildet, so dass dessen Symptome mit denen der chronischen Bauchfellent¬ zündung sich jetzt vermischen. In allen Fällen.— bis auf den zweiihal verletzten Mann — war der erste Schmerz und der Verletzungsshok ein sehr heftiger; drei wurden sofort besinnungslos, ein in der Oberbauchgegend von Puffern Gequetschter stürzte nach Befreiung aus seiner Lage besinnungslos mit dem Hinterkopf auf die Schienen und erlitt dabei noch einen Schädelbruch; auch bei den anderen zeigten sich heftige Allgemeinerscheinungen, Bewusstlosigkeit, Ohn¬ machtsanfälle. In allen Fällen trat fast unmittelbar nach dem Unfall Erbrechen ein, welches sich vier bis neun Tage hin¬ durch wiederholte; bei allen Verletzten war Anfangs der Bauch sehr empfindlich gegen Berührung und festgespannt. —Im chronischen Stadium wurden dann später bei diesen Verletzten sowohl allge¬ meine, als örtliche Erscheinungen, als auch solche der Nachbar¬ organe beobachtet. Die allgemeinen Erscheinungen waren hauptsächlich reflektorische Schmerzen in andern Nerven¬ gebieten und die durch die Schmerzen überhaupt herbeige¬ führte seelische Verstimmung, sowie die Folgezustände der Ernährungsstörungen. Von örtlichen Erscheinungen war nur bei einem dieser Verletzten ein derber Strang fühlbar, der von der Blinddarmgegend nach der Wirbelsäule hinzog; bei allen Verletzten war bei Druck auf den Leib deutliche Pulssteigerung zu beobachten, oft um 20 bis 80 Schläge (Mannkopfsohes Zeichen). Von den Erscheinungen seitens der Nachbargebilde wird besonders erwähnt die Betheiligung des Magendarm¬ kanals — Trägheit des Stuhlganges, Blähungen, Appetitlosig¬ keit, Gefühl von Vollsein im Magen — und die Erscheinungen von Seiten der Leber; bei den beiden mehr in der Leber¬ gegend Verletzten war als auffälliges Symptom zu verzeich¬ nen eine Vermehrung der örtlichen Schmerzen beim Erheben des rechten Arms mit Ausstrahlen der Schmerzen naoh diesem und der rechten Schulter. (Das ist sehr wichtig, denn gewöhn¬ lich werden nur spontane sog. konsensuelle Schmerzen in der rechten Schulter als charakteristisch für Leberverletzungen berichtet.) Die eine verletzte Frau bekam überdies nicht nur sofort heftige Schmerzen, wenn sie acht- bis zehnmal den rechten Arm hochgehoben hatte, sondern auch danach alsbald und wiederholt Erbrechen. Erscheinungen seitens des Zwerch¬ fells und der Athmungsorgane machten sich geltend durch oberflächliche Athmung und leise Sprache. An diesen sehr interessanten Vortrag Thiem’s schlossen sich dann in der Diskussion ebenso bemerkenswerthe Angaben, welche Adolf Schmitt-München machte über seine Erfah¬ rungen bei Kontusionen des Unterleibes durch stumpfe Gewalt, bei denen oft ausgedehnte Verwachsungen entstehen können; er berichtete über 10 Fälle von Laparotomie bei solchen Kon¬ tusionen, die durch Hufschlag, Auffallen eines kantigen Gegen¬ standes, Anstossen einer Wagendeichsel u. dergl. zu Stande gekommen waren. Obwohl die primären Symptome oft äusserst gering waren (5 Patienten kamen zu Fuss in die Klinik, nur wenige hatten in den ersten Stunden Erbrechen, alle aber klagten über starken, ziemlich genau, aber öfter entfernt von der Verletzungsstelle lokalisirten Druckschmerz, bei allen ent¬ wickelte sich nach wenigen Stunden ein deutlich nachweis¬ bares Exsudat). Sch. eröffnete stets sobald wie möglich das Abdomen', zunächst von kleinem Probeschnitte aus und fand Digitized by Google 15. Januar 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 4l unter den 10 Fällen neunmal eineZerreissung des Darmes, wiederholt auch mehrere (1—5!), zum Theil sehr grosse Per¬ forationen, die natürlich vernäht wurden. Ausser den Per- forationsöffnungen fanden sich an der Darmwand fast aus¬ nahmslos nooh kontusionirte Stellen, an der braunröth- liehen, von subserösen Blutungen herruhrenden Verfärbung kenntlich. Diese Darm-Kontusionen liegen sicher auch oft vor bei jenen Fällen, die ohne Operation, also auch ohne dass eine Darmzerreissung vorlag, ge¬ heilt sind, und diese Stellen sind es, an welchen sich wohl am leiohtesten Adhäsionen entwickeln. Dazu kämen noch jene Verwachsungen und Verlöthungen, die entstehen an Stellen, an welchen das Bauchfell, sowohl der Bauchdecken wie Eingeweide, durch die Verletzung seines Endothels beraubt oder letzteres wenigstens beschädigt worden ist, ohne dass eine stärkere Läsion der Darmwand in dem vorher erwähnten Sinne eingetreten ist. Auch solche Schädigungen des Bauchfelles lassen sich, wenn man erst danach sieht, öfter bei der Operation nachweisen. Im Laufe der Zeit werden dann, hauptsächlich wohl durch die Peristaltik, die Adhäsionen gedehnt, und es bilden sich dann Anfangs vielleicht mehr tiächenhafte, später mehr oder weniger strangförmige Ver- w achsungen, bei denen nun allerdings noch nicht völlig klar sei, warum ein einzelner Strang zuweilen die heftigsten Be¬ schwerden macht, während enorme Verwachsungen, Dutzende nach allen Richtungen verlaufende Stränge manchmal sym¬ ptomlos bleiben können. Dass die Art und der Ort der Ver¬ wachsungen eine Rolle dabei spielt, sei selbstverständlich. — In Fällen, bei denen nach früherer Kontusion des Unterleibes später erhebliche Beschwerden geklagt werden, müsse man jedenfalls an die Möglichkeit solcher, meist ja nicht fühlbarer Verwachsungen denken und bei der Beurtheilung sehr vorsichtig sein, wenn man dem Verletzten nicht Un¬ recht thun will. Gerichtliche Entscheidungen. Ans dem Beichs-Tersicheningsamt. AerztHobe Butschten haben den Vorzug vor Erklirungen von Laien. Rek.-Ent8ch. vom 23. Sept. 1899. M. S. zu Köln-Nippes hatte am 27. November 1897 im Betriebe von W. D. in Köln-Nippes eine Verletzung des Kopfes erlitten. Die Verletzung bestand in einem mit Hautwunden verbundenen Bruch des Nasenbeins und des Nasenfortsatzes, des rechten Oberkiefers. Da der Verletzte nach einem Atteste des Dr. H. in Köln vom 1. März 1898 wieder vollständig er¬ werbsfähig war, verfolgte die Fuhrwerks-Berufsgenossenscbaft die Angelegenheit nicht weiter, bis S. im Oktober 1898 bei ihr Entschädigungsansprüche stellte. Sie holten dann ein Gutachten von Dr. K. in Köln ein, der u. A. Folgendes mit¬ theilte: Die äussereNase zeige eine von dem Nasenbeinbruch herrührende mässige Verdickung in der Gegend der Nasen¬ wurzel ohne Schiefstellung. Im Innern fänden sich normale Verhältnisse, nirgends Eiter, nur an der linken Seite der Soheidewand eine dünne Schleimborke ohne Geschwürbildung. Beide unteren Nasenmusohein seien mässig katarrhalisch ge¬ schwollen. Der Nasenrachenraum sei völlig frei, desgleichen beide Highmors-Höhlen bei der elektrischen Durchleuchtung des Oberkiefers. Für die Klagen des Patienten hätten sich somit objektive Ursachen nicht vorgefunden. Ob die Kopf¬ schmerzen, die nach Aussage des Patienten auch schon früher, jedoch im geringeren Masse bestanden haben sollen, sich in Folge des Unfalls gesteigert haben, lasse sich auf Grund vor¬ stehender Untersuchung nicht entscheiden, wenn auch das Fehlen jeder damit in Zusammenhang zu bringenden örtlichen Erkrankung eher gegen eine solche Annahme sprechen dürfte. Am 13. November 1898 äusserte sich Dr. H. nochmals und erklärte auf die Klagen des Verletzten in Bezug auf Geruch¬ losigkeit und fauligen Geschmack im Munde brauche man nicht einzugehen, weil sie nicht vom Unfall herstammten und die Erwerbsfähigkeit nicht beeinträchtigen. Die Schwerhörigkeit sei durch Ohrenschmalzpfröpfe bedingt gewesen und werde nach deren Entfernung geschwunden sein. Da die Kopfschmerzen schon vor dem Unfall bestanden haben, können sie nioht durch den Unfall entstanden sein; eine Verschlimmerung der Kopf¬ schmerzen durch den Unfall kann ebenfalls nicht angenom¬ men werden. Die Kopfwunde sei so unbedeutend gewesen, dass sie in einigen Tagen geheilt war. In seiner Erwerbs¬ fähigkeit scheine S. durch seine Kopfschmerzen nicht beein¬ trächtigt zu sein, da er nach Auskunft seines Arbeitgebers täglich 3 Mk. verdiene. Durch Bescheid vom 6. September 1898 lehnte die Genossenschaft die Entschädigungsleistung mit der Begründung ab, dass die Beschwerden mit dem Un¬ fälle in keinem Zusammenhänge ständen. Nach Vernehmung des Arbeitgebers hat das Schiedsgericht für festgestellt ange¬ nommen, dass S. durch die Folgen des Unfalls, andauernde Kopfschmerzen, thatsächlich in seiner Erwerbsfähigkeit um 10 Prozent beeinträchtigt ist. Gegen diese Entscheidung legte die Berufsgenossenschaft Rekurs beim Reichs-Versiche¬ rungsamt ein. Geschäftsführer Z. beantragte die Wiederher¬ stellung des Bescheides mit der Ausführung, dass die Gut¬ achten des Sanitätsraths Dr. K. in Köln vom 25. Oktober 1898 und des Dr. H. vom 13. November 1898 nicht durch das Zeug- niss des Unternehmers mit der Folge widerlegt werden könn¬ ten, dass die Kopfschmerzen auf den Unfall zurückzuführen seien. Das Reichs-Versicherungsamt unter dem Vorsitz des Prä¬ sidenten G. erachtete den Rekurs der Berufsgenossenschaft für begründet und machte u. A. Folgendes geltend: Der Klä¬ ger hat dem Sanitätsrath Dr. K. gegenüber zugegeben, dass er bereits vor dem Unfälle an Kopfschmerzen gelitten hat. Es kann sich daher nur um eine Verschlimmerung derselben in Folge des Unfalls handeln. Eine solche ist nach den in dem schiedsgerichtlichen Urtheil wiedergegebenen Gutachten jener beiden Sachverständigen so wenig wahrscheinlich, dass eher das Gegentheil anzunehmen ist. Diesen Gutachten gegenüber kann die Feststellung einer Verschlimmerung auch nicht auf Grund des Zeugnisses des vor dem Schiedsgericht vernom¬ menen Betriebsunternehmers getroffen werden. Wenn der Kläger wirklich erheblich und andauernd durch Kopfschmerzen in der Erwerbsfähigkeit beschränkt würde, so würde diese Beschränkung mehr als 10 Prozent betragen, um welche das Schiedsgericht die Erwerbsfähigkeit herabgesetzt erachtet. Er¬ hebliche und andauernde Kopfschmerzen würden ausserdem den Sachverständigen durch den objektiven Befund erkennbar gewesen sein und den Kläger genöthigt haben, mehr als ins- gesammt neun Tage im Jahre 1898 die wiederaufgenommene Arbeit zu unterbrechen. Hiernach ist eine zurückgebliebene Einwirkung des Unfalls auf die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht erweislich und war daher unter Aufhebung der Vorent¬ scheidung der ablehnende Bescheid der Berufsgenossenschaft wiederherzustellen. M. Erblindung durch seelische Erregung nach einem Brande. Rek.-Entsch. 20. Sept. 1899. Der Obermüller P. aus K. i. P. wurde plötzlich erwerbs¬ unfähig, weil er nach einem Brande die Sehkraft auf beiden Augen fast völlig einbüsste. Einige Specialärzte erklärten später, P. leide an Sehnervenschwund; er wäre unzweifelhaft Digitized by Google 42 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 2. in einigen Jahren auch ohne weitere Verletzung erblindet; die rapide Entwickelung des Leidens sei aber jedenfalls auf die psychische Erregung bei dem Brande der Mühle, in der P. beschäftigt war, zurückzuführen. Das Schiedsgericht ver- urtheilte darauf die Berufsgenossenschaft zur Rentenzahlung, indem es annahm, dass das Leiden des Klägers in Folge der psychischen Erregung sich schneller entwickelt habe. Gegen diese Entscheidung legte die Berufsgenossensohaft Rekurs beim Reichs-Versicherungsamt ein und erklärte, psychische Erregung könne nicht als ein Unfall im Sinne des Gesetzes angesehen werden. Nachdem noch Gutachten der Professoren Dr. Sch. und Dr. H. eingezogen worden waren, erkannte das Reichs-VerBicherungsamt auf Zurückweisung des von der Be¬ rufsgenossenschaft erhobenen Rekurses, indem ausgeführt wurde, die erhebliche seelische Erregung des Klägers beim Brande sei als ein Betriebsunfall anzusehen; ferner aber sei naoh den ärztlichen Gutachten mit Wahrscheinlichkeit an¬ zunehmen, dass zwischen dem Unfälle und der schnellen Ent¬ wickelung des Leidens des Körpers ein ursächlicher Zu¬ sammenhang bestehe. M. Leistenbruch als Betriebsunfall. Rekursentscheidung vom 21. Oktober 1898. Die westfälische landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft hat das ungünstige Urtheil des Schiedsgerichts rechtzeitig mit dem Rechtsmittel des Rekurses angegriffen und beantragt, das Urtheil aufzuheben und ihren Bescheid vom 24. November 1897 wiederherzustellen. Sie führt aus, wegen des Leisten- bruches könne eine Entschädigung nicht mehr beansprucht werden, da die Rechtskraft des Bescheides vom 31. März 1897, der nur wegen der Armverletzung eine Rente gewähre, ent- gegenstehe. Dass der Bruch nicht habe entschädigt werden sollen, gehe auch daraus hervor, dass die Uebemahme der Kosten für ein Bruchband abgelehnt worden sei. Im Uebrigen werde bestritten, dass der Bruchaustritt auf den Unfall ursächlich zurückzuführen sei. Der Kläger K. hat, gestützt auf die Gutachten des Königlichen Kreis Wundarztes Dr. H. und des Königlichen Regierungs- und Geheimen Medizinalraths Dr. R. in Minden beantragt, ihm die gesetzliche Rente zu be¬ willigen. Das Reichs-Versicherungsamt wies den Rekurs aus folgenden Gründen ab: Die Frage, ob dem wegen des Leisten¬ bruchs erhobenen Anspruch des Klägers die Rechtskraft des Bescheides vom 31. März 1897 entgegenstehe, hat das Reichs- Versicherungsamt zu Gunsten des Klägers verneint. Der Be¬ klagten mag zugegeben werden, dass sie den Leistenbruch des Klägers nicht hat entschädigen wollen, diese Absicht ist aber dem Kläger gegenüber in der gesetzlichen Form, das ist in dem förmlichen berufungsfähigen Bescheide, nicht zweifelsfrei erkennbar gemacht worden. Die Berufsgenossenschaft hat es verabsäumt, den aus dem Leistenbruch abgeleiteten Ent¬ schädigungsanspruch des Klägers in dem ersten Bescheide vom 31. März 1897, mittelst welchen dem Kläger wegen sonstiger Unfallfolgen eine Rente von 50 Prozent der Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit gewährt worden war, aus¬ drücklich abzulehnen. Wenn auch nicht gefordert werden soll, dass die Ablehnung eines Entschädigungsanspruchs, wenn sich die Beklagte auf die Rechtskraft des Bescheides berufen will, in allen Fällen grundsätzlich mit ausdrücklichen Worten ge¬ schehen sein muss, so ist doch wenigstens daran festzuhalten, dass der Berechtigte aus sonstigen Umständen mit Sicherheit darauf schliessen muss, dass sein Anspruch abgelehnt worden sei. Das ist aber in der vorliegenden Sache nicht der Fall Allerdings ist in dem Eingänge des Vorbescheides vom 15. März 1897 nur von der Handverletzung die Rede, die der Kläger bei dem Unfälle vom 9. Dezember 1896 ebenfalls erlitten hat, und am Schlüsse ist bemerkt, dass die Berufsgenossenschaft die Kosten des Bruchbandes nicht übernehmen könne. Auf der anderen Seite ist dem Kläger aber in demselben Vorbe¬ scheide aufgegeben, sich von dem Dr. H., der, wie der Beklagten nioht unbekannt sein konnte, das Vorliegen eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Leistenbruch und dem Unfall annahm, weiter behandeln zu lassen, ohne dass das Heilverfahren auf die Handverletzung beschränkt wurde. Ferner ist dem Kläger in demselben Vorbescheid anheim¬ gegeben, sich an Stelle des rechtsseitigen Bruchbandes ein doppelseitiges Bruohband su verschaffen. Der Kläger konnte daher sehr wohl der Meinung sein, dass ihm die Rente von 50 Prozent sowohl für die Handverletzung als auch für den Leistenbruch gewährt werde. Bestehen aber Zweifel über den Inhalt des Bescheides, so ist die Rechtslage die, dass sich der Kläger auf ein in der Ertheilung des Bescheides etwa liegendes Annerkenntniss seines Entschädigungsanspruches nicht berufen kann, andererseits aber auch die Beklagte, die durch ihr Verfahren zu dem Zweifel Anlass gegeben hat, die Rechtskraft des Bescheides zu ihren Gunsten nioht in Anspruoh nehmen kann. Die Frage, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Bruchleiden des Klägers und dem Unfall vor¬ liegt, ist mithin noch eine offene und ist zu dem gegen¬ wärtigen Verfahren von Neuem zu prüfen. Das Reichs-Ver¬ sicherungsamt hat sich bei Beantwortung dieser Frage dem Schiedsgericht angeschlossen und das Vorliegen eines ur¬ sächlichen Zusammenhanges zwischen dem Leistenbruch des Klägers und dem Unfall angenommen. Für die Beilegung dieser Frage sprachen insbesondere folgende Umstände; Der Kläger hat unbestritten einen Unfall erlitten, indem er beim Holzfahren vom Wagen stürzte. Die Ausführungen der Be¬ rufsgenossenschaft, dass eine aussergewöhnliche Anstrengung nicht vorliege und die Arbeit des Klägers eine betriebsübliohe gewesen sei, treffen auf diesen Fall offenbar nicht zu. Der Fall hat die rechte Seite des Klägers betroffen, wie der Kläger dem Kgl. Kreisphysikus Dr. M. angegeben hat. Auf dieser Seite ist aber der in Rede stehende Leistenbruch ausgetreten. Der Leistenbruch war, wie der Kreiswundarzt Dr. H. festgestellt hat, neu entstanden, die Bruchpforte war eng und der Bruch war eingeklemmt und schwer zurückzubringen. Wenn bei dieser Sachlage das Schiedsgericht in Ueberein- Stimmung mit Dr. H. und dem Regierungs- und Geheimen Medizinalrath Dr. R. den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Leistenbruch und dem Unfall angenommen hat, so hatte das Reichs-Versicherungsamt keinen Anlass, dieser Annahme entgegenzutreten. M. Die Besserung der Erwerbsffthigkeit um 5 Prozent kann nioht als wesentlich angesehen werden. Rek.-Entsch. vom 23. Okt. 1899. Ein Schlepper, P. Z., hatte 25 Prozent Rente für einen Unfall zugesprochen erhalten. Der Vorstand der Knappschafts- Berufsgenossenschaft hatte gegen diese Entscheidung recht¬ zeitig Rekurs eingelegt mit dem Anträge, ihren Bescheid vom 23. März 1899 wiederherzustellen. Dem Rekurse wurde der Erfolg versagt, weil sich das Reichs-Versicherungsamt nicht davon zu überzeugen vermochte, dass der Schaden, welchen der Kläger durch den gegenwärtigen Zustand seiner verletz¬ ten Hand an seiner Erwerbsfähigkeit erleidet, mit 25 Prozent der völligen Erwerbsunfähigkeit, zu hoch veranschlagt und mit 20 Prozent erweislich richtiger geschätzt sei. Aber auch dann, wenn das Rekursgerioht der letzteren von der Aerzte- kommission in dem Gutachten vom 1. März 1899 vertretenen Schätzung an sich den Vorzug hätte geben können, würde es deshalb noch nicht die Anwendung des § 65 des Unfallver- Digitized by Google 15. Januar 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 48 sichenmg8gesetze8 zur Herabsetzung der rechtskräftig auf 25 Prozent festgesetzten Rente auf 20 Prozent gutgeheissen haben. Denn diese Besserung der Erwerbsfähigkeit um nur 5 Hunderttheile kann nicht als „wesentlich“ im Sinne jener Gesetzesstelle angesehen werden. Der Genossenschaft kann auch darin nicht beigetreten werden, dass dieser Grundsatz bei an sich niedrigen Rentensätzen deshalb nicht durchgreife, weil dann die Prozentziffer, um welche die frühere Renten¬ festsetzung geändert werden soll, hier also 5 Prozent, einen nicht unwesentlichen Theil des bisher bezogenen Rentensatzes rausmache, also z. B. wie in diesem Falle, ein Fünftel der früheren Rente von 25 Prozent betrage. Denn der für jene Spruchübung entscheidend gewesene Grund ist der, dass es erfahrungsgemäss nicht möglich ist, den Einfluss von Körper¬ schäden auf die Erwerbsfähigkeit bis auf einzelne Hundert¬ theile genau zu schätzen und Abweichungen in der Schätzung um weniger als 10 Hunderttheile als richtig oder unriohtig nachzuweisen. Diese natürliche Fehlergrenze jeder Schätzung ist dieselbe bei hoher und bei niedriger Erwerbsfähigkeit und es kann deshalb auf das Verhältniss der Prozentzahl, um welche sich die Erwerbsfähigkeit geändert haben soll, zu der bisher gütigen Prozentzahl der Erwerbsunfähigkeit nicht ent¬ scheidend ankommen. M. Ans dem Ober-Yerwaltungsgeriebt. Befreiung von der Gewerbesteuer bei Privatirrenanstalteu. Entscheidung vom 16. März 1899. Der als Unternehmer einer Privatirrenanstalt in der Ge¬ werbesteuerklasse m zu 80 M. Steuer veranlagte Dr. med. N. machte behufs Begründung des von ihm erhobenen Anspruchs auf Steuerfreiheit geltend, dass seine Anstalt ein der Erziehung und dem Unterricht jugendlicher Idioten dienendes Institut sei und dass es sich demnach bei dem Betriebe dieser Anstalt seinerseits lediglich um die Ausübung der nach § 4 No. 7 des Gewerbesteuergesetzes vom 24. Juni 1801 der Gewerbesteuer nicht unterliegenden ärztlichen und erziehenden Thätigkeit handle. Der Einspruch wie die Berufung des Veranlagten wurden zurückgewiesen, die letztere mit folgender Begründung: Nach der grossen Zahl der in ihrer Anstalt untergebrachten Kranken (70 bis 75), nach der Höhe der gezahlten Pflege¬ kosten (400 M. jährlich für die Person neben einer jährlichen Unterstützung der Anstalt seitens der Provinz mit 7000 M.), sowie mit Rücksicht auf das zahlreiche Hilfspersonal (zehn Personen) muss angenommen werden, dass Sie bei ihrem Ge¬ schäftsbetriebe in überwiegendem Masse Vermögensinteressen verfolgen, während der Zweck Ihnen Ihre Studien und wissen¬ schaftlichen Forschungen durch Unterhaltung der Heüanstalt zu erleichtern oder eine bessere Behandlung der Idioten zu ermöglichen, hinter dem Erwerbszweok zurüoktritt Unter fliesen Umständen ist die Ausübung des ärztlichen und er¬ zieherischen Berufs als Thätigkeit im Gewerbebetriebe anzu¬ sehen. Der Betrieb Ihrer Anstalt unterliegt daher der Ge¬ werbesteuer. Die hiergegen eingelegte Beschwerde wurde vom Oberverwaltungsgericht unter Freistellung von der Ge¬ werbesteuer für begründet erachtet, indem Folgendes ausge¬ führt wurde: Nach der von keiner Seite bezweifelten Angabe des Beschwerdeführers werden in seiner Anstalt nurkindliohe Idioten noch zurückgelegtem sechsten Lebensjahre aufgenom¬ men und auch diese nur bis zur Konfirmation, oder wenn sie nicht so weit gefördert werden können, bis zum Eintritt der Pubertät, durchschnittlich bis zum 17. oder 18. Lebensjahre behalten. Es erscheint daher ohne Weiteres glaubhaft, dass der Beschwerdeführer mit dem Betriebe seiner Anstalt als Hauptzweck die Erziehung und die Förderung der geistigen Entwicklung jugendlicher Idioten bei geeigneter körperlicher Pflege und geeignetem Unterricht unter seiner ärztlichen Leitung und Aufsicht verfolgt. Die mit dem Betriebe der Anstalt von ihm entwickelte Thätigkeit ist demnach in der Hauptsache eine ärztliche und erzieherische. Die Gewährung von Wohnung und Verpflegung stellt sich, da jeder thatsäch- liche Anhalt für die Annahme fehlt, dass er daraus einen be¬ sonderen Gewinn zu erzielen beabsichtigte, lediglich als Mittel zur Ausübung dieser Thätigkeit dar und tritt ihr gegenüber als Nebensache zurück. Ebenso unerheblich ist dabei auch, dass der Beschwerdeführer zum Zweck des Unterrichts einen Lehrer und eine Lehrerin hält, während er selbst nur Sprach¬ übungen mit an Sprachstörungen leidenden Zöglingen vor¬ nimmt. Denn diese Personen haben ebenso wie die Wärter, die Wärterinnen, die Haushälterin und dergl. gegenüber der durch den Beschwerdeführer selbst ausgeübten Leitung und Beaufsichtigung des ganzen Unternehmens nur die Bedeutung von untergeordneten Hilfskräften des ärztlichen Unternehmers. Da es sich hiernach lediglich um die Ausübung einer ärzt¬ lichen und erzieherischen Thätigkeit handelt, so war der Be¬ schwerdeführer gemäss § 4 No. 7 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer freizustellen. M. Bücherbesprechungen und Anzeigen. Elsner, Dr. Fritz. Die Praxis des Chemikers bei Unter¬ suchung von Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Gebrauohsgegenständen. 7. Auflage. Mit 182 Abbü- dungen im Text und zahlreichen Tabellen. Hamburg und Leipzig 1000. Leopold Voss. 852 Seiten. Preis 14 M. Die 7. Auflage des bereits rühmlichst bekannten Werkes hat unter eingehender Berücksichtigung der „Vereinbarungen* öffentlicher Chemiker und aller amtlichen Verordnungen, sowie der gesammten Fachliteratur, die durch die eigenen Erfahrungen des Verf. bestätigt und ergänzt wurde, zu einer vollständigen Umarbeitung der Hauptabschnitte geführt Nicht nur dem Nahrungsmittelchemiker, für den es in erster Linie bestimmt ist, sondern auch dem ärztiiohen Sachverständigen, an den in neuerer Zeit in sanitätspolizeilioher und in forensischer Hinsicht immer grössere Anforderungen herantreten, wird das reich¬ haltige und in ausgezeichnet klarer Weise geschriebene Buch ein zuverlässiges Hilfsmittel für die Arbeit auf dem entsprechen¬ den Gebiete sein. Neu ist das Kapitel über das Wesen und die Verwendung der X-Strahlen. Firgau. Scholz, Dr. F. sen.-Bremen. Von Aerzten und Patienten, lustige und unlustige Plaudereien, München, 1900, Seit! u. Schauer, 102 S. — Pr. 8 Mark. — Die liebenswürdige Art der Schreibweise und die vor¬ nehme Auffassung des ärztlichen Berufes wird in dieser kleinen Schrift, welche mit überlegenem Witz und köstlichem Humor das Verhältniss zwischen Aerzten und Patienten behandelt, jeden Leser erfreuen, der sich inmitten des jetzt tobenden Konkurrenzkampfes im ärztlichen Stande noch ein offenes Herz bewahrt hat für eine über die kleinlichen Verhältnisse des alltäglichen Lebens erhabene Lebensanschauung. Digitized by LjOOQie 44 Aerztliehe Sachverständigen-Zeitung. No. 2. Tagesgeschichte. Anzeigepfiicht bei Tuberkulose. Das Königliche Landes-Medizinalkollegium in Dresden nahm in seiner letzten Plenarsitzung folgenden An¬ trag an: Die Plenarversammlung erachtet die Einführung einer Anzeigepflicht bei Tuberkulose für erforderlich, und zwar in dem Umfange, dass 1) jeder Todesfall in Folge von Lungen¬ oder Kehlkopfschwindsucht von den Leichenfrauen mittels Meldekarte, auf welcher iu denjenigen Fällen, in denen der Verstorbene unmittelbar vor dem Tode von einem Arzte be¬ handelt worden ist, der betreffende Arzt die Todesursache zn bescheinigen hat, der Ortsbehörde anzuzeigen ist, 2) die Aerzte in jedem Falle, in welchem ein an vorgeschrittener Lungen- oder Kehlkopfschwindsucht Erkrankter aus seiner Wohnung verzieht oder in Rücksicht auf seine Wohnungsverhältnisse seine Umgebung hochgradig gefährdet, der Ortsbehörde An¬ zeige zu erstatten haben, 3) jeder in Privatkrankeuanstalten, in Waisen-, Armen- und Siechenhäusern, sowie in Qasthöfen, Logirhäusern, Herbergen, Schlafstellen, Internaten und Pen- sionaten vorkommende Erkrankungsfall an Lungen- oder Kehl¬ kopfschwindsucht von dem behandelnden Arzte bez. von dem Anstalts- oder Haushaltungsvorstand bei der Ortsbehörde an- zumelden ist. Dieser Antrag fand bei absatzweiser Berathung und Abstimmung Annahme. in Bezug auf Unfallhäuflgkeit mit 16,97 entschädigungspflich¬ tigen Unfällen auf 1000 Vollarbeiter der gefährlichste Zwei sein. Es folgen die Müllerei mit 13,51, die Spedition, Speicherei und KeUerei mit 12,36, das Berggewerbe mit 12,09, der Stein - bruchsbetrieb mit 11,94, das Tiefbaugewerbe mit 11,85, die Holzindustrie mit 11,77, die Binnenschifffahrt mit 11,35, die Brauerei mit 11,31, das Baugewerbe mit 11,04, die Papier¬ industrie mit 9,27, die Seeschifffahrt mit 8,95, die Eisen- und Stahlindustrie mit 8,92, die Zuokerindustrie mit 7,89, die chemische mit 7,76, die Brennereiindustrie mit 7,67, die Fleischerei mit 7,03, die Nahrungsmittelindustrie mit 6,79, die Ziegelei mit 6,71, das Sohornsteinfegergewerbe mit 6,14, die Privatbahne n mit 5,86, die Feinmechanik mit 5,38, die Lederindustrie mit 5,23, die Gas- und Wasserwerke mit 5,14, die Strassenbahnen mit 4,21, die Glasindustrie mit 4,07, die Musikinstrumenten- Industrie mit 3,96, die Textilindustrie mit 3,41, die Papierver¬ arbeitung mit 3,39, die Buchdruokerei mit 2,66, die Töpferei mit 2,33, die Bekleidungsindustrie mit 2,18, die Seidenindustrie mit 1,26 und die Tabaksindustrie mit 0,42. Was die Unfall¬ schwere betrifft, so kamen an Todesfällen auf 1000 Vollarbeiter bei der Binnenschifffahrt 2,99, bei der Seeschifffahrt 2,77, bei dem Fuhrgewerbe 2,35, bei dem Bergbau 2,06. Das würden die Betriebe mit den schwersten Unfallfolgen sein. Bei der Tabak- und Seidenindustrie kamen je 0,02, bei der Bekleidungs¬ industrie und dem Buchdruckergewerbe je 0,08 Todesfälle auf 1000 Vollarbeiter. Diese vier Gewerbszweige würden also auf der entgegengesetzten Seite stehen. Arbeiterversicherong des deutschen Reichs. Das Reichs-Versicherungsamt hat beim Jahresanfang Ver¬ anlassung genommen, einen Ueberblick über Einrichtung und Leistung der Arbeiterversicheruug zu geben. Für die Kranken¬ versicherung sind dabei die Verhältnisse des Jahres 1897, für Unfall- und Invalidenversicherung die des Jahres 1898 zu Grunde gelegt. Danach gab es bei der Krankenversicherung 8,8 Millionen Versicherte, wovon 6,9 Millionen Männer und 1,9 Millionen Frauen waren, bei der Unfallversicherung 16,7 Milüonen Versicherte und zwar 12,9 Millionen Männer und 3,8 Millionen Frauen, bei der Invalidenversicherung 12,7 Millionen Versicherte und zwar 8,4 Millionen Männer und 4,3 Millionen Frauen. Die Einnahme für die gesammte Arbeiter¬ versicherung in den Jahren 1885 bis 1897 belief sich auf 2,9 Milliarden, die Ausgabe auf 2 Milliarden und das Vermögen auf 889,5 Millionen. Die Entschädigungsleistungen betrugen für dieselbe Zeit bei der Krankenversicherung 1,2 Milliarden, bei der Unfallversicherung 366,7 Millionen, bei der Invalidenver¬ sicherung von 1891 bis 1897:254,4 Mill. Mk. Die gesammten Ent- sohädigungsleistungen eines Jahres waren von 54,1 Millionen im Jahre 1885 auf 256,4 Millionen im Jahre 1897 gestiegen und werden in 1899 voraussichtlich 304,5 Millionen betragen haben. Die in den Jahren von 1885 bis 1899 gezahlten Entschädi¬ gungen in der ganzen Arbeiterversicherung sind mit 2,4 Milli¬ arden anzusetzen, wovon 1099 Millionen als von den Arbeit¬ gebern, 1164 Millionen als von den Arbeitern und 150 Millionen als durch Reichszuschuss aufgebracht angesehen werden müssen. Unfallgefahr der einzelnen Gewerbszweige. Durch die für 1897 vom Reichsversicherungsamt veran¬ staltete Unfallstatistik ist eine einigermassen zuverlässige Grund¬ lage für einen Vergleich der Unfallgefährliohkeit der einzelnen Gewerbszweige gewonuen. Danach würde das Fuhrgewerbe Invaliditfits- und Altersversicherung in Norwegen. ] {Dem Norwegischen Storthing ging vor einiger Zeit ein Gesetzentwurf über Invaliditäts- und Altersversicherung zu r die eine das ganze Volk umfassende Versicherung in Aussicht nimmt. Diesem Plane ist jetzt die Mehrheit der Kommission, die sich mit dem Entwürfe beschäftigt hat, beigetreten. Danach sollen alle männlichen und weiblichen Personen in Norwegen vom 16. Lebensjahre ab verpflichtet sein, Beiträge zur Ver¬ sicherung zu zahlen. Als niedrigste Rente werden 150 Kr. und als höchste Rente 600 Kr. ausgezahlt. Eine besondere Alters¬ grenze wird für den Bezug der Rente nicht vorgeschrieben; Letztere wird fällig, wenn Jemand unfähig ist, mindestens 40 pCt. seines gewöhnlichen Einkommens zu verdienen. Für zufällige Invalidität wird gleichfalls Ersatz geleistet, sofern sie über ein halbes Jahr währt. Amtliohe Unfallversicherung in Oesterreich. Während bei uns in Deutschland die Unfall-Versicherung zur Zufriedenheit der Betheiligten funktionirt, und andere Staaten uns auf den von uns vorgezeichneten Bahnen folgen, scheint in Oesterreioh in weiten Kreisen Unzufriedenheit mit der dort bestehenden staatlichen Unfall-Versicherung zu herr¬ schen. Es ist das aus folgender Nachricht zu ersehen. Der Niederösterreiohische Gewerbe verein, der Central verband der Industriellen Oesterreichs, der industrielle Klub und der Bund Oesterreichischer Industrieller haben an das k. k. Ministerium des Innern eine Petition gerichtet, in welcher sie ersuchen, dasselbe wolle im Einvernehmen mit dem k. k. Handels¬ ministerium Angesichts der unhaltbaren Verhältnisse der Oesterreichisohen Unfallversicherung, und zwar bevor die geplante abermalige Erhöhung der Beiträge durch- geführt wird, au eine Reform des Unfallversicherungs¬ gesetzes schreiten und den Entwurf der bezüglichen Novelle den betheiligten Korporationen zur Aeusserung übermitteln. Verantwortlich für dun Inhalt: ür. L. Becker in Berlin. — Verlag und Eigenlhum von Richard Bcboeta in Berlin. — Druck von Albert Damcke, Berlin. Digitized by Google IM« „Aentliche Sachventftndigen-Zeitung 41 erscheint monatlich nrdouL Dinelb« lat sn bsalehen daroh den Buchhandsl, dl« Pott (Na 36) oder durch die Verlagsbuchhandlung ron Blahard Behosts, Berlin NW., Lnlsenstr. 86, tum Preise ▼on Mfc. 6.— pro Vierteljahr. Sachverständigen-Zeitung Aerztliche Alle Manuskripte, Mltthellungen und redaktionellen Anfragen beliebe man ca senden an SanitAtsroth Dr. L. Becker, Berlin 8W., Gneisenauatri 80. Korrektoren, Rezensions-Exem¬ plar«, Bonde rabdrüeke an die V erlagsbuehhandlung^ Inserate und Beilagen an die Annoncen-Expedltion m Rudolf Moese. Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und Unfall-Heilkunde. Her ausgegeben von Dr. L. Becker Dr. A. Leppmann Banitltsrath, Königlicher Phjalkns, Vertraoensarot Sanitttsrath, Königlicher Phjsikns, int der Beobaohtungsanstalt für gelates- ▼on Berufrgenoeeenschaften und Behledegerichten. kranke Oefkngana ln Moabit-Berlin, Bpeeisdarnt für Narren- u. Geisteskranke. Verlag von Richard Schoetz, Berlin NW., Luisenstrasse 36. VI. Jahrgang 1900. 3 . Ausgegeben am 1. Februar. Inhalt: Originalton: Seydel, Einiges über den Verblutongstod. S. 45. Wagner, Simulation ira Bahnbetriebe mit besonderer Berücksichti¬ gung der sogenannten traumatischen Neurose. S. 47. Referate: Allgemeines. Hofacker, Die polizeiärztliche Untersuchung der Prostituirten gemäss Ministerialverfügung vom 13. Jnni 1893 über die Ueberwachung der Prostitution. S. 52. Schmolck, Fall von Syphilis insontium. S. 53. Psychiatrie und Neurologie. Bürgt, Dispositionsfähigkeit bei Aphasie. S. 53. Kazo wsky, Beitrag zur Lehre von den Veränderungen des Nerven¬ systems bei Erschütterungen. S. 53. Linow, Ueber traumatische Entstehung der Paralysis agitans. S. 53. Chirurgie. Fraenkel, Ueber Pneumothorax durch einfache Lungen - zerreissung. S. 63. Ehret, Beiträge zur Lehre der Scoliose nach Ischias. S. 54. Bähr, Kritische Bemerkungen zur Scoliosis ischiadica. S. 54. B ä h r, Auftreten von Plattfussbesch werden bei Bein Verletzungen. S.54. Bardescu, Eine neue operative Behandlung der varicösen Unter¬ schenkelgeschwüre. S. 54. Vergiftungen. Vogel, Ein Fall von chronischer Trionalvergiftung. S. 55. Schüler, Vergiftung durch Brommethyl. S. 55. Bohlen, Ein Fall von akuter Lysol Vergiftung. S. 55. Herzog, Selbstmord durch Lysol. S. 55. Hygiene. Kays er, Aphorismen über die Statistik der Beanstandungen von Nahrungsmitteln. S. 56. Liebreich, Gutachten über die Wirkung der Borsäure etc. S. 56. Aus Versammlungen und Vereinen. Psychiatrischer Verein zu Ber¬ lin. Original-Sitzungsbericht. — Nürnberger medizinische Gesellschaft. Ueber traumatische Herzerkrankungen. S. 57. Gebührenweseii. Verjährung ärztlicher Forderungen nach dem neuen Bürgerlichen Gesetzbuch. S. 59. Gerichtliohe Entscheidungen: Ans dem Reichs-Versicherungsamt. Zwei Obergutachten über die Frage des ursächlichen Zusammen - hanges zwischen einer tödtlich verlanfenden Lungenentzündung (in einem Falle verbunden mit Brustfellentzündung) und einem Trauma, das die Brust betroffen hat (Kontusionspneuraonie). — Aerztliches Gutachten und Augenschein des Schiedsgerichts. S. 60 Bfloherbesprsohungeu und Anzeigen: Lehmann n. Neumann, Atlas und Grundriss der Bakteriologie und Lehrbuch der speziellen bakter io- logischen Diagnostik. S. 63. Tagesgeschlohte: Das neue Seuchengesetz. — Zur Krankenversiche¬ rungs-Gesetzgebung. — Gegen das Kurpfuscherwesen. — Zur Medizinalreform. —- Bestrafung wegen Betrugsversuchs. — Die Deutsche Gesellschaft für Volksbäder. — Der 18. Kongress für innere Medizin. S. 63. „Einiges über den Verblutungstod“. Von Prof. Dr. Seydel-Königsberg. Der Verblutungstod gehört ebenso wie der Erstickungstod zu den dem Gerichtsarzte häufiger vorkommenden Todesarten, und er ist oft schon aus der äusseren Besichtigung der Leiche mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erkennen. Mitunter kompli- ziren denVerblutungstod allerdings andere Erscheinungen, welche die Diagnose ,Verblutungstod“ oft wesentlich modifiziren. Eine Reihe von des Interesses werthen Fällen kam in den letzten Monaten zn meiner gerichtsärztlichen Kenntniss, die ich in ihrem Endergebnis im Nachstehenden kurz zusammenfassen möchte. Bekanntlich kommt der Verblutungstod dem Gerichtsarzte am Häufigsten vor bei Stich- und Schussverletzungen, ferner liefern die Entbindungsfolgen ein sehr grosses Kontingent, während die übrigen Verletzungen, die den Verblutungstod her¬ beiführen, relativ selten sind; ich erinnere nnr an Platzen von Varicen, Verletzung des plexus pampiniformis bei Schwangeren u. s. w. In Bezug auf die äussere Erscheinung der Leiche nach Verblutungstod ist als feststehend anzusehen, die sehr blasse, weissgelbliche Hautfarbe, die Blässe, oft ganz weisse Färbung der Schleimhäute der Lippen, Konjunktiven etc., die sehr gering¬ fügige und schwache Entwickelung der meist hellrothen Todten- fiecke, die früh eiutreteude und sehr stark entwickelte Todten- starre u. 8. w. Bei der inneren Untersuchung finden wir, vorausgesetzt, dass es sich um eine frische Leiche handelt, die Innenfläche der weichen Kopfbedeckungen vorn und hinten blassgelb oder weiss trocken, die Lungen trocken und blass an der Vorder¬ fläche, an der Hinterfläche oft etwas bläulich verfärbt und bluthaltig, die linke Herzhälfte in der Regel ganz leer oder nur Spuren geronnenen Blutes enthaltend, die Gefässe der Hirnhäute mit sehr geringem Blutgehalt, wobei die Senkung nach der Hinterfläche der Leiche, vorausgesetzt, dass diese nach dem Tode längere Zeit auf dem Rücken lag, stets eine gewisse Rolle spielt. Die grossen parenchymatösen Organe des Unterleibes lassen mehr oder weniger Blutleere erkennen, die aber nie so gedacht werden darf, als ob jeder Blutstropfen daraus entfernt ist. Die Blutmasse, welche dem menschlichen Körper bis zum Verblu¬ tungstode entströmt, ist ja nicht immer gleich, sie entspricht in erster Linie dem Körpergewichte des Verstorbenen, wie ich an einigen Beispielen später ausführen werde und dann vor Allem ist sie abhängig von der Schnelligkeit des Ausströmens und der Beschaffenheit des Herzens. In Bezug auf die Quelle der Verblutung ist es wohl ziemlich gleich, ob es sich um an¬ geschnittene oder zerrissene Arterien oder Venen handelt, ob Digitized by Google 46 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 3. diese gross oder klein sind; je schneller das Blut aus der Summe der verletzten öefässe ausströmt, desto schneller tritt die den Tod herbeiführende Herzlähmung ein. Wesentlich dürfte es auch sein, ob bei der Verblutung der Mensch steht oder liegt, ob derselbe durch vorangegangene Misshandlungen oder Angriffe z. B. Strangulation erregt und gleichzeitig er¬ schöpft ist. Im Allgemeinen wird bei mittelgrossen Menschen bei schnellem Ausfliessen des Blutes eine Menge von 15—1800 gr zur Herbeiführung des Verblutungstodes genügen. Eine ganze Reihe von Beobachtungen, die ich in dieser Richtung durch exakte Messungen angestellt habe, geben mir immer wieder die Bestätigung dieser Annahme. Bei der inneren Verblutung, namentlich wenn dieselbe nach Schussverletzung und Zerreissung mehrerer kleiner Gefasse, daher nicht so rapide, erfolgt, kann sich die Menge etwas steigern. Das höchste Blutquantum, das ich unter solchen Verhältnissen in der Brust-und Bauchhöhle eines 187 cm grossen, sehr kräftigen Offiziers fand, bei dem nachweislich gar keine äussere Blutung stattgefunden hatte, betrug 2000 gr. Der Schusskanal hatte die Leber, Lunge, linke Niere und Milz durchsetzt. Eine Komplikation oder Modifikation tritt beim Verblu¬ tungstode ein, wenn durch die Art der Verletzung lebenswich¬ tige Organe in ihrer Punktion gehemmt werden. Dies sieht man am Häufigsten bei Stich- oder Scbussverletzungen des Herzens oder der grossen Gefasse, soweit sie noch im Herz¬ beutel sich befinden. Bekanntlich entleert sich, namentlich bei Ventrikel Verletzungen, das Blut oft sehr langsam aus der Verletzung, die bei jeder Kontraktion und Relaxation die Form der Wunde ändert. Es entstehen auf diese Weise Blutgerinsel, die ganz allmählich den Herzbeutel anfüllen, sich schalenartig um das Herz legen und dies Organ durch Kompression allmäh¬ lich an seiner Arbeit hindern, so dass der Tod durch Herz¬ lähmung auf diesem Wege eintritt. Eine ganze Reihe von Präparaten habe ich im Laufe meiner forensischen Thätigkeit den Leichen Stichverletzter entnommen und bewahre sie in meiner Sammlung. Die übrigen Leichenerscheinungen ent¬ sprechen in solchen Fällen natürlich, wenn nicht grössere Blutmengen auf anderen Wegen dem Körper entströmt sind, mehr dem Erstickungstode. Die Anfüllung der Hirngefässe, der Lungen etc. ist oft sehr ausgesprochen. Eine Schussverletzung hat vor einigen Monaten uns Ob¬ duzenten einen höchst eigentümlichen Befund geliefert. Auf einer Jagd wurde ein kräftiger 45jähriger Mann durch ein beim Aufschlagen auf einen moosbedeckten Stein rikoschettirendes grobes Schrotkorn (Rehposte) im Halse verwundet. Er kam auf den Schützen etwa 30 Schritte zugegangen, sagte zu ihm „Du hast mich getroffen“, athmete schwer, warf etwas Blut aus, kniete, sich die Brust haltend, nieder und verstarb in fünf Minuten. An der auffallend blassen, sonst kräftig ge¬ bauten Leiche fand sich auf der linken Seite des Halses etwa 6 cm unterhalb des Unterkieferrandes eine 1 cm im Durch¬ messer haltende rundliche Wunde mit schwärzlichen Blut- gerinseln gefüllt. Die Annahme lag nahe, dass sich aus der linken Carotis eine Blutung in die Brusthöhle ergossen hatte, da der Hals nicht besonders angeschwollen war. Die Perkussion der linken Brusthälfte ergab aber keinen gedämpften Schall, höchst eigenthümlich war das Hervortreten der Zungenspitze vor den Kieferrändern und etwas geronnenes Blut in der Mundhöhle. Bei der Oeffnung der Scbädelhöhle fand sich eine starke Gefässanfüllung der Hirnhäute und des Gehirnes, was mit dem Verblutungstode unvereinbar war. Bei der Unter¬ suchung des Halses fand sich, dass das Projektil von links nach rechts den Schildknorpel glatt durchschlagen und die rechte carotis communis in derselben Höhe an ihrer vorderen Peripherie eröffnet hatte. Es befand sich in einer grossen Gerinselmasse, die etwa 250 gr. betrug und sich im Mediastinum bis zur Herzbasis erstreckte. Aus der rechten eröffneten carotis war das Blut in den Kehlkopf geströmt und von hier in die Lungen, die, wie beim Ertrinkungstode ad maximum gefüllt, Blut in den grösseren und kleineren Bronchien sowie im Lungengewebe selbst erkennen Hessen, wie dies Paltauf in seiner Arbeit über den Ertrinkungstod so treffend abgebildet hat. Es komplizirte sich in diesem Falle also Verblutungs¬ und Erstickungstod und beide Todesarten hatten ihre charakteri¬ stischen Erscheinungen zurückgelassen. Wegen angeblicher Verblutung wurde vor einigen Tagen eine Wöchnerin gerichtlich obduzirt, die bei der äusseren und inneren Untersuchung die ausgesprochenen Spuren des Ver¬ blutungstodes darbot. Das linke Bein war, besonders am Oberschenkel, an dessen Vorderfläche sich zwei über Mark¬ stückgrosse blaugraue Flecken fanden, stark angeschwollen. Einschnitte dieser Stellen ergaben eine seröse Durchtränkung der Gewebe, die sich auf die tiefere Hauptschicht beschränkte. Der Uterus von fast Mannskopfgrösse enthielt auf dem fundus dicht unter dem serösen Ueberzuge drei erbsen- bis kirschengrosse weisse, knorpelharte Geschwülste, Fibrome. In der Uterushöhle eine Menge geronnenen Blutes und einen etwa halbhandtellergrossen Rest der Placenta, die gerade auf einem apfelsinengrossen Tumor, der sich dicht unter der Schleimhaut befand, aüfsass. Der Tumor, ebenfalls Fibrom, war sehr erweicht, blassroth, im Uebrigen nicht verändert. Neben ihm sass ein klein apfelgrosser Tumor, der hart und weiss, vollständig blutleer erschien. Die Blutung war hier häufig sich wiederholend und stets in massiger Menge aufgetreten. Die Anschwellung des linken Beines war Folge einer Infusion von Kochsalzlösung ca. 250 gr. Die hier kurz angeführten Beispiele sollen zeigen, dass Kom¬ plikationen des Verblutungstodes eintreten können, welche den Obduktionsbefund oft wesentlich modifiziren und nur durch Berücksichtigung der Nebenumstände ihre Erklärung finden können. Diese etwas aphoristisch gehaltene Mittheilung möchte ich in folgenden Sätzen zusammenfassen: 1. Der Verblutungstod setzt nicht eine völlige Blutleere sämmtlicher Organe durch Ausströmen der ganzen im Körper befindlichen Blutmasse voraus. 2. Es genügt je nach Körpergewicht und sonstiger Be¬ schaffenheit das schnelle Ausströmen von 1500 bis 1800 gr. um den Verblutungstod, d. h. Herzlähmung herbeizuführen, was auch durch die experimentellen Untersuchungen von Ungar vollauf bestätigt wird. 3. Wenn beim Verblutungstode die Funktion lebenswichtiger Organe durch das ausströmende Blut beeinträchtigt resp. ge¬ hemmt wird, so kann eine Komplikation der Todesart (Kon¬ kurrenz der Todesart nach Skrzcezka) entstehen, welche das Sektionsbild sehr wesentlich modifizirt. 4. Neuentbundene verlieren vor dem Verblutungstode meist grössere Blutmengen, weil die Blutung meist langsamer resp. in Absätzen erfolgt, so dass sich die Blutmasse aus den Ge¬ weben theilweise wieder ersetzen kann. Digitized by Google 1. Februar 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 47 Simulation im Bahnbetriebe mit besonderer Berücksichtigung der sogenannten „traumatischen Neurose“*). Von Dr. Rudolf Wagner-Speldorf b. Mülheim a. d. Ruhr. Die Wichtigkeit des Gegenstandes mag es rechtfertigen, wenn ich die Gelegenheit wahrnehme, um ein Thema zu be¬ rühren, das, wenn schon seit Inkrafttreten der Krankenkassen¬ gesetzgebung und des Unfallversicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884 für die Allgemeinheit der Aerzte von grosser und immer steigender Bedeutung, so im Besonderen für uns Bisenbahn¬ ärzte ein ganz besonderes Interesse besitzt. Es ist dies das Vorkommen der Simulation bei Bahn- beamten und Bahnarbeitern. Die Ursachen dieser besonderen Wichtigkeit beruhen auf folgenden Momenten: Zunächst ist schon an und für sich die Thätigkeit eines Bahn¬ subaltern- und Unterbeamten, der Bahnhilfsbeamten und vieler Ar¬ beiterkategorien eine ausserordentlich anstrengende und volle Gesundheit erfordernde, sodass zumal bei vielen das besonders grosse Gefühl der Verantwortung zu der physischen Anstren¬ gung hinzutritt, schon bei gesunden, aber nicht ganz Willens¬ stärken Personen der Wunsch, sich besonders unbequemen odeT lästigen Verrichtungen durch Vortäuschung einer Krank¬ heit gelegentlich zu entziehen, bisweilen menschlich zur Gel¬ tung gelangt, wenn dies glücklicherweise auch nicht gar zu oft vorzukommen pflegt. Vollends aber bei solchen Individuen, welche an einem chronischen Leiden laboriren, namentlich jedoch denen, die vorübergehend relativ leicht erkrankt sind, sodass ein direktes Aussetzen des Dienstes oder der Arbeit vielleicht noch zu vermeiden wäre, macht sich das Bestreben geltend, besonders zu bestimmten Zeiten, wenn Epidemien von Darm¬ katarrh oder Erkrankungen der Athmungsorgane herrschen, auch bei nur leichtem Befallensein sich als dienstunfähig hin¬ zustellen; dass andrerseits schon im Interesse der nioht zu frühen Pensionirung, aber auch aus übertriebenem Eifer chronisch kranke, die gelegentlich sich so elend fühlen, dass sie mit Recht als dienstunfähig zu betrachten sein würden, unter Schädigung ihrer Gesundheit den Dienst fortsetzen, bildet die beruhigende Kehrseite dieser Medaille. Bevor ich auf die für uns besonders in Betracht kommen¬ den simulirten Krankheitszustände im Einzelnen eingehe, ist es nothwendig, verwandte Zustände, welche leicht mit Simu¬ lation verwechselt werden, scharf von dieser abzutrennen und den Begriff der Simulation nicht zu eng zu fassen. Simulation im eigentlichen Sinne heisst Vortäuschung einer Krankheit, welche nicht besteht, durch einen Gesunden. In diesem für den Militärarzt weit häufiger als für den Bahnarzt in Betracht kommenden Sinne der absoluten Simulation wird für uns glücklicherweise nur wenig in Betracht kommt. Ganz anders liegt es mit der partiellen Simulation, besser Aggravation, dem Uebertreiben vorhandenen Krank¬ heitserscheinungen und Vorschützen solcher bei wirklich vorhandenem pathologischen Körperzustand. Bei weitem der grösste Theil der Fälle von Simulation gehört in dieses Gebiet und es dürfte deshalb Beides nicht prinzipiell von einander zu trennen, sondern zusammen als Simulation im weiteren Sinne zu bezeichnen sein. *) Vortrag, gehalten auf der General-Versammlung der Bahn¬ ärzte des Eisenbahnbezirks Essen in Ruhrort am 16. Juli 1899. Auf ganz besondere Schwierigkeiten stösst der Nachweis der Simulation bei solchen Personen, deren Nervensystem durch das Bestehen einer allgemeinen funktionellen Störung alterirt ist Der Hypochonder, der Neurastheniker neigt dazu, seine Beschwerden zu übertreiben, ohne sich dieser Ueber- treibung als solcher bewusst zu sein. Erkrankt ein solcher an einem organischen Leiden, so wird es oft schwer sein, die wirklich begründeten von den nur eingebildeten oder in der Phantasie aufgebauschten Beschwerden zu unterscheiden. Bei den hysterischen tritt hierzu noch der im Wesen solcher Kranken bekanntlich vielfach vorhandene Hang zum Lügen und phantastischen Uebertreiben, der somit zur Wesenheit der Krankheit gehört und daher noch keine Berechtigung zur An¬ nahme einer Simulation giebt. Ein weiterer, ganz ausserordentlich wichtiges Moment, so wichtig, dass ich, je nachdem dasselbe für die Simulation in Betracht kommt oder nicht, es direkt für die Eintheilung der Simulanten in zwei Kategorien benutzen möchte, ist das per¬ sönliche Interesse, welches schon 1871 durch das damals schaffene Haftpflichtgesetz, weit mehr aber, seitdem 1884 das Reichsunfallversicheruugsgesetz in Kraft getreten, sich bei der Masse der Versicherten geltend macht, um nach einem Unfall in den Besitz einer Rente zu gelangen. Es ist keine Frage und menschlich begreiflich, dass in Folge der ungeheuren, Jedem im Volke erkennbaren Bene- fizien, die das Gesetz gewährt, auch die Sucht, aus jedem er¬ littenen Schaden möglichst viel herauszuschlagen, sei es selbst auf Kosten dauernder körperlicher Schädigung, bei vielen Ver¬ sicherten in für den Arzt sehr lästiger Weise in die Er¬ scheinung tritt, da dieser hier in erster Linie berufen ist, den Werth der Beschwerden zu prüfen. Andererseits hat in wissenschaftlicher Beziehung das Ge¬ setz für uns Aerzte bekanntlich viele werthvolle Früchte ge¬ bracht, — sind wir doch erst durch den Zwang, die ätiolo- logische Bedeutung des Unfalles für das Entstehen der ver¬ schiedensten Leiden in den Kreis unserer Erwägungen zu ziehen, eine gerechte Beurtheilung der früher einfaoh abge¬ lehnten Behauptungen verletzter Personen in dieser Beziehung vorzunehmen gezwungen worden. Ich erinnere hier nur an die jetzt als gesichert geltende, früher von chirurgischer Seite direkt bestrittene Möglichkeit, dass Knochen- und Gelenktuberkulosen bei einem an¬ scheinend Gesunden nach Verletzungen entstehen können, dass nach Traumen der Brustwandung Phthisis pulmonum aufzutreten vermag, dass es eine traumatische Pneumonie, traumatischen Diabetes giebt. Ja, von mancher Seite wird die Bedeutung einer Verletzung selbst für die Entstehung von Knochensarkomen am Orte der Verletzung, von In¬ testinaltumoren nach Bauch- und Unterleibstraumen, für welche Boas Beispiele bringt, direkt behauptet, wenn wir auch ein klares Bild, wie der Zusammenhang zu deuten, noch nicht konstruiren können und deshalb v. Büngner für seine Anregung einer diesbezüglichen Sammelforschung dankbar sein müssen. Die Bedeutung von Unfällen für bereits chronisch Kranke, die nur eine plötzliche, bedeutende Verschlimmerung ihres Leidens erfahren, die Art der Beeinflussung dieses Leidens durch den Unfall ist seit Inkrafttreten des Gesetzes immer mehr kritisch beleuchtet. Besonders aber sind es die durch Unfall bedingten Alte¬ rationen des Nervensystems und der Sinnesorgane, welche in hervorragendem Masse unser Aller Aufmerksamkeit bean¬ sprucht haben. Das viel angefochtene Krankheitsbild der „traumatischen Neurose“ Oppenheims ist erst möglich geworden, in den Kreis Digitized by Google 48 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 3. wissenschaftlicher Diskussion zu ziehen, auf Qrund der sorg¬ fältigen klinischen Untersuchung vieler nervös erkrankter Un¬ fallverletzter in den grossen Krankenhäusern unserer Metro¬ polen. Freilich führt gerade dies Gebiet in nächste Berührung mit der Simulation, und es erscheint deshalb, wie es später begründet werden wird, nöthig, scharfe Kriterien für die Fest¬ stellung zu finden. Esseinunmehr gestattet, die Simulation, soweit die¬ selbe nicht mit Unfällen in Zusammenhang steht, aber beim Bahnpersonal besonders in Frage kommt, wenigstens kurz zu besprechen. Von den in ihrem Nervensystem Alterirten und oft der Simulation Verdächtigen, mit denen der Bahnarzt am Meisten zu thun hat, möchte ich zunächst das grosse Heer der Rheumatiker erwähnen, das in sich verschiedene Kategorien begreift. Unter den alten Rheumatikern der Bahn besteht meiner aus einem recht beträchtlichen bahnärztlichen Distrikt sich rekrutirenden Erfahrung nach ein Theil noch aus solchen älteren Leuten, die den Feldzug von 1870 mitgemaoht haben und ihre Beschwerden von den damals durchgemachten Stra¬ pazen, zuweilen von ganz bestimmten Ereignissen her datiren. Bei Weitem aber die Meisten sind ältere Leute, die lange Jahre im Aussendienst starkem Wechsel der Temperatur, heftigem Zug, Durchnässungen und plötzlichen Schweissausbrüchen ausgesetzt gewesen sind und bei denen die Widerstandsfähig¬ keit des Körpers gegen jene Einflüsse allmählich nach¬ gelassen hat. Neben den in den Verhältnissen des Dienstes liegenden Ursachen des chronischen Rheumatismus gesellen sich als be¬ günstigende Momente vielfach Alkoholismus und Arteriö¬ se lerose hinzu. Auch Fälle reiner Alkoholneuritis sind nicht selten. Die beiden in hiesiger Gegend im Volksmunde vielfach zusammengewürfelten Begriffe: Gicht und Rheumatismus, die ja wissenschaftlich streng zu scheiden sind, geben dem Bahnarzt durch das stete Vorhandensein organischer Verän¬ derungen irgend welcher Art bei den Arthritikern, das Fehlen derselben bei den Rheumatikern (abgesehen natürlich von an chronischem Gelenkrheumatismus Leidenden) die Möglichkeit, Simulation für die erste Kategorie vollständig auszuschliessen. Dahingegen liegt es auf der Hand, dass neuralgische Symptome ebenso leicht wirklich bestehen können, wie ihr Vorhandensein vorgetäuscht werden kann, wenngleich man auch hier eine Reihe von Symptomen hat, welche einen Fingerzeig für die wahre Beurtheilung des Krankheitszu¬ standes abzugeben vermögen. In erster Linie spielen hier die persönliche Kenntniss des Charakters und der Lebensweise des betreffenden Individuums, sein Alter, der Nachweis eines momentan bestehenden Inter¬ esses, sich dem Dienste zu entziehen, eine grosse Rolle. Je mehr der Arzt im Laufe der Zeit seine Patienten persönlich kennen zu lernen und ihnen menschlich näher zu treten Ge¬ legenheit hat, um so eher wird er in der Lage sein, wo jeder objektive Befund fehlt, ein richtiges Urtheil zu fällen. Von grosser Wichtigkeit dürfte in solchen Fällen, wo der Verdacht für den Dienstvorsteher vorliegt, dass einer seiner Untergebenen sich durch Vorschützen von Krankheit einer speziellen dienstlichen Leistung entziehen will, eine gleich¬ zeitige diesbezügliche Bemerkung sein, welche im verschlossenen Kouvert mit dem eventuell auszufüllenden Krankenschein an den Arzt gelangt, wenngleich der Letztere sich zu hüten hat, dessentwegen mit irgend welcher Voreingenommenheit die Untersuchung des zweifelhaften Kranken vorzunehmen, weil, Wie die Erfahrung lehrt, ja auch gelegentlich ein mit Recht oder Unrecht bei seinen direkten Vorgesetzten missliebiger Beamter ungerechtfertigter Weise von diesem für einen Simu¬ lanten gehalten werden kann. Welche Rolle bei der Feststellung eventueller Simulation eine häufige Krankenkontrolle zu spielen hat, liegt auf der Hand. Von sonstigen für die Unterscheidung eines wahren von einem vorgetäuschten Rheumatismus oder Gelenkschmerz be¬ stehenden Merkmalen, von denen aber kein einziges für sich allein Bedeutung hat, erwähne ich noch den Wechsel in der Lokalisation der Valleixschen Schmerzpunkte, den bisweilen doch möglichen Nachweis einer Muskel- oder Nervenverdickung bei echter rheumatischer Myositis oder Neuritis, die für ge¬ wisse Nerven- und Muskelaffektionen charakteristische Haltung des Befallenen. Es sei mir erlaubt in dieser Beziehung auf einige erst neuerdings schärfer betonte Punkte hinzuweisen, so auf die sogenannte Scoliosis ischiadica bei länger bestehender wirk¬ licher Ischias, eine reflektorisch durch Muskelkontraktion resp. Erschlaffung bewirkte seitliche Verkrümmung der Lumbal¬ wirbelsäule, auf welche u. a. von Valpius die Aufmerksam¬ keit der Aerzte gelenkt worden ist. Von Wichtigkeit für die Unterscheidung von Ischias und Lumbago, also auch für das wirkliche Bestehen einer dieser beiden Leiden, bei denen die Lokalisation des Schmerzes nicht immer scharf von einander abgegrenzt werden kann, ist auch ein neuerdings von Minor in Moskau hervorgehobenes Moment, das in dem verschiedenartigen Modus besteht, den der ischiadische und der Lumbagokranke einsohlägt, wenn er sich aus der sitzenden Position von der Erde er¬ heben soll, und das M. als Vorder- und Hinterposemodus bezeichnet. Ich habe dasselbe in einigen Fällen bestätigt ge¬ funden. Dass im Uebrigen Schmerzen und Hyperaestesieen, be¬ sonders bei hysterisohenlndividuen in ihrem Projektionsgebiet keineswegs immer der Ausbreitungszone einzelner Nerven ge¬ nau entsprechen und man deshalb in der negativen Deutung etwaiger diesbezüglicher Befunde sehr vorsichtig sein muss, dürfte nur nebenbei zu erwähnen sein. Bezüglich der Gelenkneuralgieen ohne jeden posi¬ tiven Befund möchte ich nur anführen, dass dieselben ab¬ gesehen von Folgezuständen von Trauma, deren organische Residuen abgelaufen, doch sehr vorsichtig zu beurtheilen sind. In nicht seltenen Fällen, in denen ein völlig negativer Befund vorliegt und in denen es auch gelingt das Bestehen einer hysterischen Affektion oder einer centralen Er¬ krankung auszuschliessen, sind diese hartnäckigen, Arbeits¬ unfähigkeit bedingenden Neuralgieen doch die ersten Zei¬ chen beginnender Arthritis deformans, auch gelegent¬ lich tuberkulöser Prozesse, ja auch die Vorläufer später auftretender Geschwülste, ganz abgesehen davon, dass Gelenk¬ neuralgieen auch ohne Erguss besonders mulipel im Früh¬ stadium der tardiven Lues beobachtet werden. Es sind also der Umstände, welche in Betracht gezogen werden müssen, sehr viele und auch wo nach keiner Richtung irgend ein Anhaltspunkt für das wirkliche Bestehen der von dem Patienten angegebenen Schmerzen existirt, wird auch nur der Verdacht der Simulation nur mit grosser Vor¬ sicht auszusprechen sein. Es ist für die ärztliche Praxis besser zu vertragen, — und da die Medizin eben in Vielem doch keine streng exakte Wissenschaft, in der Feststellung mancher Diagnosen rein empirisch gegründet ist, auch entschuldbar — wenn einmal ein Simulant einige Tage sich dem Dienste entzieht, als dass, wie dies ja schon oft vorgekommen ist, auch bei der sorg- Digitized by Google J. Februar 1900. Aerztliche Saohverständigen-Zeitung. 49 faltigsten Krankenhausbeobachtung, ein wirklich Kranker, bei dem sich vielleicht später ein schweres Leiden entpuppt, un¬ gerechtfertigt für einen Simulanten gehalten wird, weil vielleicht ein Schein äusserer Umstände oder seine Antecedentien eine Zeit lang gegen ihn zu zeugen schienen. Der Nachweis einer fälschlichen Bezichtigung seitens des Arztes wird diesem in der Regel, wenn er durch den späteren Verlauf einer Erkrankung erbracht werden kann, sehr übel genommen. Auch ist zu bedenken, dass ja in fast allen, auch der Fälle wirklicher Simulation es sich ja nicht um ganz ge¬ sunde, sondern um solche Individuen handelt, die vorhandene Beschwerden übertrieben, aggraviren. Ein solcher ja leider gelegentlich hervortretender Missbrauch unserer sozial-politischen Gesetzgebung wird nie ganz ver¬ hindert werden können. Wenn also wie erwähnt, bei dem ganzen Heer der chronisch-rheumatischen, der an häufigem Lumbago und Ischias Leidenden der Nachweis der Simulation auf ganz be¬ sondere Schwierigkeiten stösst, so existiren andere Kategorieen von Leiden, bei denen erhebliche Aggravation und Simulation eher entlarvt werden können. Glücklicherweise sind Simulationen innerer Leiden in der Bahnpraxis relativ selten, während dieselben für den Militärarzt eine grössere Rolle spielen. Ich erwähne beispiels¬ weise Selbstintoxikationen; Heller führt in seinem interessan¬ ten Werke über Simulation den Fall eines Rekruten an, der durch Digitalispillen sich tödtlich vergiftete. Ihnen allen bekannt dürfte es sein, dass neuerdings eine grosse Reihe von Fällen festgestellt worden sind, in denen eine künstlich herbeigeführte Pulsbeschleunigung Befreiung vom Militärdienst erwirkte. Ob es sich hier um Atropin handelte, ist mir nicht bekannt. Klagen über Brustschwäche und Brustschmerzen kommen auch dem Bahnarzt oft vor. Der Habitus, die Anamnese und die hereditären Verhältnisse lassen hier oft auch bei man¬ gelndem objektiven Befunde Simulation ausschliessen. Unterleibsleiden, die in Gefängnissen nicht selten vor¬ getäuscht werden, dienen bei Bahnbeamten wohl nur selten zur Simulation; gelegentlich mögen Haemorrhoidalbeschwerden übertrieben werden, wenn auch der von Schmetzer referirte Fall, wo Leute gefärbte Fischbläschen, welche an einem elastischen Stabe, der im Ratum steckte, befestigt waren, dazu benutzten, um Haemorrhoidalknoten vorzutäuschen, wohl kaum häufig Vorkommen mag. Simulation von Harnträufeln ist nach Heller leicht festzustellen, da das Oribicium nach Abwischen bei wirklicher Inkontinenz sofort wieder feucht wird. Von den Erkrankungen des Zentralnervensystems werden fast nur Epilepsie und Geistesstörung zur Simulation ge¬ wählt. Epileptische Anfälle können gelegentlich fast täuschend imitirt werden. Auch die Feststellung von Biss¬ narben der Zunge schliesst nicht immer Simulation aus. Sicherer ist das Fehlen des Kornealreflexes für echte Epilepsie annähernd. Auch pfiegt der simulirte Anfall doch in der Form der Kontraktionen Differenzen zu zeigen; einen länger dauernden simuhrten Opisthotonus hält niemand aus. Ein gutes Mittel ist es, einen Eimer kalten Wassers dem Simulanten über den Kopf zu giessen. Auf die Simulation wirklicher Geistesstörungen will ich, da sie für uns nur sehr selten in Frage kommen, nicht weiter eingehen. Sie hat wesentlich ein forensisches Interesse. Auch simulirte Sehstörungen werden in der bahnärztlichen Praxis, abgesehen von Unfällen, relativ selten eine Rolle spielen, weil naturgemäss für den Bahnangestellten fast stets mehr das Interesse vorliegt, ein besseres als ein schlechteres Sehvermögen, wie er wirklich besitzt, anzugeben. Auch kann es, als Nichtspezialist, nicht meine Aufgabe sein, die hier in Betracht kommenden Verhältnisse zu erörtern, wo ein auf diesem Gebiete so erfahrener Mann, wie Nieden in Bochum, uns einen diesbezüglichen Wegweiser in seinem Buche: „Ueber die Simulation von Augenleiden und die Mittel ihrer Erkennung" an die Hand gegeben hat. Ich erwähne nur, dass es eine grosse Reihe von Methoden giebt, die zum Theil auch jeder Praktiker anwenden kann, um sowohl das Nichtbestehen eines simulirten Augenleidens zu entlarven, wie auch festzustellen, ob ein Vorgefundener pathologischer Befund am Auge künstlich herbeigeführt ist oder nicht Uns allen bekannt ist die Methode der Untersuchung mittelst Prismas zur Entlarvung simulirter einseitiger Blindheit. Ich übergehe ferner die simulirten Gehörstörungen. Simu¬ lation eines Gehörleidens kann für den Bahnarzt wohl am ehesten in Frage kommen, wenn es sich um Folge von Schädelverletzungen oder um allgemeine Körpererschütterung nach Eisenbahnzusammenstössen handelt. In letzterem Falle werden nicht selten bereits bestehende Gehörleiden als durch den Unfall erst hervorgerufen oder verschlimmert dargestellt. Wichmann theilt einen solchen Fall mit. Die Methoden zur Entlarvung doppelseitiger oder ein¬ seitiger Taubheit finden sich ausführlich abgehandelt in dem Buche von Heller: Simulationen und ihre Behandlung, sowie in demjenigen von Boisseau: „Des maladies simulöes et des moyens de les reconnaltre“. Tauber, Müller und Burchardt haben eine Reihe von zum Theil sehr sinnreichen Verfahren angegeben, um einseitige Taubheit und simulirte Schwerhörig¬ keit nach Möglichkeit festzustellen. Im Allgemeinen] kommt die Anwendung dieser Methoden in erster Linie für den Militärarzt in Frage, der ja am meisten mit Simulanten zu thun hat. Gelegentlish könnte einmal die künstliche Hervorrufung von Ohrenfluss durch Einführung reizender Fremdkörper in den äusseren Gehörgang in Erwägung kommen. Beobachtet worden ist das eigenhändige Hineinstecken von Erbsen in das äussere Ohr auch bei nicht Hysterischen zum Zwecke der Provocation von Gehörstörungen. Im Wesentlichen dürfte hiermit in kurzen Zügen die Simulation, soweit sie sich auf Krankheitszustände, bei denen das Moment des Unfalls und der eventuelle Erwerb einer Unfall-Rente nicht in Frage kommt, wo es sich vielmehr um eine kürzere oder längere Dienstentziehung, vielleicht auch iu Herbeiführung einer Alters- oder Invalidenrente handelt, be¬ sprochen sein. Das für uns interessanteste und wichtigste Gebiet der Simulation ist jedoch bei Weitem das der simulirten Unfallsfolgezustände. Ich möchte hier unterscheiden zwischen Simulation der Beschwerden von organischen Unfallsfolgen und solchen funktioneller Störungen. Bereits einleitend gedachte ich derjenigen organischen Erkrankungen, von welchen jetzt feststeht, dass sie thatsäch- lich durch Unfälle hervergerufen werden können. Hier handelt es sich indessen, nicht um Simulation seitens des vom Unfall Betroffenen, sondern um Feststellung ärztlicherseits, ob die zweifellos vorhandene Krankheit wirklich mit Sicherheit oder grosser Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückzuführen, ob eine plötzliche Verschlimmerung eines schon vorher bestehen¬ den organischen Leidens durch den Unfall bedingt ist, oder ob der betreffende Krankheitszustand unabhängig vom Unfall entstanden sein kann oder ist. Hier hat erst, wie schon er¬ wähnt, der Zwang für dem Arzt, sich mit dieser vorher ver- Digitized by Google 50 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 3. nachlässigten Frage zu beschäftigen, gerechte Beurteilungen möglich gemacht, und der Standpunkt hinsichtlich der Bedeu¬ tung des Entstehens eines organischen Herzleidens, einer Phthisis, einer Pneumonie, einer Tabes, eines Gehirntumors einer Bauch- oder Knochengeschwulst, einer echten Epilepsie, einer Diabetes mellitus nach Unfall hat sich durch vielseitige sorgfältige Beobachtung von Einzelfällen und statistische Zu¬ sammenstellung wesentlich verschoben, so dass, wo früher ein solcher Zusammenhang ganz geleugnet wurde, er jetzt vielfach als wahrscheinlich angenommen wird, wenn auch ein sicherer ätiologischer Beweis nur zum kleinen Theil zu führen ist. Simulation fängt in Bezug auf organische Un¬ fallsfolgezustände da an, wo der nachweisbare ob¬ jektive Befund in keinem glaubhaften Verhältniss zu den vorhandenen Beschwerden steht. Auch hier ist der Nachweis der Simulation oft äusserst schwierig und mindestens ebenso häufig ist Simulation ange¬ nommen worden, wo ein objektiver Befund erst mit Hilfe be¬ sonderer Verfahren festgestellt werden konnte. Die Böntgographie hat in nicht wenig Fällen dieser Art die Annahme der Simulation negiren helfen, in anderen sie wieder unterstützt und ist jedenfalls eines der wichtigsten Mittel, um bei Knochen- und Gelenkverletzungen, bei Fremd¬ körpern (Kugeln, Glassplittem und Schrotkörnern) im Knochen die Wahrheit angegeben Beschwerden bei mangelndem palpa- beln Befund eventuell zu erhärten. Schwieriger liegen die Fälle, wo nach normal geheilten und komplizirten Knochenbrüchen bei mässigem Callus sich die Zeit bis zur Wiedererlangung der Erwerbs- fähigkeit ungewöhnlich lange hinzieht. Die Patienten klagen über und Spannung an der Bruchstelle, Schwere in den Extremitäten, Beängstigupgszustände, wenn der Gebrauch forzirt wird. Beine Simulation dürfte hier seltener vorliegen als mangelhafte Energie, zumal bei Disposition zu Neurasthenie und Hysterie, durch aktive und passive Gymnastik, Massage, Bäder, Elektrizität, mediko-mechanische Behandlung muss sich hier stets fast völlige Heilung erreichen lassen, wenn nicht wirklich irreparable organische Störungen bestehen oder die böse Absicht zum Nichtsthun ganz evident vorliegt. Wenn es sich um Entschädigungsansprüche an private Versicherungsgesellschaften handelt, so kann man auch bei sehr wohlhabenden Leuten in dieser Beziehung recht unangenehme Erfahrungen machen. Ohne sicheren Beweis kommt man doch auch hier oft zu der Ueberzeugung, dass aus materiellen Gründen eine verminderte Erwerbsfähigkeit möglichst lange ausgedehnt zu werden versucht wird. Irrtümlicherweise ist Simulation schon angenommen worden, wo es sich um Extremitätenlähmung (peroneus, ra- dialis, ulnaris) handelt in Folge der Einklemmung eines Nerven in eine Knochenspalte und Verlust der Leitung. Die stets bald auftretende Atrophie der Muskulatur, die auf feinen Nerven isolirte Paralyse leiten hier, selbst wenn die Stelle der Einklemmung oder narbigen Verwachsung zu¬ nächst nicht sicher stehen sollte, stets auf die richtige Dia¬ gnose, und die operative Befreiung des Nerven aus seiner Zwangslage hat oft auch bei längerem Bestände der Atrophie noch völlige Bestitutio in integrum zur Folge gehabt. Oft bleiben nach Gelenkkontusionen ohne Knochen¬ brüche mit geringem Bluterguss ins Gelenk sehr lange dauernde Beschwerden zurück, während keine oder nur ganz geringe Veränderungen des Gelenkes nachweis¬ bar sind. Krachende Geräusche im Gelenk bestehen, wie man sich leicht überzeugen kann, in sehr verschiedener Intensität auch bei vielen Gesunden, namentlich älteren Leuten, während sie bei anderen nahezu fehlen. Da man in solchen Fällen, wo sie bei einem Unfallkranken auftreten, nicht weiss, ob und in welchem Grade sie vorher bestanden haben, so bleibt, wenn das Krachen nicht abnorm stark und dann sicher patho¬ logisch ist, nur der Vergleich mit dem entsprechenden Gelenk der anderen Extremität übrig, um einen Massstab zu ermög¬ lichen. Bei nur geringer Differenz der Geräusche, während hochgradige Beschwerden einseitig geklagt werden, ist eine sichere Beurtheilung sehr erschwert. Heller fand unter 200 Schultergelenken Gesunder 19 mal Geräusche, unter 200 Knie¬ gelenken Gesunder 41 mal. Leichte Veränderungen der Gelenkkonfiguration können bestehen, ohne dass irgend welche Beschwerden vorhanden sind, namentlich dann, wenn sie ausserhalb der Gleittlächen und extraartikulär sich befinden. Wenn dieselben leichten Veränderungen bei Andern, ohne dass aus den anatomischen Verhältnissen, event. dem Druck auf einen Nerven ein Grund abzusehen ist, Gegenstand ewiger Klagen bilden, so mag oft Simulation im Spiele sein. Zu beweisen ist sie nur indi¬ rekt, wenn es gelingt, den Nachweis zu erbringen, dass das in Gegenwart des Untersuchers geschonte Glied ohne Mühe bequem gebraucht wird, wenn der Klagende unbeobachtet ist. Ein ebenso unbehagliches Kapitel ist das schmerzhafter Narben nach Quetschungen mit grösseren Weich- theilwunden, sowie nach mehr oder weniger kunst- gemäss ausgeführten Amputationen. Frei bewegliche glatte Narben können keine erheblichen Beschwerden bedingen; wer solche klagt, ist fast stets Simulant. Anders liegt es, wenn die Narbe adhaerent ist. Nicht in jedem Falle müssen hier Schmerzen bestehen, wenn dies auch oft bei gewissen Bewegungen und bei Witterungseinflüssen sowie Traumen der Fall ist. Oft, aber nicht immer, liegen Amputationsneurome vor. Besonders wird nicht selten über Schmerzen an den von par¬ tiellen Fingeramputationen zurückbleibenden Narben geklagt, die ja mitunter Befiexepilepsie hervorrufen können. Seeligmüller erwähnte auf dem X. internationalen medizinischen Kongress einen Lokomotivführer, der in der Amputationsnarbe des entfernten linken Goldfingers die heftig¬ sten Schmerzen haben wollte, die selbst nach Entfernung kleiner Amputationsneurome nicht wichen. Die bei jeder Be¬ rührung hochgradig empfindliche Narbe war jedoch gar nicht empfindlich, wenn sie durch faradische Beizung des Streckers oder Beugers, deren Sehnen mit ihr fest verwachsen waren, ad maximum gezerrt wurde. Hier lag also zweifelsohne Simulation vor. Auch das Auftreten von Leistenbrüchen während der Arbeit in Folge einmaliger hochgradiger Anstrengung giebt gelegent¬ lich Veranlassung, absolute Arbeitsunfähigkeit zu simuliren oder die vielleicht vorhandenen Beschwerden behufs Erlangung einer höheren Bente aufzubauschen. Sind die Bänder deB äusseren Leistenringes, welcher erweitert ist, nachgiebig, ist der plötzlich aufgetretene Bruch leicht reponirbar, so ist es schon sehr auffallend, wenn über dauernd hochgradige Be¬ schwerden, Schmerzen in der Unterbauchgegend geklagt wird, falls nicht die Narkose und der weitere Verlauf das Bestehen einer inneren Hernie oder sonstige abnorme Verhältnisse er- giebt. In einem von mir beobachteten Falle traten angeblich im Anschluss an einen durch plötzliche einmalige Anstrengung bedingten Leistenbruch hochgradige Beschwerden auf. Pat. klagte über häufige Schmerzen im Unter leibe, die ihm jede Arbeit unmöglich machten. Der Befund ergab, abgesehen von einem weiten Leistenring und leicht reponirbarem Bruche keinerlei abnorme Verhältnisse. In der Narkose liess sich im Abdomen nichts Anormales feststellen. Da die Möglichkeit Digitized by Google 1. Februar 1900. Aerztliche Sach v er st ändi gen-Zeitung. 51 einer akuten Enteroptose vorlag, so verordnete ich dem Be¬ treffenden ausser dem Bruchbande eine Peleottenleibbinde, welche angeblich auch die Beschwerden bedeutend hob. Dennoch wollte er nicht im Stande sein, auch nur eine ihm verordnete leichte Arbeit zu vollbringen, welche darin bestand, dass er sitzend Dochte durch die Oeffnungen einer Lampion¬ tasche zog. Er klagte über leichten unwillkürlichen Harn¬ abgang, der ihn ständig belästige und wahnsinnige Schmerzen im Unterleibe, die ihn arbeitsunfähig machten. Im vorliegen¬ den Falle bestand sicher grosse Uebertreibung. Innere Ein¬ klemmungen waren auszuschliessen, da keinerlei akute Er¬ scheinungen hierfür sprachen. Der Betreffende ist von mir sehr häufig ohne jede Anstrengung bei recht gutem Aussehen auf der Strasse spazieren gehend gesehen worden. Was die abnorm lange Heilungsdauer von Knochen¬ brüchen betrifft, so möchte ich betonen, dass hier ein schroffer Unterschied zwischen Simulation und Energielosigkeit zu machen ist Wernachgeheiltem Tibiabruch, ohne dass irgend eine Abnormität vorliegt, zum ersten Male sein Bein normal ge¬ brauchen soll, hat sicher beträchtliche Beschwerden, die der Energische oder meinetwegen gelegentlich auch Böotische eher als der Nervöse oder Schlaffe überwindet. Eine dauernde Simulation lässt sich in solchem Falle, falls nicht Kriterien traumatischer Neurasthenie oder sonstige abnorme lokale Ver¬ hältnisse vorliegen, auf die Dauer leicht feststellen. Auch hysterische traumatische Funktionsstörung wird sich unschwer aus dem Zusammenhänge eruiren lassen. Eine interessante Illustration, wohin die allzuleichte Ge¬ währung von Renten bei geringfügigen Störungen führen kann, gewähren einige von Blasius in Berlin aus seiner um¬ fangreichen Gutachterthätigkeit mitgetheilten Fälle, von denen 2 hier erwähnt seien. Der Arbeiter G. Oe. hatte sich am 7. Januar 1889 den rechten Arm im Ellbogen gebrochen. Seit dem 1. Juli 1891 bezog er eine Rente von 40 Prozent, weil er noch Bewegungs¬ beschränkungen im Ellbogengelenk hatte. Die Rente wurde später auf 20 Prozent herabgesetzt wegen Besserung der Be¬ wegungsfähigkeit. Die Berufsgenossenschaft erfuhr nun, dass Oe. als Preisringer mit dem berühmten A. gerungen und den¬ selben öffentlich besiegt hatte und setzte die Rente herab. Oe. klagte trotzdem. B. fand einen hünenhaften Mann mit 50 cm Oberarmumfang, im Ellbogen Biegung und Drehung vollkommen normal, nur die Streckung um etwa 10° be¬ hindert. In einem anderen, einen Holzarbeiter betreffenden Falle, war wegen Zerreissung einer Ader innerhalb oder ausserhalb der Brust eine Rente von 50 Prozent bewilligt worden. Es wurde bekannt, dass der Mann mit seiner Frau und einem dritten Künstler Reisen mache und als Luftgymnastiker donnernden Applaus ernte. B. fand nur leichte Narben auf der Brust, sonst den Mann ausgezeichnet gebaut und gesund. Interessanter als die Simulation bei psychotisch und neurotisch inkomplizirten Unfällen gestaltet sich das Symptomen- bild, wenn die Uebertreibung oder Simulation rein lokaler Störungen sich mit dem Bilde der Oppen- heimschen traumatischen Neurose mehr oder minder verbindet. Simulation und traumatische Neurose. Indem ich auf das diesbezügliche, von Oppenheim ent¬ worfene Bild recurrire, ist es meine Aufgabe, in kurzen Worten im Einzelnen festzustellen, inwieweit die ver¬ schiedenen von Oppenheim festgestellten objektiven Symptome seiner Krankheit, inwieweit eventuell das gesammte von ihm beschriebene Krankheitsbild simulirbar ist. Da Oppenheim selbst in seinen Broschüren das psychische Moment überaus betont und sogar soweit geht, z. B. Seeligmüller mangelhafte Kenntniss der Psyche vor¬ zuwerfen, und im Gegensatz zu Schulze in Bonn eine richtige Beurtheilung des psychischen Zustandes nach Unfällen nur dem psychiatrisch-spezialistisch geschulten Arzte zutraut, so möchte auch ich die Besprechung des psychotischen Zustandes hinsichtlich seiner Simulierbarkeit dem übrigen voranschicken. Oppenheim betont in seiner Abhandlung zunäohst, dass es ein wirkliches traumatisches Irresein giebt. Das¬ selbe stellt eine wahre Psychose dar und hat, wenn keinerlei nervöse Komplicationen Vorkommen, mit seiner eigenen „trau¬ matischen Neurose 0 nichts zu thun. Bei dieser bilden meist, aber auch nicht immer Stimmungsanomalien den Kern der Seelenstörung, die meist in das Gebiet der Hys¬ terie fallen, zuweilen in das der Neurasthenie oder Hypochondrie, gelegentlich auch einer Kombination dieser Neurosen entstammen. Depression, Angst und Beklemmung, abnorme Erregbarkeit bei plötzlichein Schreck führt 0. hier an. Er bezeichnet diese Symptome als „objektiv* in wissenschaftlichem Sinne; wohingegen ihm von Mendel, Seeligmüller, zuletzt auch von Strümpell und anderen bedeutenden Neurologen vorgehalten wird, dass es sich hier nur um subjektive Angaben der Betreffenden, keine objektiven Thatsachen handle, weil eben das Bild einer aus¬ gesprochenen Geisteskrankheit fehle. Zweifellos liegt hierin etwas Berechtigtes. Ebenso berechtigt dürfte aber der Oppen- heimsche Einwand hiergegen sein, dass der psychiatrisch ge¬ schulte Arzt und Kenner der Hysterie hier doch zumeist Wahres vom Falschen zu unterscheiden in der Lage sei, wenn auch nicht jeder Arzt in gleicher Weise gerade für der¬ artige Untersuchungen vorgebildet wäre. Er nimmt hier einen konträren Standpunkt ein zu Schulze in Bonn, welcher die Voreingenommenheit gerade auf Seiten des ständig mit geistig abnormen Individuen beschäftigten Arztes findet, und die An¬ sicht offen ausspricht, dass man durch das ewige geistige Examen und übertriebene Diftelei in den Untersuchungs¬ methoden die Hysterie unseres Zeitalters nicht noch künstlich bei Männern züchten solle. Oppenheim zieht hingegen diese „Verfügung“ Schutzes über die Hysterie ins Lächerliche. Zweifellos erscheint mir, dass die Wahrheit hier in der Mitte liegt. Berufener als ein beliebiger Arzt ist sicher ein Neurologe, wenn er als Spezialist sich eine objektive Denkart bewahrt hat. Ihm gleich steht aber der mit den in Betracht kommenden Untersuchungsmethoden vertraute erfahrene Prak¬ tiker, wenn er das betreffende Individuum längere Zeit bereits kennt und über seine Verhältnisse orientirt ist. Die von Oppenheim geschilderten Angstanfälle können recht wohl ohne simulirt zu sein auch Folge der Erregung und Furcht vor der ärztlichen Untersuchung bei wirklich Kranken oder auch solchen mit schlechtem Gewissen sein. Auch die abnorme Erregbarkeit, wenn der Kranke von den Accidentien seines Unfalls spricht, ist nicht eindeutig; dieselbe dürfte naturgemäss auch dann bei nervösen Menschen hervortreten, wenn sie dem Arzt etwas vormachen wollen und im Zweifel sind, ob sie es können. Auch diese vermag, was Oppenheim für die traumatische Neurose angiebt, „die Unterredung mit dem Arzte ausser Fassung zu bringen, auch bei ihnen einen Zustand ängstlicher Verlegenheit und Verwirrtheit hervorzurufen und diejenigen somatischen Beschwerden, welche unter dem Einfluss der Psyche stehen, wie das Zittern, die Pulsbeschleunigung, die vasomotorischen Phaenomene bedeutend zu steigern.* Demnach ist zweifellos dieser seelische Zustand oft that- Digitized by Google 52 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 3. sächlich dauernd vorhanden und er kann schliesslich sogar zum Suicidium führen. Auch dürfte Simulation auszuschliessen sein, wenn es sich um epileptisches Irresein und hallucinatorisches Delirium hysterischen Charakters nach Trauma handelt. Oppenheim giebt ferner an, dass in seinem Krankheits¬ bild psychische Anomalien bisweilen völlig fehlen können. In Bezug auf alle diese psychischen Zustände, möchte ich mich der Ansicht von Riegler und Albin Hofmann in Leipzig anschliessen, dass die Existenz des Unfallversicherungs¬ gesetzes an sich, so wohlthätig es für die Allgemeinheit der Arbeiter wirkt, thatsächlich eine Prädisposition für nervöse Komplikationen nach Unfällen, zumal Eisenbahnunfällen zu schaffen scheint. Riegler, der über ein ausgedehntes Beobach¬ tungsmaterial verfügte, stellt fest, dass seit Einführung des Un¬ fallversicherungsgesetzes der Prozentsatz der nach Eisen¬ bahnunfällen in ihrer Erwerbsfähigkeit Behinderten ganz unverhältnissmässig zunahm, und viedizirt der Si¬ mulation einen grossen Antheil an dieser Zunahme. Mir scheint der Hofmannsche Standpunkt richtiger, dass die Leute früher von Anfang an nach dem Unfall wussten woran sie waren, während sie jetzt in einem, ihr schon erschüttertes Nerven¬ system noch ungünstiger beeinflussenden Zustand des „Hangens und Bangens“ in schwebender Pein versetzt werden, bei dem eben so wohl die natürliche Begehrlichkeit des kleinen Mannes, der doch keine Reichthümer erwerben kann, und nun aus der Sache möglichst viel für sich herausschlagen will, wie die Unsicherheit, was und ob er etwas bekommt bei wirklichem Krankheitsgefühl eine Rolle zu spielen. Für die zweifellos oft vorhandene Objektivität des psychi¬ schen Zustandes spricht ja auch, dass, wo gar keine Ent¬ schädigungsansprüche erhoben werden, oder wenn diese längst zur Zufriedenheit erledigt sind, der Zustand sehr oft völlig konstant bleiben kann. Ein weiterer wesentlicher Moment für die Beurtheilung des psychischen Zustandes ist die Frage, in wie weit dieser bereits früher abnorm war. Oft bezeichnen sich die Leute, z. Th. auch aus der irrigen Furcht sich sonst zu schaden, als völlig gesund, während dies nicht der Fall war. Albin Hof¬ mann fand unter 17 Kranken 10 offenbar schwer prädisponirte (7 Mal Alkoholismus, 2 Mal geistig schwache Kinder, 9 Mal Syphilis). Schulze betont die Häufigkeit des Meinöreschen Symptomenkomplexes nach Trauma. Auch das frühzeitige Auftreten von Arteriosclerose bei der Arbeiterbevölkerung kann an sich Erscheinungen von Schwindel und Kopfdruck hervor- rufen, was Seeligmüller hervorhebt. Um der Oppenheim’schen Eintheilung der bei traumati¬ scher Neurose vorhandenen Erscheinungen zu folgen, sei hier erwähnt, dass 0. den Schwindel für ein fast konstantes Symptom der an Kopfverletzungen sich anschliessenden Neurosen be¬ trachtet. Der Schwindel kann indess imitirt werden. Blasius theilt einen derartigen Fall mit. Zu Boden stürzende Simu¬ lanten machen beim Fallen meist die Gewalt des Sturzes be¬ einträchtigende unwillkürliche Bewegungen. Immerhin wird meistens eine Simulation hier unschwer zu erkennen sein. Epileptische Anfälle, die Oppenheim selten beobach¬ tete, werden, wenn sie simulirt werden, durch die übertriebenen Exkursionen der Extremitäten und die Gegenwart des Pupillar- und Cornealreflexes meist erkannt. Meyer berichtet aus der Göttinger psychiatrischen Klinik indessen über einen wahren Schulfall, der schliesslich selbst die Simulation zugestand. Den ungeheuren Kraftaufwand, den die epileptischen Muskel- contraktionen bedingen, vermag, wie bereits erwähnt, mit Bewusstsein Niemand längere Zeit zu ertragen. Der von 0. einige Male auf der betroffenen Seite ge¬ fundene Actic convulsif vermag unter Umständen auch simu¬ lirt zu werden. Das gleiche gilt von sonstigen komplizirten Krampf¬ bewegungen, deren Reellität auf alle Fälle erst nachzu¬ weisen ist. Ein Beweis hierfür ist dann geliefert, wenn die Zuckungen auch im Schlafe bestehen bleiben. Eulenburg lehnte in einem interessanten Falle, der von anderer Seite für einen Simulanten erklärt worden war, — es handelt sich um ganz eigentümliche rhythmische Zuckun¬ gen des linken Arms, wobei der Oberarm dem Rumpfe ge¬ nähert, der Vorderarm rechtwinklig gebeugt vorwärts ge¬ schnellt wurde, — den Zusammenhang der Aflfektion, die er als Schreckneurose betrachtete, mit einem sieben Jahre zu¬ rückliegenden Unfälle ab. Sitz und Ausbreitung des Krampfes blieben im vorliegenden Falle auch bei veränderter Armlage, abgelenkter Aufmerksamkeit durch Eigenthätigkeit des Patien¬ ten, starker Faradisation u. s. w. unverändert bestehen. Was den Schlaf anbetrifft, der nach Oppenheim zu¬ meist beeinträchtigt ist, so konnten andere, z. B. Wichmann in einigen Fällen der klinischen Beobachtung, wo Schlaflosig¬ keit geklagt ward, durch zuverlässige Wärter die Unwahrheit dieser Beschwerden, während im Uebrigen neurotische Kom¬ plikationen bestanden, nachweisen. (Schluss folgt.) Referate. Allgemeines. Die polizeiärztliche Untersuchung der Prostituirten ge¬ mäss Ministerialrerf&gung vom 13. Juni 1898 Ober die Ueberwachung der Prostitution. Von Dr. Hofaoker. (Vierteljahruchrlft für gericht). Mediiin and öffenU. Sanltiitwesen IIL Folge, Bd. XIX, Heft 1.) Verfasser kommt auf Grund seiner als Untersuchungsarzt in Düsseldorf gewonnenen Erfahrungen zu folgenden Schluss¬ folgerungen: 1. Nur wenige Prostituirte entgehen einer Erkrankung. 2. Auf Tripper entfällt die grösste Zahl der venerischen Erkrankungen bei Prostituirten. 3. Das grösste Kontingent zu denselben stellen die ge¬ heimen und die jungen Prostituirten. Die Untersuchungs¬ ergebnisse in Hamburg, Stuttgart und Düsseldorf stimmen ziemlich genau darin überein, dass ein Drittel der aufgegriffenen Weiber an Gonorrhoe leidet. 4. Die Disposition, gonorrhoisch infizirt zu werden, ist bei manchen Prostituirten gross, bei anderen sehr gering. 5. Der Lieblingssitz des Gonokokkus ist die Harnröhre. 6. Durch Einführung einer zweimal wöchentlichen Unter¬ suchung und Anwendung des Mikroskops zum Gonokokken¬ nachweis werden bedeutend mehr Tripperfälle erkannt als früher. 7. Der Tripper der Prostituirten ist heilbar, und zwar in kurzer Zeit, wenn unter Heilung Beseitigung der An¬ steckungsfähigkeit verstanden wird. Die Heilung dauert länger bei den Aufgegriffenen als bei den Eingeschriebenen. Auf Grund seiner Erfahrungen erachtet es Hofacker ferner für nothwendig, dass die Diagnose Gonorrhoe nur auf Grund des Gonokokkennachweises gestellt wird, dass bei allen Prosti¬ tuirten in bestimmten Zwischenräumen die Genitalsekrete mikroskopisch untersucht werden, und dass dies unbedingt und sofort erforderlich ist bei aufgegriflfenen, der Unzucht Digitized by Google 1. Februar 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 53 verdächtigen Frauenzimmern und denen, die unter Kontrole gestellt werden. Roth (Potsdam). Fall von Syphilis insontium. Bin Beitrag zu der Infektionsgefahr in den Barbierstuben. Von Kreisphysikus Dr. S chm o ick-Rastenburg, O.-Pr. (Deutsche medizinische Wochenschrift No. 46, 1899.) Im Anschluss an eine eigene Beobachtung, der eine ein¬ wandsfrei erwiesene syphilitische Infektion durch das Rasir- messer zu Grunde liegt, bespricht Verf. die in der Barbier¬ stube herrschenden hygienischen Mängel, zu deren Beseitigung er den Erlass einer folgende Bestimmungen enthaltenden Polizeiverordnung verlangt: 1) Das Rasirmesser und der Pinsel müssen vor dem Gebrauch in kochendes Wasser gehalten werden (die Zeitdauer mögen die Bakteriologen bestimmen). 2) Jeder zu Rasirende soll ein frisch gewaschenes Leinentuch erhalten, welches zugleich zum Vorlegen und zum Abtrocknen benutzt wird. In den billigen Barbierstuben kann dasselbe durch eine Papier-Serviette ersetzt werden. 3) Alle übrigen, bisher üblichen Manipulationen, wie das Pudern und das Ein¬ fetten des Schnurrbartes, sind verboten. -y. Psychiatrie und Neurologie. Dispositionsfahigkeit bei Aphasie. Von Dr. G. Bürgt, kgl. Landger.-A. in Nürnberg. (Friedr. Bl. 1899 H. 5.) Bei einer alten Frau besteht nach einem Schlaganfall die Unfähigkeit zur mündlichen Wortbildung in hohem Masse. Es stehen ihr nur einige wenige Worte zu Gebote, die sie fort¬ während anwendet. Ihre Mienen zeigen oft, dass sie das Wortbild nicht finden kann, oft, dass sie es im Geiste hat, aber falsch wiedergiebt. Dabei beantwortet sie schriftlich Fragen, die ihr mündlich gestellt werden und zeigt dabei volles Verständniss für alle ihre Lebensverhältnisse. Ebenso schreibt sie aus Büchern und auf Diktat im Allgemeinen richtig ab. Im Hauswesen zeigt sie sich allen ihren Aufgaben gewachsen, es fehlt ihr nicht an geistiger Regsamkeit. Der Entmündigungsantrag ist demnach abzuweisen. F. L. Beitrag zur Lehre von den Veränderungen des Nerven¬ systems bei Erschütterungen. Von Dr. A. Kazowsky, Dir. d. Gouv.-Irrenanst. zu Bessarabien. (Neurol. Centr. 1899 No. 17.) Es wurden zwei Reihen von Versuchen an Kaninchen an¬ gestellt. Erste Reihe: Durch kräftige, rasch aufeinanderfolgende Schläge mit einem Hämmerchen gegen die Stirnbeine wurden klonische Krämpfe der Gliedmassen und Ungleichheit der Seh¬ löcher, innerhalb einer halben Stunde der Tod herbeigeführt. Es fanden sich kleinste Blutergüsse und Markscheiden-Ent- artung, diese ohne sichtliche Abhängigkeit von jenen, aus¬ schliesslich im verlängerten Mark und obersten Rückenmark. Zweite Reihe: Weniger schnelle und schwächere Schläge wurden jedem Thiere an fünf aufeinanderfolgenden Tagen verabfolgt Jedesmal fielen die Thiere um und hatten schwache Krämpfe; sie erholten sich bald wieder, magerten aber ab und wurden stumpf. Nach der bezeiehneten Frist wurden sie getötet. Wiederum war nur das verlängerte Mark und das oberste Halsmark verändert. Blutergüsse fehlten, die Ent¬ artungsvorgänge waren viel ausgeprägter als bei der ersten Gruppe. Absterben von Axencylindern, das Schmaus in erster Linie betont, wurde nicht gefunden. Verf. ist der Ansicht, dass durch die Erschütterung eine degenerative Nervenent¬ zündung (Bickeles) erzeugt wird. Der Ort der Veränderung braucht keineswegs die Stelle des Angriffe zu sein, er ist viel¬ mehr von mechanischen Bedingungen abhängig, die noch ge¬ nauer erforscht werden müssen. F. L. Ueber traumatische Entstehung der Paralysis agitans. Von Dr. C. L i n o w - Dresden. (Berl. klln. Wochemchr. 1899 No. 44. Ein bis dahin gesunder älterer Arbeiter erlitt bei Gelegen¬ heit eines Sturzes aus unbedeutender Höhe eine Verrenkung des linken Oberarms. Es folgte eine vorübergehende Läh¬ mung der vom Armnervengeflecht versorgten Muskeln. Die Bewegungsfähigkeit des Armes wurde bis auf ziemlich geringe Mängel wiederhergestellt. Einige Monate nach dem Unfall wurde ein geringes Zittern im linken Arm, das nicht sehr be¬ denklich schien, bemerkt. Unter den Augen der ärztlichen Beobachter nahm in den folgenden zwei Jahren das Zittern zu, ergriff den rechten Arm und hat sich jetzt mit Muskel¬ spannungen, allgemeiner Schwerfälligkeit und geistiger Ver¬ sumpfung vergesellschaftet, d. h. zu dem bekannten Krank¬ heitsbilde der Schüttellähmung ausgebildet. Der Fall gehört entschieden zu den mit hoher Wahr¬ scheinlichkeit als „traumatische Schüttellähmung" zu deutenden. Andere Krankheitsursachen fehlen, der Schreck und die Auf¬ regung bei der Verletzung sollen gering gewesen sein. Eine Gehirnerschütterung hat nicht stattgefunden, dagegen bemer- kenswerther Weise eine starke Nervenquetschung. F. L. Chirurgie. Ueber Pneumothorax durch einfache Lungenzerreissung. Aus der inneren Abtheilung des städt. Krankenhauses am Urban. Von A. Fraenkel-Berlin. (Deutsche Aerste-Zeitung, Heft 13, 1899.) Im Gegensatz zu dem bei ausgesprochener Lungen- erkrankung oder Rippenfrakturen vorkommendem Pneumo¬ thorax giebt es auch Fälle von „einfachem“ Pneumothorax, bei welchen die Ursache des Krankheitsbildes nicht auf den ersten Blick erkenntlich ist. Nur bei einem Theile dieser Kranken kommt die Wirkung einer körperlichen Ueberan- strengung, welche mit plötzlicher Drucksteigerung der Luft in den Athmungswegen verbunden ist, als Ursache der Lungen- zerreissung in Frage. Bei anderen fehlt dieses Moment gänz¬ lich, bei einer dritten Gruppe handelt es sich um Patienten, welche zwar niemals mit einem ernsteren Lungenleiden be¬ haftet waren, doch früher einmal irgend welche Symptome von Affektion des Respirationsapparates dargeboten haben. Galliard fasst die Pneumothorax-Kranken aller drei Kategorien unter der Bezeichnung der latenten Emphysematiker zu¬ sammen und ist der Meinung, dass bei ihnen allen ein um¬ schriebenes, eventuell nur auf einige Lungenbläschen be¬ schränktes Emphysem die Entstehung des Pneumothorax ver¬ mittele. Dabei braucht es sich nicht immer um wirkliches echtes Lungenemphysem zu handeln; es genügt ein um¬ schriebenes, interstitielles und zwar subpleurales Emphysem, das, gelegentlich durch eine plötzliche Drucksteigerung der Lungen¬ luft entstanden, einen Locus minoris resistentiae bildet, an dem es nun bei einer weiteren, oft geringfügigen Gelegen¬ heitsursache zur Zerreissung des bis dahin schützenden Pleura¬ tiberzuges kommt. Einen Fall dieser Art theilt Verf. ausführ¬ lich mit: Ein 24jähriger, vordem niemals lungenkranker Schneider hatte beim Heben eines schweren Bügeleisens plötz¬ lich die Empfindung, als ob etwas Besonderes in seiner Brust Digitized by Google Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 3. bi vorgegangen sei. Dennoch vermochte er seine Arbeit bis zum nächsten Tage fortzusetzen, an welchem er bei schnellem Laufen über die Strasse plötzlich von derartigen Schmerzen in der linken Brusthälfte befallen wurde, dass er sich nur müh¬ selig nach Hause schleppen konnte. Der Kranke wurde an schwerer Athemnoth leidend ins Krankenhaus überführt, in welchem auf Grund der Anamnese und der klinischen Symptome die Diagnose auf Pneumothorax durch einfache Lungenzer- reissung und Emphysem des Mediastinums gestellt wurde. Als das wichtigste Kennzeichen für letzteres war ein mit der Herzaktion synchrones, feinblasiges Knistern in der Regio cordis nachweisbar. Dasselbe entsteht durch Verschiebung der Luft¬ bläschen im vorderen Mediastinum in Folge der Herzbewegung. Zwei weitere, die Diagnose unterstützende Symptome waren das Verschwinden der Herzdämpfung und des Spitzenstosses. Dass das Emphysem des Mediastinums nur durch eine, wenn auch umschriebene, Lungenzerreissung, verbunden mit gleich¬ zeitigem interstitiellen Lungen-, resp. subpleuralen Emphysem zu Stande kommen konnte, bedarf beim Fehlen einer Ver¬ letzung der äusseren Haut oder der der Untersuchung zugäng¬ lichen Schleimhaut des Respirationstraktus keiner besonderen Begründung. Die Thatsache, dass es sich hier wirklich um einen „einfachen“, durch Ueberanstrengung entstandenen Pneumothorax handelte, erscheint um so mehr sichergestellt, als durch probatorische Tuberkulininjektionen mit ziemlicher Gewissheit auch das Fehlen einer latenten tuberkulösen Affektion nachgewiesen werden konnte. — y. Beiträge zur Lehre der Scoliose nach Ischias. Von Dr. H. Ehret. Aus der raediz. Klinik der Kaiser-Wilhelm-Universität zu Strassburg. (Mittheilnngen aas den Grensgebieten der Medizin and Chirurgie. Bd. IV, Heft 5, p. 860—708.) Ehret hat durch zahlreiche exakte Messungen an Leichen den normalen Verlauf des Nerv, cruralis und des Ischiadicus und den Einfluss der verschiedenen Lageveränderungen auf diesen Verlauf studirt. Bei diesen Versuchen hat sich er¬ geben, dass durch bestimmte Veränderungen der Lage des Oberkörpers zu den Beiuen auf die Nervenstämme des Ischia¬ dicus und Cruralis gewisse entspannende Effekte sich aus¬ üben lassen. Bei der Entspannung des Nervus cruralis spielt die Flexion des Oberschenkels, bei der Entspannung des Nerv, ischiadicus die Abduktion desselben die Hauptrolle. Im klinischen Theile der Arbeit werden eingehend die Stellungsanomalien des Beins bei Ischias, bei Bettlage und ausserhalb des Bettes geschildert. Diese Stellungen sind identisch mit denjenigen, in welchen beim Versuch an der Leiche die geringste Druck- und Zugwirkung auf die Nerven¬ stämme ausgeübt wird. Die kompensatorischen Lage-Ver¬ änderungen des Beckens treten erst sekundär hinzu. Ver¬ fasser erblickt die ausschliessliche Ursache der Scoliose bei Ischias in der durch letztere bedingten Abduktion des Beines ; ebenso sind nach den Ergebnissen seiner Untersuchungen die Lordose oder Kyphose bei Ischias nur auf die durch letztere bedingte Flexion des Beines, und Rotationsanomalien der Wirbelsäule auf die durch die Ischias bedingte Auswärtsrotation des Beines zurückzuführen. Die Einwände, welche gegen diese rein statisch-mechanische Theorie der Ischias scoliotica erhoben werden können, versucht Verf. zu widerlegen. Jeden¬ falls erklärt diese statisch - mechanische Theorie am ein¬ fachsten die Thatsache, dass die heterologe Form der Scoliose bei Ischias die am häufigsten beobachtete ist. Die Differential¬ diagnose zwischen Ischias und Coxitis wird eingehend er¬ örtert. In therapeutischer Beziehung kommt E. folgerichtig zu dem Ergebnisse, dass in erster Linie — falls die Schmerz¬ haftigkeit des Leidens es gestattet — die Beseitigung der Stellungsanomalie des Beines anzustreben sei, mit deren Beseitigung auch die Scoliose schwindet. Der fleissigen Arbeit ist ein ziemlich vollständiges Litteraturverzeichniss sowie eine Reihe guter photographischer Abbildungen bei¬ gefügt. Adler. Kritische Bemerkungen zur Scoliosis ischiadica. Von Dr. Ferdinand Bähr-Hannover. (Arch. f. kl ln. Chir., 56. Bd., Heft 2.) Die Arbeit enthält ausserordentlich interessante Bemer¬ kungen und Beobachtungen; sie kommt zu dem Resultate: „dass die Vorgefundenen Variationen der Rückgratsverkrümmungen und ihrer Begleitsymptome im Zusammenhang standen mit ver¬ schiedener Lokalisation der Nervenerkrankung (der Schmerz¬ haftigkeit), welche es mit sich bringt, dass in einem Falle dieser, in einem andern Falle jener Körpertheil vor Druck geschützt werden muss“. Wer viel Gelegenheit hat, die Entstehung der Scoliosen bei Unfallverletzten zu beobachten, wird der Be¬ hauptung Bähr’s beipflichten müssen, dass man aus statischen Gründen das Auftreten homologer und heterologer Formen er¬ klären könne. Caspari. Auftreten vonPlattfussbeschwerden bei Beinverletzungen. Von Ferd. Bähr. Hannover. (Mtsiohr. f. UnfAllblk. 1809, No 7.) In der Unfallpraxis werden im Allgemeinen Plattfussbe- schwerden dann auf einen Unfall zurückgeftihrt, wenn ihre Entstehung mit demselben mehr oder weniger in direktem Zu¬ sammenhang stand, d. h. bei Quetschungen des Fusses, Hei¬ lungen von Knöchelbrüchen in schlechter Stellung, überhaupt wenn die Verbindung zwischen Trauma und Plattfuss leicht ersichtlich war. Nicht selten aber treten auch Plattfussbe- schwerden auf nach gut geheilten Unterschenkelbrüchen, nach Oberschenkel- und Beckenbrüchen. Das kommt daher, dass solche Verletzte oft mit abgespreiztem Bein und auswärts ro- tirter Fussspitze gehen, um eine indirekte Entlastung des Beines zu erzielen. Bei dieser Art des Ganges wird nun der Fuss nicht mehr in der Längsrichtung, wie normaler Weise, sondern mehr vom äussern zum inneren Rande abgewickelt. So wird er im inneren Abschnitt des Gewölbes stärker belastet und in die Obduktionsstellung hineingedrängt, es entsteht die Malleo- lariB volga. Ein vorhandener platter Fuss disponirt natürlich zu einer solchen Gangart, aber wenn er bis zum Unfall nie¬ mals Beschwerden verursacht hat, und nach dem Unfall thut er es, so sind das eben Unfallsfolgen. T. Eine neue operative Behandlung der varicosen Unter- schenkelgescltwure. Von Dr. M. Bardescu-Bukarest, Chirurg des Brancoveaun- Krankenhauses. (Centr. f. Chir. 1899 No. 28.) Auf Grund der neueren Forschungen, nach denen die Krampfadergeschwüre am Unterschenkel in ihrer Entstehung zum Theil von Nerveneinflüssen abhängig sind, hat Verfasser schon 1897 versucht, diese Geschwüre durch Nervendehnung zu behandeln. In zwei Fällen, die äusserst hartnäckig vorher jedem Heilversuch widerstanden, erfolgte glatte Heilung, nach¬ dem — erst die Vena Saphena nach Trendelenburg geschnitten und dann der Nervus peroueus communis mit dem Finger Btark gedehnt worden war. Die Wahl des Nerven bängt von der Gegend des Geschwürs ab. Für die Wirksamkeit der Nervendehnung beweisen diese Fälle u. E. nichts, indessen regen sie zu weiteren Versuchen mit der vorgeschlagenen Methode an. F. h. Digitized by Google 1. Februar 1900. Aerztllche Sachverständigen-Zeitung. 66 Vergiftungen. Ein Fall von chronischer Trionalvergiftung. Von Dr. Karl Vogel, Ass.-A. am St. Johannishospital zu Bonn. (B. klin. Wochenschrift 1899, No. 40.) Nach kurzer Darstellung von sieben anderweitig beobachte¬ ten Fällen theilt Verf. seine eigene Beobachtung mit. Eine Dame von 28 Jahren, die vorher in den Tropen an Gelenk¬ rheumatismus mit hohem Fieber gelitten hatte, erhielt wegen Schlaflosigkeit in circa 4 l /2 Monaten 127 g Trional in regel¬ mässigen Zwischenräumen. Nach Ablauf der ersten 10 bis 11 Wochen begann sie schlecht auszusehen, litt an Stimmungs¬ wechsel, fühlte sich dann immer elender. Im vierten Monat stellten sich fleischwasserähnliche Durchfälle, dann Verstopfung mit heftigen Koliken und anhaltendem Erbrechen ein, die Harn- absonderung stockte ganz, kehrte spärlich und mit grossen Schmerzen wieder, damals soll der Harn schon burgunderroth gewesen sein. Körperlich gebrochen wurde die Kranke ins Hospital eingeliefert. Neben einer starken Empfindungsstörung und Muskelschwäohe an den Beinen bestand eine schwere Nierenentzündung. Der Harn enthielt trotz seiner Farbe kein wahres Haematoporphyrin, sondern einen in weingelben Kry- stallen abscheidbaren anderen Farbstoff mit eigenthümlichem Spektrum (breites Absorptionsband von F bis C, Verdunkelung des violetten Endes), zu dessen genauerer Untersuchung das Material fehlte. Durch ausgesprochene Herz-Kollapsanfälle schwebte die Kranke ein paar Tage in Lebensgefahr. Das Trional wurde weggelassen, neben Kampher und ähnlichen Mitteln wurden alkalische Salze zugeführt. Nach sechs Wochen, als alle anderen Erscheinungen zurückgegangen waren, liess sich noch stark verminderte Reizbarkeit der Beinmuskeln bezw. -Nerven durch elektrische Ströme feststellen. Erst nach vier Monaten ver- lieBS die Dame das Krankenhaus, die Empfindungsstörungen waren selbst jetzt noch nicht völlig beseitigt. F. L. Vergiftung durch Brommethyl. Von Dr. Schüler. Vierteljahrsschrift fllr öffentliche Gesundheitspflege, Sl. Bd. 4. Heft (erste Hälfte). Schüler beschreibt drei Erkrankungsfälle bei Arbeitern, die in einer chemischen Fabrik an einem Apparat, in dem Brommethyl aus Holzgeist und Schwefelsäure entwickelt wurde, gearbeitet hatten. Die Krankheitserscheinungen, die nicht in allen Fällen übereinstimmten, bestanden hauptsächlich in Uebelkeit, Krämpfen, Zittern der Extremitäten, Sinken der Temperatur und Bewustlosigkeit. Der eine dieser Fälle endete tödtlich. Als wichtigste Sektionsergebnisse wurden helles und dünnflüssiges Blut, Leere des linken, pralle Füllung des rechten Herz-Ventrikels, Blutfülle der Lungen und Leber und Ekcbymosen von Hirse- bis Hanfkorngrösse auf den Lungen gefunden. Um festzustellen, ob und in welcher Weise das Brommethyl hierbei mitgewirkt habe, wurden Thierversuche angestellt. Aus diesen Versuchen ergab sich, dass das Brom¬ methyl ein sehr starkes Gift ist, das auf die Versuchstiere zum Theil als Anästhetikum, zum Theil direkt auf die Ath- mungsorgane einwirkte, welche es in intensiver Weise schädigte, indem es namentlich Blutungen in den gesammten Athmungstraktus und Oedem der Lungen erzeugte. Wenn auch genaue Angaben darüber fehlen, in welcher Menge das Brommethyl für die Thiere giftig wirkte und noch weniger der Grad der Giftigkeit des Gases für den Menschen festge¬ stellt werden konnte, sind die Versuche doch geeignet, die Giftigkeit des Brommethyls für den Menschen mit grösster Wahrscheinlichkeit darzuthun. Es wird deshalb für möglichst vollständige Dichtung der Apparate und ausgiebige Ventilation der Arbeitsräume bei der in Rede stehenden Fabrikation unter allen Umständen gesorgt werden müssen. Schüler schlägt vor, durch Anbringung eines mechanischen Rührwerks die dauernde Anwesenheit eines Arbeiters in unmittelbarer Nähe der Apparate unnöthig zu machen und direkt an denselben Absaugungsvorrichtungen für die event. entweichenden giftigen Gase anzubringen. Der Umstand, dass die Krankheitserscheinungen bei den Menschen und die bei den Versuchstieren beobachteten Er¬ scheinungen nicht in allen Punkten übereinstimmten, lässt es wünschenswert erscheinen, dass in Betrieben, wo Bromme¬ thyl hergestellt oder verwendet wird, weitere sorgfältige Be¬ obachtungen nach dieser Richtung angestellt werden. Roth (Potsdam). Ein Fall von akuter Lysolvergiftung. Von F. Bohlen, D. med. W. 1899, No 30. Ein schon ziemlich angetrunkener Mann trinkt eine un¬ bestimmte Menge Lysol (ca. 10 gr.), das er für Kognak hält Alsbald tritt tiefe Bewustlosigkeit mit langsamer, rasselnder Athmung ein. Das Herz bleibt kräftig, die Pupillen behalten ihre Gleichheit und Reagirfähigkeit. Auf Apomorphin erfolgt öfters Erbrechen von Massen, die nach Lysol riechen, bisweilen wird etwas blutig gefärbter Schleim vorgewürgt, während der Mund frei von Verätzungen ist Darmeingüsse fördern erst gewöhnlichen Koth, dann schnapsduftende Massen. Nach D /2 Stunden erwachte der Vergiftete, am nächsten Tage war er heil. Verfasser vermuthet, dass der Alkoholgenuss die Herz¬ schwäche hintangehalten haben kann. F. L. Selbstmord durch Lysol. Von Dr. Ludwig Herzog, praktischer Arzt in Berlin. (Wiener klinische Rundschau No. 33, 1899.) Lysolvergiftungen sind schon des Oefteren beobachtet worden. Der von Verf. mitgetheilte Fall bietet in seinem Ver¬ laufe nichts Besonderes. Die Sektion ergab eine Nephritis acutissima; Verdickung und Trübung der Pia des Gehirns; letzteres selbst sehr blutreich. Aetzwirkungen an der Speise¬ röhre und dem Magen. Die nekrotische Schleimhaut der Speise¬ röhre ist in weisslich durchscheinenden, schleierartigen, bei der Bespülung flottirenden Stücken abgehoben. Auf der Höhe der Magenfalten finden sich zahlreiche, unter sich und zur grossen Kurvatur parallele zusammenhängende Aetzschorfe von dunkel röthlichbrauner Farbe, die sich durch den ganzen Fundus bis zum Pylorus hinziehen. Die an den Fall geknüpf¬ ten Forderungen erscheinen Ref. zu weitgehend. Verf. ver¬ langt: „1. Es muss dem Publikum auf jede Weise erschwert werden, sich durch Selbsteinkauf in den Besitz von konzen- trirtem Lysol zu setzen. 2. Der Arzt sollte nur verdünnte Lysollösungen verschreiben und es nicht dem Laien überlassen, die für den Einzelfall nöthigen Verdünnungen des Lysols sich selbst zu bereiten.“ Bei Erfüllung dieser Forderungen wird sich vielleicht der eine oder andere unbeabsichtigte Vergif¬ tungsfall durch Lysol vermeiden lassen, aber kaum der Selbst¬ mord mittels Lysol, gewiss nicht der Selbstmord — ohne Lysol. Wenn der zum Selbstmord entschlossene Mann die Lysolfiasche nicht zufällig zur Hand gehabt hätte, so wäre er höchstwahr¬ scheinlich zum Fenster herausgesprungen oder hätte auf an¬ dere Weise seinen Zweck zu erreichen gesucht. Ist mit dem Handverkaufsverbot des Lysols demnach keine wirksame Pro¬ phylaxe gegen derartige bedauerliche Ereignisse gegeben, so bedeutet die Beachtung obiger Vorschläge auf der anderen Seite eine nicht unerhebliche Vertheuerung dieses in der Praxis so viel angewandten Medikamentes. — y. Digitized by Google 56 Aerztliche Sachverständigen' Zeitung. No. 3. Nahrungs-Hygieine. Aphorismen Ober die Statistik der Beanstandungen von Nahrangsmitteln. Von Dr. R. Kay8er-Nürnberg. (Zeltschr. f. öffentl. Chemie, 30. Nov. 1899.) Nach einer kurzen Uebersicht über die aus den Jahres¬ berichten der bayrischen Untersuchungsanstalten sich ergeben¬ den Beanstandungen der Jahre 1891 bis 1898, wendet sich Verf. zu dem Bericht der städtischen Untersuchungsanstalten in Nürnberg für das Jahr 1898. Von 1613 Untersuchungs¬ objekten wurden 234 d. i. 14,7 Prozent beanstandet, in 21 Fällen wurde das gerichtliche Verfahren eingestellt, zwei Fälle führten zur Freisprechung, elf zu einer Verurtheilung durch Strafmandat, bei 23 Fällen fand eine Bestrafung auf Grund gerichtlicher Verhandlungen statt. Der Verkehr mit verfälschten Nahrungsmitteln kann nach diesen Angaben kein umfang¬ reicher sein (in Bayern natürlich — Ref.). Verf. geht dann auf die einzelnen Nahrungsmittel näher ein. Brot wurde im Jahre 1898 in 28,1 Prozent Fällen (von 3997 Untersuchungen 285 Beanstandungen), Mehl in 12,6 Prozent (von 2246 U. 285 Beanstand.) für nicht vorschriftsmässig er¬ klärt. Die Zahl der ausgeführten Milchuntersuchungen sowie der Beanstandungen ist eine sehr geringe; es wurden 3445 Untersuchungen vorgenommen, wobei 315 gleich 9,1 Prozent Bemängelungen vorkamen. Die geringe Zahl der Untersuchun¬ gen erklärt sich durch die in Bayern übliche Vorkontrolle der Milch durch Thierärzte. Verf. betont mit Recht die Wichtig¬ keit der Milchkontrolle und der Aufsicht über Fleisch und Fleischwaaren gegenüber den anderen Nahrungsmittel-Unter¬ suchungen; er vermisst in der Statistik vor Allem die bakte¬ riologische Untersuchung der Milch und die Beanstandung des Schmutzgehaltes derselben. Die Zusammenstellung für Wurst und Fleischwaaren er- giebt im Jahre 1898 5996 Untersuchungen mit 957 gleich 15,9 Prozent Beanstandungen. Auch hier werden nach An¬ sicht des Verf. die Zusätze von Mehl, Farbstoffen, Konser- virungsmittelu zu sehr berücksichtigt. Er bekämpft die Mei¬ nung, dass durch Zusatz eines Farbstoffes zur Wurst die Vor¬ täuschung einer frischen Fleischwaare bezweckt werde, da bekanntlich ältere Cervelatwürste höher im Preise stehen als frische. Bezüglich der Konservirungsmittel spricht er die Hoffnung aus, dass mit Ausschluss des Bisulfids die Verwen¬ dung rationeller Präparate von Seiten der Behörde mehr und mehr gefordert werden würde. Die Kontrolle des Verkehrs mit Fleisch und Fleischwaaren ist Aufgabe der Fleisch¬ beschauer im weiteren Sinne und bietet hier ein wichtiges Arbeitsfeld, das wichtigste der ganzen Nahrungsmittelkontrolle überhaupt Verf. kommt zu dem Schluss, dass von einer Gefährdung wesentlich sanitärer Interessen durch die beanstandeten Gegen¬ stände nur in wenigen Gruppen (Fleisch, Fleischwaaren, Milch), von einer Gefährdung erheblicher wirthschaftlicher Interessen der Konsumenten nur selten und in geringem Umfange ge¬ sprochen werden kann, und dass die Behauptungen von einer Ueberschwemmung des Verkehrs mit gefälschten Nahrungs¬ mitteln übertrieben sind. Er fordert zu einer besseren Klar¬ stellung dieser Thatsachen vor Allem die Berücksichtigung kriminalistischer Angaben in der Statistik, und neben der Nahrungsmittelkontrolle eine strenge Objektivität in der Be¬ antwortung der Frage, ob eine Neuerung auf dem Gebiete der Nahrungsmittelindustrie voraussichtlich wirtschaftliche und sanitäre Schädigungen der Konsumenten im Gefolge hat. Firg. Gutachten über die Wirkung der Borsäure und des Borax. Von Professor Dr. 0. Liebreich. (ViertelJahrsschrift für ger. Medisin und öffentl. Banitlitewesen III. Folge, Bd. XIX. Heft I.) Unter Verwertung der in der medizinischen Literatur vor¬ liegenden Erfahrungen über die Wirkungsweise der Borsäure und des Borax kommt Liebreich in Uebereinstimmung mit den bei der Konservirung von Nahrungsmitteln unter Anwendung von Borax und Borsäure gemachten Beobachtungen, wonach bisher kein Fall von Gesundheitsschädigung zur Feststellung gelangt ist, zu dem Ergebniss, dass vom praktischen Gesichts¬ punkt gegen das Verfahren ein Einspruch ebenso wenig zu erheben sei, wie gegen das Pökeln und Räuchern des Fleisches, trotzdem bei dem letzteren Verfahren grosse unzweckmässige Dosen Salpeter und empyreumatische Stoffe giftig wirken könnten. Da aber die Anschauungen über die Verwertbarkeit der Borpräparate für die Ernährung geteilt sind, giebt der Gut¬ achter ausserdem eine Zusammenstellung der Hauptpunkte für und gegen die Verwendung der Borpräparate, um im Anschluss daran über Thierversuche zu berichten, die zur Aufklärung der vorliegenden Frage unternommen wurden und insbesondere zur Feststellung der Grenze, innerhalb welcher mit Sicherheit eine Schädigung der Gesundheit nicht zu befürchten sei. Soweit aus den Literaturangaben ersichtlich, sind beim Gebrauch von Borsäure und Borax weder akute noch chronische Vergiftungen beobachtet worden, so lange nicht übermässige Dosen, wie sie für den vorliegenden Zweck nicht in Frage kommen, zur An¬ wendung kamen. Durch die Thierversuche konnte Liebreich bestätigen, dass die Borsäure selbst bei 5prozeDtiger Konzen¬ tration weder am Magen noch am Darm Veränderungen her¬ vorruft, während Borax in 1 prozentiger Lösung ganz geringe Veränderungen und erst bei 2prozentigen und stärkeren Lösun¬ gen eine Schleimsekretion und Abstossung von Epithelzellen zur Folge hat. (Beim Salpeter beginnt die schädliche Wirkung auf die Magen- und Darmschleimhaut schon bei einer V aprozen- tigen Lösung). Für die Konservirung des Fleisches werden Quantitäten von 0,50 bis 0,75 Prozent Borsäure verwerthet, von denen beim Wässern des Fleisches und besonders beim Räucherungsverfahren noch ein grosser Theil verloren geht, sodass der Schätzung nach höchstens 0,25 Prozent in den Orga¬ nismus gelangen. Liebreich schliesst deshalb, dass nach den vorliegenden Erfahrungen der länger fortgesetzte tägliche Ge¬ brauch von 1,2 g Borsäure oder Borax, wenn sie mit Speisen genossen werden, keine nachtheilige Wirkung auf die Gesund¬ heit ausüben können. „Selbst für den Gebrauch doppelter Quantitäten sind bisher keine Schädigungen erwiesen worden, da diese Dosen nach allen wissenschaftlichen Erfahrungen noch weit hinter jener Quantität Zurückbleiben, welche auf den Organismus belästi¬ gend ein wirken kann. Wer die zahlreich angestellten Versuche der verschiedensten Forscher mit Sorgfalt studirt, gelangt so¬ gar zu der Anschauung mancher Autoren, dass Borax und Bor¬ säure für den menschlichen Organismus als nützlich betrachtet werden muss. Aber der genaue Nachweis dieses letzteren Um¬ standes bedarf noch eines grösseren Beobachtungsmaterials. “ Der gegen die Beweisführung zu erhebende Einwand, dass die Methode der chemisch „quantitativen Bestimmung der Bor¬ säure mit Mängeln behaftet sei, wird von Liebreich dadurch widerlegt, dass die Irrthümer der Analyse bei den kleinen Mengen, welche zur Konservirung von Nahrungsmitteln dienen, nicht in Betracht kämen. Dem andern Einwand, dass der täg. \iche Genuss boracirter Nahrungsmittel Unzuträglichkeiten her- Digitized by Google 1. Februar 1900. Aerztliehe 6 ach verständige n-Zeitung. 57 beiführen könne, misst Liebreich deshalb keine Bedeutung bei, weil Borax und BorBäure nicht zu den scharfen, für den Organismus giftigen Substanzengehören. — Unter Berücksich¬ tigung des vorliegenden, reichhaltigen Materials wird von vorne herein zuzugeben sein, dass von erwachsenen, gesunden Men¬ schen der zeitweise Qenuss boracirter Nahrungsmittel ohne Schaden für die Gesundheit ertragen wird. Ob aber dasselbe für Kinder und geschwächte Personen, namentlich auch solche mit Störungen der Verdauungsorgane zutrifft, diese Frage muss trotz der sorgfältigen Bearbeitung die ihr Liebreich hat zu Theil werden lassen, noch als eine offene bezeichnet werden. Auch wird die Frage des Deklarationszwangs für derartig be¬ handelte Nahrungs- mittel unter Festsetzung bestimmter Grenz¬ zahlen in Erwägung zu ziehen sein. Roth (Potsdam). Aus Vereinen und Versammlungen. Psychiatrischer Verein zu Berlin. Bericht der Sitzung vom 16. Dezember 1899. Originalbericht der Aerztlichen Sachverständigen-Zeitung. 1. Herr Kaplan und Herr G. Meyer: Zwei Fälle von jugendlicher organischer Psychose auf der Grund¬ lage von hereditärer Lues. (MitDemonstrationen.) Inter¬ essante pathologisch-anatomische Befunde. 2. Herr Moeli: Krankenvorstellung. Es handelt sich um einen Kranken mit einem abnormen Bewusstsein, welches anfallsweise in Zwischenräumen von Wochen oder Monaten — sei es für Stunden, sei es für Tage — auftritt und in welchem immer in ganz typischer Weise ein Vorstellungskreis erscheint, der im wachen Leben keine wesent¬ liche Rolle spielt. Der 40jährige, früher stets gesunde Mann hatte keine Zeichen von Alkoholismus gezeigt. 1891 stürzte er beim Abrüsten eines Neubaues zwölf Meter hoch, gleich¬ zeitig mit einem Arbeitsgenossen, herunter. Der Letztere starb sofort. Er selbst erlitt einen Bruch des Oberschenkelhalses, Absprengung des unteren Tibiagelenkfortsatzes, eine Fraktur des Beckens und Abschürfungen. Wesentlich ist, dass er drei Wochen bewusstlos war. Das Bein heilte mit starker Ver¬ kürzung. Mit Hilfe von Maschinen kam er nach zwei Jahren so weit, dass er wieder am Stock gehen konnte. Durch die dann erfolgte Herabsetzung der Rente auf 75 pCt. wurde sein Gemüth heftig bewegt. Er wurde ab und zu verdriesslich, unaufmerksam und vergesslich. Etwas später zeigte sich eine stärkere Erregung. Er glaubte, an einer Wurst Blutstreifen zu entdecken, und dass seine Frau ihn vergiften wolle, um ihn los zu sein. Von da ab beschäftigte ihn das Schicksal seines Arbeitsgenossen intensiv, besonders in seinen Träumen. Nach jenem Unfall war der Tod seines Arbeitsgenossen das Erste, was er erfuhr. Damals hatte diese Nachricht keinen grossen Eindruck auf ihn gemacht, aber jetzt sprach er oft im Schlaf davon. Als er eines Tages aufwachte, verlangte er nach dem Kirchhof zu gehen, wo sein Freund begraben liege. Die Frau sah nach dem Verlassen der Wohnung ihren Mann auf dem Fensterbrett sitzen und mit den Beinen zum Fenster heraushängen. Sie brachte ihn wieder zu Bett. Nachher hatte er keine Erinnerung an diesen Versuch, aus dem Fenster zu klettern und an seine Absicht, auf den Kirchhof zu gehen. Ein solcher Zustand, in welchem er unruhig, schlaflos wurde und von jener Absicht sprach, wiederholte sich in den ange¬ gebenen Zwischenräumen. Da Grab und Kirchhof unbekannt waren, Ausreden aber nichts half, so machte sich die Frau mit ihm nach einem Kirchhof auf den Weg. Der Pat. fragte oft schon unterwegs, wohin sie eigentlich gingen und wusste nichts mehr von seiner Absicht. Oder er suchte vergeblich nach dem Grab und fragte dann entrüstet, was sie eigentlich hier wollten. Es bandelt sich also um einen in typischer Weise wiederkehrenden Gedankenkreis mit entsprechender Handlungsweise und nachheriger vollkommener Amnesie. Dies trat aber auch anderweitig hervor, z. B. bettelte er um Geld für einen Kranz für jenes Grab und legte einen solchen auf dem Kirchhof nieder, ohne später davon etwas zu wissen. Zweimal war in Folge eines Tobsuchtsanfalles in jenem Zu¬ stande seine Ueberführung nach der Irrenanstalt Herzberge erfolgt, wo er schon ruhig eintraf. Der Pat. äussert selbst, dass er vor einem solchen Anfall keine anderen Empfindungen habe, dass ihm nicht ängstlich zu Muthe sei und ihm die Um¬ gebung nicht verändert erscheine. Nachher wäre er bisweilen matt, verstehe aber alles zu ihm Gesprochene. Er habe nie an Schwindel oder Ohnmachtsanfällen gelitten und sich Nachts nicht benässt. Für gewöhnlich liesse sich keine erhebliche Beeinträchtigung der geistigen Fähigkeiten wahrnehmen. Ein Spezialkollege, welcher ihn der Rente wegen zu begutachten hatte, hielt ihn nicht für geisteskrank und glaubte auch nicht an die Entwicklung einer Geistesstörung. Bei epileptischen oder sonstigen Bewusstseinsstörungen sähe man gewöhnlich wie hier in dem Vorstellungsinhalt eine Beziehung zum frü¬ heren Leben. Moeli hält den Zustand nicht für einen epi¬ leptischen, da Epilepsie nie bei dem Pat. festgestellt sei und der Zustand an sich keinen Beweis dafür gebe. Bei Epilep¬ tischen träten Angst, Sinnestäuschungen, Eingenommenheit, Verwirrtheit, niemals völlige Unbefangenheit und Freiheit während der Zeit des gestörten Bewusstseins auf. Auch um Dämmer- und Traumzustände könne es sich nicht handeln. Die Einengung des Bewusstseinsinhalts beim transitorischen Irresein der Neurastheniker käme noch in Betracht, wobei in ähnlicher Weise eigenthümliche Ideen als ein pathologisch ver¬ änderter Gedankengang aus dem wachen Leben mit Amnesie auftauchten. M. führt einen derartigen Fall an. Ein Mann machte nach einem Streit mit seiner Braut einen Selbstmord¬ versuch und gerieth in lebhafte Exaltation mit Selbstvorwürfen und nachfolgender fast völliger Amnesie. Die Leute machten in derartigen Fällen nachher den Eindruck von Hysterischen. Der Unterschied mit dem vorgestellten Fall bestehe darin, dass diese Zustände sich nicht so häufig wiederholten wie bei letzteren. Nach Angabe der Frau ereigneten sich diese Zu¬ stände vorzugsweise, wenn Pat. getrunken habe. Der Alkohol zeitige bei Beeinträchtigung des Bewusstseins einen gewissen Unternehmungsgeist, der leicht zu unüberlegten Handlungen führe. M. führt weitere Fälle an zum Beweis dafür, dass während des Zustandes von Bewusstlosigkeit in zielbewusster Weise unternommene Handlungen auf Grund von früher vor¬ handenen Gedanken zu Tage treten. So bekam z. B. ein Kranker Streit mit einer Frau, zu der er in Beziehungen stand. Dieselbe bewohnte in einem Hause eine Mansardenwohnung mit Fenster. Er ging in seine Wohnung, trank vier Glas Portwein, eilte wieder hinauf, spazierte am Rand des Daches entlang und versuchte durch das Fenster in die Wohnung zu gelangen. Er wurde mit Mühe aus seiner gefährlichen Lage befreit und hatte nachher totale Amnesie. In der Diskussion fragt Herr Oppenheim, ob nicht doppeltes Bewusstsein vorliege. Herr Moeli verneint, da der Pat. sich trotz aller Hinweise auf die Zwecklosigkeit seiner früheren Handlungen nicht von analogen Handlungen in jenen Zuständen abhalten liess. Er entsinne sich also während eines Anfalles nicht der früheren. Digitized by Google 58 A er zt liehe Sachverständigen-Zeitung. No. 3. Herr Jastrowitz glaubt, dass die angeführten Momente nicht gegen Epilepsie sprächen. Bei Schlaganfallen mit Apha¬ sie wiederholten nachher die Kranken zuerst diejenigen Worte, die sie zuletzt gebrauchten. Es könnten doch typische Anfälle der Beobachtung bei Epileptischen leicht entgehen. Herr Moeli erwidert, dass er Epilepsie hauptsächlich wegen des Fehlens von Angst, Sinnestäuschungen und Ver¬ wirrtheit nicht anzunehmen geneigt sei. Bis jetzt müsse dieser Fall bezüglich der Epilepsie unentschieden gelassen werden. 3. Herr Schmidt — Wuhlgarten: Die geisteskranken Trinker in der Familienpflege (Autoreferat). Man muss unterscheiden zwischen Alkoholisten im psychi¬ atrisch-klinischen Sinne, d. h. Kranken, bei denen eine fehler¬ hafte psychische Anlage, verbunden mit einer frühzeitig ab¬ normen Geistesentwicklung, die Neigung zum Trinken in der bekannten Hartnäckigkeit auftritt, und den sog. Gewohnheits¬ oder Gelegenheitstrinkern, bei denen vorübergehend das Trinken eine sonst bestehende Psychose verschlimmert oder auch selbständig einmal Ursache der Behandlung wird. Erstere sind die Kranken, mit denen hauptsächlich die Irrenanstalten zu rechnen haben; sie bilden im Gegensatz zu den übrigen Geisteskranken ein ungünstiges Objekt der Verpflegung in der Familie. Unter 703 Männer-Aufnahmen betrafen nach dem Bericht der Deputation für die städt. Irrenpflege zu Berlin für die Zeit vom 1. April 1897 bis 31. März 1898 nicht weniger als 204 d. h. 29% Trunksüchtige (die Zahl der weiblichen Alkoholisten war verschwindend gering); in Herzberge war das Verhältnis der neu Aufgenommenen zu den „mehr oder weniger“ Gewohn¬ heitstrinkern 707:342 = 48%. Wahrscheinlich wird diese hohe Ziffer, wenn sie auf die Zahl der ausschliesslichen Alkoholisten reduzirt wird, dem Ergebniss der Dalldorfer Zählung sich er¬ heblich nähern. Man darf daher wohl sagen, dass die durch¬ schnittlich aufgenommenen Alkoholisten in den beiden Anstalten etwas über 30% ausmachen, mit anderen Worten V 4 — 1 / 3 der männlichen Insassen sind Säufer. Rechnet man auf 230000 männliche erwachsene Arbeiter ca. 700—800 Trinker — die in den Privatanstalten und Krankenhäusern verpflegten mit ein¬ gerechnet — also 3%o, so scheint es mit der Verbreitung der Trunksucht unter der weniger bemittelten Berliner Bevölkerung immerhin noch nicht so schlimm zu stehen. Die Thatsache, dass die Störungen, welche der Säufer verursacht, bei dem gedrängten Zusammenwohnen der Bevölkerung viel unerträg¬ licher wirken als an kleineren Orten, ferner das Ineinander¬ greifen der Aufsichts- und Wohlfahrtseinrichtungen, das Inter¬ esse der Oeffentlichkeit an allen Tagesfragen und Ereignissen, endlich die Aufklärung, welche unter Laien und Aerzten über die Bedeutung der Alkoholfrage mehr und mehr Platz greift; alle diese Umstände erleichtern und beschleunigen die Auf¬ nahme des Trinkers in die Anstalten und erklären die starke Ansammlung derselben in den letzteren. Zu Gunsten der Berliner Verhältnisse spricht ferner noch der Umstand, dass ein grosser Theil der Trinker (im Jahre 1897/98 in Dalldorf nicht ganz die Hälfte) nicht einmal eingeborene Berliner sind, sondern von weither zugezogen. Unter den in Familienpflege entlassenen Kranken über¬ haupt war etwa die Hälfte Säufer; im Jahre 1898 unter 131 Pfleglingen 66 „ „ 1897 „ 136 „ 57 „ „ 1896 „ 128 „ 65. Die Ergebnisse der Familienpflege waren schlechte. Ein¬ zelne Patienten hielten sich nur Tage lang, andere Wochen und Monate. Der Pfleger, welcher bei eingetretener Rück¬ fälligkeit den Kranken der Anstalt sofort wieder zuführen soll, hält denselben häufig länger als wünschenswerth bei sich, um nur möglichst lange das Pflegegeld sich zu sichern, dabei all’ den Widerwärtigkeiten ausgesetzt, die der täglich Betrunkene durch Unpünktlichkeit in der Einhaltung der Hausordnung, durch Schimpferei, Skandaliren, Veruntreuungen u. dergl. m. nur verursachen kann. Nur Wenige, die sich dem sogen, stillen Suff ergeben, vermögen sich eine Zeit lang durch eine ihrer Manneskraft gewöhnlich gar nicht entsprechende leichte Beschäftigung etwas nützlich zu machen (Adressen-Schreiben, Zettel-Vertheilen, Zeitungen-Austragen, zeitweilige Handlanger¬ dienste in den Markthallen). Eine grosse Gefahr für den Pflegling ist eben die Unmöglichkeit, in der Grossstadt eine regelmässige, gewinnbringende Beschäftigung zu finden. Der Meister kann ihn nicht wieder in Arbeit nehmen, da er gewöhnlich nach seiner Entlassung aus der Anstalt des gesetz¬ lichen Ausweises über Invaliditäts- und Kranken-Versicherung entbehrt. Die Wiederaufnahme in die Krankenkasse ist zumeist sehr schwer, weil der Trinker bei einer kurzen Anstaltsbehand¬ lung höchstens als „gebessert“, nicht als „geheilt“ entlassen wird. Nur in zwei Fällen erwies sich die Unterstützung durch die Familienpflege eine längere Zeit segensreich; ein 32jähri¬ ger Bureaubeamter, welcher Jahre lang mit Unterbrechungen internirt war, zeigte sich anfangs als ein unzufriedener und querulirender Patient, wurde dann einsichtig, arbeitsam und konnte schliesslich entlassen werden. Als er eine dauernde und einträgliche Stellnng übernehmen sollte, ging seine kurz zuvor geschlossene Verlobung zurück und er fing wieder an zu trinken, nachdem er sich 13 Monate lang gut gehalten hatte. Der Zweite, ein Schreiber, hielt sich 14 Monate. Er wurde nach seiner Entlassung bald ein rühriger Anhänger des Good Templer-Ordens, warb viele Patienten aus der Anstalt für seine Propaganda, trug selbst zur Gründung einer Templer- Loge bei. Er wurde rückfällig, als Nahrungssorgen, nervöse Beschwerden einer alten schweren Verletzung und Aerger in seinem Verein ihm über den Kopf wuchsen. Mit grossen Schwierigkeiten ist gewöhnlich die Wiederein- ieferung des Rückfälligen verbunden, deren Beschleunigung natürlich im Interesse des Kranken und seiner Umgebung zu wünschen ist. Wenige sind einsichtig und kehren willig zurück, bei Vielen kommt es zu gewaltsamen und ernsten Auf¬ tritten, die die Mitwirkung der Polizei erheischen. Eine solche ist, wenn auf strenge Handhabung der in Betracht kommenden Polizeivorschriften (Tagesbefehl vom 1. August 1894) bestanden wird, manchmal, sehr zum Schaden der Sache, schwer zu er¬ langen. Ein unbedingtes Erfordemiss für eine gedeihliche Behand- ung der in Familienpflege untergebrachten Trinker ist die Tauglichkeit der Pflegestellen selbst. Die Aermlichkeit und Mittellosigkeit der in Betracht kommenden Verhältnisse kommt n empfindlicher Weise zur Geltung. Eine gute Pflegestelle, ausreichende Aufsicht, Beköstigung, Gelegenheit zur Beschäf¬ tigung) muss verlangt werden, wenn der Trinker sich an Ord¬ nung und Häuslichkeit gewöhnen soll und in seinem neuen Heim selbst eine Ablenkung vom Kneipengehen finden soll. Zur wirksamen Behandlung des Trinkers ist aber vor Allem erforderlich zwangsweise Verhinderung des Alkoholgenusses, durch absolute Abstinenz und genügend lange Internirung Erstere ist hauptsächlich in der Anstalt schon energisch durch¬ zuführen, indem an keinen Insassen derselben, auch nicht an das Wartepersonal, geistige Getränke verabfolgt werden dürfen. Es wäre zu wünschen, dass die Ueberzeugung von der abso¬ luten Entbehrlichkeit des Alkohols als Therapeuticum wie als Nahrungsmittel nicht bloss auf die Praxis der Irrenhäuser sich beschränken, sondern auch in den Krankenhäusern und bei sämmtliohen Aerzten vollends zur Geltung kommen möchte Digitized by Google 1. Februar 1900. Aerztliehe ßachverständigen-Zeitung. 59 da doch, wie genügend bekannt ist, mit dem Alkohol manchmal in unverantwortlicher Freigebigkeit experimentirt wird, sobald nnr dem Kranken die Aeusserung entschlüpft ist, er sei an Alkohol gewöhnt. Die zwangsweise dauernde Internirung stösst häufig des¬ wegen schon auf Schwierigkeiten, weil es an einer genügenden gesetzlichen Handhabe hierzu fehlt und die Anstalten gewöhn- ich überfüllt sind. Die in einer veralteten Allerhöchsten Ordre vom Jahre 1803 enthaltene Vorschrift der Entmündigung hat zwar in sachlicher Beziehung manche günstige Wirkung, im Interesse der Person und ihrer Besserung oder Heilung, die doch das Ziel der Internirung sein soll, erweist sie sich von sehr geringem Nutzen. Auch die Bestimmung des Bürgerlichen Gesetzbuches sind in dieser Hinsicht ungenügend. Erst wenn die Gesetzgebung sich entschliesst, den nunmehr angefangeuen Weg unter genügender Berücksichtigung sachverständiger Rathschläge weiter auszubauen, wird der Kampf gegen die Trunksucht im Allgemeinen und die Behandlung des Säufers in der Familienpflege im Besonderen bessere Erfolge erzielen. M. E. Ueber traumatische Herzerkrankungen hat in der Nürnberger medizinischen Gesellschaft und Poliklinik, in der Sitzung vom 19. Oktober 1899, Herr Dr. Katz einen bemerkenswerthen Vortrag gehalten, welchen wir in Folgendem nach dem offiziellen Protokoll, ver¬ öffentlicht in der Münch. Med. Wochenschr. 1899 No. 51, wiedergeben: Nach physiologischen Bemerkungen giebt Vortragender vom klinischen, chirurgischen, pathologisch-anatomischen, ge¬ richtsärztlichen und Standpunkt des Gutachters unter Zugrunde¬ legung folgender Eintheilung: Einfluss des Traumas 1. auf das Herz als solches in toto, 2. auf den Muskelapparat, 3. auf den Klappenapparat, 4. auf den nervösen Apparat, 5. auf das Pericard unter zahlreichen Literaturbelegen eine Uebersicht über die traumatischen Herzerkrankungen. I. Sowohl akute wie dauernde Dilatation des Herzens mit Hypertrophie mit oder ohne nervöse Störungen mit allen ihren Komplikationen sind beobachtet (Albu, Bernstein, Schott, Stern etc.). II. Eine Spontanruptur des gesunden Herzens ist nicht er¬ wiesen, die des krankhaft veränderten dagegen häufig beob¬ achtet (Fraentzel, Barth, Rolleston, Kellynack, Nobi- ling, Groom, Richter, Williams, Dock, Käst, Oest- reich, Robertson etc.) III. Die traumatische chronische Myocarditis ist als sicher anzuerkennen. IV. Die Entstehung einer akuten traumatischen Endo- carditis ist als wahrscheinlich, die chronische dagegen als be¬ stimmt vorkommend zu betrachten (Stern, Düms, Bern¬ stein etc.). V. Motorische sowohl wie sensible Störungen können als sogenannte traumatische Herzneurose auftreten. (Kisch, Feilchenfeld, Sylva, Gay, Strauss, Dubelis, Mahnert, Bernstein etc.). VI. Das Auftreten einer primären traumatischen Pericarditis in ihren verschiedenen Formen ist oft und sicher konstatirt. In aetiologischer Beziehung kommen sowohl Insulte der Brustwand mannigfachster Art als auch akute oder dauernde Ueberanstrengung des gesunden oder bereits affizirten Herzens in Betracht, (wie sie das Radfahren, Bergsteigen, Sport, Athle¬ tik bietet [Altschul, Mosso, Kisch, Martins, v. Schrötter, Henschen etc.]). Die Diagnose der traumatischen Herzer¬ krankungen hat ausser den allgemein bekannten Symptomen den zeitlichen Zusammenhang zwischen Trauma und Auftreten der ersten objektiven und subjektiven Zeichen, oder wenn ein Vitium cordis bereits bestand, die Verschlimmerung desselben zu berücksichtigen. Die Prognose ist stets vorsichtig zu stellen, da selbst noch nach Jahren (Neumann) Beschwerden auftreten können. Sie stützt sich neben den allgemein gütigen Regeln besonders noch auf Art und Schwere des Insults, Lebensalter, Stellung, Komplikationen von Seiten anderer Organe, Berücksichtigung der hygienischen und sozialen Verhältnisse. Der Gutachter wird (estzustellen streben: 1. War ein Herz bei Eintritt des Unfalles völlig intakt? (In strittigen Fällen Einsichtnahme der Militärpapiere, Kranken¬ bücher, Polizen etc.) 2. Hat der Unfall ein vorhandenes Herzleiden akut oder dauernd verschlimmert? 3. Kann der vorhandene Befund ohne Zwang der Verhält¬ nisse in zeitlichen Zusammenhang (Termin nur in genau be¬ obachteten Ausnahmefällen über 6 Monate hinaus auszudehnen) mit dem Trauma gebracht werden? 4. Welches sind die direkten und indirekten Folgen? (Komplikationen). Der Rentenbewerber hat in allen Fällen, gleichviel ob bei Eintritt des Traumas das Herz normal oder bereits affizirt war, berechtigten Anspruch auf Ertheilung der Rente, die natürlich bei der relativen Seltenheit und Variabilität der Fälle nicht ziffernmässig durch Prozente genau fixirt werden kann und grossen Schwankungen unterworfen ist. Gebührenwesen. Verjährung ärztlicher Forderungen nach dem neuen Bflrgerl. Gesetzbuch. Bekanntlich verjährten die ärztlichen Forderungen nach dem bisherigen Recht in 4 Jahren. Die Verjährung begann mit dem auf den festgesetzten Zahlungstag folgenden letzten Dezember und, wenn ein Zahlungstag nicht besonders festgesetzt war, mit dem letzten Dezember desjenigen Jahres, in welchem die Forderung ent¬ standen war. Nach dem § 156, 14 des neuen Bürgerlichen Ge¬ setzbuches, das am 1. Januar 1900 in Kraft getreten, ver¬ jähren die Ansprüche der Aerzte tür ihre Dienstleistungen mit Einschluss der Auslagen in 2 Jahren, und zwar beginnt die Verjährung mit der Entstehung des Anspruchs. Der Artikel 169 des Einfübrungsgesetzes bestimmt ferner: „Die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches über die Verjährung finden auf die vor dem Inkraft¬ treten des Bürgerlichen Gesetzbuches entstandenen, noch nicht verjährten Ansprüche Anwendung. Der Be¬ ginn sowie die Hemmung und Unterbrechung der Ver¬ jährung bestimmen sich jedoch für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches nach den bisherigen Gesetzen. Ist die Verjährungsfrist nach dem Bürgerlichen Gesetzbuche kürzer als nach den bisherigen Gesetzen, so wird die kürzere Frist von dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches an berechnet.“ Da für ärztliche Forderungen ein Zahlungstag nicht ver¬ einbart zu werden pflegt, begann die Verjährung nach altem Recht stets am letztem Dezember des Jahres, in dem der An¬ spruch entstanden war, und für die Uebergangszeit stellt sich die Sache wie folgt: Digitized by LjOOQie 60 A er zt liehe Sachverständigen -Zeitung. No. 3. Die Ansprüche aus dem Jahre 1895 verjähren am 31. De¬ zember 1899, die aus dem Jahre 1896 am 31. Dezember 1900, die aus den Jahren 1897, 1898 und 1899 bereits am 31. De¬ zember 1901 und die Forderungen aus dem Jahre 1900 in 2 Jahren nach dem Tage der Entstehung des Anspruchs. Ebenso wie die ärztlichen Forderungen verjähren nach neuem Rechte die Forderungen der öffentlchen An¬ stalten, die der Verpflegung oder Heilung dienen, sowie die Forderungen der Inhaber von Privatanstalten solcher Art für Verpflegung und Heilung und für die damit zusammenhängen¬ den Aufwendungen. Der Anspruch auf Zahlung der Zeugen- und Sach¬ verständigengebühren verjährt innerhalb drei Monaten nach Abgabe des Zeugnisses oder Gutachtens. Die Verjährung wird unterbrochen durch Zahlungsbefehl, Klage und Anerkenntniss. Das Anerkenntnis kann auch stillschweigend erfolgen, z. B. durch Abzahlung. Vom Tage der Unterbrechung ab läuft eine neue Verjährung. Gerichtüche Entscheidungen. Aus dem Reichs-Versicherungsamt. Zwei Obergutachten Ober die Frage dee ursächlichen Zusammenhanges zwischen einer tttdtlich verlaufenen Lungenentzündung (in einem Falle verbunden mit Brustfellentzündung) und einem Trauma, das die Brust betroffen hat (Kontusionspneumonie.) (Amtl. Nachr. 1899, No. 12.) Bejahung des Zusammenhanges der Krankheit mit einer „Verletzung der Brustwand“ (Bluterguss) durch den Druck eines 10 bis 12 Centner schweren Steinblocks, der, beim Aufladen abgleitend, Brust und Bauch des Verunglückten belastete. In der Unfallversicherungssache der Hinterbliebenen des Mineurs T. St. in D. wider die Steinbruchs-Berufsgenossenschaft lasse ich hierbei das von mir gewünschte Obergutachten darüber, ob der Tod des St. in ursächlichem Zusammenhänge mit dem von den Klägern behaupteten Betriebsunfall vom 15. März 1897 steht, oder ob der St. an einer Rippenfellentzündung, die sich unabhängig von einem Betriebsereigniss entwickelt hat, ge¬ storben ist, folgen. St., ein Mann von 34 Jahren, der, wie nach Lage ddr Akten anzunehmen ist, bis dahin gesund und schwere Arbeit zu leisten befähigt war, erlitt am 15. März 1897 beim Verladen von Steinen dadurch einen Unfall, dass ihm ein 10 bis 12 Centner schwerer Steinblock gegen die Vorderfläche (Brust und Bauch) des Körpers fiel. St. war danach ganz blass, konnte nicht mehr weiter arbeiten, sondern ging langsam nach Hause. In den folgenden Tagen konnte er nur noch leichte Arbeit verrichten, wobei er Tag für Tag über sein Befinden klagte (Akten des Reichs-Versicherungsamts Blatt 30 ff.). Am 25. desselben Monats erkrankte er an einer, auch durch die Sektion bestätigten, rechtsseitigen Lungen- und Brustfell¬ entzündung (Pneumonie und Pleuritis), in Folge deren er in der Nacht vom 29. zum 30. März starb (Sektionsakten Blatt 6). Für die Beurtheilnng des ursächlichen Zusammenhanges der tödtlich gewordenen Lungen- und Brustfellentzündung mit dem vorher stattgebabten Unfall ist die Vorfrage zu entscheiden, ob eine äussere Gewalt, die den Rumpf in der Weise, wie es in dem vorliegenden Fall geschah, trifft, Ursache einer Lungen¬ oder Brustfellentzündung oder beider Affektionen zusammen werden kann. Diese Vorfrage ist entschieden zu bejahen. Es ist eine durch die Erfahrung seit lange und von ver¬ schiedenen Seiten festgestellte Thatsache, dass eine echte Lungenentzündung (die lobäre, fibrinöse Pneumonie) in Folge eines Traumas, welches die Brustwand getroffen hat, ent¬ stehen kann, ohne dass die Brustwand äusserlich oder inner¬ lich auch nur die geringste Verletzung erkennen lässt. Man hat diese Lungenentzündung passend als „Kontusions- pneumonie“ bezeichnet. Nach Litten (Zeitschrift für klinische Medizin 1882 S. 41) macht diese Kontusionspneumonie etwa den dreiundzwanzigsten Theil (4,4 Prozent) aller bei Männern vorkommenden Lungenentzündungen aus. Mit der Lungenentzündung ist gewöhnlich auch eine Brust¬ fellentzündung verbunden. Die letztere kann aber auch unab¬ hängig von der Lungenentzündung primär durch ein Trauma, welches die Brust wand mit oder ohne Verletzung dieser ge¬ troffen hat, entstehen. Es ist also nicht zu bezweifeln, dass das Trauma, welches St. am 15. März 1897 erlitten hat, sehr wohl eine Lungen- und Brustfellentzündung zur Folge haben konnte. Es lässt sich aber auch aus den, wenngleich sehr spärlichen Angaben über das Befinden und den Verlauf der Krankheit des St. nach dem Unfall und aus dem Sektionsbericht schliessen, dass wahrscheinlich ein ursächlicher Zusammenhang der tödtlich gewordenen Krankheit mit dem Unfall Vorgelegen hat. Denn erstens hat in der That nach dem Sektionsbericht eine „Verletzung der Brust“, welche Geheimrath Dr. M. (Sek¬ tionsakten Blatt 14) zur Anerkennung dieses Zusammenhanges für nothwendig hält, stattgefunden. Der Bericht sagt nämlich (daselbst Blatt 6), dass sich nach dem Zurückpräpariren der Haut des Brustkorbes (wie nicht erwähnt, aber wohl anzu¬ nehmen ist, auf der rechten Seite) eine blutige Verfärbung fand, welche auch das Brustfell („Kostalpleura“) betraf. Diese Verfärbung rührte unzweifelhaft von einem Bluterguss in die rechte Brustwand her, welcher, was wohl keines Beweises bedarf, durch das zehn Tage vorher stattgehabte Trauma ver¬ ursacht war. Wenn nun auch, wie vorher auseinandergesetzt wurde, Lungen- und Brustfellentzündung traumatisch auch ohne jede Verletzung der Brustwand entstehen können, so wird immerhin durch den Nachweis einer solchen Ver¬ letzung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammen¬ hanges zwischen Trauma und Lungen-Brustfellentzündung erhöht. Was zweitens das Befinden des St. gleich nach dem Un¬ fall und den Verlauf seiner letzten Krankheit betrifft, so liegen darüber in den Akten nur die allerdürftigsten Mittheilungen vor, diese aber sprechen mehr für als gegen jenen in Frage stehenden ursächlichen Zusammenhang. Es muss nämlich nach den übereinstimmenden Aussagen verschiedener Zeugen (Reichs-Versicherungsamtsakten Blatt 30 bis 33) als ganz sicher angenommen werden, dass St. unmittelbar nach dem Unfall und offenbar im Zusammenhänge damit erkrankte und wenn auch nicht gleich bettlägerig, so doch in seiner Arbeitsfähig¬ keit behindert wurde. Welcher Art diese Erkrankung war, lässt sich höchstens vermuthen, da darüber garnichts, am allerwenigsten eine ärztliche Angabe, vorliegt. Die Ver- muthung ist aber berechtigt, dass die tödtliche Krankheit, welche, wie es scheint, am 25. März, zehn Tage nach dem Unfall, von Dr. L. festgestellt wurde, nämlich Lungen- und Brustfellentzündung, sich in den Tagen vorher, als St. schon erkrankt und weniger arbeitsfähig war, vorbereitet hat und am genannten Tage nicht erst urplötzlich ausbracb, sondern zu einer solchen Höbe gelangt war, dass St. bettlägerig wurde und die bis dahin versäumte ärztliche Hülfe nach¬ suchte. Diese Yermuthung erhält noch eine Stütze durch den Um¬ stand, dass die Lungen- und Brustfellentzündung, falls sie wirklich erst am 25. März ganz unabhängig von dem Unfall entstanden wäre, einen ganz auffalleud schnellen tödtlicben Digitized by Google 1. Februar 1900. Aerztliche Sachverständigen* Zeitung. 61 Verlauf genommen haben müsste, wie auch Dr. F. mit Recht hervorhebt (Sektionsakten Blatt 7). Denn es wäre ein ganz aussergewöhnliches Vorkommniss, dass eine Lungen- und Brustfellentzündung bei einem im jugendlich kräftigen Alter stehenden Manne, der kein Säufer und auch sonst gesund ist, in vier Tagen und einigen Stunden zum Tode führt. Dass St. vor dem Unfall nicht vollständig gesund ge¬ wesen wäre, ist nach Lage der Akten ganz ausgeschlossen, auch dass er ein Säufer gewesen sei, ist nicht im Entfern¬ testen anzunehmen, da ihm das Zeugniss eines in seiner ganzen Gemeinde als sehr tüchtigen und pünktlichen Arbeiters gegeben wird (Sektionsakten Blatt 2). Es ist also sehr wahr¬ scheinlich, dass die tödtliche Krankheit des St. nicht erst zehn Tage nach dem Unfall aus irgend einer Ursache plötzlich ent¬ stand, sondern schon einige Tage vorher sich entwickelt hat, dass sie also auch zeitlich dem Unfall sehr nahe stand. Aber selbst in dem weniger wahrscheinlichen Fall, dass die Lungen-Brustfellentzündung erst am 25. März aus un¬ bekannter Ursache entstanden wäre, musste man annehmen, dass der schnelle und tödtliche Verlauf herbeigeführt, oder doch erheblich begünstigt wurde durch den Umstand, dass die Krankheit einen durch den voraufgegangenen Unfall geschwächten und in seiner Widerstands¬ fähigkeit herabgesetzten Körper betraf, eben weil sonst der ungewöhnlich schnelle tödtliche Verlauf unerklär¬ lich wäre. Hiernach beantworte ich die gestellte Frage dahin, dass der am 30. März 1897 erfolgte Tod des St. in ursächlichem Zusammenhänge mit dem von ihm am 15. desselben Monats erlittenen Unfall steht. Das vorstehende Gutachten habe ich nach bestem Ge¬ wissen angefertigt. Berlin, den 18. März 1898. Professor Dr. Senator, Geheimer Medizinalrath. Verneinung des Zusammenhanges der Krankheit mit einer Quetschung der Brustmuskulatur durch Anstemmen der Brust gegen einen aufzuladenden Holzstamm. In der Unfallversicherungssache der Hinterbliebenen des Brettschneiders Friedrich W. in Sch. wider die Ostpreussische landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft hat das Reichs-Ver¬ sicherungsamt von mir ein Obergutachten in Bezug auf den Zusammenhang des Todes des W. mit dem angeblichen Unfall vom 27. März 1897 gewünscht, welches ich im Nachstehenden erstatte: Der ThätbeBtand, soweit er nach den Akten festgestellt wurde, ist folgender: Der, wie anzunehmen ist, bis dahin ge¬ sunde, 44jährige Brettschneider W. stemmte sich am Sonn¬ abend, den 27. März 1897, beim Aufladen eines Holzstammes mit der Brust und den Händen gegen diesen und klagte gleich darauf über Schmerzen in der Brust, ohne jedoch gänzlich arbeitsunfähig zu sein. Der folgende Tag war Sonntag, also Ruhetag. Am Montag, den 29. März, arbeitete er bis Mittag, wo wegen schlechten Wetters die Arbeit ausgesetzt werden musste, und erklärte dann, ihm sei nicht recht wohl. Am nächsten Tage, Dienstag, den 30. März, wurde er von seinem Arbeitsgenossen bettlägerig gefunden (Schiedsgerichtsakten Blatt 11 und 21). Am Donnerstag, den 1. April, nach Aus¬ sage seiner Frau (daselbst Blatt 22) oder am Freitag, den 2. April, nach dem Gutachten des Dr. B. (Sektionsakten Blatt 8) fuhr er zum Arzt, Dr. M., welcher eine Lungenentzündung bei ihm feststellte. Am 14. April ist W. gestorben, wie Dr. M., der ihn jedoch nicht wiedergesehen hat, attestirt, in Folge der Lungenentzündung. Auf diesen dürftigen Thatbestand ein einigermassen siche¬ res Urtheil über den Zusammenhang des Todes des W. mit dem angeblichen Unfall, das heisst mit dem starken An¬ stemmen des Körpers, der Brust insbesondere, gegen einen Holzstamm, zu begründen, ist nicht möglich. Es soll nicht bezweifelt werden, dass der Tod des W. durch die Lungenentzündung erfolgt ist, welche zwölf oder dreizehn Tage vorher bei ihm festgestellt wurde; aber wann dieselbe in Wirklichkeit eingesetzt und unter welchen Erschei¬ nungen sie begonnen hat, darüber ist aus den Akten etwas Zuverlässiges nicht zu entnehmen. Die Schmerzen, über welche W. gleich nach jener Arbeit geklagt hat, können ebensowohl auf den Druck gegen die Brustwand in Folge des Anstemmens, wie auf eine beginnende Erkrankung der Lunge bezogen werden, beweisen also für die vorliegende Frage garnichts, zumal nicht bekannt ist, wie der Zustand des W. in den dem angeblichen Unfall unmittelbar folgenden Tagen gewesen ist Die Angaben seiner Frau können in dieser Beziehung nicht massgebend sein, ebensowenig wie die der Frau Kl., welche am Dienstag, den 30. März, bei dem im Bett liegenden W. durch das Hemde hindurch eine »offensichtliche“ An¬ schwellung des Leibes gesehen haben will! (Schiedsgerichts¬ akten Blatt 11). Eine Lungenentzündung macht für sich allein überhaupt keine äusserlich sichtbare Anschwellung und eine anderweitig, etwa durch ein Trauma verursachte Anschwellung, welche am Dienstag durch das Hemde hindurch »offensicht¬ lich“ zu erkennen war, hätte wohl von dem am nächsten Donnerstag oder Freitag untersuchenden, Arzt wenigstens noch in Spuren aufgefunden werden müssen. Davon ist aber keine Rede. Es bleibt also nur die Zeugenangabe des Mi., dass W. am Montag, den 29. März, fünf Stunden lang, ohne über Schmerzen zu klagen, seine gewohnte Arbeit verrichtet, dann aber sich nicht recht wohl gefühlt habe und am nächsten Tage bett¬ lägerig gewesen sei. Da nun am darauf folgenden Donners¬ tag oder Freitag vom Arzt schon ausgesprochene Lungenent¬ zündung gefunden wurde, so ist wenigstens zu vermuthen, dass diese am Montag Nachmittags, zwei Tage nach dem an- geblichen Unfall, begonnen hat. Dieser Umstand, aber auch nur dieser allein, könnte zu Gunsten der Annahme eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem angeblichen Trauma und der Lungenentzündung, also zu Gunsten der Annahme einer »traumatischen Lungen¬ entzündung“ geltend gemacht werden. Denn nach den Er¬ fahrungen, welche über diese Art »traumatischer Lungenent¬ zündung“ (abgesehen von den durch Schuss- oder Stichver¬ letzung verursachten) vorliegen, fällt der Beginn der Krank¬ heit auf den zweiten bis dritten, höchstens vierten Tag nach dem Unfall (zu vergl.: Litten in der Zeitschr. für klin. Me¬ dizin V, 1882 und Stern: Ueber traumatische Entstehung innerer Krankheiten Heft 1, 1896). Nach eben diesen Erfahrungen aber muss das Trauma, welches eine derartige Lungenentzündung hervorruft, ganz andersartig sein, als der hier in Rede stehende angebliche Unfall. In allen sicheren Fällen handelt es sich nämlich um eine heftige Erschütterung des Brustkastens durch einen schweren Fall, heftigen Stoss, Ueberfahren und dergleichen, weshalb diese Lungenentzündungen gewöhnlich als »Kontusi- onspneumonieen“ bezeichnet werden. Eine solche Erschütte¬ rung hat bei dem W. nach der Schilderung seines Arbeits¬ genossen und Augenzeugen Mi. nicht stattgefunden. Auch pflegen diese „Kontusionspneumonieen“ mit einem starken, lange anhaltenden Schüttelfrost einzusetzen. Ein solcher ist e 62 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 3. aber nach dem Attest des Dr. M. (Sektionsakten Blatt 3) bei dem W. nicht aufgetreten. Wenn also das zeitliche Auftreten der Lungenentzündung für oder jedenfalls nicht gegen den Zusammenhang mit einem vorher stattgehabten Trauma spricht, so spricht andererseits die Natur der mechanischen Einwirkung, der angebliche Unfall, welcher den W. betroffen hat, gegen einen solchen Zusamenhang. Dass, wie Dr. M. anzunehmen geneigt ist (Reichs-Ver¬ sicherungsamtsakten Blatt 26), durch den angeblichen Unfall, das heisst durch das Anstemmen der Brust gegen einen Balken, eine »geringe Verletzung der Brustwand beziehungsweise der Lunge“ stattgefunden habe, auf deren Boden sich später eine Lungenentzündung entwickelte, die also der Ausgangspunkt der tödtlichen Krankheit geworden wäre, halte ich für sehr unwahrscheinlich, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Eine Verletzung der Lunge selbst ohne eine solche der Brustwand, also eine Zerreissung des Lungengewebes mit Bluterguss, kommt erfahrungsgemäss, wie oben ausgeführt wurde, nur bei starken Erschütterungen des Brustkastens vor, wie sie beim blossen Anstemmen der Brust nicht stattfindet. Diese Art der Entstehung ist ausgeschlossen. 2. Eine Verletzung der Brustwand, welche geeignet wäre, ihrerseits nach wenigen (hier schon nach zwei) Tagen eine Lungenentzündung hervorzurufen, müsste schon eine erhebliche, etwa mit einem Rippenbruch oder mit einem starken Bluterguss in die Weichtheile der Brustwand verbunden gewesen sein. Eine so schwere Verletzung nimmt Dr. M. mit Recht nicht an, denn einmal ist das Anstemmen der Brust wenig geeignet, bei einem sonst gesunden Menschen eine so schwere Verletzung der Brustwand hervorzubringen, und dann wären die Spuren einer so schweren Verletzung dem Dr. M. bei der Untersuchung der Brust, die zur Feststellung der Lungenentzündung fünf oder sechs Tage nach der etwa statt¬ gefundenen Verletzung führte, nicht entgangen. Eine geringe Verletzung der Brustwand, Druck und Quetschung der Muskeln, kann sehr wohl bei dem Anstemmen erfolgt und, wie vorher schon bemerkt worden ist, die Ur¬ sache der Schmerzen gewesen sein, über welche W. gleich darauf geklagt hat. Dass aber eine derartige Verletzung, eine Quetschung der Brustmuskeln, von welcher nach fünf oder sechs Tagen keine Spur mehr zu finden ist, schon nach zwei Tagen eine schwere oder überhaupt eine Lungenent¬ zündung sollte hervorrufen können, kann ich nicht zugeben. Andere Möglichkeiten eines Zusammenhanges zwischen dem angeblichen Unfall und dem Tode des W. zu erörtern, wie etwa, dass er sich bei der schweren Arbeit erhitzt und dann in schlechtem Wetter erkältet habe, ist ganz zwecklos, da irgend ein Beweis für oder gegen die Nothwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit eines solchen Zusammenhanges aus den Akten nicht zu entnehmen ist. Demnach gebe ich schliesslich mein Gutachten dahin ab, dass aus dem vorliegenden Aktenmaterial ein Zu¬ sammenhang zwischen dem Tode des W. und dem angeblichen Unfall, der ihn am 27. März 1897 be¬ troffen hat, nicht nachzuweisen ist. Berlin, den 23. Oktober 1898. Professor Dr. Senator, Geheimer Medizinalrath. In beiden Fällen haben die Obergutachten dem Reichs- Versicherungsamt als Grundlage seiner Entscheidung gedient. Demgemäss sind die Entschädigungsansprüche der Hinter¬ bliebenen im ersten Falle unter Aufhebung der Vorentschei¬ dungen anerkannt, im zweiten Falle durch Zurückweisung des Rekurses abgelehnt worden. Aerztliohes Gutachten und Augenschein des Schiedsgerichts. (Rev.-Entsch. vom 15. März 1899.) Gegen ein ungünstiges Urtheil des Schiedsgerichts hat die Versicherungsanstalt rechtzeitig die Revision eingelegt mit dem Anträge, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Sache an das Schiedsgericht zurückzuverweisen. Der Kläger hat die Zu¬ rückweisung der Revision beantragt. Das Reichs-Versicherungs¬ amt gab der Revision aus folgenden Gründen statt: Das Schieds¬ gericht gründet seine Feststellung, dass der Kläger bereits dauernd erwerbsunfähig im Sinne des § 9 des Invaliditäts¬ und Altersversicherungsgesetzes sei, ausschliesslich auf Beine äussere Erscheinung und sein Verhalten in der mündlichen Verhandlung vom 14. Mai 1898. Danach ist der Kläger von zwei Personen gestützt und halb getragen vor das Schiedsge¬ richt geschleppt worden, hat kraftlos im Stuhl gehangen und sich nur mit schwacher gebrochener Stimme verständlich machen können. Dem gegenüber wird der Kläger in dem Gutachten des Knappschaftsarztes Dr. L. vom 12. Oktober 1897 als ein im Wesentlichen gesunder Mann geschildert, der nur an un¬ bedeutenden Krampfadern an den Unterschenkeln und einer alten Muskelzerreissung am linken Oberarm leide und zu allen Arbeiten, welche nicht gerade ausnahmsweise Kräfte, insbe¬ sondere des linken Armes erforderten, fähig sei. Für die auf¬ fallende Verschiedenheit der beiden Befunde hat das Schieds¬ gericht keine Erklärung zu geben versucht, sie wird in den Gründen der angefochtenen Entscheidung mit Stillschweigen übergangen. Hierin muss ein wesentlicher Mangel, nämlich eine Verletzung des §16 Absatz 1 der Kaiserlichen Verordnung vom 1. Dezember 1890 erblickt werden. DaB Schiedsgericht durfte sich nach Lage derSaohe über die Frage der Erwerbs¬ unfähigkeit nicht schlüssig machen, ohne dass wenigstens ein Versuch vorangegangen war, die Wahrnehmungen des Schieds¬ gerichts und die des gehörten, übrigens vom Kläger selbst benannten Sachverständigen zu vereinigen. Allerdings ver¬ weist die angeführte Vorschrift, indem sie die Amtspflicht des Schiedsgerichts zur Klarstellung des Sachverhalts durch Be¬ weiserhebung ausspricht, zugleich auf das „Ermessen“ eben dieses Gerichts. Indessen kann hiermit, wenn die Vorschrift sich nicht selbst wieder aufheben soll, nur ein sachliches, mit Gründen gestütztes, nicht willkürliches Ermessen gemeint sein. Mag daher auch das Recht der freien Beweiswürdigung unter Umständen so weit gehen können, dass das Schiedsgericht entgegen dem Gutachten der ärztlichen Sachverständigen das Vorhandensein der Erwerbsunfähigkeit im gesetzlichen Grade seinerseits feststellen darf, so legt doch ein solcher Wider¬ spruch zwischen der Auffassung des Arztes und der des Ge¬ richts, wie er im vorliegenden Falle obwaltet, dem Gericht jedenfalls zunächst die Pflicht auf, eine weitere Aufklärung des Sachverhalts anzustreben. Das Schiedsgericht musste sich sagen, dass auf seiner Seite ein Irrthum mit unter gelaufen sein konnte. Dazu kommt noch ein anderer Gesichtspunkt. Ist es überdies schon an sich im Allgemeinen bedenklich, die Annahme der Erwerbsunfähigkeit lediglich auf das Urtheil von Nichtärzten, wie es die Mitglieder des Schiedsgerichts regel¬ mässig zu sein pflegen und auch im vorliegenden Falle ge¬ wesen sind, zu stützen, so muss sich dieses Bedenken um so stärker geltend machen, wenn es sich, wie hier, auch um die Prüfung der Frage handelt, ob die Erwerbsunfähigkeit sich als eine „dauernde“ darstelle, ob also eine Heilung der sie bedingenden Leiden und damit eine Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit bis zu dem in § 9 Absatz 3 a. a. 0. be¬ zeichnten Grade nach menschlichem Ermessen in absehbarer Zeit ausgeschlossen sei. Hiernach musste die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die Sache zur Anstellung weiterer Ermittelungen über das Vorhandensein der Invalidität des Digitized by Google 1. Februar 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 63 Klägers, geeignetenfalls durch Vernehmung des Dr. L. an die Vorinstanz zurückverwiesen werden. Bei der erneuten Ver¬ handlung wird das Schiedsgericht auch die Richtigkeit der Behauptung des Klägers, sein Zustand habe sich seit seiner Untersuchung durch den Dr. L. am 12. Oktober 1897 erheb¬ lich verachlechtert, einer Prüfung zu unterziehen haben. M. Bücherbesprechungen und Anzeigen. Prof. Dr. K. B. Lehmann und Dr. R. Neumann. Atlas und Grundriss der Bakteriologie und Lehrbuch der spe¬ ziellen bakteriologischen Diagnostik. Zweite erwei¬ terte und umgearbeitete Auflage 1899. Verlag von J. F. Lehmann, München. Preis 16 M. * Dieses Werk ist in erster Auflage im Jahre 1896 erschienen. Es bildet den 10. Band von J. F. Leb mann’s medizinischen Handatlanten nebst kurz gefassten Lehrbüchern. Um ihr Werk in den Rahmen dieses buchhändlerischen Unternehmens ein¬ zufügen, haben sich die Verfasser sicherlich Zwang auferlegen müssen. Trotzdem ist das Werk als ein gut gelungenes zu bezeichnen, das vielen Beifall gefunden hat. Dafür spricht der Umstand, dass die sehr starke erste Auflage in einigen Jahren vergriffen wurde, und dass sie mehrfach in fremde Sprachen übersetzt worden ist. Die Verfasser setzen voraus, dass der Leser die gewöhn¬ lichsten Elemente der bakteriologischen Technik beherrscht. In der Vorrede zur 1. Auflage sprachen sie die Hoffnung aus, dass ihr Werk für bakteriologische Kurse dem Lernenden eine be¬ deutende Nachhilfe gewähren möchte. Hierin haben sie sich nicht getäuscht. Ihr Werk wird vonAerzten, die sich in der Bakteriologie weiter ausbilden wollen, gern und mit grosser Befriedigung benutzt. Es ist desshalb namentlich für solche Aerzte, die sich nur nebenbei mit bakteriologischen Arbeiten beschäftigen können, ganz besonders zu empfehlen. Für Bakteriologen von Fach ist das Werk von Interesse, weil die Verfasser versucht haben, die Prinzipien, die sich bei den polymorphen Phanero- gamen bewährt haben, möglichst vorsichtig auch auf die Bak¬ terien anzuwenden und den Stoff in möglichst natürlicher, botanischer Anordnung vorzutühren. An manchen neuen Namen werden sich die Bakteriologen freilich schwer gewöhnen können wie z. B. an Corynebacterium diphtheriae (Löffler) Lehmann et Neumann anstatt Diphtheriebacillus oder an Mycobacterium tuberculosis (R. Koch) Lehmann et Neumann für den Tuber¬ kelbazillus. Es wird gewiss manchen mit Wehmuth erfüllen, dass Löffler und Koch bei den neuen Bezeichnungen nur noch in der Klammer erscheinen dürfen neben den Namen der Autoren, die den neuen Namen gegeben haben. Doch wird man sich damit trösten müssen, dass dies nach den Regeln, die durch internationales Uebereinkommen aller Kulturvölker festgestellt sind, nun einmal so Brauch ist. Mancher wird es sehr bedauern, dass Angaben darüber fehlen, von wem und in welchem Jahre die wichtigeren Bakterien entdeckt sind. In der neuen Auflage haben die Verfasser in sorgfältiger Weise die hauptsächlichsten Arbeiten berücksichtigt, die seit dem Erscheinen der ersten Auflage publizirt^ sind. So ist die Lehre von der Krankheitseiregung, der Disposition und Immunität wesentlich erweitert worden. Im speziellen Theile haben sie bei mehr als 50 Arten Zusätze und Verbesserungen gemacht und etwa 80 Arten neu eingefügt. Den Atlas haben sie durch 9 neue Tafeln als Ersatz für 3 alte (Diphtherie und ihre Verwandten, die Verwandten der Tuberkuloseerreger, Gonorrhoe, Pest) vervollkommnet. Vielen wird die ausführliche Beschreibung der Pestbakterien sehr willkommen sein. Während sie in der ersten Auflage nur eine Seite ein nahm, erstreckt sie sich in der zweiten Auflage über mehr als 6 Seiten. Als kurzes Lehr- und Bestimmungsbuch erfüllt das Werk seinen Zweck vollkommen. Die Verfasser haben sich streng an ihr Thema gehalten und nur die Bakteriologie berücksich¬ tet, dagegen die durch Mycelpilze, Hefepilze oder Protozoen bedingten Krankheiten wie z. B. Favus und Malaria ausser Betracht gelassen. Sie würden sicher auf den Dank ihrer Leser rechnen können, wenn sie in die dritte Auflage auch diese Krank¬ heiten aufnehmen wollten. Pfuhl (Berlin) Tagesgeschichte. Das neue Seuchengesetz. Thatsächlich ist nunmehr dem Bundesrath ein Gesetzent¬ wurf über die Bekämpfung gemeingefährlicher Krank¬ heiten vorgelegt. Der Gesetzentwurf knüpft an die dem Reichstage in den Jahren 1893 und 1894 vorgelegten und nicht zur Verabschiebung gelangten Entwürfe an. An der Hand der neuesten Forschungsergebnisse sind die früheren Entwürfe namentlich rücksichtlich der Pest einer Prüfung und Umarbeitung unterworfen worden. Es sind die Erfahrungen berücksichtigt, welche die von Reichswegen im Jahre 1897 zur Erforschung der Pest nach Indien entsandte wissen¬ schaftliche Kommission, sowie Sachverständige, die neuer¬ dings nach Porto zum Studium der Seuche entsandt sind, ge¬ macht haben. Die Krankheiten, auf welche das Gesetz sich erstrecken soll, sind Aussatz (Lepra), Cholera (asiatische), Fleckfieber (Flecktyphus), Gelbfieber, Pest (orientalische Beulen¬ pest), Pocken (Blattern). Der Entwurf behandelt den Stoff in sechs Abschnitten, nämlich Anzeigepflicht, Er¬ mittelung der Krankheit, Schutzmassregeln, Ent¬ schädigungen, allgemeine Vorschriften, Strafbe¬ stimmungen. Zur Krankenversicherungs-Gesetzgebung. In der Reichstagssitzung vom 28. November 1899 hat der Staatssekretär des Innern Graf von Posadowsky eine Anregung dahin gegeben, ob es nicht richtiger wäre, eine Regulirung der Krankenversicherungsbeiträge allgemein dahin eintreten zu lassen, dass die Unternehmer die Hälfte und die Arbeiter auch nur die Hälfte, statt wie bis¬ her zwei Drittel zu bezahlen hätten. Die jetzige Praxis, wonach die Arbeitgeber in den Vorständen der Krankenkassen von den Arbeitern jederzeit majorisirt werden können, hat bekanntlich nach und nach dahin geführt, dass die ersteren sich von der Verwaltung meist banz zurückgezogen und den Arbeitern das Feld allein überlassen haben. Wenn nun aber bei einer Neu¬ regelung der Krankenversicherung die Lasten gleichmässig auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer vertheilt würden, dann müssten selbstverständlich auch beide Theile gleichmässig an der Verwaltung Antheil haben. — Es liegt auf der Hand, dass dadurch auch das Verhältniss der Krankenkassen zu den Aerzten ein wesentlich anderes werden würde, wenn es nicht mehr angängig wäre, dass die Vorstände der Kassen rück¬ sichtslos und einseitig ihre Macht den Aerzten gegenüber ausnützen. Diese beabsichtigte Neuerung ist also von ärzt¬ licher Seite nur dringend zu wünschen. Gegen das Kurpfuscherwesen. Das Polizei-Präsidium zu Berlin hat folgende Verordnung erlassen: „§ 1. Gegenstände, Mittel, Einrichtungen und Methoden, welche dazu bestimmt sind, die Empfängniss zu verhüten oder geschlechtliche Erregungen hervorzurufen, dürfen weder Digitized by Google 64 Aerztliche Sachv er ständigen-Zeitung. No. 3. öffentlich angepriesen, angekündigt, noch in öffent¬ lichen Anstalten (Badeanstalten, Kuranstalten und ähnlichen) in Anwendung gebracht werden. § 2. Gegenstände, Mittel, Einrichtungen und Methoden zur Verhütung oder Be¬ seitigung von Geschlechtskrankheiten oder der Folgen geschlechtlicher Ausschweifungen dürfen weder öffentlich angepriesen noch angekündigt werden. § 3. Gegenstände oder Mittel der in den §§ 1 und 2 bezeichneten Art dürfen in Schaufenstern oder in dem Publikum zu¬ gänglichen Lokalen nicht öffentlich ausgelegt, auch nicht durch Automaten verkauft werden. § 4. Verordnungen approbirter Aerzte, welche dazu bestimmt sind, Gefahren für Leben und Gesundheit zu verhüten oder zu beseitigen, werden von den Bestimmungen in den §§ 1—2 nicht betroffen. § 5. Ueber- tretungen dieser Verordnungen werden, soweit nicht nach den bestehenden Gesetzen eine höhere Strafe verwirkt ist, mit Geldbusse bis zu 30 Mk. bestraft, an deren Stelle im Nichtbeitreibungsfalle eine verhältnissmässige Haft tritt“. Es ist in hohem Grade anerkennenswerth, dass die Be¬ hörde in dieser Weise gegen den Unfug der erwähnten öffentlichen Anpreisungen vorgeht. Wer gelegentlich einen Blick thut in den Annoncentheil selbst grösserer Zeitungen, wird finden, dass dort Anzeigen von Heilmethoden oben ge¬ kennzeichneter Art stehen, welche mit den Erörterungen nicht nur über das Kurpfuscherthum sondern auch über das, was dem Volke in Bezug auf Anstand und Sitte frommt, in krassem Widerspruche steht. Znr Medizinalreform* ln dem für das nächste Finanzjahr in Preussen einge- brachten Etat sind keinerlei Mittel zur Durchführung der Me dizinalr eform vorgesehen. Auf eine bezügliche Anfrage antwortete der Finanzminister: „Die Verhandlungen zwischen den drei betheiligten Ministerien, dem des Innern, des Kultus und der Finanzen, schweben noch. Es sind dabei eine Reihe sehr schwieriger Fragen zu lösen. Der Landtag kann aber absolut sicher sein, dass, sei es durch einen Nachtragsetat, sei es im nächsten Jahre, die Konsequenzen des Gesetzes im Etat gezogen werden.“ — Bestrafung wegen Betrugsversuchs. Der Bergmann St. erlitt am 28. Juni 1897 auf Zeche Graf Moltke einen Bruch des linken Vorderarmes und erhielt aus Anlass dieser Verletzung die Rente einer Erwerbsverminderung von 40 pCt. Da der krankhafte Zustand des Armes sich we¬ sentlich gebessert hatte, sah der Angeklagte ein, dass, falls diese Besserung ärztlich festgestellt würde, ihm die Unfall¬ rente in der bisherigen Höhe nicht weiter gewährt werden würde. Als er daher zum 26. Mai 1899 zur ärztlichen Unter¬ suchung zwecks Feststellung des künftigen Rentenbetrages nach Carnap befohlen wurde, schnürte er den verletzten Arm am oberen Drittel des Unterarmes ab, um eine Schwellung desselben herbeizuführen und so den Zustand desselben schlimmer er¬ scheinen zu lassen, als er in Wahrheit war. Hierdurch hoffte er sich die Rente von 40 pCt. zu erhalten, die höher war, als er nach der Beschaffenheit des verletzten Armes erwarten durfte. Bei der ärztlichen Untersuchung zeigte dann auch der Unterarm in Folge der Abschnürung eine starke ödematöse Schwellung bis zu der noch deutlich sichtbaren Schnürfläche, während oberhalb derselben die Cirkulation noch völlig frei war. Von der untersuchenden Aerztekommission wurde so¬ gleich wahrgenommen, dass dieser Zustand künstlich durch Abschnüren des Armes hervorgerufen war. Da unter diesen Umständen der wirkliche Befund an der Hand nicht festgestellt werden konnte, wurde der Angeklagte zunächst zurückgewiesen. Verantwortlich für den Inhalt: Dr.L. Becker in Berlin. — Bei einer wiederholtenspäterenUntersuohung war die Schwellung völlig verschwunden und ist dem Angeklagten, da sich der Arm wesentlich gebessert hatte, nur eine Unfallrente von 20 pCt Erwerbs Verminderung zugebilligt worden. Gegen St. ist wegen Betrugsversuch Anklage erhoben worden; die H. Strafkammer des K. Landgerichts zu Essen verurtheilte denselben am 10. Okt. d. J. zu einer Gefängnis¬ strafe von einem Monat. (Kompass, 1899. No. 24.) Die Deutsche Gesellschaft für Yolksbäder hat den beamteten Aerzten des Reichs einen Fragebogen über¬ reicht, aus dessen Beantwortung der jetzige Stand des öffent¬ lichen Badewesens in Deutschland hervorgehen soll. Es liegt im Plane, die gewonnene Uebersicht auf der Pariser Welt¬ ausstellung des kommenden Jahres zu allgemeiner Kenntniss und Würdigung zu bringen. Der betreffende Ausstellungs-Vor¬ stand hat den hierfür erforderlichen Raum* bereits vorgesehen und das Kaiserliche Gesundheitsamt dem Vorgehen jede Förderung in Aussicht gestellt. Der Herr Reichskanzler Fürst zuHohen- lohe-Schillingsfürst hat auf ein ihm Seitens der Gesell¬ schaft unterbreitetes Gesuch sich geneigt erklärt, dieser Auf¬ stellung einer Bäder-Statistik des Deutschen Reiches sein amt¬ liches Interesse zuzuwenden und das Reichsamt des Innern die Bearbeitung der Angelegenheit bereits übernommen. — Demnächst tritt auch das Preisgericht zusammen, welches über Ertheilung der von der Gesellschaft ausgesetzten Preise für die besten Entwürfe von kleineren und mittleren Volksbade¬ anstalten entscheiden soll. Die eingegangenen Pläne werden im Laufe des Monats Januar der öffentlichen Besichtigung zu¬ gänglich gemacht, und zwar, Dank dem Entgegenkommen des Herrn Präsidenten Dr. Köhler, im Sitzungssaale des Gesund¬ heitsamtes (Klopstockstr. 19/20) zur Ausstellung gelangen. Der 18. Kongress für innere Medizin findet vom 18.—21. April 1900 in Wiesbaden statt. Präsident ist Herr v. Jaksch (Prag). Folgende Themata sollen zur Ver¬ handlung kommen: Am ersten Sitzungstage, Mittwoch, den 18. April 1900. Die Behandlung der Pneumonie. Refe¬ renten: Herr v. Koränyi (Buda-Pest) und Herr Pel (Amster¬ dam). Am dritten Sitzungstage, Freitag, den 20. April 1900. Die Endocarditis und ihre Beziehungen zu anderen Krankheiten. Referent: Herr Litten (Berlin). Folgende Vortragende haben sich bereits angemeldet: Herr Neuss er (Wien): Thema Vorbehalten. Herr Wenkebach (Utrecht): Ueber die physiologische Erklärung verschiedener Herz-Puls- Arhythmien. Herr K. Grube (Neuenahr-London): Ueber gich¬ tische Erkrankungen des Magens und Darmes. Herr M. Bresgen (Wiesbaden): Die Reizung und Entzündung der Nasenschleim¬ haut in ihrem Einflüsse auf die Athmung und das Herz. Herr Schott (Nauheim): Influenza und chronische Herzkrankheiten. Herr Martin Mendelsohn (Berlin): Ueber ein Herztonicum. Herr Weintraud (Wiesbaden): Ueber den Abbau des NucleY- nes im Stoffwechsel. Herr Herrn. Hildebrandt (Berlin): Ueber eine Synthese im Thierkörper. Theilnehmer für einen einzelnen Kongress kann jeder Arzt werden. Die Theilnehmerkarte kostet 15 Mark. Die Theilnehmer können sich an Vorträgen, Demonstrationen und Diskussionen betheiligen und erhalten ein im Buchhandel ca. 12 Mark kostendes Exemplar der Verhandlungen gratis. Mit dem Kongresse ist eine Ausstellung von neueren ärztlichen Apparaten, Instrumenten, Präparaten u. s. w., so weit sie für die innere Medizin Interesse haben, ver¬ bunden. Anmeldungen für dieselbe sind an Herrn Sanitäts¬ rath Dr. Emil Pfeiffer, Wiesbaden, Parkstrasse 13, zu richten. Verlag und Elgentham von Richard Bchoeti in Berlin. — Druck von Albert Damcke, Berlin. Digitized by ( Google Die „ A ärztlich« Sechventlndlgen-Zeltiing“ eracholnt monatlich twaimal. Dieselbe ist in beziehen durch den Buchhandel, die Poet (No. 86) r der durch die Verlagsbuchhandlung ron Blchard Schoets, Berlin NW., Luisenstr. 36, zum Preise Ton Hk. 5 — pro Vierteljahr. Aerztliche Allo Manuskripte, Mltthellungen und redaktionellen Anfragen beliebe man zu senden an Dr. F. Leppmann, Berlin W., KnrfQrstenstr. No. 8. Korrekturen, Rezenslons-Ezemplare, Sonderabdrfloke an die Verlagsbuchhandlung, Inserate and Beilagen an die Annoncen-Expedition von Rudolf Moste. Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und Unfall-Heilkunde. Herausgegeben von Dr. L. Becker Dr. A. Leppmann Dr. F. Leppmann Sanlt&tsrath, Königlicher Physlkns, Vertrauensarzt 8anltEt*rzth, Königlicher Physikus, Arzt dor Bcobachturgsanstalt für freiste«. prakt Arzt, ron Berafsgenossenschaften und Schiedsgerichten. kranke Oefangeno in lioablt-Berlin, Spezialarzt für Nerven-u. Geisteskranke. Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstrasse 36. VL Jahrgang 1900. M 4. Ausgegeben am 15. Februar. Inhalt Originalien: Wlchmann, Ein Fall von tödtlicher Cohabitations- Verletzung. S. 65. Julian Marcuse, Beitrag zur Frage der Errichtung von Asylen für unheilbare Alkoholiker. 8. 66. Wagner, Simulation im Bahnbetriebe mit besonderer Berücksichti¬ gung der sogenannten traumatischen Neurose. S. 69. Referate: Neurologie und Psychiatrie. Oppenheim, Skoliose und Nerven¬ leiden. S. 73. Kolben, üeber absolute Pupillenstarre bei hysterischer Psychose; angebliche Atropinvergiftung. S. 73. Donath, Der epileptische Wandertrieb (Poriomanie). S. 73. Bregman, üeber den „Autoraatisme ambulatoire“, S. 74. Wattenberg, üeber einen Fall von genuiner Epilepsie mit sich daran anschliessender Dementia paralytica. S. 74. Chirurgie. Hoffa, Zur Lehre von der Sehnenplastik. S. 74. Wontscher, Zur Kasuistik der okkulten Fremdkörper. S. 75. Trnka, Die subkutanen Frakturen der Metatarsalknochen, S. 75. Heimann, Aus der Unfallpraxis. S. 76. Neuschläfer, Abreissung eines'Stückes des Fersenbeins. S. 76. innere Medizin. Westphalen und Fick, üeber zwei Fälle von Perigastritis adhaesiva (pylorica). S. 76. Elben, Traumatische tuberkulöse Basilarmeningitis. S, 77. Vergiftungen. Geyer, Chron. Hautveränderungen bei Arsenicismus. S. 77. Mayer, Tod an Purpura fulminans, S. 78. Marer, Doppelmord mittels Phosphor. S. 78. Model, Schwerste Opiumvergiftung. Zehnstündige Faradisation des Phrenicus. Heilung. S. 78. Hygiene. Dunbar, Die biologischen Abwasserreinigungsverfahren. S. 78. Schrimpl, Der Sanitätsdienst bei den k. k. Tabakfabriken. S. 80. Weissenfeld, Bakterien in der Butter. S. 80. Bloch, Bakteriengehalt von Milchprodukten. S. 80. Aus Vereinen und Versammlungen. Freie Vereinigung der Chirurgen Berlins. Versammlungsbericht. S. 81. Gerichtliche Entscheidungen: Ans dem Reichs-Versicherungsamt. Erwerbs Verminderung liegt nicht vor bei geringer Versteifung des Nagelgelonks des rechten Zeigefingers. S. 81. Aus dem Ober-Verwaltungsgericht: Zum Nachweis der Ge- sundheitsgefährlichkeit einer Einrichtung ist nicht erforderlich, dass die Einrichtung bereits in einem Falle gesundheitsschädlich gewirkt hat. — Gewerbesteuerbefreiung. S. 82. Bücherbesprechungen: Piskocek, üeber Ausladungen umschriebener Gebärmutterabschnitte als diagnostisches Zeichen im Anfangs- stadium der Schwangerschaft. — Schäffer, Handbuch der Prophylaxe, Prophylaxe bei Frauenkrankheiten. — v. Esmarch, Hygienisches Taschenbuch. S. 82. Gebührenwesen. S. 83. Tagesgeschiohte: Entwurf von Vorschriften über den Verkehr mit Geheimmitteln. — Ein Museum für Krankenpflege. S. 84. Ein Fall von tödtlicher Cohabitationsverletzung. Von Dr. Wichmann, Asslstenxarat. Aus der inneren Abtheilung des Städtischen Krankenhauses im Friedrichshain in Berlin (Direktor: Professor Fürbringer). Das Interesse, welches durch die Seltenheit der im Titel genannten Verletzung und ihre Bedeutung in gerichtsärztlicher Beziehung gegeben ist, dürfte die mir von meinem Chef, Herrn Professor Fürbringer, übertragene Veröffentlichung nachstehen¬ den Falles rechtfertigen. Die Krankengeschichte konnte aus den Angaben des Ueberlebenden rekonstruirt werden und ist den Akten der Kgl. Staatsanwaltschaft entnommen, welche in entgegenkom¬ mender Weise hierzu die Erlaubnis gewährte. Die unverehelichte, 26 Jahre alte Fabrikarbeiterin X. traf sich Abends gegen 9 Uhr mit ihrem Bräutigam, einem 26jäh- rigen Arbeiter, im Hause einer Anverwandten. Nachdem dort viel Rum, Grog, sowie später in einem Schanklokale noch Portwein getrunken worden war, gingen Beide um Mitternacht nach der Wohnung des Bräutigams und gelangten daselbst gegen 1 Uhr Nachts an. Sie vollzogen auf dem Hausflur im Stehen den Beischlaf. Als der Bräutigam zum zweiten Male denselben vollziehen wollte, bemerkte er, dass Blut aus der Scheide floss. Nach einigen Minuten blutete es in Strömen. Patientin brach hilfe¬ rufend zusammen. Er brachte dieselbe eiligst mittelst Droschke nach dem Krankenhause, woselbst man um 1 Uhr 20 Min. anlangte. Auf dem Transport war Patientin verstorben. Bei der Einlieferung wurde der Tod mit den Zeichen einer star¬ ken Blutung aus den Geschlechtsorganen und eine dem neunten Monate entsprechende Schwangerschaft festgestellt. Das nächstliegendste war wohl, da eine verwerthbare Anam¬ nese in Anbetracht der nur sehr geringen und ungenauen An¬ gaben der Begleiter nicht erhalten werden konnte, an eine Blutung aus der schwangeren Gebärmutter zu denken. Es wurde bei der Möglichkeit, dass eine verbrecherische Mani¬ pulation vorläge, der Kgl. Staatsanwaltschaft Anzeige er¬ stattet. Die Sektion (Prosektor: Prof. Dr. Hansemann), die nach Freigabe der Leiche erst fünf Tage später ausgeführt werden konnte, ergab Folgendes: Sehr anämische, mittelgrosse, mässig genährte, weibliche Leiche. Sämmtliche Organe der Brusthöhle zeigen ausser Anä¬ mie keine pathologischen Veränderungen. Bei Eröffnung der Bauchhöhle liegt der stark ver- grösserte Uterus vor, der bis zum Rippenbogen reicht. Im Uterus befindet sich eine weibliche Frucht von 45 cm Länge Digitized by Google 66 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 4. in zweiter Schädellage, der Kopf steht beweglich über dem Becken. Weder im Uterus, noch in der aufgelockerten Cervix Blut. Unterhalb der Clitoris, auf der rechten Seite eine etwa 1V 2 cm tiefe und 2 cm lange Verletzung. Durch dieselbe ist die Mündung der Harnröhre nach der rechten Seite hin eingerissen und der rechts¬ seitige Schwellkörper der Clitoris eröffnet. Ränder der Verletzung unregelmässig zerrissen, im Grunde derselben Blutcoagula und klaffende Gefässlumina. Die Submucosa der Urethra ist auf eine etwa 2 cm hin¬ aufreichende Strecke blutig suggillirt. Introitus vaginae, kleine Labien, linke Urethralwand un¬ versehrt. Die übrigen Organe ohne bemerkenswerthen Befund. Aus der beschriebenen Verletzung muss mit Rücksicht auf die hochgradige Blutarmut des Körpers mangels anderer Ursachen eine grössere Blutung erfolgt sein, welche den Tod zur Folge hatte. Unter solchen Umständen wurde seitens der Direktion erneute Anzeige an die Kgl. Staatsanwaltschaft gemacht, deren oben erwähnte Erhebungen den geäusserten Argwohn, dass es sich um eine tödtliche Beischlafsverletzung handeln möchte, zur Thatsache gestalteten. Nach den Erklärungen des Bräutigams selbst können Be¬ denken, diese Verletzung und Verblutung auf den sexuellen Akt zurückzuführen, nicht mehr erhoben werden. Zur näheren Erklärung für das Zustandekommen der so folgenschweren Verletzung ist zu erwägen, dass bei Ausfüh¬ rung des Beischlafs das Membrum virile eine falsche Richtung einschlug und so oberhalb des Introitus vaginae einen Wider¬ stand fand. Uebermässige Grösse des Membrum kann nicht beschuldigt werden, da früher ausgeführte Cohabitationen ohne Schädigung ertragen wurden, und ja Scheideneingang und Scheide durch die Schwangerschaft erweitert waren. Ob die stehende Stellung, in der der Coitus ausgeführt wurde, in einen gewissen Zusammenhang mit der „fausse route“ zu bringen ist, muss dahingestellt bleiben, da noch diesbezügliche nähere Einzelheiten nicht bekannt sind. Der Widerstand wurde . offenbar durch den Ansturm, der nach vorhergegan¬ genem Zechgelage besonders ungestüm gewesen sein mag, auf dem Wege der Zerreissung überwunden. Als prädisponirend zu letzterer und zu dem folgenden grossen Blutverluste muss der Zustand vorgeschrittener Schwangerschaft, in dem sich Patientin befand, angesehen werden. In diesem sind die Gewebe der Geschlechtsorgane aufgelockert, die sie versorgenden Gefässe dilatirt, wodurch es leichter zu Verletzungen mit grossen Blutungen kommt. In der Literatur habe ich unter etwa 170 Coitus Verletzun¬ gen 21 tödtliche aufgefunden (s. die Zusammenstellung am Schlüsse der Arbeit). Anwendung brutaler Gewalt, Trunkenheit eines oder bei¬ der Theilnehmer des Aktes sind öfters als die zufälligen be¬ gleitenden Ursachen erwähnt. Als prädisponirend war von Seiten des Mannes nament¬ lich ein übermässig grosses Membrum zu beschuldigen, von Seiten der Weiber kamen vielfache Momente in Betracht, so das Alter (Kindes-, klimakterisches, Greisen-Alter); ein patho¬ logischer Zustand der Genitalien (durch Hypoplasie, Missbil¬ dung, vorausgegangene gynäkologische Operationen, Retro- flexio uteri); der schwangere und puerperale Zustand, die Stellung beim Beischlafe. Der Tod erfolgte durch Verblutung 13 mal, durch Wund¬ infektion mit nachfolgender Sepsis 7 mal (1 Fall ist zweifel¬ haft). Die Fälle, in welchem der Tod bei Coitusverletzung nicht durch die Verletzung an sich, sondern auf eine andere gewaltsame Art entstand, scheiden selbstverständlich aus. Den Ort der tödtlichen Verletzung betreffend finde ich notirt: Die Scheide in grösserer Ausdehnung 4 mal. Das hintere Scheidengewplbe 4 mal. Die linke Scheidenwand lmal. Die rechte Scheidenwand lmal. Das Hymen lmal. Die Harnröhrenmündung und Bulbus clitoridis 2mal. Einen Varix der Clitoris 2 mal. In 2 Fällen hatte der Riss das Peritoneum eröffnet. In 4 Fällen hatten Denatae das Alter von 12 Jahren noch nicht erreicht, während der Mann bereits Geschlechtsreife er¬ langt hatte. 2 mal lag Nothzüchtigung vor. 5 mal erfolgte der Tod in der Brautnacht. Als Komplikation wäre 1 mal Schwangerschaft, 1 mal Hä T mophilie erwähnt. Zum Schluss erlaube ich mir Herrn Professor Fürbringer für die gütige Ueberlassung des Falles meinen ergebensten Dank auszusprechen. Literatur. Diemerbröck, Anatomia corporis humani, 8. Meissner, die Frauen¬ zimmerkrankheiten. I. Band. Leipzig 1842. p. 461. Albert, Receuil des memoires de mddecine militaire. 1870. F£- vrier. Mueller, Verhandlungen der physikalisch-medizinischen Gesell¬ schaft in Würzburg. N. F. 1873. p. 178. Tardieu, Attentats aux moers. Paris 1878. Weltrubski, Wiener med. Blätter. 1883. p. 291. Beobachtung von Cramer. Bartel, 6 Fälle von Verletzung’der Scheide extra partum. Wra cz. 1885. p. 324 u. 342. Dolan, Mord einer kinderlichen Frau, s. Provinc. Journal. 1890. Vol. X. p. 616. Himmelfarb, Zur Casuistik der Scheidenverletzungen durch Coi¬ tus. (Centralblatt für Gynäkologie. 1890. p. 680.) Eklund, Cas curieux de rupture du vagin pendant le coit. (Lyon. Med. 1891. Vol. LXIV. p. 61. Haynes, Vaginal hamorrhage from a first coition, septicemia, death. (American Journal of Obstetrics. 1891. Vol. XXIV. p. 680. Jennings, Case of sexual intercourse with a girl between 11 and 12 years of age, who had no arrived of puberty; rupture of the vagina and death. Calcutta. 1894. Vol. IV. p. 103. Taylor (s. Strassmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. 1895. p. 96.) Eine umfassende Zusammenstellung von Coitus Verletzungen: F. Neugebauer, Venus cruenta violans interdum occidens. Mo¬ natsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. Bd. IX. Heft 2 u. 3. Simpson, The diseases of women. Beitrag zur Frage der Errichtung von Asylen für unheilbare Alkoholiker. Von Dr. Julian Marcuse-Mannheim. Professor A. Forel, der bekannte Vorkämpfer der totalen Abstinenz, hat in einer vor Kurzem erschienenen Arbeit in der Revue medicale de la Suisse romande die Frage nach der Er¬ richtung von Asylen für unheilbare Alkoholiker aufgeworfen und in der Beantwortung derselben eine vom neurologischen Standpunkte so ausserordentlich interessante Uebersicht über die psychopathischen Formen und Nüancen des chronischen Alkoholismus gegeben, dass ein näheres Eingehen darauf auch Digitized by Google 15. Februar 1900 Aerztliche Sachverständigen*Zeitung. 67 im allgemein ärztlichen Interesse liegt. Ist es ja doch in den meisten Fällen nur der beamtete Arzt, der forensisch als aus¬ schlaggebender Faktor zur Beurtheilung der mangelnden oder fehlenden Zurechnungsfähigkeit sein Votum abzugeben und zur Begründung desselben ein genaueres Studium des Falles wie des Krankheitsbegriffes vorzunehmen hat: dem praktischen Arzte bleiben im Grossen und Ganzen die Bindeglieder zwischen Alkoholismus und Psychopathie verborgen, und über rudimen¬ täre Anschauungen kommt er kaum hinaus. Und doch ist es von wesentlichstem Werthe, bei einem so weit verbreiteten und so schwere physische wie psychische Konsequenzen zie¬ henden Uebel, wie es der chronische Alkoholismus ist, die mannigfachen Veränderungen der Gehirnsphäre klinisch zu er¬ fassen und auf Grund dieser Erkenntniss die Aetiologie einer Reihe von psychischen Veränderungen und Störungen genau zu fixiren. Aber auch therapeutisch ist auf diesem an und für sich so unfruchtbaren Gebiet bei Berücksichtigung der ätiologischen Momente doch Manches zu erreichen, kurzum diese schwerwiegende und für den Soziologen nicht minder wie für den Arzt bedeutungsvolle Frage nach den psychischen Schäden des Alkoholismus birgt des Wissenswerthen genug! Nach einer kulturhistorisch sehr interessanten Einleitung über die frühere Auffassung vom Wesen des Alkoholismus und über die dem Gebiete der Moralphilosophie entnommenen Heilmittel giebt Forel eine Kategorisirung der verschiedenen Arten unheilbarer Alkoholiker. Er unterscheidet vor Allem die¬ jenigen, deren Gehirn weniger widerstandsfähiger war als andere Organe und bei denen die Alhoholintoxikation ein Stadium cerebraler Atrophie mit Schwächung der Willenskraft, des Gedächtnisses, der Gefühle und selbst der Intelligenz er¬ zeugt hatte. Ausser Stande, irgend einen Entschluss zu fassen, trinken sie, sobald sie frei sind und brechen jedes Gelöbniss, das sie eingegangen sind. Einmal atrophijä, regeneriren sich die nervösen Elemente des Gehirns nicht mehr. Hieraus er¬ klärt sich auch die Thatsache, dass das Durchschnittsgewicht des Gehirns solcher Alkoholiker merklich vermindert ist. Eine zweite Kategorie umfasst die unheilbaren Formen alkoholischen Wahnsinns. Während man die erste Kategorie mit dem Namen einfacher alkoholischer Dementia ersten Grades bezeichnen kann, da sie noch eine gewisse Verbindung der Ideen und Handlungen erlaubt, handelt es sich hier um wohl accentuirte Psychosen, um chronische Delirien mit Verfolgungsideen, Hal¬ luzinationen etc., die sich lestsetzen und dauernd zu einem System sich ordnen (chronisch alkoholische Paranoia). Diese Fälle haben für die vorliegende Betrachtung kein besonderes Interesse, da sie in die Irrenanstalten gehören. Eine dritte Kategorie bilden die Epileptiker, welche trinken. Es handelt sich hier nicht um die rein alkoholische Epilepsie, die durch Abstinenz heilbar ist, sondern um besonders zu klassifizirende Epileptiker, die sich durch ihren gewalttätigen, aufbrausen¬ den Charakter und durch ihre geschwächte Intelligenz aus¬ zeichnen; sie werden sehr oft durch ihre Trunksucht gefähr¬ lich und sind äusserst selten heilbar. Es folgen dann viertens die verschiedenen Formen der perversen Sexualkranken, die alle mehr oder minder psychopatisch sind, in extremer Form oft zum Alkoholismus neigen und bei denen ohne Ausnahme der Alkohol die Ausübung des widernatürlichen Geschlechts¬ oder perversen Aktes ausserordentlich begünstigt. Der Alko¬ hol wirkt hier in zweifacher Hinsicht, zuerst reizt er direkt den genetischen perversen Trieb an, dann lähmt er die Ueber- legung und den Moralsinn. Gelegentliche Heilungen oder Besserungen dieser Individuen bilden eine Ausnahme, die Regel ist Unheilbarkeit. Das Gros der Armee der unheilbaren Alkoholiker bilden jedoch die hereditär Belasteten, die sogen, konstitutionellen Psychopateu und unter ihnen vorzugsweise Diejenigen, die mit einem kongenitalen Defekt ihres Moral* sinnes behaftet sind. Der Laie ist geneigt, die geistige Schwäche und ihren höheren Grad, den Idiotismus, für eine rein geistige Krankheit anzusehen. Dies ist ein grosser Irr¬ thum! Die kongenitale unzureichende Beschaffenheit des Ge¬ hirns äussert sich ebenso oft in Defekten der Empfindung, des Willens und der Moralsphäre wie in denen der Intelligenz. Im Allgemeinen sind diese Defekte mit einander vergesell¬ schaftet und kombinirt, und bald hat das eine bald das andere das Uebergewicht Bei den moralischen Idioten herrscht die völlige Trübung der Moralsphäre vor. Mehr oder minder fallen alle Formen der hereditären Psychopatien dem Alkoholismus anheim und gestalten ihre Heilung zu einer sehr schwierigen. Die eine von ihnen, die Dipsomanie, besteht in einer perio¬ dischen Trinkneigung und führt unfehlbar zum Alkoholismus, wenn das Individuum nicht zur totalen Abstinenz gelangen kann. Doch ist dieses letztere sehr selten. Lehrreiche Bei¬ spiele für alles dieses liefert die Statistik des Asyles von Elli- kon. 1896 waren unter 68 in Ellikon aufgenommenen Alkoho- listen nur 86, deren Krankheit nicht durch psychische Ano¬ malien komplizirt war; 1897 unter 73 nur 44 etc. Unter den Alkoholikern der Irrenanstalten ist das Verhältniss von Psycho- paten und von konstitutionellen und chronischen Irren, also unheilbaren, noch grösser und macht die Mehrzahl der Fälle aus. Blickt man weiterhin auf die Gefängnisse und Kor¬ rektionsanstalten, so findet man unter den Rubriken von Ge- legenheits- oder Gewohnheitsverbrechern, von Prostituirten, Vagabunden, Bettlern etc. eine Legion von chronischen Alko¬ holikern aller Art, die man sehr oft völlig verkehrt behandelt. An¬ statt sie an die Abstinenz zu gewöhnen und für sie Abstinenzver¬ einigungen zu bilden, belohnt man sie höchstens mit Wein oder ähnlichem, wenn sie anfangen, sich besser zu führen. Wenn man gewissenhaft das Fazit von allen diesen Thatsachen zieht, so wird man dazu gelangen, nach genauen Ausscheidungen bestimmte Kategorien von Alkoholikern aufzustellen, deren Behandlung oder Hospitalunterbringung vom praktischen Stand¬ punkt aus nothwendig und nützlich erscheint. Immer wird es natürlich Uebergänge zwischen den einzelnen Kategorien geben, und immer wird man die milderen und leichteren Behandlungsmethoden anwenden müssen, ehe man zu den energischen und den Massnahmen der prolongirten oder dauern¬ den Internirung übergeht. a. Verhältnissmässig leichtere Fälle von Alkoholismus, bei denen die Verpflichtung zu einer Vereinigung totaler Abstinenz für die Behandlung hinreicht. Nie kann man früh genug sich hieran machen, um schwerere Massnahmen zu vermeiden. Man muss daher mit allen Mitteln die Aktion der Abstinenz¬ gesellschaften unterstützen, statt ihnen Hindernisse zu bereiten. b. Schwerere, aber noch heilbare Fälle, mit oder ohne alkoholisches Delirium, oft mit von Natur aus nicht gerade perverser Psychopatie. Im Allgemeinen sind dies Fälle, wo eine Abstinenzgesellschaft allein für den Anfang nicht ausreicht. Diese Fälle eignen sich für spezielle Alkoholikerasyle. Damit diese Asyle ihren Zweck erreichen, ist es nothwendig, dass ein zuverlässiger, intelligenter und energischer Abstinent an der Spitze steht. Nichts ist absurder als irgend eine unfähige oder schon alte Person, die man versorgen will, an die Spitze zu stellen, dann kann man sicher sein, dass man Fiasko macht. Ferner wird es nothwendig sein, dass, abgesehen von denjenigen, die sich ausdrücklich verpflichten, wenigstens sechs Monate dort zu bleiben, man von Staatswegen und gegen ihren Willen eine Zahl von Alkoholikern kraft gesetzlicher Bestimmungen, wie es in St. Gallen der Fall ist, dort unterbringen kann. Diese Massnahme kann den Fällen entsprechend von einer gerichtlichen Vormundschaft begleitet sein oder auch nicht Digitized by Google 68 Aorztlicho Sach verstand i gen-Zoitn ng. No. 4. Es lässt sich dies nicht verallgemeinern; in einigen Fällen wird es nothwendig sein, in anderen wieder nicht. Beim Austritt müssen selbstverständlich diese Alkoholiker in eine Abstinenz¬ gesellschaft eintreten und ihr ganzes Leben abstinent bleiben. c) Folgen die heil- oder unheilbaren Fälle, die mit sogen Geisteszerrüttung komplizirt sind und die in Irrenanstalten untergebracht werden müssen, sei es temporär (die Heilbaren bis zur Ueberfiihrung in ein Trinkerasyl), sei es für immer (die Unheilbaren). Gewisse Fälle totaler Dementia werden ihr Leben zu Hause beenden können, vorausgesetzt, dass man sie abstinent hält. d) Es bleiben endlich die entarteten und unheilbaren Al¬ koholiker, gefährliche Verbrecher oder Bösewichter, die man weder in Freiheit lassen, hoch in Trinkerasyle bringen kann, und die in Irrenanstalten sich selbst oder anderen Irren Schaden zufügen. Diese Kategorie hängt mit unseren gesumm¬ ten sozialen Einrichtungen und Verhältnissen zusammen, und ihre Heilung wird erst dann erreicht werden können, wenn die Möglichkeit der Neuerzeugung derartiger Fälle aufgehoben sein wird. Das Ideal wird also sein, den Genuss jedweden alkoholischen Getränkes in der menschlichen Gesellschaft aus¬ zurotten. Dann wird man weder Trinkerasyle nothwendig haben, und man wird auch die Hälfte der Gefängnisse ent¬ behren können. Da dieses Ideal aber noch sehr weit im Feld ist, so wird man auf Massnahmen sinnen müssen, die schon heute die Gesellschaft vor derartigen Individuen schützen. Praktische Erwägungen und Opportunitätsgründe vereinen sich mit natürlichen, um zu verlangen, dass Massregeln getroffen werden gegen unheilbare, gefährliche und allgemein schäd¬ liche Alkoholiker, die Stadt und Land als Vagabunden, Böse¬ wichte und brutale Menschen unsicher machen, und die weder in Korrektionsanstalten, noch in Strafanstalten, noch in Irren¬ anstalten ihren Platz haben. Diese Individuen können auch flieht in Trinkerasyle fttifgenorattien werden, denn sie bringen die Anderen vom rechten Wege ab und ruiniren den guten Geist und die Disziplin. Wenn man nun diese fraglichen Fälle ohne Voreingenommenheit auf Grund unserer modernen Kenntnisse über die Geisteszerrüttung, und ihre Beziehungen zur Kriminalistik und zum menschlichen Gehirn prüft, so wird man ohne Mühe den Typus des seines Gleichgewichts wie seiner Moral beraubten Psychopaten, des moralischen Idioten, des naturgemässen Verbrechers erkennen, der ein anormales Wesen darstellt, den psychopathisch Minderwerthigen (Koch), mit eng begrenzter Verantwortlichkeit, Individuen, die in Folge meist hereditärer oder kongenitaler Defekte des Ce- rebrum hart an die Grenzen des Wahnsinns und des Ver¬ brecherthums anstossen. Es ist dies eine ganze Kategorie von durch ihr anormales Gehirn entarteten Individuen, welche unsere Gesellschaft beunruhigen und die wie Bälle zurückge¬ schleudert werden, weil keine der bestehenden Anstalten sie beaufsichtigen will. Aus dem Gefängniss gehen sie in die Korrektionsanstalt, aus dieser in die Irrenanstalt, von hier in das Trinkerasyl, und sie benutzen diesen Zustand, um jeden Augenblick ihre verbrecherischen Anschläge auf die Menschen auszuüben, indem sie sie täuschen und betrügen, Laster und Entartung überall ausstreuen. Dank der Anarchie und der Schwäche, die gegenüber diesen unglücklichen und schlecht entwickelten Wesen herrschen, entarten sie selbst mehr und mehr und bilden ein ungeheures soziales Uebel. Die allge¬ meinen Beobachtungen und Erfahrungen über diese Individuen lassen sich in folgenden Sätzen niederlegen: 1. Die eben be¬ sprochenen anormalen Wesen haben nicht die volle Freiheit der Handlung und fühlen dies oft selbst. Sobald sie sich im Schooss der Gesellschaft befinden, lassen sie die Schwäche ihres Willens und ihres Verstandes, die Gewalt ihrer Begierden etc. unfehlbar in ihre Laster- und Verbrecherlaufbahn zurück- fallen. 2. Sie ertragen den Alkohol nicht, der für sie von schlimmster excitirender Wirkung ist und ihre schlechten Hand¬ lungen verstärkt. 3. Unter einer strengen und gerechten Dis¬ ziplin, die sie zu regelmässiger Arbeit zwingt, ihre Freiheit begrenzt, ebenso wie die sozialen Instinkte ihres Gehirns be¬ grenzt sind, und absolut jeden Alkoholgenuss unterdrückt, gelangt man nach und nach zu grossen Fortschritten ihres Verhaltens. Es ist selbst nicht unmöglich, am Ende von ein oder mehreren Jahren zu einer relativen Heilung zu gelangen, insofern, als man die weniger Kranken und weniger Entarte¬ ten der sozialen Freiheit wiedergeben kann dank der Ange- wöhnungan die Arbeit und dank der alkoholischenEnthaltsamkeit, Begriffe, die langsam angenommen und allmählich fixirt werden. Aber zum Gelingen dieser Resultate gehören Einrichtungen und ein Milieu, in dem diese Gewohnheiten fortgesetzt geübt werden können, ohne zu grosse Versuchungen und schlechte Einflüsse. Aus diesen aufgezählten Thatsachen ergeben sich eine Reihe von Konsequenzen, die schon seit Jahrhunderten hätten ge¬ zogen werden müssen, wäre nicht durch vorgefasste Meinun¬ gen die Menschheit bethört worden: 1. Der psychopatische Alkoholiker, der anerkannt gefähr¬ lich, schädlich und unheilbar erscheint, muss mit den andern Psychopatikern, die sich in demselben Zustand befinden, ver¬ einigt werden. 2. Alle Beide müssen staatlicherseits und gegen ihren Willen einer Beschränkung ihrer Handlungsfreiheit unter¬ worfen werden., einer Beschränkung, die verschiedene Grade und verschiedene Formen umfasst: a) Internirung in ein spe¬ zielles, passendes Asyl; b) Vormundschaft; c) Ueberwachung durch die Polizei oder durch eine andere Behörde. 3. Beide müssen totaler Abstinenz von geistigen Getränken unterworfen werden, vor Allem in den Spezialanstalten, welche behörd¬ lich verpflichtet werden müssen, jedweden Genuss geistiger Getränke unter ihrem gesammten Personal strengstens zu ver¬ bieten. 4. Muss man in Haft diejenigen in den für diese Gattung von Menschen bestimmten Asylen überführen, deren ruchloser Charakter eine gerichtliche Verurtheilung fordert Man muss also der Internirung einen rein administrativen Charakter verleihen, der dem öffentlichen wie dem individu¬ ellen Wohl Rechnung trägt. Die inneren Einrichtungen der¬ artiger Etablissements werden folgende sein müssen: Von der Thatsache ausgehend, dass die Angehörigen der Kategorie, um die es sich handelt, fast alle genügend kräftig und geschickt sind, um nützliche Arbeiten verrichten zu können, dass die Arbeit die Fundamentalbedingung ihres eigenen Wohls ist, während ihre Frevel- und Missethaten in der menschlichen Gesellschaft einen Zustand verursachen, bei dem die Allge¬ meinheit der arbeitenden Bevölkerung einen ungeheuren Schaden erleidet, ist es nothwendig, für sie zugleich ein acker¬ bautreibendes und industrielles Asyl mit einem Betriebe auf grosser Stufenleiter in beiden Branchen zu gründen und zwar in der Weise, dass das Asyl im Stande ist, durch die Arbeit seiner Insassen sich selbst zu unterhalten, ohne den Etat des Staates zu belasten. Da ausserdem die Fortpflanzung defekter Individuen und ihrer sexuellen Lasten eine weitere ständige soziale Gefahr bildet, ist es nothwendig, die Geschlechter in den verschiedenen Asylen vollständig zu separiren. Die Ent¬ fernungen dürfen aber nicht zu grosse sein, damit die gegen¬ seitigen Arbeitsleistungen — seitens der Männer der Acker¬ bau, seitens der Frauen das Waschen, Kochen, Flicken etc. — beiden Anstalten zugute kommen. Für das Dbtail sind folgende Punkte von Wichtigkeit: A. Jedes Asyl soll in Form von separirten und zerstreut liegenden Pavillons erbaut werden. Jeder Pavillon soll einen speziellen Aufseher haben und nicht mehr wie 50 Pensionäre Digitized by Google 15. Februar 1900. Aerztliehe Sachverstandigen- Zeitung. 69 im Maximum beherbergen. B. Das Asyl seil auf plattem Land errichtet werden, so weit als möglich von allen Bevölkerungs¬ zentren. C. Die Pavillons müssen entsprechend dem Verhalten der Bewohner eingerichtet werden. Ein besonderer Pavillon soll mit Gefangenenzellen und allen Vorsichtsmassregeln gegen Gewaltthätigkeiten, Verwüstungen und gefährliche Handlungen versehen werden, wie eine Abtheilung gefährlicher Irrer oder Gefangener. Dieser Pavillon ist für gefährliche Individuen bestimmt, ein anderer für fluchtverdächtige, ein dritter zur Isolirung im Falle epidemischer Krankheiten etc. Daneben wird es auch einen möglichst offenen und freien Pavillon für die Internisten geben, die ungefährlich sind, ein gutes Betragen an den Tag legen, für die, die man frei umhergehen lassen kann und bei denen Ueberwachung, Vorschriften, Disziplin und Abstinenz genügen. D. Industrielle Thätigkeit soll mit möglich¬ ster Sorgfalt gepflegt werden: Malerei, Schuhmacherei, Schrei¬ nerei, Buchdruckerkunst, Flechterei, etc. etc. Ein fachmännisch gebildeter Direktor soll an der Spitze davon stehen. E. Die Leitung des Asyls wird man einem erfahrenen und zuverläs¬ sigen Psychologen übergeben müssen, der das Gefühl be¬ sitzt, aus der entarteten und gefährlichen Bevölkerung eines solchen Hauses noch einen guten Kern sich herauszuschälen, und der die Mitglieder nach ihren Fähigkeiten und ihren Ge¬ fahren zu einen und zu trennen versteht. Von diesem Ge¬ sichtspunkt aus werden die separirten Pavillons grosse Dienste leisten, so besonders bei den sexuell perversen Individuen, vor denen mandieanderen schützen muss etc. F. Die oberste Aufsicht über diese Asyle soll eine Kommission, bestehend aus Leitern von Irrenanstalten. Strafrechtsvertretern, Direktoren von Ge¬ fangenenanstalten und Sachverständigen in der Frage der Alkoholabstinenz führen. Ein solches Asyl wird einen ungeheuren Fortschritt be¬ deuten. Gut organisirt und auf der angegebenen Basis ge¬ leitet wird man in viel höherem Masse als man von vorn¬ herein glaubt, eine grosse Zahl von Heilungen für unheilbar gehaltener Personen mit der Zeit sehen, unter dem Einfluss der Abstinenz, der Ordnung und der Arbeit. Die Zeit, die hierfür nothwendig ist, wird in den günstigsten Fällen ein oder mehrere Jahre betragen. Das Wichtigste in der Gegen¬ wart ist es, ein Asyl zu gründen, wie man Asyle für heilbare Trinker gegründet hat. Das Weitere wird von selbst folgen. Aber hierzu ist die Unterstützung des Staates unerlässlich. Simulation im Bahnbetriebe mit besonderer Berücksichtigung der sogenannten „traumatischen Neurose“. Von Dr. Rudolf Wagner-Speldorf b. Mülheim a. d. Ruhr. (Schluss.) Von Oppenheim besonders betont werden die Anoma¬ lien der Sensibilität und der Sinnesfunktionen. Schmerz tritt am Orte der Verletzung, oder bei mit all¬ gemeiner Erschütterung verbundenen Eisenbahnunfällen be¬ sonders in der Rücken-, Kreuz- und Lendengegend auf. Nun kann gerade Schmerz nicht simulirt werden. Seelig- müller theilte auf dem zehnten internationalen Kongresse einen Fall mit, in welchem ein Verletzter, der über grosse Schmerzen bei Druck aufs Kreuz klagte, auf der scharfen Kante eines Eisstückes in einem untergeschobenen Eisbeutel ohne jede Beschwerde lag, obgleich diese Kante gerade an der schmerzhaften Stelle eine tiefe Furche machte. Von ganz besonderer Wichtigkeit ist es, während die Aufmerksamkeit abgelenkt wird, einen Druck auf die schmerz¬ hafte Stelle auszuüben und zu beobachten, welche Wirkung dieser hat, ob Abwehrbewegungen oder Schmerzensäusse- rungen eintreten. Zur Feststellung einer vorhandenen Druckschmerzhaftigkeit bedient sich Georg Müller in Berlin des doppelten Finger¬ drucks, indem er dabei von der durch Weber festgestellten That- sache ausgeht, dass an verschiedenen Körperstellen zwei berührte Punkte, sei es, dass die Berührung mit den Spitzen eines Tasterzirkels, sei es mit den Spitzen zweier Finger geschieht, nur dann als zwei Punkte empfunden werden, wenn sie eine gewisse, für jede Körperregion ganz bestimmte Entfernung innehalten, während sie innerhalb derselben nur als ein Punkt empfunden werden. Diese Thatsache lässt sich zur Feststellung fixirter Druck¬ schmerzen vortrefflich verwerthen. „Handelt es sich darum, ob eine auf dem Rücken als auf Druck schmerzhaft angegebene Stelle wirklich schmerzhaft ist oder nicht, so setzt mau zunächst vier Centimeter von dieser Stelle entfernt den einen Finger auf und auf die an¬ geblich schmerzhafte Stelle den anderen Finger und übt mit dem ersteren einen kräftigen Druck aus. Auf die Frage, ob dies schmerze, erhält man eine verneinende Antwort; nun übt man mit dem anderen Finger allmählich einen stärkeren Druck aus, lässt aber in demselben Masse mit dem Druck des anderen Fingers nach und hebt ihn schliesslich ganz ab. Dieser ganze Vorgang ist, wenn er mit einiger Geschicklichkeit ausgeführt wurde, dem Patienten nicht zum Bewusstsein gekommen, zu¬ mal wenn man die zwischen den beiden Punkten liegende Region mit der anderen Hand streicht oder kitzelt. Sind die Schmerzen nur fingirt, so wird der Patient auch jetzt, wo die vorher als schmerzhaft angegebene Stelle gedrückt wird, aus- sagen, dass er keine Schmerzen empfinde, da er immer noch der Meinung ist, dass die andere als schmerzfrei angegebene Stelle gedrückt wird. Hat er aber thatsächlioh an dieser Stelle auf Druck Schmerzen, so wird der Schmerz und das Schmerz¬ bewusstsein doch ausgelöst, auch wenn die Berührung der schmerzhaften Stelle nicht zum Bewusstsein kommt.“ Handelt es sich nicht um abgegrenzte Bezirke oder Punkte, sondern um grössere Regionen, so sucht man sich einzelne als besonders schmerzhaft bezeichnete Punkte auf und ver¬ fährt in derselben Weise. Sind solche Punkte nicht aufzu¬ finden, so muss man zunächst die Grenzen der angeblichen Schmerzhaftigkeit, feststeilen und an der Peripherie dieses Sohmerzgebietes die angegebene Probe machen. Auf diese Weise kann man sogar den Patienten von der Unwahrheit seiner Angabe ad oculos überführen. Für wirklich vorhandenen Schmerz spricht es, wenn bei Druck auf die schmerzhafte Stelle Pulsbeschleunigung auf- tritt, was Rumpf und Mannkopf oft, andere hingegen sehr selten beobachteten. DieRealität abnormer Empfindungen, dieseltengeklagt werden, dürfte schwer zu beweisen sein, desgleichen das wirk¬ liche Bestehen der im Bereiche der Sinnesorgane vorhandenen Parästhesien. Auch Geschmacks- und Geruchsstörungen lassen sich simuliren. Ebenso sind Lichtscheu und Blendungsgefühl, wie Krampf im Orbicularis palpebrarum gewiss meist reell; sie können aber auch imitirt werden. Die Benutzung des faradischen Pinsels zur Feststellung wirklich vorhandener Anästhesie, die von manchen, so Schulze in Bonn, Seeligmüller, Hitzig empfohlen wird, hält Oppenheim für bedenklich. Während andere, wenn da, wo Nadelstiche nicht empfunden werden, Schmerzensäusserung bei Anwendung stärkerer faradischer Ströme erfolgt, Simulation als sicher betrachten, hält es Oppenheim für recht wohl möglich, dass dann, weuu ein ein- Digitized by Google 70 Aerztlicbe Sachverständigen-Zeitung. No. 4. zein er Reiz nicht empfunden wird, eine Summation von Rei¬ zen schmerzhafte Senationen doch noch zu erregen vermag. Ganz besonderes Gewicht legt Oppenheim auf die Seh- störungen, besonders auf eine konzentrische Einengung des Gesichtsfeldes von massiger Intensität. Die Einengung betrifft besonders die Farben; für weiss pflegt sie weniger deutlich zu sein. Schulze, Hoffmann (Heidelberg) und Mendel haben dagegen Gesichtsfeldeinschränkungen sehr selten ge¬ sehen. Mendel will sogar in einem Theil der Oppenheim- schen Fälle, wo dieser Gesichtsfeldeinschränkung konstatirte, keine solche gefunden haben. Auch hier ist von verschiedenen Seiten behauptet worden, dass Simulation möglich sei. Auch sind die Angaben der Pa¬ tienten oft schwankend und wechseln zu verschiedenen Zeiten, so dass der Werth des Symptoms anfechtbar ist. Schulze fand, dass Simulanten das Gesichtsfeld auf grössere Entfer¬ nung kaum grösser angaben, und schloss deraus auf Simula¬ tion. Oppenheim bestreitet jedoch, dass, selbst wenn dies der Fall sein sollte, nothgedrungen Simulation vorliegen müsse. Bei sorgfältiger Nachprüfung, auch bei Leuten, die simulirten, fand er erhebliche prinzipielle Unterschiede zwischen dem Befund bei wirklicher traumatischer Neurose und Simulation. Bei letzterer war das perimetrische Bild insofern anders, als die Gesichtsfelder für roth, grün und blau unregelmässig ineinander griffen und dabei sektorförmige Ausschnitte zeigten. Das war bei wirklich nach seiner Meinung kranken Fällen niemals der Fall. Herr Kollege Peretti stellt in einem Fall meiner Beobachtung, wo neurasthenische Erschei¬ nungen in Folge Eisenbahnnnfalls auftraten und über Ab¬ nahme des Sehvermögens geklagt wurde, eine deutliche Ein¬ engung des Gesichtsfeldes für grün auf einem Auge fest. Bezüglich der Gehörstörungen ist besonders zu betonen, dass der Nachweis, dass dieselben rein funktionell sind, oft recht schwierig ist. Wichmann theilt einen Fall mit, in dem sich später feststellen liess, dass Beschwerden dieser Art, welche der Pa¬ tient auf den Unfall zurückführte, schon lange vorher bestan¬ den hatten. Der Nachweis der Simulation liess sich dann auch für die übrigen Erscheinungen erbringen. Bezüglich der von Oppenheim so hervorgehobenen Anästhesien, namentlich auf der Seite des Traumas, aber auch der Hyperästhesien ist zu betonen, dass Oppenheim, selbst wenn sich durch konsequente Beobachtung nachweisen lässt, dass ihr Sitz nicht immer konstant ist, dass kurz nach ein¬ ander Stellen bald als empfindlich, bald als unempfindlich be¬ zeichnet werden, daraus noch keineswegs immer auf Si¬ mulation schliesst. Sind auch sonst hysterische Symptome vorhanden, so kann der Wechsel der Empfindungsfähigkeit unter Umständen durch die Hysterie bedingt sein. Ferner sind in jedem Falle materielle Erkrankungen des Gehirns und Rückenmarks auszuschliessen. Die Form der Anästhesie und der Umstand, dass sie sich weder an dem Ausbreitungsbezirk eines peripherischen Nerven hält, noch in ihrer örtlichen Verbreitung der Lokalisation, wie sie bei den materiellen Erkrankungen des Gehirns und des Rückenmarks gefunden wird, entspricht, giebt hier einen Wegweiser. Ganz besonders schwierig liegen die Verhältnisse, wenn mit den funktionellen sich wirkliche organische Störungen ver¬ binden, die sogenannten formes superpos^es Chorcots vorliegen. Auch Syringomgelie ist in jedem Falle sorgfältig auszu¬ schliessen. Widersprüche in demSensibilitätsbefunde werden von den Einen, wie erwähnt, stets auf Simulation zurück¬ geführt und sicher meist mit Recht. Nach Oppenheim kann jedoch die erhöhte seelische Erregbarkeit und Schreck¬ haftigkeit „die Ursache sein, dass ein Individuum beim plötz¬ lichen Stoss gegen eine Stelle, die sich eben noch bei Prüfung mit Nadelstichen als schmerzunempfindlich erwiesen hatte, wie vor Schmerz zusammenfährt.“ Hof mann (Heidelberg) glaubt einen Simulanten, der vor¬ her Anaesthesie der Armhaut angab, dadurch entlarvt za haben, dass, als er plötzlich das Handgelenk ergriff, und frag, wo habe ich Sie jetzt? die Antwort: „am Handgelenk“ er¬ folgte. Auch der ja leicht für Simulation verwerthbare Fall, dass Jemand bei geschlossenen Angen bei der Gefühlsuntersuchung etwa den Ausspruch thut: „hier fühle ich nicht“ oder „jetzt habe ich nichts gefühlt“, während eben der Ausspruch be¬ weist, dass er doch etwas gefühlt hat, kann unter Umständen nur auf Ungeschicklichkeit im Ausdruck zurückzuführen sein; der Betreffende wollte sagen, dass er Etwas undeutlich ein¬ finde. Auch bei Tabikern, wo es sich um Erlangung irgend eines Vortheiles absolut nicht handelt, kann Aehnliches beob¬ achtet werden. Die Anomalien, die an den Sehnen- und Hautreflexen beobachtet werden, unterliegen schwerlich willkürlicher Beein¬ flussung; nur dürfte die Frage, ob sie nicht schon vor dem Unfälle bestanden, bei in ihrem Nervensystem alterirten Per¬ sonen oft von Wichtigkeit sein. Eine sehr bedeutende Rolle spielen nach Oppenheim Mo¬ tilitätsstörungen. Allgemeine Muskelschwäche, Rücken¬ steifigkeit bei Bewegungen, Schwerfälligkeit hierbei werden sehr oft beobachtet. Aber gerade hier ist der Uebertreibung und Simulation Thür und Thor geöffnet. Wenn Oppenheim sagt, man sähe häufig, wie der Kranke aufgefordert, die Hand kräftig zu drücken, die Schultermuskeln, die Ellenbeuger, die Strecker der Hand gleichzeitig anspanne, und 60 die Kraft vergeude, welche er auf die Beugung der Hand und Finger verwenden solle, so hat er sicher Recht, hinzuzufügen, dass diese Manipulationen den Verdacht bewusster Täuschung er¬ wecken. Einem Beobachter gelang es einmal, einen Simulanten, der behauptete, den Arm nicht über die Schulter heben zu können, durch die Frage: „und wie hoch konnten Sie ihn früher heben“, hineinzulegen. Der Betreffende entgegnete: „so hoch“ und hob dabei den Arm senkrecht in die Höhe. So leicht wird es dem Arzte indess selten gemacht. Blasius gelang es nur durch geheime Kontrolle in einem ähnlichen Falle den Nachweis der Simulation zu erbringen, nachdem einige bekannte Spezialisten für Nervenkrankheiten in Berlin sich hatten täuschen lassen. Auch über die Frage, ob bei längerem Bestände einer funktionellen Lähmung Atrophie der Muskulatur sich unbedingt entwickeln müsse, was man eigentlich annehmen sollte, sind die Ansichten nicht völlig geklärt. Ein Superarbitrium der Königlichen wissenschaft- lichenDeputation für das Medizinalwesen vom 19.De- zember 1888, also aus einer Zeit allerdings, als alles unter dem frischen Eindruck der Oppenheim’schen Broschüre stand, von Bergmann erstattet, nahm bei einem Bremser, welcher von den hervorragendsten Chirurgen, wie v. Volkmann und König, für einen Simulanten erklärt war, besonders auch des¬ halb, weil das augeblich steife, unbrauchbare und gelähmte Glied im Verlaufe einer langen Zeit keine organische Ver¬ änderungen aufwies, traumatische Neurose an, obwohl nur eine geringe Umfangsdifferenz zwischen dem kranken und dem gesunden Gliede bestand. Es leuchtet ja auch ein, dass wenn keine völlige Läh¬ mung, sondern nur eine Parese besteht, und diese in von der Digitized by Google 15. Februar 1900. Aerztlicbe Sachverständigen-Zeitung. 71 seelischen Verfassung vielfach abhängiger wechselnder Inten¬ sität, Atrophie auch bei langem Bestände ausbleiben kann. Immerhin ist ihr Ausbleiben aber ein verdächtiges Symptom, das nur im Zusammenhang mit allen anderen Erscheinungen richtig beurtheilt werden kann. Wenn die Uebertragung des bewussten Willens auf eine Bewegung gestört ist, so kann nach Oppenheim doch dieselbe Bewegung unwillkürlich vielfach ausgeführt werden. Hier berührt sich die Hysterie mit der Simulation, so dass oft ein sicherer Entscheid, was hiervon vorliegt, ganz unmöglich wird und der Arzt einfach ein: non liquet aus¬ sprechen muss. Ein Beweis mehr für die Reellität der funktionellen Läh¬ mung ist es jedenfalls, wenn das betreffende Glied in Folge von Gefässlähmung dauernd cyanotisch und kalt wird. Was ferner die grobe Kraft anbelangt, so hat z. B. Golu- biewski in mehreren Fällen gefunden, dass, obwohl über Herabsetzung derselben von Patienten geklagt wurde, die dynamometrische Untersuchung am kranken und gesunden Gliede gleiche Verhältnisse ergab. Hier kann also das Schwäche- gefühl, wenn es überhaupt vorhanden, nur eingebildet ge¬ wesen sein. Die Herkunft einer vorhandenen Kontraktur zu erweisen, ist deshalb schwer, weil die Kontraktur der funktionellen Neu¬ rose mit der auf organischer Grundlage beruhenden die Eigen¬ schaft gemein hat, im Schlafe zu schwinden oder nachzu¬ lassen und auch die Untersuchung in der Chloroform-Narkose keine sichere Unterscheidung bedingt. Während die von Oppenheim angegebenen, die patholo¬ gische Gangart betreffenden Erscheinungen, besonders die Steifigkeit und Vornübergeneigtheit des Rückens, die starke Dyspnoe und abnorme Pulsbeschleunigung beim Gehen, leicht auf Täuschung beruhen können, da gerade die Durchführung der pathologischen Haltung abnorme Anstrengungen bedingen kann, während auch das Nachsohlürfen des auswärts rotirten Beines, das Oppenheim so oft fand, sich leicht imitiren lässt, wird dagegen sogar von einem so scharfen Gegner Oppen¬ heims wie Schulze iu Bonn dem Zittern eine grosse diag¬ nostische Bedeutung beigelegt. Wenn dieses Symptom vorhanden ist, auch wenn die Kranken sich unbeauf¬ sichtigt glauben oder wenn sie ganz sicher nicht sich in erregtem Zustande befinden, so ist es von bedeutendem Werth und spricht durchaus gegen Simulation. Lässt es sich aber nur während der Untersuchung des Gutachters erkennen und wirkt naoh der Entblössung der Haut auch noch eine kühlere Temperatur ein, so bleibt es von zweifelhaftem Werth. Oppenheim selbst giebt an, dass die leichteren Grade des Zitterns auch bei Gesunden unter dem Einfluss von Affekten Vorkommen können und nur höhere Grade desselben für die Diagnose verwerthbar sind. Wenn das Zittern bei abgelenkter Aufmerksamkeit schwindet oder geringer wird, so ist dies kein unbedingter Beweis für Simulation, wie leicht angenommen werden könnte; dieselbe Erscheinung beobachtet man auch bei echter Paralysis agitans. Auch ist zu bedenken, dass das Zittern sich nicht in jedem Muskel imitiren lässt. Im Triceps und pectoralis major kann es sicher nicht leicht simulirt werden. Was das sogenannte Rumpfsche Symptom, das Auftreten „von eigentümlichen fibrillären Zuckungen, welche dem stän¬ digen Wogen eines Aehrenfeldes im Winde gleichen sollen*, betrifft. — dasselbe beobachtete Rumpf in den meisten seiner Fälle (6 von 10 im Beinnervengebiete) — so ist es auffallend, dass andere Beobachter das Symptom fast gar nicht fanden. Rosenthal vermochte unter 49 Fällen der Menderschen Poliklinik es nur in 5 Fällen, in zweien hiervon auch nur be¬ schränkt durch tetanische Kontraktion des Muskels, besonders des m. quadriceps zu erzeugen. Auch Schetze und Hoff¬ man n haben das Rumpfsche Symptom fast nie gefunden. Wenn Oppenheim ferner den Ausfall einfacher oder kom- binirter Bewegungsacte anführt, so dürfte gerade hier Simulation sehr leicht vorhanden sein. Oppenheim schliesst sie freilich aus. Er sagt: „Einer meiner Kranken war nicht im Stande, auf Geheiss die Zunge herauszustrecken, er sperrte den Mund weit auf, spannte die Knochen und Halsmuskulatur übermässig an, das Gesicht rötete sich, der Kopf gerieht ins Zittern, aber die Zunge blieb hinter den Zähnen; er gerirte sich etwa wie Jemand, der mit aller Macht die betreffende Bewegung hemmt. Und doch wurde beobachtet, dass ein andermal, als es mehr zufällig und unbewusst geschah, die Zunge vollständig hervor¬ gestreckt wurde.* Ein sehr wichtiges positives Zeichen, auf das Oppen¬ heim in seiner späteren Broschüre, in der er sich gegen die ihm zu Theil gewordenen Angriffe vertheidigt, besonders be¬ ruft, ist das Auftreten einer zumal bei mittlerer Beleuchtung oder selbst im Halbdunkel hervortretenden Pupillendifferenz, die z. B. in einem zweifelhaften Falle ganz allein die An¬ nahme einer Simulation ausschliessen liess. Von ganz spezieller Bedeutung, weil Oppenheim gerade auf sie besonderen Werth legt, während seine Gegner auch hier vielfach kein objektives Moment anerkennen, sondern subjektive individuelle Erregung annehmen, sind die Störungen im Bereich des Herz- und Gefässnervensystems. Die blaurote Verfärbung der erkrankten Extremität, die sich bis zur urticaria facticia steigernde fleckweise Rötung der betreffenden Körperhälfte, das Auftreten localer Rötung auf leichte Hautreize sind zum Theil wenigstens Zeichen, wie sie auch bei Hysterie ohne vorangegangenen Unfall Vor¬ kommen können. Oppenheim bezeichnet auch die vielfaoh, wenn auch keineswegs ausschliesslich gemachte Beobachtung vermehrter Pulsfrequenz als ein objektives Zeichen in seinen Fällen, während seine Gegner die stete Objektivität dieser Erscheinung be¬ zweifeln und sie vielfach auf psychische Erregung bei vor¬ handener Neurasthenie, zum Theil auch auf Arteriesclerose und auf Furcht vor Entlarvung bei Simulanten zurückführen. Indess ist zu beaohten, dass einmal das Zeichen vielfach fehlt, z. B. in den meisten Schulz e’schen Fällen, dass ferner ein Beweis für einen wirklichen pathologischen Zustand bei Ausschluss einer organischen Herzerkrankung ohne oder mit Einwirkung des Unfalls dann wohl vorliegt, wenn die Puls- frequenzvermehrung, die 40—60 Schläge in der Minute be¬ tragen kann, konstant sich jeder Zeit, z. B. auch während des Schlafes, naohweisen lässt. Auf die subjektiven Gefühle des Herzklopfens, der Angst und Beklemmung möchte dagegen nicht allzu grosser'Werth zu legen sein. Die Rumpf’sche sogenannte traumatische Herzreaktion, d. h. ein Emporsohnellen der Pulsfrequenz bei Druck auf den oder die vorhandenen Schmerzpunkte ist leider bei Nach¬ prüfungen lange nicht so oft wie in Rumpf’s Fällen konstatixt worden. Rosenthal fand sie unter 39 nur 1 mal ausge¬ prägt. Es widerlegt sich also von selber, wenn Rumpf gar aus dem Fehlen der traumatischen Reaktion auf Simulation schliessen will. Andrerseits wurde das Symptom auch bei organischen Leiden beobachtet. Wichtig wäre in jedem Falle der leider nur selten zu führende Nachweis, dass Herz und Gefühlapparat früher intakt waren. In mehreren von Cron- thal und Sperling berichteten zur Sektion gelangten Fällen traumatischer Nervenerkrankung waren histologische Verände- Digitized by Google 72 Aerztlicke Sachverständigen-Zeitung. No. 4. rungen des Gefässsystems nachweisbar. Es muss ferner in jedem Falle ausgeschlossen werden, dass, wie es bei Leuten mit erregbarem Herzen vorkommt, auch bei Druck auf nicht schmerzhafte Stellen Vermehrung der Pulsfrequenz auftreten kann, da Simulation und erregbares Herz sich wie gesagt oft verbinden oder einander bedingen. Die noch weiter von Oppenheim erwähnten selteneren trophischen Störungen, Verdauungsanomalieen, Zeichen ner¬ vöser Dyspepsie, die gelegentlich beobachtete Harnverhaltung und Incontinenz, sowie die Störungen im Bereiche der Ge¬ schlechtssphäre beruhen z. Th. ganz auf subjektiven Angaben, z. Th. sind sie wenig charakteristisch oder auch organische Erkrankungen lassen sich so wenig ausschliessen, dass sie hier nicht weiter in Betracht kommen. Selbst in den Fällen, in denen es nur im Bereich der Gesammtheit der Symptome gelang, den Beweis der Simu¬ lation oder bedeutenden Uebertreibung für einzelne zu er¬ bringen, ist aber noch keineswegs — und sehr oft ist dieser Fehler in Gutachten gemacht worden — der Beweis für die Simulation der Gesammtheit der Erscheinungen ge¬ liefert. Oppenheim sah einen für einen Simulanten früher erklärten, später unzweifelhafte Zeichen schwerer Erkrankung darbieten und durch Suicidium enden. Die Häufigkeit der Simulation in Fällen neurotischer Er¬ scheinungen nach Trauma wird auffallend verschieden ange¬ geben, je nach dem Standpunkt des Einzelnen zu der ganzen Frage. Während z. B. sowohl Hof mann (Heidelberg) wie Seeligmüller unter 24 Beobachtungen 8 Simulanten hatten, konnte Hitzig unter 150 Fällen nur 2, Oppenheim unter 76 3 auffinden. Es bedarf in jedem Falle der exaktesten Untersuchung mit sorgfältiger Berücksichtigung der Anamnese und der vor dem Unfall etwa vorhandenen Erkrankungen, um hier gerecht zu verfahren. Keineswegs darf man sich, wo dies oder jenes der Oppen- heimschen Symptome vorliegt, verleiten lassen, nun sofort das bequeme Auskunftsmittel des Wortes „traumatische Neurose“ zu gebrauchen und daraufhin leichthin Erwerbsunfähigkeit zu erklären. Eben so sehr aber muss man sich hüten auch bei Verdacht auf Simulation, wenn nicht bei einzelnen Angaben die Unwahrheit sich hat erweisen lassen, die anderen nicht direkt widerlegbaren aber rein subjektiv sind, nun Simulation in toto ohne weiteres als sicher zu betrachten. Simulation in toto wird doch immer nur ausnahmsweise fest¬ gestellt werden können schon in Anbetracht des Umstandes, dass meist Kombinationen mit Hysterie, Neurasthenie, Hypochondrie, vorliegen, die zuweilen sehr wenig objektive Erscheinungen bieten. Häufiger dagegen wird ein: non liquet auszusprechen, event. längere Behandlung und Beobachtung in geschlossener Anstalt immer von neuem nothwendig werden. Wie schwer ist es oft die Grenze festzustellen, wo wie Möbius die Hysterie definirt, die durch Vorstellungen hervorgerufene Krankheit, sei sie Motilitäts-, Senasibili- täts- oder sensorielle Störung, anfängt, und wo die durch bewusste Vorstellungen vorgeschützte Krankheit beginnt. Ich komme zum Schluss und möchte hier in wenigen Worten resumiien, wohin mich die Untersuchung leider nur etwa eines halben Dutzends eigener Fälle, aber besonders das Studium der gesammten Litteratur des Gegenstandes geführt hat. 1. Das Sy mp tomenbild der Oppenheim’schen traumatischen Neurose zeigt sowohl Störungen, die auf rein subjektiven Angaben beruhen können, wie auch unzweifelhaft objektive Symptome, die, wenn sie vorhanden sind, und organische Komplikationen sicher ausgeschlossen werden können, für die Dia¬ gnose einer funktionellen Erkrankung nach Unfall in Betracht kommen. 2 . Da jedo ch jedes auch der objektiven Symp¬ tome allein nicht charakteristisch ist, sondern aus- fallen kann, da kein einziges in jedem Falle unbe¬ dingt vorhandenes nie fehlendes Symptom der trau- ma tischen Neurose existirt, so kann es auch keine spezifische Krankheit geben, welche den Namen „traumatische Neurose“ zu führen berechtigt wäre. 3. Dennoch kann, vorausgesetzt, dass man nur einen mehr oder minder variablen Symp- tomenkomplex, bei dem jedoch ein Schein besonde¬ rer psychischer und funktioneller Störungen her¬ vorragend häufig beobachtet werden, darunter ver¬ steht, der Name „traumatische Neurose“ in der Praxis beibehalten werden. 4. Es muss jedoch in diesem Falle nachgewiesen werden, dass die psychischen Symptome sich aus ein er Mischung von Neurasthenie, Hysterie, unter Umständen auch Hypochondrie zusammensetzen und dass einige der von vornherein angegebenen Zeichen im Bereiche der Sensibilität, Motilität, der Reflexe, der Herzaktion als wirklich objektiv be¬ stehend bewiesen werden können, um Simulation sicher auszuschliessen. Wo reine Hysterie, Neurasthenie, Hypochondrie traumatischen Ursprungs besteht, wird das Wort traumatische Neurose besser durch diese Bezeich¬ nungen ersetzt. Was die Feststellung der Simulation endlich betrifft, so wird in den einfacheren Fällen der behandelnde Arzt hierzu recht wohl in der Lage sein, da er die Glaubwürdigkeit des Individuums entweder kennt oder sich leicht über dieselbe zu informiren im Stande ist. Anders liegt die Sache bei den schwereren Fällen. Oppen¬ heim giebt zwar an, fast stets in der Lage gewesen zu sein, die Diagnose nach kurzer Untersuchung in der Poliklinik be¬ reits zu stellen, so dass die spätere klinische Beobachtung nur zur besseren Begründung des Gutachtens diente. Indess würde hierzu eine aussergewöhnliche Uebung in den Untersuchungsmethoden gehören und Seeligmüller Mendel, Schulze, Hofmann und Andere fordern unbe¬ dingte Anstaltsbeobachtung. Seeligmüller will sogar im Gegensatz zu Hitzig an der Hallenser Nervenklinik besondere UnfaUkrankenhäuser nur für Entlarvung der Simulation haben, da in den anderen Kli¬ niken diesen Kranken, die zudem selten isolirt werden, die nöthige Aufmerksamkeit meist nicht zu Theil zu werden pflegt. Von anderer Seite, z. B. von Mendel und Hitzig sind hier¬ gegen Bedenken erhoben worden. Der Eine meint sogar, dass hier geradezu Hochschulen der Simulation geschaffen werden könnten, da völlige Isolirung sich doch nicht durchführen liesse. Der Andere macht besonders auf die hohen Kosten aufmerk¬ sam, die durch den Wegfall einer Anzahl an Simulanten zu zahlender Renten nicht aufgewogen würden. Jedenfalls erscheint es unbedingt unzweckmässig, dass ein derartiges Krankenhaus nur für an traumatischer Neurose Leidende und Simulationsverdächtige angelegt wird. Der Chefarzt wird, wie von Einer Seite mit Recht bemerkt wird, sonst zum Grossinquisitor, und leicht wird von vornherein mit einer gewissen Voreingenommenheit jedem Kranken gegen¬ übergetreten, der nothwendig misstrauisch und ängstlich wer- Digitized by Google 15. Februar 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 78 den muss, was, wenn er wirklich krank, ihn nur ungünstig beeinflussen kann. 1894 machte Berlin den Anfang mit berufsgenossenschaft- lichen Krankenhäusern; andere derartige Anstalten folgten. Da hier zugleich rationelle Behandlung in Verbindung mit Medico-Mechanik stattfindet, da nicht nur nervöse, sondern auch sonstige Unfallkranke Aufnahme finden, die unkomplizirte organische noch reparable Störungen aufweisen, so wirken diese Krankenanstalten, wenn sie auch als „Rentenquetschen“ sich keiner grossen Popularität erfreuen, doch überaus nützlich. Es sei mir zum Schluss noch gestattet, aufmerksam zu machen auf das Dilemma zwischen seinem ärztlichen und menschlichen Empfinden, in das der Arzt bei diesen ganzen Fragen so oft gelangt, und das Professor Albin Hofmann in Leipzig mit folgenden trefflichen Worten kennzeichnet: „Aus solchem Zwiespalt hilft nicht Gelehrsamkeit heraus, da bedarf es einer höheren Klarheit, als die in den Hand¬ büchern über spezielle Pathologie und Therapie steht. Der Charakter wird zu einem massgebenden Faktor bei der Beur¬ teilung, und in welchem ist immer die richtige Mischung von Milde und Zorn, von Strenge und Humanität vorhanden, um das rechte Wort an rechter Stelle zu sprechen? Aber der Arzt muss es zuerst und vor allen anderen an hervorragender Stelle. Dessen soll er stets eingedenk sein.“ Referate. Psychiatrie und Neurologie. Skoliose und Nervenleiden. Von Prof. Oppenheim-Berlin. (D. Ae. Z. 1900 H. 2.) Der aphoristisch gehaltene Aufsatz regt zum Studium verschiedener bisher minder gewürdigter Beziehungen zwischen Rückgrats-Verkrümmung und Nervenleiden an. Nur kurz erwähnt werden die schon genauer durchforschten Skoliosen bei Lähmungen, Spannungszuständen, Dystrophie, bei Hysterie u. dgl., bei einer Anzahl Hirnkrankheiten und der Friedreich- schen Krankheit. Es folgen einige Bemerkungen zur Frage des Zustandekommens der Verkrümmung bei Höhlenbildung im Rückenmark (trophische Störung in den Knochen oder Lähmung der Rückenmuskeln?). Eingehender wird erörtert, ob die Skoliose durch unmittelbare Wirkung auf Rückenmark und Nervenwurzeln zu Krankheits¬ erscheinungen führen kann. 0. ist überzeugt, dass ins¬ besondere die Zerrung der hinteren Wurzeln, auch wohl die Annäherung der Rippen an den Darmbeinkamm Neural gieen herbeiführen kann. Für sehr bemerkenswerth erklärt er die angeborenen oder sehr früh erworbenen Wirbel¬ säulenverkrümmungen. Die mit ihnen behafteten Menschen haben eine hervorragende Veranlagung für nervöse und seelische Erkrankungen. Ein mitgetheilter Fall betrifft ein Mädchen mit schwerer, sehr früh entstandener Kyphoskoliose und verdoppelter linker Brustwarze, bei dem sich folgende Krankheitserscheinungen entwickelt haben: Muskelspannung und lähmungsartige, zumeist die Adduktoren und Fussmuskeln betreffende Schwäche in beiden Beinen, vor¬ wiegend im rechten, langsam vorschreitend, Taubheitsgefühl, Aufhebung der Schmerzempfindung am linken, Abschwächung am rechten Bein, undeutliche Empfindung von warm und kalt, Verstärkung der Reflexe (Fussklonus), später Blasenlähmung. Hier liegt eine Höhlenbildung wahrscheinlich im unteren Brust¬ mark vor, die nachweislich später als die Skoliose entstanden ist. Es können also auch diese beiden krankhaften Zustände einander nebengeordnet bestehen, nämlich als angeborene Ent¬ wickelungsstörungen bezw. als Folgen von solchen. Ueber absolute Pupillenstarre bei hysterischer Psychose; angebliche Atropinvergiftung. Von Dr. S. Kolben, k. k. Polizeiarzt in Wien. (KHnlsch-therapeatteche Wochenschrift No. 49, 1899.) Der im Nachstehenden kurz skizzirte Fall von hysterischer Psychose bietet, abgesehen von dem bei Hysterie bisher noch nicht beobachteten Symptom der absoluten Pupillenstarre, insofern besonderes Interesse, als die Krankheitserscheinungen (erweiterte starre Pupillen, Gefühl der Trockenheit im Halse, Pulsbeschleunigung, Verwirrtheit) die Diagnose einer Atropin¬ vergiftung recht nahe legten. Die Anamnese ergab, dass die Kranke, ein 34jähriges Mädchen, welche die erwähnten Sym¬ ptome seit einigen Stunden darbot, vorher häufig über Magen¬ schmerzen geklagt, häufig erbrochen und in Folge dessen wenig Nahrung zu sich genommen habe. Gegen die Schmerzen war bereits einige Tage vorher von anderer ärztlicher Seite eine Morphiumlösung (0,04:10,0 Aq. laurocerasi) verordnet worden, von welcher die Kranke bis dahin täglich etwa 0,002 g genommen hatte. Schon dieser Umstand sprach trotz der auffallenden Symptome gegen eine Atropinvergiftung, die auch durch die chemische Untersuchung der verordneten Medizin ausgeschlossen werden konnte. Eine Verwechselung in der Apotheke hatte demnach entgegen der Annahme des ersten Arztes nicht stattgefunden. Uebrigens fehlte auch der für Atropinvergiftung charakteristische rauschartige Zustand mit seiner Heiterkeit, seinen lebhaften Hallucinationen, die heisse geröthete Haut, die schwere Bewusstseinsstörung. Nach Ausschluss anderer Krankheitsbilder kam Verf. auf Grund sorg¬ fältiger Untersuchung zu der Diagnose einer hysterischen Psychose; die Richtigkeit dieser Annahme wurde durch den weiteren Verlauf der Krankheit auch bestätigt. Die Kranke konnte nach 7 tägiger Anstaltsbehandlung als gesund entlassen werden. —y. Der epileptische Wandertrieb (Poiiomanie). Von Dr. Jul. Donath, Univ.-Doz., ordin. Arzt des St.Rochus-Spitals in Budapest. (Arch. f. Psych. 1899 Bd. 32 H. 2.) Verf. bringt die Krankengeschichten dreier Personen, denen Eines gemeinsam ist: Periodenweise erfasst sie ein Trieb ins Weite, dem sie nicht widerstehen können, sie treiben sich dann eine Zeit lang, unbekümmert um ihre Pflichten, in Nähe und Ferne herum, im Beginn des Wanderns sind sie wohlgemuth, nach der Rückkehr reuevoll und traurig bis zur Verzweiflung. Während des Anfalls begehen sie verschiedene Unredlichkeiten. Die Erinnerung an den Anfall ist bei zweien dieser Kranken lückenlos, bei dem dritten theilweise ver¬ schwommen und selbst erloschen. Einer der Kranken ist erb¬ lich belastet und hat als Kind eine schwere Gehirnentzündung durchgemacht, einer hat eine ernste Kopfverletzung erlitten. Der Dritte, bei dem die erblichen Verhältnisse nicht recht zu ermitteln sind, ist von je her ausgesprochen sonderbaren Wesens, während der schwer Belastete schon als Kind „schlimm“ ge¬ wesen ist und schwer gelernt hat, der Verletzte in späteren Jahren ein roher Trunkenbold geworden ist. Während der Wandersucht empfindet der Eine Druckgefühl in der Stirn und Herzgegend, der Andere heftige Kopfschmerzen, der letzte zeigt dann ein abstossendes, mürrisches Benehmen, das ihm sonst nicht eigen ist. Bewusstseinsverlust fehlt stets. Der am Kopfe Verletzte hat einmal einen Zustand des Nachts gehabt, bei dem er sich im Bette herumwarf, Brust und Ge- Digitized by Google 74 Aerztliohe Saohverständigen-Zeitung. No. 4. sicht][zerkratzte, nicht aufzuwecken war, und von dem er Morgens nichts mehr wusste. Donath fasst in allen drei Fällen den Wandertrieb als epileptisch auf, als „ein psychisches Aequivalent, welches sich von dem gewöhnlichen dadurch unterscheidet, dass die Bewusstseinsstörung entweder gänzlich fehlt oder durch ihre Geringfügigkeit in den Hintergrund tritt“. Er betrachtet der¬ artige Fälle als ein Beweismittel für die Unnöthigkeit einer Bewusstseinsstörung beim epileptischen Anfall. Für ihn ist jeder epileptische Anfall, gleichviel welcher Form und welchen Ursprungs als eine krankhafte Erregung der Hirnrinde, die plötzlich ansteigt, periodisch wiederkehrt, typisch abläuft und rasch abklingt, zu bestimmen, und es hängt nur von der Stärke und Ausbreitung des Reizes ab, ob er mit oder ohne Bewusstseinsstörung, mit oder ohne Gedächtnisslücke abläuft. Woraus folgert nun D. den epileptischen Ursprung des Wander¬ triebs? Er hebt hervor: die Plötzlichkeit, das periodische Wiederkehren und den typischen Verlauf des Wandertriebs. Bei dem einen Falle sei die vorangegangene Schädelverletzung und der eine „typische“ Krampfanfall — der nur von der Ehefrau beobachtet worden und recht undeutlich geschildert ist! — für Epilepsie beweisend; der zweite Kranke soll durch zeitweilige Absenzen, der dritte durch die Charakterveränderung im Anfall als Epileptiker gekennzeichnet sein. Genügend sind unseres Erachtens diese Beweise nicht. Es giebt ja eine ganze Anzahl solcher plötzlich und wiederholt auftretender, typisch verlaufender Triebanfälle ohne Bewusstseinsstörung, mit körperlichen Begleiterscheinungen, anfänglichem Glücks¬ gefühl und nachträglicher Reue bei Bethätigung des Triebes. Magnan zählt sie alle unter die „Syndromes“ der „Entarteten“ ganz im Allgemeinen, ohne der Epilepsie dabei eine besondere Rolle anzuweisen. Kovalevsky dagegen, den Donath anführt, will jede seelische Erscheinung, die unerwartet auftritt und dem sonstigen Wesen des betreffenden Menschen nicht ent¬ spricht, als rudimentäre Epilepsie ansehen. Damit würde denn glücklich auch das letzte Kennzeichen der Epilepsie, das D. noch gelten lässt, die Periodizität, beseitigt und der Begriff Epilepsie ätiologisch, klinisch und biologisch endgiltig ver¬ flüchtigt sein. Die gänzlich sinnlose Art der Wanderungen, die unter einem unwiderstehlichen Zwange erfolgen und den Kranken selbst unbegreiflich Vorkommen, lässt die Annahme der Unzu¬ rechnungsfähigkeit für die Dauer des Triebes gerechtfertigt erscheinen. Ueber den „Automatisme ambulatoire“ („Fugues“, „Dromomanla“). Von Dr. L. E. Br e gm an, Prim.-A. der Nervenabth. im Isr. Spit. zu Warschau. (Neur. Centr. 1899, No. 17.) Erst nach Abfassung des Berichts über Donaths, den „epi¬ leptischen Wandertrieb“ betreffende Arbeit kam der vorliegende Aufsatz zu unserer Kenntniss, der unter anderem Namen den¬ selben Gegenstand behandelt. Auch B. schildert einen Men¬ schen, der, schwer nervös belastet, von Zeit zu Zeit, scheinbar ohne ein anderes Motiv als einen zwingenden inneren Drang, von Hause wegläuft, sich längere Zeit in der Welt umhertreibt, nachher im Allgemeinen die Erinnerung des Geschehenen be¬ wahrt, jedoch nicht ohne Lücken. Seit seinem siebenten Jahre macht der nunmehr Vierzehnjährige solche Ausflüge, während deren er — dies im Gegensatz zu Donaths Kranken — gelegent¬ lich längere Zeit anderswo als ruhiger Arbeiter thätig ist. Un¬ redlichkeiten scheint er nie begangen zu haben. Das erste Weglaufen knüpft an den Tod eines Brüderchens an, zu dessen Grabe er lief. Seitdem ist er noch oft auf dem Friedhof ge¬ sehen worden, es scheint hier ein dem Kranken unbewusstes Motiv der triebartigen Handlung angedeutet zu sein. Einmal hat er nach seiner Angabe auf der Wanderung eine Vision gehabt: er sah seinen verstorbenen Vater und Bruder längere Zeit parallel mit ihm stillschweigend einhergehen; während dieser Zeit war das Hündchen, das der Kranke mit sich führte, verschwunden. Epileptische Krampfanfälle, Absenzen oder dergleichen hat er nie gehabt (nur Krämpfe im ersten Lebens¬ jahr). Hysterische Zeichen fehlen. Verf. rechnet diesen Wandertrieb zu den krankhaften Trieben, denen die „Entarteten“ unterworfen sind; er bringt ihn mit Kleptomanie, Dipsomanie u. dgl. in Beziehung. Er be¬ tont, dass selbst der Nachweis gleichzeitig vorhandener Epilepsie oder Hysterie keineswegs genügt, um den Wandertrieb als epileptisch oder hysterisch hinzustellen. Verf. huldigt also der¬ selben Auffassung, deren Möglichkeit zu begründen wir uns bereits gegenüber Donaths Anschauung veranlasst sahen. Ueber einen Fall von genuiner Epilepsie mit sich daran anschliessender Dementia paralytica. Von Dr. 0. Wattonberg, Lübeck. (Arch. f. Psych. Bd. 82 H. 3.) Ungemein selten ist es einwandsfrei dargethan worden, dass dem Lähmungsirrsein Seelenstörungen anderer Art voraus- gehen können. Der vorliegende Fall, bei dem von echter Epilepsie zu ausgeprägtem Lähmungsirrsein ein fliessender Uebergang stattgefunden hat, entbehrt daher nicht einer ge¬ wissen Bedeutung. Der Sohn eines schwindsüchtigen Gastwirths und einer Trinkerin litt seit seinem achten Lebensjahre an Fallsucht Da die Anfälle nur selten kamen und der Kranke ein ge¬ schickter und angenehmer Mensch war, gelang es ihm, sich als Barbier eine Lebensstellung zu schaffen. Er soll ungemein solid gelebt und insbesondere nie Syphilis gehabt haben. Aber mit den Jahren wurden die Krämpfe immer häufiger, der Kranke fing an, schwachsinnig zu werden, zeigte sich gleich- giltig gegen die Seinen, gerieth leicht in wilden Zorn, sprach thörichtes Zeug, war unruhig und unsauber. Seit 1893 ist er über fünf Jahre in der Lübecker Staats-Irrenanstalt gewesen. Dort zeigte er sich stark verblödet, war gewöhnlich in heiterer Stimmung, liess sich leicht den sinnlosesten Grössenwahn ein- reden. Form und Inhalt seiner Schrift wurden mangelhaft, seine Sprache verwaschen und stolpernd, sein Gang schwan¬ kend. Die Gesichtsmuskulatur war auf einer Seite erschlafft, die Kniesehnen-Reflexe waren erloschen. Als mit der Zeit auch noch die Pupillen-Zusammenziehung auf Lichteinfall aus¬ blieb, war das Vorhandensein von Lähmungsirrsein klinisch gesichert. Die Leichenöffnung ergab denn auch eine sehr deutliche chronische Entzündung der zarten Hirnhaut, Ent¬ artung der Ganglienzellen, Schwund der Nervenfasern und starke Wucherung des Stützgewebes in der Grosshirnrinde. Uebrigens zeigten sich am Schädel aussen und innen mannig¬ fache Entartungszeichen. W. will den Fall noch dazu benutzen, um die Möglichkeit einer progressiven Paralyse ohne vorhergegangene Syphilis darzuthun. Eine sehr hohe Beweiskraft nach dieser Richtung wird man ihm aber kaum zusprechen können. Chirurgie. Zur Lehre von der Sehnenplastik. Von Prof. Dr. Albert Hoffa-Würzburg. (Berl. klin. W. 1899, No. 30.) Ohne wesentlich neues zu bringen, stellt der Hoffasobe Aufsatz in übersichtlicher Form die einzelnen Typen der Digitized by Google 15. Februar 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 75 Sehnenplastik, das Vorgehen bei den verschiedenen Ein¬ griffen, ihre Indikationen und endlich des Verfassers eigne Erfahrungen auf diesem Gebiete zusammen. Das Gebiet um¬ fasst, genau genommen, ausser den Sehnenüberpflanzungen auch die künstlichen Verkürzungen und Verlängerungen, die oft genug mit den Ueberpfianzungen Hand in Hand gehen müssen. Von den letzteren sind drei Unterarten zu unter¬ scheiden: 1. Ausschaltung des Muskelbauchs vom gelähmten Muskel, Befestigung der Sehne an den kraftgebenden Muskel, (absteigende Ueberpfianzungen nach Vulpins, aktive nach Hoffa), 2. Durchtrennung der Sehne eines gesunden Muskels nnd Annähung des zentralen Stumpfs an die Sehne des ge¬ lähmten (aufsteigende Ueberpfianzungen nach V., passive nach H.), 3. Abzweigung eines Theils von der Sehne des Kraftgebers und feste Vereinigung dieses Theils mit dem Kraftempfänger (beiderseitige Ueberpfianzungen nach V., aktiv-passive nach H.) Die erste Form ist die häufigste, auch die dritte wird häufig, die zweite nur ausnahmsweise, wenn nämlich die ur¬ sprüngliche Thätigkeit des Kraftgebers entbehrlich ist, an¬ gewandt. Vor dem Eingriff muss man sich von dem Zustande aller in Betracht kommenden Muskeln überzeugen. Verständige Kranke können durch gewollte Bewegungen von der Tüchtig¬ keit oder Minderwertigkeit der einzelnen Muskeln Beschluss- schaft geben. Die elektrische Untersuchung kann ebenfalls helfen, und falls man auch durch sie keine genaue Erkenntnis gewinnt, sieht man nach Bloslegung der Muskeln, ob sie normal (dunkelroth), geschwächt (rosa) oder gelähmt (gelblich weiss) sind. Grade der Unterschied zwischen Schwäche und Lähmung ist wichtig, da blos geschwächte Muskeln sich nach Herstellung der richtigen Stellungen bedeutend erholen und zu wichtigen Helfern bei der Wiedererwerbung der Bewegungs¬ fähigkeit werden. Zum Zwecke der Verkürzung wird eine Sehne einfach durchschnitten, die Enden aneinder vorbeigeschoben und breit vernäht. Verlängerung erreicht man durch Z-förmige Spal¬ tung der Sehne und Längsnaht der Querschnitte. Bei der Ueberpflanzung werden die Sehnen entweder glatt aneinander genäht oder durchflochten. Liegen sie entfernt von einander, so unterminirt man die Weichtheile unter der Fascie und zieht einen Sehnenzipfel durch. Nach dem Eingriff wird das Glied in überverbesserter Stellung eingegipst. Ein Fenster im Ver¬ bände, der 4—8 Wochen liegen bleibt, ermöglicht die Ent¬ fernung der Handnäthe. Zweckmässige Nachbehandlung ist selbstverständlich von Nöthen. Veranlassung zu solchen Ueberpfianzungen geben: Spinale Kinderlähmung, Nerven-, Sehnen- und Muskelverletzungen, Spitzfuss in Folge von Gehirnblutung, Klumpfuss im Gefolge der Dystrophia progressiva, Lähmungen mit Muskelspannung (cerebrale Kinderlähmung, angeborene Gliederstarre = Litt- lische Krankheit). Es ist nicht angängig, an dieser Stelle die zur Beseitigung der einzelnen Abweichungen nothwendigen Eingriffe hier gesondert aufzuzählen. Bemerkt sei nur, dass es zweckmässig ist, falls verschiedene plastische Eingriffe zur Bekämpfung einer bestimmten Lähmungsfolge, etwa eines Spitz- oder Klumpfusses, nöthig sind, alle in einer Sitzung vorzunehmen. Hoffa hat bei 26 derartigen Operationen fast ausnahmslos (bis auf zwei Fälle) zufriedenstellende, gelegent¬ lich vortreffliche Erfolge erzielt. Zur Kasuistik der okkulten Fremdkörper. Von Dr. J. Wentscher-Thorn. (Deutsche medizinische Wochenschrift No. 46, 1899.) Verfasser bereichert die Kasuistik der okkulten Fremd¬ körper um drei recht interessante Fälle. Im ersten Falle be¬ stand seit längerer Zeit ein kleines entzündliches Infiltrat auf der Brusthaut, etwa in der Mitte des Sternums, das keine er¬ heblichen Beschwerden verursachte. Die prominente, bläulich- roth gefärbte und etwas druckempfindliche Stelle sah aus wie ein in der Entwickelung begriffener kleiner Furunkel. Pat. gab an, dass das kleine „Geschwür“ öfter von selbst aufge¬ brochen sei und sich ebenso spontan wieder geschlossen habe. Bei der Incicion wurde eine mindestens 4 cm lange und etwa 1,5 cm breite Klinge eines kräftigen, vorn breit zugespitzten Tachenmessers extrahirt; das Fragment hatte seit wenigstens einem Jahre im Brustbein gesessen, ohne dass sein Träger eine Ahnung davon hatte. Im zweiten Falle handelte es sich um ein gleich grosses Heft eines Taschenmessers, das aus der Orbita entfernt wurde. Der Patient war des Glaubens, mit einem Ziegelsteine geschlagen worden zu sein, und begab sich erst in Behandlung, als nach Verheilung der kleinen äusseren Wunde eine Lähmung des oberen Augenlides der verletzten Seite nicht zurückgehen wollte. Die Untersuchung ergab ausser der Ptosis eine mässige Protrusion des Bulbus, Lähmung des M. rectus superior und des M. rectus externus und Anaesthesie der linken Stirnhälfte im Bereich des N. fron- talis, als deren Ursache der in der Orbita steckende Fremd¬ körper entdeckt wurde. Das meiste Interesse bietet der letzte Fall, in welchem ein wegen diphtherischer Larynxstenose tracheotomirtes Kind, als die Einführung der Kanüle Schwierig¬ keiten bereitete, das Fragment eines Pflaumensteines aus¬ hustete, von desses Anwesenheit im Kehlkopf vorher Keiner eine Ahnung hatte. Es konnte nicht mit Bestimmtheit klar gestellt werden, ; L ob derJFremdkörper nicht die alleinige Ur¬ sache der Erscheinungen der Larynxstenose bildete, da that- sächliche Diphtheriebazillen nachgewiesen wurden. Doch konnte dieser Befund ein zufälliger sein; das klinische Krank¬ heitsbild passte ebensowohl für eine diphtherische Stenose, wie für einen obturirenden Fremdkörper. — y. Die subkutanen Fracturen der Metatarsalknocben. Von Stabsarzt Dr. Trnka-Prag. (Wiener medizinische Wochenschrift No. 41, 1899). Das seit einigen Jahren in der Litteratur vielbesprochene Thema der „Fussgeschwulst“ umfasst eine Anzahl von Affektionen, unter welchen eine auf Grund ihrer typischen Entstehungsart besondere Beachtung verdient. Sie hat nicht nur, da sie ein echtes Marschtrauma darstellt, für den Militärarzt Interesse, sondern, da sie unter gleichen Voraussetzungen und ähnlichen Verhältnissen in der Erwerbsthätigkeit des in Haufen oder Kolonnen schaffenden Arbeiters zu Stande kommen kann, auch Bedeutung für den Zivilarzt Fast immer handelt es sich bei der in Rede stehenden Affektion um ein Umkippen des Vorfusses von einem grösseren Stein nach aussen, einem Ab¬ gleiten desselben von einer gefrorenen Erdscholle und Zurück¬ bleiben der ganzen Extremität, einer Arretirung des Vorfusses in einem tiefen, gefrorenen Radgeleise, einem Loche — jedoch stets beim Marsche in eng geschlossener Kolonne, durch welche der Betreffende bei noch fixirtem oder zurückgeglittenem Fusse vorwärts gestossen wird. So kommt es zu einer Torsion der Mittelfussknochen, die zu einem Bruche führt. Uebt man bei Prüfung auf Krepitation den Entstehungsmodus der Verletzung nach, indem man den Fuss mit der einen Hand fest an der Fusswurzel, mit der anderen breit an den Metatarso-Phalangeal- gelenken anfasst und nun den Mittelfuss um seine Achse dreht, so lässt sich mit Sicherheit das Geräusch des Knochen¬ reibens erzeugen. Meist ist der zweite oder dritte Metatarsus betroffen. Was die Behandlung betrifft, so besteht die einzu¬ schlagende Therapie im Grunde genommen in einer modifizirten Plattfussbehandlung. Bei frischen Fällen macht man zunächst Digitized by Google 76 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 4 einen Gipsredressementverband, wie beim Plattfuss, nur dass der Vorfuss stark nach hinten rotirt wird. Es wird somit die umgekehrte Drehung und Stellung des Vorfusses und rück¬ wärtigen Fusstheiles gegen einander angestrebt, als diejenige beim Zustandekommen der Torsionsfraktur ist, wodurch die Frakturflächen sich besser adaptiren. Der erste Verband bleibt höchstens 14 Tage liegen. Hat sich bereits ein Kallus gebildet, so legt man einen Spiraltourenverband mit grauem Pflaster in breiten, langen Streifen an, deren Zug dieselbe Tendenz verfolgt, wie der erste Redressementgipsverband. Schliesslich kommt bei Massage und Bädern eine Plattfuss- sohle oder ein Plattfussstiefel mit Schienen und Spirallederzug in Anwendung. -y. Ans der Unfallpraxis. Von Dr. H eimann-Schwäbisch-Hall. (Deätsche medizinische Wochenschrift, No. 42, 1899.) Der erste der beiden Unfälle, über welche Verf. berichtet, verdient nicht so sehr um seiner selbst willen das Interesse des ärztlichen Sachverständigen, — es handelte sich um eine isolirte Fraktur des Kahnbeines in Folge Sturzes aus einer Höhe von 8 m —, als vielmehr mit Rücksicht auf die äusseren Umstände, die auf einen verbesserungsbedürftigen Mangel im Unfallgesetze hinweisen. Es war nämlich zweifelhaft, welche von zwei Berufsgenossenschaften in diesem Falle bezüglich der Schadloshaltung zuständig war. In Folge dessen versuchten beide den Rentenanspruch je von sich ab- und der anderen zuzuwälzen, so dass der Verletzte genöthigt war, bei beiden den vollen Instanzenweg bis zur Spitze durchzuführen, da die Zwischeninstanz bei der Sachlage zu einem definitiven Urtheil nicht kommen konnte. So vergingen glücklich U/a Jahre bis zum endgütigen Rekursentscheid des Reichsversicherungs¬ amtes. Von den unzuträglichen Weiterungen, die mit dieser Verzögerung nach den verschiedensten Richtungen hin zu¬ sammenhingen, abgesehen, litt auch die erwünschte Klarstellung des thatsächlichen und objektiven Befundes dadurch Noth. Es lag der Verdacht vor, wie sich schliesslich herausstellte unbegründeter Weise, dass der Verletzte seine Beschwerden aggravire, und es war deshalb die Vornahme einer Durch¬ leuchtung mit Röntgenstrahlen beantragt worden. Diesem Anträge wurde erst nach dem Entscheid des Reichsversiche¬ rungsamtes stattgegeben. Behufs Verhütung solcher Unzu¬ träglichkeiten sollte nach Verfassers Meinung ein gesetzlicher Weg gefunden werden, dass eine Berufsgenossenschaft, im AUgemeinen die zumeist interessirte, bezw. die, bei welcher der Verletzte sonst versichert ist, die volle gesetzliche Fürsorge sogleich übernimmt, ohne dass der Verletzte selbst in ein Streitverfahren hereingezogen würde. Der Berufsgenossenschaft selbst muss es dann überlassen bleiben, wenn sie dazu nach Art der Umstände Grund zu haben glaubt, der anderen den „Streit zu verkündigen“. Der zweite Unfall, über den Verf. berichtet, betraf einen Müller, dessen rechter Oberarm zwischen einer Mauer und einem ins Rollen gerathenen Wagen eingeklemmt worden war. Alsbald nach der Verletzung liess sich erhebliche Schwellung des ganzen Oberarmes konstatiren, nebst Unvermögen, das Ellbogengelenk zu bewegen, dazu Kribbeln im Bereich der Radialnerven. Der Unfall lag bereits mehr als zwei Jahre zurück, der Verletzte hatte aber noch immer unter den zu¬ weilen sehr zunehmenden .nervösen Beschwerden zu leiden. Namentlich nach anstrengender Thätigkeit traten lebhafte Schmerzen auf, Pat. klagte über Kribbeln und Pelzigsein im ganzen Arme, bis hinein in die Fingerspitzen des 3. bis 5., stellenweise auch des 2. Fingers, die sich stets eiskalt an¬ fühlten. Die Untersuchung ergab eine oedematöse Auftreibung und bläuliche Verfärbung der genannten Finger und der Hand selbst, die sich auch dem objektiven Gefühle kälter darbietet. An der äusseren Seite des Oberarmes, an der Grenze zwischen oberem und mittlerem Drittel und in der Furche zwischen Biceps und Triceps fand sich ein 4 cm langer und etwa 1 cm hoher leistenförmiger Auswuchs am Knochen. Es handelte sich also um eine Exostose, welche den Radialnerv entweder umschliessen oder jedenfalls nahe streifen musste, demnach um eine zweifellose Folge der erlittenen Quetschung. Der im Gutachten gegebenen Anregung, durch eine operative Entfer¬ nung der Neubüdung die Beseitigung der Beschwerden zu ver¬ suchen, wurde seitens der Berufsgenossenschaft Folge gegeben. Der Befund bei der Operation entsprach den Erwartungen, ihr Erfolg freilich nicht. Wohl trat im Anfang ein Nachlass der nervösen Beschwerden ein, jedoch schon nach der dritten Woche liess sich im Bereiche der übrigens per primam ver¬ heilten Operationswunde eine brettharte Infiltration, und inner¬ halb dieser nach weiteren 3 Wochen die Exostose in alter Ausdehnung und unter Rückkehr aller geschilderten Beschwer¬ den konstatiren. Diese wider Erwarten rasche Rückbildung der sorgfältigst entfernten Exostose ist sehr bemerkenswerth. In therapeutischer Beziehung legt diese Erfahrung die Er¬ wägung nahe, ob man nicht in solchen Fällen das Periost, als das wesentlich proliferirende Organ des Knochens, im Be¬ reiche der Geschwulst mitexstirpiren soll. -y. Fall von Abreissung eines grossen Stückes des Fersenbeins. > Von Dr. Neuschläfer. (Deutsche Zeitschr. f. Chir. 50. B. 0. H. 635.) Eine 58 jährige Frau trug einen Korb mit nasser Wäsche vor sich und rutschte mit dem linken Fusse vom Rande einer seichten Baumgrube in diese hinein. Dabei fiel sie um. Als N. die Kranke untersuchte, war die hintere Gegend der Ferse leer und weit oberhalb ein harter Tumor zu fühlen, dessen scharfe Kante die Haut zu perforiren drohte. Die Stelle des Tumors war kolossal schmerzempfindlich. Durch eine Teno- tomie konnte N. keine Mobilisation des grossen, abgerissenen Calcaneusstückes erreichen, deshalb führte er noch einen Längs¬ schnitt über den Tumor bis über die Kante des Fersenbein¬ restes. Es zeigte sich jetzt, dass das abgerissene Stück über 2 / 3 des Fersenbeines ausmachte und die Bruchlinie von hinten oben n$ch vorn unten verlief. Die Fixation des gelösten Stückes nach Ausführung der Tenotomie war durch die Liga¬ menta cruciata veranlasst. N. drehte jetzt das abgerissene Stück, dessen Bruchfläche senkrecht zur Unterschenkelachse stand, zurück und nähte das Periost desselben exakt mit dem des Fersenbeinrestes zusammen. Durch einen Verband in Spitzfus8stellung gelang es sogar, eine spontale Verheilung der Achillessehne zu erreichen. N. sagt selbst, dass es vor¬ sichtiger gewesen wäre, die Achillessehne schräg zu durch¬ trennen, weil er sie dann auf alle Fälle sofort wieder hätte nähen können. Stabei. Innere Medizin. Ueber zwei Fälle von Perigastritis adhaesiva (pylorica). Von Dr. H. Wcstphalen und Dr. W. Fick, Primärärzte, St. Petersburg. (D. m. W. 1899 No. 52.) Bei zwei Kranken, einem 38jährigen und einem 50jähri¬ gen, entwickelte sich in klassischer Weise nach Abheilung eines Magengeschwürs in der Pförtnergegend eine Verengerung des Pförtners, gekennzeichnet durch Störungen der Darment¬ leerung. Bei dem Jüngeren waren diese Störungen zeitweise Digitized by LjOOQie 15. Februar 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 77 plötzlich schlimmer. Hier wurde ein Eingriff vorgenommen, der in der Nähe des verengerten Theils noch polypenartige Auswüchse der Schleimhaut ergab. Durch quere Vernähung der längs angelegten Wunde und durch Abtragung der Po¬ lypen wurde ein hinreichend weiter Pförtner geschaffen, der Kranke fühlte sich eine Zeit lang besser, nur entwickelte sich in der Bauchwandnarbe ein kleiner Bruch. Nach einem Monat war die Verengerung wieder da: die Speisen stauten sich an, die Muskelbewegung des Magens war deutlich erhöht, Durch¬ spritzgeräusch am Pförtner vernehmbar. Besonderer Werth wurde auf folgende Erscheinungen gelegt: in der Pförtner¬ gegend fühlte man einen Widerstand, bei linker Seitenlage schmerzte der Bauchbruch und die Pförtnergegend; übte man an jenem einen Zug nach oben aus, so that diese weh. Diese drei Merkmale wiesen auf eine Verwachsung zwischen Pförtner und Bauchbruch hin. Thatsächlich fand sich bei der erneuten Oeffnung des Bauches, dass ein Theil des Bauchfellbandes zwischen Magen und Dickdarm in dem mit Fett gefüllten Bruch fest angeheftet war und eine unvollständige Abknickung des Magens nahe am Pförtner bewirkte, während dieser selbst durchgängig geblieben war. Etwas anders war der Krank¬ heitsverlauf bei dem älteren Manne. Hier machten sich kurz nach beendeter erfolgreicher Geschwürskur die Zeichen mangel¬ hafter Magenentleerung neben Schmerzen bei Körpererschüt¬ terung und Lageveränderungen, besonders aber bei der Stuhl¬ entleerung, und eine zeitweise bemerkbare Magenbewegung in verkehrter Richtung geltend. Es wurde neben narbiger Ver¬ engerung des Magens eine Verwachsung der Pförtnergegend mit dem Quer-Dickdarm angenommen. W. und F. bestätigen die Ansicht Rosenheim's, dass an perigastritische Verwachsungen dann zu denken ist, wenn bei sicher festgestelltem Magengeschwür eine streng durchgeführte Kur keine Besserung zur Folge hat, oder wenn bei ungenügen¬ der Bewegungsfähigkeit des Magens mechanische Einwirkungen nutzlos bleiben; sie fügen hinzu, dass bei derartigen Ver¬ wachsungen mechanische Einwirkungen eine Verschlimmerung herbeiführen. Die Verf. unterscheiden bezüglich der Behand¬ lung der Perigastritis adhaesiva drei Hauptarten. Die Ent¬ zündung kann ohne Bewegungsstörung des Magens verlaufen, sie kann solche verursachen und sie kann als Komplika¬ tion bei organisch bedingter Pförtnerenge bestehen. Die Lösung der Verwachsungen kommt als Heilmittel der Peri¬ gastritis nur in wenigen Fällen in Betracht, in den weitaus meisten ist allein die Anlegung einer Magen-Darmfistel rathsam. Meist sind die anatomischen Verhältnisse derart, dass eine Wiederverwachsung getrennter Schwarten befürchtet werden muss. Auch weiss man bei Weitem nicht immer, ob mit der Beseitigung der krankhaften Verbindungen alle Ur¬ sachen der Beschwerden gehoben sein werden. Nur wenn der Pförtner, der verengert und mit der Umgebung verwachsen ist, ganz ausgeschaltet wird, ist völlige Herstellung des Wohl¬ befindens zu erwarten. Daher wurde nicht nur in dem zweiten oben beschriebenen Falle, in dem eine echte Pförtnerenge bestand, sondern auch in dem ersten, wo nur ein Strang den Pförtner theilweise abknickte, die Gastroenterostomie ausge¬ führt. Der Erfolg war gut, als einzige Abweichung ist bezeich¬ nender Weise ein Schmerz zurückgebüeben, der sich bei rechter Seitenlage — also wenn der Mageninhalt mechanisch nach dem Pförtner hingedrängt wird — einstellt und bei Ver¬ änderung der Lage gleich wieder schwindet. Traumatische tuberkulöse Basilarmeningitis. Von Dr. R. Elb en-Stuttgart. (Corr.-Bl. d. Württ. äratl. L.-V. 1899 No. 50.) Ein achtjähriger Knabe, der seit Jahresfrist schlechter ausgesehen und einmal einige Wochen gehustet hat, erhält zwei Faustschläge auf den Hinterkopf. Ohne äussere Verletzung tritt unmittelbar darauf Kopfweh und Mattigkeit, nach drei Tagen Erbrechen ein. Am fünften Tage wird der Arzt ge¬ rufen; der Verlauf der Krankheit kennzeichnet eine tuberku¬ löse Entzündung der basilaren Hirnhaut. Der Tod tritt 21 Tage nach der Verletzung ein. Die Leichenöffnung ergiebt zahlreiche hirsekorngrosse Tuberkel in den weichen Häuten an der Hirn¬ basis, zumal im Verlaufe der Gefässe, ferner eine verkäste Luftröhrendrüse und einen Käseherd in der Lunge; das Rippen¬ fell ist mit hirsekorngrossen Knötchen bedeckt, ebenso Leber und Milz. Verf. hält in diesem Falle die Lunge für den primären Sitz der Krankheit, von dem verschleppte Keime sich auf Grund der Verletzung in den Hirnhäuten angesiedelt haben, während die Knötchen in Rippenfell, Leber und Milz sich später erst entwickelt haben sollen. Im Gutachten hat er den Zusammenhang zwischen Verletzung und Hirnkrankheit natürlich nur als möglich bezw. wahrscheinlich hingestellt, indessen hält er die Wahrscheinlichkeit für eine recht hohe. Die schwerwiegenden Bedenken gegen diese Annahme, die vorliegen, brauchen wohl nur kurz genannt zu werden: Die Voraussetzung, dass vor der Verletzung der Beginn der Miliar- tuberkulose noch nicht vorhanden war, ist durch den Sektions¬ befund nicht bewiesen und auf andere Weise kaum beweisbar; die gleichmässige Ausbreitung der Knötchen über den Hirn¬ grund spricht eher gegen als für den Ausgang von einer be¬ stimmten Stelle traumatisch verminderten Widerstandes. Vergiftungen. Ueber die chronischen Hautveränderungen beim Arseni- cismus und Betrachtungen über die Massenerkrankungen in Reichenstein in Schlesien. Von Dr. L. Geyer, Assistenten der kgl. dermatolog. Klinik des Geh. R. Prof. Neisser in Breslau. Festschrift in Ehren von Philipp Pick. Der Ort Reichenstein im Glatzer Gebirge ist eine uralte Fundstätte für Golderze und dementsprechend auch für Arsenik, das noch jetzt dort hüttenmässig gewonnen wird. Viele Jahr¬ hunderte lang sind dort arsenhaltige Dämpfe achtlos der Luft beigemischt worden, ihre Niederschläge haben die oberfläch¬ lichen Erdschichten durchdrungen und mischen sich dem aus ihnen entquellenden Wasser bei. Jahrhunderte alt und erst jetzt durch hygienische Massregeln immer mehr eingeengt ist daher auch die „Reichensteiner Krankheit“, die chronische Arsen¬ vergiftung bei den Bewohnern der Gegend. Von ihr bleiben heutzutage, dank der ungemein sorgsamen Fürsorge der Unternehmer, die Hüttenarbeiter fast sämmtlich verschont. Es erkranken aber die Bewohner ganz bestimmter Gegenden, wo arsenhaltiges Wasser aus oberflächlicheren Erdschichten an Stelle des einwandfreien, aus grosser Tiefe quellenden Leitungswassers zum Trinken benützt wird. Demgemäss treten die Vergiftungszeichen meist familienweise auf. Neu zugezogene Leute spüren schon nach Ablauf der ersten Woche die Giftwirkung. Kinder und Erwachsene sind ihr gleichmässig zugängig. Der Verlauf ist ganz regelmässig. Die dem Arsenik zu¬ kommenden Magendarmstörungen bilden den Anfang, sie schwinden mit der Gewöhnung an das Gift. Nach einiger Zeit folgen Nervenstörungen, die „Arsen-Pseudotabes“. Ganz schleichend beginnt jetzt die überaus kennzeichnende Haut¬ veränderung: Der ganze Körper wird „gescheckt“, der Grund¬ ton ist hellbräunlich bis schwarzgrau oder tiefrothbraun, darauf heben sich, ungleichmässig eingestreut, Bezirke von ganz ge¬ wöhnlicher Hautfarbe ab. Nirgends findet sich eine narbige Digitized by Google 78 Aerztliche Sachverständigen- Zeitung. No. 4. Verbildung. Die Hohlhände und Fusssohlen sind mit dicken, oft massenhaft sich ablösenden Hornschwarten, in die sago¬ artige Körner eingestreut liegen, bedeckt, darauf linden sich noch warzenartige Gebilde, die aber nicht, wie echte Warzen vom Papillarkörper, nur von der Hornschicht ausgehen. Der Farbstoff sitzt in der Umgebung der Lederhautgefässe, ist nicht metallisch, vielleicht Hämatoidin. Die so erkrankten Leute scheiden im Harn Arsen aus, sie sehen mehr oder weniger verfallen aus. Unter geeigneter Pflege nehmen die Erscheinungen sehr langsam ab, in manchen Fällen sind sie wahrscheinlich unheilbar. Noch eine ganze Reihe anderer, von den Reichensteiner Aerzten gemachten Beobachtungen stehen in einem mehr oder minder innigen Zusammenhang mit dem Arsengehält des Wassers: Die Eingeborenen werden nicht älter als etwa 55 Jahre. Die Kindersterblichkeit und die Häufigkeit der Rhachiti8 ist sehr gross, obgleich die hygienischen Verhältnisse sonst gut sind. Kriegsdiensttaugliche Männer finden sich auf¬ fallend selten. Ansteckende oder sonst durch Spaltpilze be¬ dingte Krankheiten nehmen ungemein häufig einen bösartigen Verlauf; Ergüsse in die Körperhöhlen, Asthma, Altersbrand, Nervenleiden scheinen verbreiteter als anderswo zu sein. Die Hautveränderungen (Warzen) gehen in manchen Fällen ganz allmählich in Krebs über, und zwar auch bei jüngeren Leuten. Die Bedeutung, die diese Verhältnisse für die öffentliche Gesundheitspflege haben, ist zur Zeit nicht mehr sehr hoch, da die Beseitigung des Uebels von Grund aus in vollem Gange ist. Dennoch ist die Reichensteiner Krankheit kennenswerth; sie, die ein Beispiel der seltenen chronischen Arsenvergiftung durch arsenhaltiges Trinkwasser ist, zeigt gleichzeitig, was für Gefahren die nicht gar so seltene chronische Vergiftung durch arsenhaltige Arzneien, die ganz in derselben Weise verläuft, mit sich bringt, und wie die Hautveränderung etwa einen Massstab für den erreichten Grad der Giftwirkung darstellt. Tod an Purpura fulminans nach einer Terpentinöl- Darreichung. Von Kreiswundarzt Dr. Mayer -Simmern. (Ztschr. f. Med.-B. 1900. H. 2.) Eine Lungenentzündung bei einem schwer tuberkulös be¬ lasteten Knaben gab dem Verf. Veranlassung, Terpentinöl in geringer Gabe (dreimal täglich etwas mehr als ein Tropfen) zu verordnen. Am achten Tage fiel das Fieber kritisch ab, das Befinden besserte sich. Vier Tage später trat aus der linken Nasenhöhle ein Erguss massenhaften, hellen, dünnen Blutes ein, der stundenlang währte und mit Mühe gestillt wurde. Die Zeichen ernster Herzschwäche stellten sich ein. Drei Tage später wiederholte sich die Nasenblutung, nach weiteren zwei Tagen bedeckt sich, während gleichzeitig immer heftigere Athemnoth besteht, der ganze Körper mit Blutflecken, binnen 24 Stunden stirbt das Kind. An der hellblutrothen Farbe des Inhalts der durch eine spanische Fliege gezogenen Blase war eine Blutzersetzung schon in den ersten Tagen nach Beginn der Blutungen erkennbar. M. schreibt die Blutzersetzung dem Einfluss des Terpen¬ tinöls zu. Er legt dar, dass viele Mittel, wie Terpentin, den Gehalt des Blutes an weissen Körperchen steigern, gelegent¬ lich auch die Bildung von gerinnungshemmenden Fermenten im Blute fördern und so eine Art von Blutkrankheit hervor- rufen (Organ-Extrakte, Kampheröl, salicylsaures Natron). Es wird nothwendig sein, dass noch mehr und eindeutigere der¬ artige Beobachtungen gesammelt werden, ehe etwa Schlüsse für die gerichtsärztliche Beurtheilung daraus gezogen werden können. Doppelmord mittels Phosphor. Von Dr. Josef Marer—Nagy-Szecseny. (Allgemeine Wiener meditio. Zeitung No. 39—43, 1899.) Das Bemerkenswerte an diesem, mit allen Einzelheiten veröffentlichten Falle ist die Thatsache, dass zwei erwachsenen, voll8innigen Individuen eine tötliche Phosphormenge in Speise gemischt beigebracht werden konnte, ohne dass sie eine Spur davon merkten, obgleich sie von einer dritten Person darauf aufmerksam gemacht wurden, dass die Speise nach Zündholz¬ köpfchen schmecke. Die Diagnose konnte erst kurz vor dem Tode mit Sicherheit auf Phosphorvergiftung gestellt werden, da nur die Erscheinungen einer heftigen akuten Gastritis ohne irgend ein für die Phosphorintoxikation charakteristisches Symptom Vorlagen. —y. Schwerste Opiumvergiftung eines atrophischen Kindes von zehn Wochen. Zehnstündige Faradisation des Phrenicns. Heilung. Mitth. von Dr. Model, Kgl. Bez.-Arzt a. D. in Weissenburg a. S. (Münch. Med. W. 1900 No. 5.) Eine wundersame Krankengeschichte! Die Ueberschrift sagt schon viel, die Ausführung ist noch verblüffender. Das betreffende Kind war durch massenhafte Durchfälle bereits furchtbar heruntergekommen. Es bekam eine bittere Tinktur mit etwas Opium, aber irrthümlicher Weise in recht grosser Dosis, bis es endlich aufhörte, zu wimmern — aber auch zu athmen. M. fand das Kind ohne Athmung, Herzschlag und Pupillenreaktion. Kein Hilfsmittel war wirksam. Eine Spar von Athmung trat erst bei faradischer Reizung des einen Zwerchfellsnerven am Halse ein. Der unterbrochene Strom wurde nun rythmisch, abwechselnd auf der linken nnd rechten Seite, auf den Nerven angewandt, aber erst nach zehn Stunden konnte die künstliche Reizung unterlassen werden. Das Kind erholte sich merkwürdig rasch, die Durchfälle kehrten nicht wieder; ob wegen der starken Opiumgabe? das lässt Verf. unentschieden. Der seltsame Fall ist 1884 passirt. Hygiene. Znr Frage über die Natur nnd Anwendbarkeit der biologischen Abwasserreinigungsverfahren, insbe¬ sondere des Oxydationsverfahrens. Von Dr. Dunbar. (Deutsche Vlerteljahrsichrift für öffentliche Gesundheitspflege. Bd. 31. Viertee Heft, erste Hälfte.) Der Verf. beginnt seine im Interesse einer objektiven Beurtheilung der verschiedenen Abwässerreinigungsverfahren mit Freuden zu begrüssende Abhandlung in weiterer Aus¬ führung seines auf der vorjährigen Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege in Köln erstatteten Referats „Die Behandlung städtischer Spüljauche etc.“ mit einer geschichtlichen Darstellung der sog. biologischen Ab- wasserreinigungsverfahren. Danach beziehen sich die ver¬ schiedenen, diesem biologischen Abwasserreinigungsverfahren gegebenen Namen — Septictank-Verfahren, Cameron-, Schwe- der-, Schweder-Dibdin-, Dibdin-Verfahren u. s. w. — auf zwei ihren Grundzügen nach längst bekannte und erprobte Ver¬ fahren, die unter einander insofern identisch sind, als bei beiden die Reinigung der Abwässer nach dem Prinzip der intermittirenden Filtration erfolgt, nur dass bei dem einen Verfahren die frischen Abwässer auf die Filter (Oxydations¬ körper) gebracht werden, bei dem andern aber vorher einer fauligen Zersetzung anheimfallen. Verf. weist darauf hin, dass bis zum Jahre 1870 die all¬ gemeine Ansicht dahin ging, dass sich Sohmutzwässer ohne Digitized by Google )5 Februar 1900. Aerzt liehe Sach v er ständigen-Zeitung. 79 vorherige Klärung durch Chemikalienzusätze dauernd in ein und demselben Filter oder Boden nicht reinigen lassen, wenn nicht die zurückgehaltenen Schmutzstoffe durch das Wachs- thum höherer Pflanzen beseitigt werden, eine Auffassung, die schon im Jahre 1868 von Frankland experimentell als irrig gekennzeichnet wurde. Frankland führte schon damals den Nachweis, dass man völlig unvorbehandelte städtische Ab¬ wässer monatelang auf geeignete Bodenproben bringen und sie darin reinigen kann, ohne dass der Boden sich verstopft. Die erzielten Abflüsse waren dabei ebenso rein wie die Drain¬ wasser guter Rieselfelder. Nothwendig war nur, dass die Zu¬ leitung der Schmutzwässer keine ununterbrochene war, son¬ dern dass man nach Aufbringung einer gewissen Abwasser- menge die Beschickung der Bodenprobe sistirt und letztere eine gewisse Zeit hindurch der Ruhe überlässt, ein Vorgang, den Frankland als intermittirende Filtration bezeichnete. Dass diese Methode seitens der Rivers Pollution Commission ge¬ bührende Berücksichtigung gefunden hat, geht daraus hervor, dass in dem Bericht dieser Kommission aus dem Jahre 1870 schon die Angabe sich findet, dass die Mitglieder der Kom¬ mission auf Grund der Franklandschen Experimente zu dem Urtheil gelangten, dass bei Anwendung geeigneter Bodenarten und bei genügend tiefer Drainage nach sehr vorsichtiger Veranschlagung die Abwässer von 10000 Einwohnern einer schwemmkanalisirten Stadt auf einer Fläche von 5 Acres (etwa 2 ha) mit gutem Erfolg durch intermittirende Filtration gereinigt werden konnten. Aber nicht nur die Methode war gegeben, auch die Erklärung, dass es sich dabei um biolo¬ gische Prozesse handelte, ist keineswegs neu, wie die bekann¬ ten Versuche von Schlössing und Münz über die Bakterien¬ wirkung bei der Nitrifikation der stickstoffhaltigen Substanzen im Boden beweisen, die namentlich von Warrington bei der Erklärung der Bodenvorgänge in den Franklandschen Experi¬ menten herangezogen wurden. Im Jahre 1886 wurde in der Lawrence Station in Massa- chusets der Werth der intermittirenden Filtr&tion für die Abwässerreinigung in eingehendster Weise nachgeprüft. Bei dieser Nachprüfung konnte die Richtigkeit der Franklandschen Beobachtungen in jeder Weise bestätigt werden. Es wurden hier die Abwässer von etwa 2000 Personen pro Hektar durch intermittirende Filtration derart gereinigt, dass 9972 Prozent der stickstoffhaltigen Substanz ausgeschieden wurden. Das Bekanntwerden dieser Ergebnisse veranlasst# die Drainage- Kommission der Stadt London, ihren Chemiker Dibdin im Jahre 1891 mit einer Nachprüfung zu beauftragen. Die Er¬ gebnisse dieser Prüfung waren so günstige, dass in London alsbald ein Versuchsfilter für die intermittirende Filtration hergestellt wurde, bestehend in einer 0,4 ha grossen, etwa 3 Fuße tief ausgehobenen Grube mit wasserdichten Wandungen, die mit Koksgrus, auf dem eine Schicht groben Sandes lagerte, ausgefüllt war. Dieser Kokskörper wurde dreimal täglich mit den Londoner Abwässern beschickt, die vorher eine chemisch-mechanische Reinigung erfahren hatten, wo¬ durch alle su8pendirten Theile, ausschliesslich der feineren Partikelchen, entfernt wurden, und blieben jedesmal etwa eine Stunde im Kokskörper stehen. Nach mehrstündiger Ruhepause wurde der Oxydationskörper von Neuem beschickt. In Sutton wurden die Abwässer ohne jede Vorbehandlung durch zwei Oxydationskörper nach einander geschickt, wovon der erstere mit gebrannten Lehmstückchen, der zweite mit Koks gefüllt war. Auch hier war die Reinigung eine genügende. Die günstigen Ergebnisse, die Dibdin bei den ersten Versuchen gewonnen hatte, gaben ihm Anlass, den Betrieb der inter¬ mittirenden Filtration so zu steigern, dass er täglich etwa 12000 cbm Abwasser pro Hektar Filterfläche reinigte. Gelegentlich seines Referats in Köln bezeichnete D. das in Rede stehende Verfahren der intermittirenden Filtration, bei der wasserdichte Bassins zur Anwendung kommen, als Oxyda¬ tionsverfahren. Will man den Namen „biologisches Verfahren“, der für dieses Verfahren sowohl wie für das Cameron’sche Faul¬ kammerverfahren angewandt worden ist, beibehalten, so muss man sich darüber klar bleiben, dass auch das Berieselungs¬ verfahren und die intermittirende Filtration im offnen drainirten Boden zu den biologischen Verfahren zu rechnen ist. Die Ergebnisse, die in Hamburg an der dort im Jahr 1893 errichteten Klärversuchsanlage mit dem Oxydationsverfahren gewonnen worden sind, fasst D. dahin zusammen, dass man mit diesem Verfahren Abwässer ebenso gründlich zu reinigen vermag, wie mittels guter Rieselfelder. Der Versuchsklär¬ anlage, der die Aufgabe gestellt war, für die verschiedensten Abwässer-, Reinigungs- und Desinfektionsmethoden anwendbar zu sein, wurden die Abwässer des neuen allgemeinen Kranken¬ hauses in Eppendorf zugeführt Bei der Prüfung des Oxyda¬ tionsverfahrens wurden zur Beschickung der Filter statt Koks die Schlacken der Hamburger Müllverbrennungsanlage be¬ nutzt, die sich für diesen Zweck als vorzüglich geeignet er¬ wiesen. Da hierbei ein Beschwerungsmittel nicht nothwendig war, wurde die Bedeckung des Oxydationskörpers mit einer Kiesschicht fortgelassen. Aus den Versuchen ergiebt sich, dass der Schlackenkörper bei einmaliger Füllung etwa 30 cbm Abwasser aufnahm, und dass bei sechsmaliger Füllung und einer Grundfläche des Filters von 64 qm auf 1 ha täglich über 28000 cbm Abwässer entfielen, also bei Annahme eines Wasserkonsums von 400 1 pro Kopf und Tag die Abwässer von 72200 Personen pro Hektar. Während bei sehr forzirter Inanspruchnahme die Aufnahmefähigkeit des Sohlackenfilters relativ schnell sank, blieb auch nach mehr als dreiviertel¬ jähriger Betriebsdauer die Aufnahmefähigkeit in fast gleicher Höhe erhalten, wenn der Körper nur einmal täglich mit Ab¬ wässern beschickt wurde. Die Aufnahmefähigkeit des Schlacken¬ körpers ging innerhalb dieser Zeit um nicht mehr als etwa 3 Prozent zurück, so dass eine Reinigung des Oxydations¬ körpers innerhalb geraumer Zeit sich nicht als nothwendig erweisen wird. Bei der Schilderung der Qualität der Schlackenabflüsse kommt D. zu dem Ergebniss, dass in Bezug auf Herabsetzung des Grades der Oxydirbarkeit durch das Oxydationsverfahren bei der in Hamburg geübten Betriebsweise und Inanspruch¬ nahme des Oxydationskörpers Ergebnisse erzielt wurden, die demjenigen guter Rieselfelder, wenn überhaupt, so doch nicht wesentlich nachstehen. Bei der zweiten Versuchsreihe, bei der die Schlackenab- wäs8er nachträglich eine Filterung durch eine 40 cm hohe Schicht von Filtersand erfuhren, ergab sich, dass durch die Sandfiltration eine energische Weiterentwicklung der Oxydation erreicht wird, die in der Herabsetzung der Oxydirbarkeit, in der Abnahme des freien Ammoniaks unter Bildung beträcht¬ licher Mengen von Salpetersäure zum Ausdruck kommt. Diese Versuche in der Hamburger Versuchskläranlage zeigen, dass es gelingt, Abwässer, die nach ihrer Herkunft und ihrem Schmutzgehalt sowie ihrem ganzen Verhalten städti¬ schen Abwässern direkt vergleichbar sind, in Mengen, die den Abwässern von 25000 bis 30000 Personen pro Hektar ent¬ sprechen, monatelang und voraussichtlich noch viel länger — die Aufnahmefähigkeit hatte, wie schon erwähnt, während der neunmonatlichen Versuchsdauer nur um 3 Prozent abgenommen, die qualitative Leistungsfähigkeit dagegen eher zu- als abge¬ nommen — ohne Anwendung von Chemikalien, durch das in Rede stehende Oxydationsverfahren bis zu einem Grade zu Digitized by Google 80 No. 4. Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. reinigen, der durch Rieselfelder nur in den seltensten Fällen erreicht wird. Hinsichtlich der Kostenfrage ist es nicht zutreffend, dass das Oxydationsverfahren aus dem Grunde, weil bei ihm Chemikalien und Maschinerien nicht zur Anwendung kommen, in allen Fällen billiger sein müsste, als die chemisch-mechanisch wirkenden Verfahren, mit denen es, da es einen bessern Reinigungseffekt gewährleistet, von vorn herein nicht zu ver¬ gleichen ist. Zum Schluss berührt D. das Faulkammerverfahren, wobei die Abwässer ein bis zwei Tage in der Faulkammer aufge- 8 taut und erst dann in den Oxydationskörper geschickt werden. In der Praxis wird sich eine Trennung zwischen dem Oxyda¬ tionsverfahren und dem Faulkammerverfahren kaum immer aufrechterhalten lassen. Einerseits wird man, um das Postulat der regelmässigen Füllung und Entleerung des Oxydations¬ körpers erfüllen zu können, beispielsweise bei Fabrikwässern, sofern sie stossweise abfliessen, eine Vorkammer nicht gut entbehren können, und andererseits kann sich bei der Be¬ handlung städtischer Abwässer die Nothwendigkeit ergeben, statt eines Sandfangs von geringen Dimensionen einen solchen von grösserem Umfang bauen zu müssen, wodurch wieder ein Mittelding zwischen Faulkammer- und Oxydationsverfahren ge¬ geben wäre. Alles in Allem erachtet D. das Oxydationsver¬ fahren für mindestens gleichwertig, jedoch rationeller und in Regel weniger kostspielig, als das Faulkammerverfahren. Unter Umständen wird wegen besonderer Eigenthümlichkeiten trotzdem die Anwendung des Faulkammerverfahrens vorzu¬ ziehen sein. In Bezug auf die Versuchsergebnisse im Einzelnen muss auf die lehrreiche Arbeit selber verwiesen werden. Roth (Potsdam). Ueber die Organisation des Sanitätsdienstes bei den k. k. Tabakfabriken. Von Dr. Franz Schrimpl, Tabakfabriksarzt in Landskron. (Prager mediiiniscbe Wochenschrift No. 27—33, 1899.) Der aus amtlichen Quellen zusammengestellten Arbeit ent¬ nehmen wir die für unsere Leser besonders interessanten. Ausführungen über die Frage des aetiologischen Zusammen¬ hanges zwischen einer Reihe von Affektionen und den Ein¬ wirkungen, die von der Tabakverarbeitung resultiren. Die am häufigsten unter den ambulant behandelten Tabakfabrikarbeitern auftretenden Krankheiten waren Kopfschmerzen, Zahnschmerzen, Bronchialkatarrhe, Cblorore, Cardialgien, Magenkatarrh, Rheu¬ matismus, auch Entzündungen der Augenbindehaut; zahlreich waren auch Panaritien, häufig Menstruationsanomalien. Allein bei der Entstehung der Krankheiten und Verbreitung der¬ selben war nicht die Fabrikation als solche zu beschuldigen, was schon an dem ungleichmässigen Auftreten der Krank¬ heiten in Bezug auf Ort und Häufigkeit hervorgeht. Der Nachweis einer direkten Einwirkung des Tabaks und reiner Verarbeitung auf die Gesundheit konnte nicht erbracht werden, von allen Fabriksärzten wird berichtet, dass t?ei den Arbeitern anderer Erwerbsbetriebe dieselben Krankheiten, bisweilen so¬ gar in grösserer Zahl als bei den Tabakfabrikarbeitern Vor¬ kommen, wo eben von einem gesundheitsschädlichen Einflüsse und von einer spezifisch gewerblichen Krankheit nur in nega¬ tivem Sinne gesprochen werden kann. Ebenso unentschieden ist die Frage hinsichtlich des Entstehens der Panaritien, welche von einzelnen Fabrikärzten dem Eindringen von Staub¬ und Tabakpartikelchen in die Hautwunden der Finger zuge¬ schrieben werden, welche sich die Arbeiter bei häuslichen Arbeiten, dann beim Abrippen und Rollen der Tabaksblätter zugezogen haben, während andere Fabrikärzte dem Tabak hierbei keine spezifische Einflussnahme zugestehen. Auch die Ansicht, dass Augenbindehautentzündungen ihre Ursache in der Einwirkung des reizenden scharfen Tabakstaubes haben, wird von vielen nicht zugegeben, nach deren Meinung nicht der Tabak, sondern das Reiben der Augen mit unreinen Händen und Kleidungstücken der Grund der Erkrankungen ist. Aehnlich liegt die Sache bei den häufig beobachteten Cardial¬ gien, Darmschmerzen und anderen Neuralgien, die man auf die Einwirkung des Nikotins zurückführen zu müssen glaubt. Dieser Zusammenhang besteht indessen nicht. — y. Ueber Bakterien iu der Butter und einigen anderen Milchprodukten. Von Dr. Weissenfeld, Ass. am hygienischen Inst, in Bonn. (B. kl in. W. 1899, No. 48.) Zweiunddreissig Butterproben verschiedenster Herkunft wurden centrifugirt, der Bodensatz wurde Meerschweinchen in die Bauchhöhle gespritzt. Zwanzig mal blieben die Thiere gesund (keine Abmagerung, kein Fieber, kein Sektionsbefund), ein Thier starb an akuter Bauchfellentzündung, eins ohne ana¬ tomisch nachweisbare Ursache, aber mit bakteriologischem Befunde (unbekannte Stäbchen). Sieben Tbiere starben an einer der Tuberkulose im Aussehen sehr ähnlichen, durch wohl¬ gekennzeichnete Spaltpilze hervorgerufenen Krankheit (Pseudo¬ tuberkulose), drei endlich an echter Tuberkulose. Die diesen dreien eingeimpfte Butter stammte theils aus einer Molkerei, theils von Bauern. Sterilisir- oder Pasteurisir-Versuche waren nur in zwei Molkereien ausgeführt worden — die eine davon lieferte jene Butter, die das geimpfte Thier unter deutlicher Spaltpilzbildung, aber ohne Gewebsveränderung tötete. Einige aus Milch hergestellte künstliche Nährmittel wurden auf den Bakteriengehalt im Allgemeinen, abgesehen von der Tuberkulose geprüft: Nut rose (Kaseinnätrium) enthielt aufs Gramm 6000 Keime, Eukasin (Kasein-Ammoniak) nur im Ge¬ latine-Ausstrich zahlreiche Diplokokken-Kolonien,Kalk-Kasein (Calciumphosphat-Kasein) pro Gramm auf Gelatine 2400000, Plasmon (Siebold’s Milcheiweiss) in drei Proben auf Gelatine je 32 Millionen, 10 Millionen und 24,6 Millionen verschieden¬ ster Keime. Gegen beide letzterwähnte Präparate äussert daher Verfasser, zumal sie zur Krankenernälirung dienen sollen, ernste Bedenken. Ueber den Bakteriengehalt von Milchprodukten und anderen Nährmitteln. Von Dr. Bloch, Ass.-Arzt am städt. Krankenhaus Moabit zu Berlin. (B. kl. W. 1900 No. 4.) Die Untersuchungs-Ergebnisse Weissenfeld’s sind von B. nachgeprüft worden. Auch er fand im P1 a s m o n einen hohen Keim¬ gehalt, aber keinen geringeren inNutrose und Eulactol, einen viel grösseren in Hygiama. Auch Tropon und Nährstoff Heyden fanden sich an Spaltpilzen reich. Was beweisen aber all diese Befunde bezüglich der Brauchbarkeit der be¬ treffenden Erzeugnisse als Nährmittel? B. hat alltäglich zur Nahrung verwandte Stoffe, wie Mehl und Hafermehl, unter¬ sucht und in dem einen über 12, in dem andern über 53 Millionen Keime im Gramm gefunden. Dem wäre nun frei¬ lich entgegenzusetzen, dass man Plasmon, Tropon und der¬ gleichen ungekocht, Mehl und Hafermehl dagegen gewöhnlich nicht roh zu gemessen pflegt. Aber B. führt auch an, dass nach Prausnitz Butter gewöhnlich 10—20 Millionen Keime enthält, ohne deswegen gesundheitsschädlich zu sein. Kurzum, ehe irgend ein Schluss über den praktischen Werth der Weissenfeld’schen Untersuchungen möglich ist, muss erst ge- Digitized by 15. Februar 1900. 81 Aerztlicho Sach verständigen-Zeitung. prüft werden, ob die einzelnen Nährpräparate Krankheits¬ erreger enthalten; nicht die Zahl, sondern die Art der Pilze ist Ausschlag gebend. Aus Vereinen und Versammlungen. In der Freien Vereinigung der Chirurgen Berlins, (105. Sitzung vom 11. Dezember 1899) berichtet Herr Reichard über 3 Fälle von parenchyma¬ töser Magenblutung. Ein Mal war der Blutung, die stets tödtlich endete, eine Bauchoperation vorhergegangen, zwei Mal erfolgte jene ohne erkennbaren Anlass. Vergeblich war bei der Leichenöffnung stets das Suchen nach einer Quelle der Blutung. Hierzu bemerkt Herr Ewald, dass er Aehnliches mehrmals, unter Anderem nach Typhus, beobachtet hat. Herr Rinne zeigt das Präparat eines ehemals ver¬ letzten und von selbst geheilten Harnleiters. Seiner Zeit war bei einem Bauchschnitt der Harnleiter zerschnitten worden. Es entwickelte sich eine jauchige Bauchfellent¬ zündung, der Harn floss erst aus der Bauchwunde, dann, nach Drainage des Bauchfellraumes von der Scheide aus, durch letztere ab. Vortr. hat damals versucht, das Nieren-Ende des Harnleiters in die Blase einzupflanzen, konnte aber das Ziel nicht erreichen. Mit einem Male floss weniger Harn aus der Fistel ab, und bald stellten sich völlig gesunde Verhältnisse her. Jetzt, 1 Jahr nachher, ist die Kranke an Steinniere ge¬ storben. An dem ehemals verletzten Harnleiter sind keine Veränderungen zu sehen. Herr Riese hat bei veraltetem intrakapsulärem Schenkelhalsbruch durch Schenkelkopf-Exstripation Heilung erzielt. Die Verletzte, eine Frau von 59 Jahren, war vor 5 Monaten von einer Leiter auf den linken Fuss gefallen. Der Arzt hatte damals Quetschung des Hüftgelenkes ange¬ nommen und nur für kurze Zeit Bettruhe verordnet. R. hat einen losen Bruch des Schenkelkopfs erkannt und zur opera¬ tiven Entfernung des Schenkelhalses geiathen, da er mit Kocher überzeugt ist, dass ohne Operation lose Brüche dieser Art nicht heilen können. Die Verletzte hat sich um so eher zur Einwilligung entschlossen, als sie andauernd heftige Schmerzen in dem Beine hatte. Der Erfolg ist gut, die Frau kann ohne Stock gehen, auf dem linken Bein allein stehen und dieses im Hüftgelenk um 45° heben ; es ist um 3 cmt. verkürzt. Hierzu bemerkt Herr Martens, dass in der König’schen Klinik bei zwei ähnlichen Fällen in gleicher Weise ein guter Erfolg erzielt worden ist. Es folgen Beiträge Riese’s zur Chirurgie des Schädels. Zunächst wird ein lOjähriger Knabe vorgeführt, der, nach einem Revolverschuss in das linke obere Augenlid neben den Erscheinungen des Hirndrucks eine den linken unteren Theil des Gesichts, den linken Arm und in geringerem Masse das linke Bein betreffende Lähmung aufwies. Durch Röntgen- Strahlen ist ermittelt worden, dass das Geschoss dicht an der harten Hirnhaut rechts von der Mitte der hinteren Schädel¬ grube liegt. Ein chirurgischer Eingriff, etwa in der Gegend der Centralwindungen, wäre natürlich zwecklos gewesen. Die Lähmung besteht fort, andere Störungen sind ausgeblieben. In ähnlicher Weise zeigte die Durchleuchtung die Nutz¬ losigkeit eines blutigen Eingriffs bei einem jungen Manne an, der sich eine Kugel in die rechte Schläfengegend gejagt hatte. Hier entwickelte sich nach einer Woche eine vorübergehende linksseitige Gesichtslähmung und dann erst eine bleibende mit Spannungserscheinungen verbundene Lähmung des Armes und Beines. Die Kugel liegt am Grunde der vorderen Schädel¬ grube links, die Lähmung dürfte durch eine Quetschung der Rindencentren oder des Marklagers zu erklären sein. Ganz anders war der Verlauf einer Schussverletzung in die rechte Wange bei einem jungen Mädchen. Zunächt trat nur eine leichte Blutung aus der Wunde und der Nase ein, die Kugel schien vor der rechten Keilbeinhöhle zu sitzen. Nach 14 Tagen klagte die Verletzte über Kopfschmerzen, über Doppelsehen, ohne dass der Befund eine Erklärung hierfür bot. Kein Mittel half. 16 Wochen nach dem Unfall wurde über sehr heftige Schmerzen hinter dem rechten Auge, Schwach¬ sichtigkeit auf demselben geklagt. Die Röntgen-Photographie liess den Sitz der Kugel nicht genau erkennen. Erst nach längerem Suchen fand es sich, dicht neben dem Stamm des Augenbewegungsnerven in dem von der Schädelhöhle zur Augenhöhle führenden Spalt eingeklemmt. Es war durch den Rand des grossen Keilbeinflügels gespalten, so dass eine Zacke in die Schädelböhle ragte. Nach der Entfernung des Geschosess heilte die Wunde zwar gut aus, dieSchmerzen waren verschwunden, aber die Kranke seither blind und hat eine leichte Augen¬ muskel-Lähmung. Mit dem Augenspiegel ist zur Zeit ein völliger Schwund des Sehnerven erkennbar. Zwei weitere mit- getheilte Fälle sind minder erwähnenswerth. (Centralbl. f. Chir.) Gerichtliche Entscheidungen. Aus dem Reichs-Versicherungsamt. Erwerbsverminderung liegt nicht vor bei geringer Versteifung des Nagelgelenks des reohten Zeigefingers. Rek. Entsch. v. 15. April 1899. Der Lehrhäuer Hermann L. aus Reichmannsdorf wurde am 2. April 1898 im Betriebe der Eisensteingruben bei Schmiedefeld während des Förderus durch ein aus der Firste fallendes Stück Eisenstein an der Hand getroffen und erlitt dadurch eine Quetschung des rechten Zeigefingers. Auf Grund des ärztlichen Gutachtens wies der Sektionsvorstand den Ent¬ schädigungsanspruch zurück, weil die von dem Unfälle zurück¬ gebliebenen Folgen so gering seien, dass sie eine Be¬ einträchtigung in der Erwerbsfähigkeit nicht bedingen könnten. Die hiergegen eingelegten Rechtsmittel der Berufung und des Rekurses wurden zurückgewiesen. Gründe: Der Kläger hat durch den Unfall eine Verletzung des Zeigefingers der rechten Hand erlitten. Das vordeiste Glied des Fingers steht in halber Beugestellung steif und kann bei den Faustbildung nicht völ ig in die Hand eingeschlagen werden. Sonstige Unfa lsfolgen fehlen; namentlich besteht keine Entzündung oder mpfindlichkeit des Fingers und der darauf befindlichen Narb 3 und keine Abnahme der Kraft. Bei diesem aus den Attesten der Sachverständigen sich ergebenden, durch die Augenscheineinnahme bestätigten Sachverhalt kann der Ansicht des Schiedsgerichts, dass eine messbare Be¬ einträchtigung der Erwerbsfähigkeit durch den Unfall nicht bedingt werde, nicht entgegengetreten werden. Es liegt nichts weiter vor als eine Beeinträchtigung der Streck- und Beugungs¬ fähigkeit des vordersten Gliedes des rechten Zeigefingers; derartige geringfügige Abweichungen von der Norm sind nicht geeignet, eine nennenswerthe Beeinträchtigung der Erwerbs- fahigkeit des Verletzten auf dem gesummten Gebiete des wirthschaftlichen Lebens herbeizuführen; sie stellen einen wirtschaftlichen Schaden, der einen Ausgleich durch Zu¬ billigung einer Rente erfordert, nicht dar (zu vergleichen Re¬ kursentscheidungen 1581 & bis c, Amtliche Nachrichten des R.-V.-A. 1897 Seite 266.) (Kompass, 1899, No. 17.) Digitized by LjOOQLe 82 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 4. Aus dem Ober-Terwaltungsgericht. Zum Nachweis der Geeundheitegefihrlichkeit einer Einrichtung ist nioht er¬ forderlich, dato die Einrichtung bereite in einem Falle gesundheiteeohfidlicb gewirkt hat Entsch. vom 21. Februar 1899. Durch Kassel führt das sog. „Druselwasser“, das unter städtischer, zum Theil unter staatlicher Verwaltung steht; an das „Druselwasser“ sind zahlreiche öffentliche und private Ge¬ bäude durch Ausflüsse und Abstiche angeschlossen. Durch einen Regirungskommissar und den Kreisphysikus wurde fest¬ gestellt, dass Zuflüsse von Miststätten und Abwässer aus Häusern in den Druselbach fiiessen. Mit Rücksicht auf diese Verunreinigungen ist das Leitungswasser chemisch und bak¬ teriologisch untersucht worden. Bei der chemischen Unter¬ suchung, welche von Professor D. ausgeführt wurde, fanden sich erhebliche Beimengungen von Chlor in Höhe von 14,2 bis 21,2 mg auf das Liter, ferner geringe Mengen von Schwefel¬ säure und mehr oder weniger geringe Spuren von Salpeter¬ säure. Bei der bakteriologischen Untersuchung in einer dortigen Apotheke fanden sich am zweiten Tage nach der Beschickung der Gelatineplatten in jeder Probe sehr zahlreiche Keime ent¬ wickelt und zwar 4788 bis 27788 auf ein Kubikoentimeter. Unter diesen Keimen fanden sich auch Fäulnissbakterien in grosser Menge. Die Sachverständigen sprachen sich dahin aus, dass wegen der grossen Zahl der entwickelten Keime und des Vorkommens von Fäulnissbakterien das Druselwasser unter Umständen die Gesundheit schädlich beeinflussen könne. Aus dem Ergebnis dieser Ermittelungen gewann der Re¬ gierungspräsident die Ueberzeugung, dass das Druselwasser zum Trinken unverwendbar und auch der Gebrauch zu sonsti¬ gen Haushaltungszwecken schädlich sei, seine Verwendung vielmehr beim Auftreten ansteckender Krankheiten mit grosser Gefahr für Kassel verbunden sei, und deshalb die Schliessung der Leitung aus sanitätspolizeilichen Gründen geboten er¬ scheine. Die Klage verschiedener Eigentümer erachtete das Oberverwaltungsgericht nur deshalb für begründet, weil die Ortspolizeibehörde und nicht der Regirungspräsident die frag¬ liche Verfügung erlassen musste; die Gesundheitspolizei wird im Allgemeinen zu den Aufgaben der Ortspolizei gezählt. Zur Vermeidung künftiger Streitigkeiten wurde aber vom Oberver¬ waltungsgericht u. A. Folgendes ausgeftihrt: Unzutreffend ist der Einwand, dass ein Schaden aus dem Gebrauch des Wassers nicht entstanden oder dass eine mit seiner Verwendung nach¬ weisbar im Zusammenhänge stehende Erkrankung nicht vor¬ gekommen sei. Da es zu den aus dem Wesen der Polizei folgenden Obliegenheiten gehört, den Gefahren, die Leben und Gesundheit der Menschen bedrohen, vorzubeugen und drohen¬ den Schaden zu verhüten, so kann der Nachweis eines bereits eingetretenen Schadens unmöglich eine unerlässliche that- sächliche Voraussetzung des polizeilichen Einschreitens sein, diese muss vielmehr als gegeben erachtet werden, wenn die vorliegenden Umstände die Befürchtung, dass ein solcher in Zukunft eintreten werde, rechtfertigen. Dass das „Drusel¬ wasser“ als gesundheitsschädlich anzusehen ist, kann nach dem Ergebnis der chemischen und bakteriologischen Unter¬ suchung nicht bezweifelt werden. Wenn auch direkt patho¬ gene Keime im Wasser nicht gefunden sind, so lässt doch die überaus grosse Anzahl der im Wasser entwickelten Keime, die bei allen Proben die Zahl von 4000 auf das Kubikoentimeter übersteigt, in Verbindung mit dem Vorkommen zahlreicher Fäulnissbakterien keinen Zweifel an der Gesundheitsgefährlich¬ keit des Wassers übrig. Der Schluss, dass das Leitungswasser zum Trinken, Kochen, zur Zubereitung von Nahrungs- oder Genussmitteln, ja selbst zu jedem sonstigen Gebrauche, der es in eine, wenn auch nur indirekte Verbindung oder Berührung mit zum Genuss für Menschen bestimmten Stoffen bringt, wie Spülen von Essgeschirr oder Bierfässern, nicht ohne Gefahr für die Gesundheit verwendet werden kann, erscheint daher völlig gerechtfertigt. M. Qewerbesteuerbefreiung. Entscheidung vom 5. Mai 1898. Der approbirte Arzt Dr. med. R., welcher Bich als «Arzt für Nervenkrankheiten“ bezeichnete und dessen Spezialfach nach seiner Angabe dasjenige eines Irrenarztes war, hatte am 1. Januar 1897 eine Privatirrenanstalt für etwa 15 Kranke auf dem Lande errichtet. Nach dem Prospekte war sie für Nerven- und Gemütskranke beiderlei Geschlechts mit Einschluss der an Morphinismus und Alkoholismus Leidenden bestimmt; der monatliche Pensionspreis betrug bei gleicher Ausstattung der Zimmer 150 bis 250 M. und erhöhte sich bei besonderen An¬ sprüchen; in dem Pensionspreise waren die Kosten für ärzt¬ liche Behandlung, Kost, Wohnung, Beleuchtung, Heizung, Be¬ dienung, Bäder u. s. w. enthalten; Nachtwachen, Wäsche¬ reinigung, Medikamente u. s. w. wurden besondere berechnet; der Unternehmer wohnte in der Anstalt, der er seine aus¬ schliessliche Thätigkeit widmete. Im Mai 1897 befanden sich acht Kranke in der Anstalt. Der Anstaltsinhaber wurde für 1897/98 in Klasse 1H zu 80M. Gewerbesteuer veranlagt; sein Einspruch und seine Berufung, in denen er ausführte, dass er sein Spezialfach als Irrenarzt ohne eine Anstalt überhaupt nicht ausüben könne und einer Anstalt auch zu dem Zwecke seiner Fortbildung bedürfe, wurde zurückgewiesen, letztere mit folgender Begründung: Nach den Preisen, welche von den in Ihrer Heilanstalt untergebrachten Kranken für Wohnung, Be¬ köstigung etc. gezahlt werden, und mit Rücksicht auf den Werth des Anlage- und Betriebskapitals muss angenommen werden, dass der Anstaltsbetrieb auf Erzielung eines Gewinnes gerichtet ist und bei demselben in überwiegendem Masse Ver¬ mögensinteressen verfolgt werden. Ein solcher Betrieb ist nach den gesetzlichen Vorschriften der Gewerbesteuer unter¬ worfen, und nach Entscheidung des Königlichen Oberverwal- tungsgerichts in solchem Falle auch die Ausübung des ärzt¬ lichen Berufes innerhalb des Anstaltsbetriebes als Thätigkeit im Gewerbebetriebe anzusehen. Auf die Beschwerde wurde Freistellung von der Gewerbesteuer angeordnet, indem die Angaben des Veranlagten für glaubhaft erachtet wurden und danach als festgestellt angenommen wurde, dass der Unter¬ nehmer mit der Unterbringung und Verpflegung der Patienten in seiner Anstalt die Erzielung eines besonderen Gewinnes nicht erstrebe, die Anstalt vielmehr lediglich als Mittel zur Ausübung seiner Thätigkeit als Irrenarzt unterhalte. M. Bücherbesprechungen und Anzeigen. Piskocek Prof. Dr. in Linz a. D. Ueber Ausladungen umschriebener Gebärmutterabschnitte als diag¬ nostisches Zeichen im Anfangsstadium der Schwan¬ gerschaft. Wien. Braumüller. Pr. 3,0 Mk. Durch vielfache Studien hat Verf. System in die schon früher bekannte Beobachtung gebracht, dass die Grössenzunahme des Uterus im Beginne der Schwangerschaft bis etwa zum Ende des III. Lunarmonats eine ungleichmässige ist und ent¬ weder eine seitliche Hälfte, besondere eine Tubenecke oder die vordere bezw. hintere Wand betrifft. Meist erst vom IV. Lunarmonat an nimmt der Uterus eine gleichmässige Ovoidform an. Verf. detaillirt dann die verschiedenen Ausladungen nach ihrer Form und auch dem Vorkommen bei virginalem und Digitized by Google 15. Februar 1900. Aerztliohe Sach verständigen-Zeitung. 83 retroflectirtem Uterus. Bei auffalleud tiefem Sitze der Aus¬ ladung soll man eine Placenta praevia erwarten können, bei Ausladung einer Tubenecke soll dieselbe sicher auszuschliessen nein. Bei der Ausladung einer Tubenecke soll das Ei nahe¬ zu sicher aus dem Eierstocke stammen, der der ausgeladenen Tubenecke entspricht. (Und wie soll es z. B. bei äusserer Ueberwanderung des Eies sein? Ref.) Ein sicheres Kennzeichen der beginnenden Schwanger¬ schaft soll sein eine Ausladung am Uterus, bei gleichzeitiger Hegar’scher Kompressibilität und Konsistenzverminderung an der ausgeladenen Stelle. Wenn diese Merkmale nicht vor¬ handen sind, soll man nahezu sicher eine Schwangerschaft ausschliessen können. Verf. macht aber auch darauf aufmerksam, dass durch eine Kontraktion des Uterus während der Untersuchung sowohl die Konsistenzdifferenz als auch die Ausladung verwischt werden kann. Darin liegt eine Einschränkung des diagnos¬ tischen Werkes dieser Befunde, die besonders auch von Richard Braun in ihrer Erklärung aber m. E. zu sehr angezweifelt werden! Ref. hat vor Kurzem einen Fall beobachtet, in welchem -die Ausladung nach Mitte des V. Lunarmonats so ausgesprochen war, dass man an eine extrauterine oder Gravidität im Horne eines Uterus bicornis denken musste, was erst durch den weiteren normalen Verlauf der Schwangerschaft widerlegt wurde. Schwarze. Handbuch der Prophylaxe, Abtb. I, Teil I, Schaffer Pr. Doc. Dr. Oscar, Prophylaxe bei Frauenkrankheiten. München b. Seitz & Schauer. Mk. 1,50. Das Kapitel ist ein etwas sprödes, da die Verhinderung üer Entstehung von Frauenkrankheiten stets in das Gesammt- gebiet der internen Pathologie und in den Zusammenhang zwischen dem Gesammtorganismus mit dem Sexualsystem hinüberführt. Die Prophylaxe der Sexualleiden ist also häufig -eine Prophylaxe aller möglichen nervösen Leiden, aller möglichen Stoffwechselanomalien, deren Besprechung wieder aus dem Rahmen des Spezialfaches herausfällt. Dadurch erhalten die einzelnen Kapitel etwas Zerrissenes, Skizzenhaftes! Schäffer theilt seinen Stoff in die Prophylaxe hinsichtlich a) der primären Ursache oder der Beanlagung zu dem betreffenden Leiden, h) der Veranlassung zum Zustandekommen des Leidens, -c) der Folgen des Leidens (inkl. der Kombination mit Schwangerschaft), fi) der Folgen typischer Fehler bei der Behandlung. Es ßpricht durch: 1. Die Bildungsanomalien und Entwickelungshemmungen, U. Gestalt und Lageveränderungen, 3) Entzündungen und Ernährungsstörungen, 4) Verletzungen, 5) Neubildungen. Schwarze. Ton Esmarch, Hygienisches Taschenbuch H. Aufl. Berlin, Julius Springer. 1898. Preis geb. 4.— M. Der Werth dieses Werkchens ist anerkannt. Es giebt durch Anführung von Normativbestimmungen, Erfahrungstat¬ sachen von Zahlen sowie von Bezugsquellen dem praktischen Hygieniker, d. h. dem Physiker, Verwaltungsbeamten, Bau¬ meister etc., Fingerzeige, wie er im Einzelfall verfahren soll. Dass es schwer ist, bei solchem Programm den Umfang der Materie richtig zu begrenzen ist wohl ersichtlich. Jeder hat gewiss seine Sonderwünsche. So z. B. möchte Ref. nach Benutzung der H. Auflage eine Ergänzung und Erweiterung der specieUen Bauhygien eempfehlen wie z. B. der Minimallufträume pro Kopf für Irrenanstalten, Gefängnisse, Waisenhäuser, Herbergen etc. L. Gebührenwesen. In einem Urtheile vom 5. Januar 1899 (Entsch. Bd. 45 S. 227) hat das (Reichsgericht den Rechtsgrundsatz anerkannt, dass auf Grund des Gesetzes vom 9. März 1872 die Medizinalbe¬ amten für medizinal- oder sanitätspolizeiliche Verrichtungen, welche von ihnen im Interesse der Ortspolizei verlangt werden, und welche sie an ihrem Wohnorte oder innerhalb einer Viertel¬ meile von demselben zu vollziehen haben, ausser den etwaigen Fuhrkosten eine Gebühr bis zu 15 Mark für den Tag von den Gemeinden dann beanspruchen können, wenn diese die Kosten der örtlichen Polizei Verwaltung gesetzlich zu tragen haben, sowie dass ihnen der gleiche Anspruch gegen den Staat zu¬ steht, wenn dieser in Gemässheit des Gesetzes vom 20. April 1892 in denjenigen Stadtgemeinden, in welchen die örtliche Polizeiverwaltung von einer Königlichen Behörde geführt wird, alle durch diese Verwaltung entstehenden Ausgaben über¬ nommen hat. — Wird ein Medizinalbeamter auf Anordnung des Gerichtes in einer Prozesssache oder einer Strafsache als Sachverständiger vernommen, so hat er auf Grund des § 2 der Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige vom 30. Juni 1878 bezw. 20. Mai 1898 gleichfalls Anspruch auf Vergütung und zwar gemäss § 13 unter Berücksichtigung der ihm günstigeren Sätze des Gesetzes vom 9. März 1872. Allein nach § 17 werden die ihm zu gewährenden Beträge durch das Gericht oder den Richter, vor welchem die Ver¬ handlung stattfindet, festgesetzt, und ist gegen .diese Fest¬ setzung nur die Beschwerde zugelassen. Werden dem Medi¬ zinalbeamten auf diesem Wege die Gebühren zu niedrig be¬ messen, so giebt es dagegen keine Abhilfe, weil nach dem Urtheile vom 22. Dezember 1898 (Entsch. Bd. 48 S. 47) das Beschreiten des Rechtsweges ausgeschlossen ist, welcher zu Folge des Gesetzes vom 24. Mai 1861 ihm bei Verfolgung seiner Ansprüche gegen den Staat sonst zusteht. Dr. B. Hilse. Tagesgeschichte. Entwurf von Vorschriften über den Verkehr mit Geheimmitteln. Das „Aerztliche Vereinsblatt“ theilt den Wortlaut des gegenwärtig dem Bundesrath vorliegenden Entwurfs mit. Er lautet: § 1. Auf den Verkehr mit Geheimmitteln, die zur Ver¬ hütung oder Heilung von Menschen- und Thierkrankheiten bestimmt sind, finden die Vorschriften der nachstehenden §§ 2 bis 6 Anwendung. § 2. Welche Stoffe, Zubereitungen und Gegenstände als Geheimmittel im Sinne dieser Vorschriften zu gelten haben, wird durch die Landescentralbehörde bestimmt. Als Geheimmittel werden in der Regel nicht erklärt Stoffe und Zubereitungen, welche 1. in das deutsche Arzneibuoh aufgenommen worden sind und unter der dort angewendeten Bezeichnung angeboten werden; 2. in der medizinischen Wissenschaft und Praxis als Heil¬ mittel allgemeine Anerkennung gefunden haben; 3. lediglich als Desinfektionsmittel, kosmetisch Meittel, Digitized by Google 84 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. Na 4. Nahrungs- und Genussmittel oder Kräftigungsmittel angeboten werden. § 8. Die öffentliche Ankündigung von Geheimmitteln ist verboten. § 4. Die Gefä8se und die äusseren Umhüllungen, in denen Geheimmittel abgegeben werden, müssen mit einer Inschrift versehen sein, welche den Namen des Geheimmittels und den Namen oder die Firma des Verfertigers deutlich ersehen lässt. Ausserdem muss die Inschrift auf den Gefässen oder den äusseren Umhüllungen den Namen oder die Firma des Ge¬ schäfts, in welchem das Geheimmittel verabfolgt wird, und die Höhe des Abgabepreises enthalten. Es ist verboten, auf den Gefässen oder äusseren Umhül¬ lungen, in denen Geheimmittel abgegeben werden, Anpreisun¬ gen, insbesondere Empfehlungen, Bestätigungen, gutachtliche Aeusserungen oder Danksagungen, in denen eine Heilwirkung oder Schutzwirkung dem Geheimmittel zugeschrieben wird, anzubringen oder solche Anpreisungen, sei es bei der Abgabe von Geheimmittel, sei es auf sonstige Weise zu verabfolgen. § 5. Auf die Verabfolgung von Geheimmitteln in den Apotheken finden die §§ 1 bis 8 der vom Bundesrath am 18. Mai 1896 (§293 der Protokolle) beschlossenen Vorschriften, betreffend die Abgabe stark wirkender Arzneimittel etc., An¬ wendung. Der Apothekeninhaber ist verpflichtet, sich Gewissheit da¬ rüber zu verschaffen, dass die Verabfolgung der von ihm vor- räthig gehaltenen Geheimmittel im Handverkaufe den in Abs. 1 bezeichneten Vorschriften nicht zuwiderläuft. Geheimmittel, über deren Zusammensetzung der Apotheken¬ inhaber sich nicht so weit vergewissern kann, dass er die Zu¬ lässigkeit der Abgabe im Handverkauf zu beurtheilen vermag, dürfen nur auf schriftliche, mit Datum und Unterschrift ver¬ sehene Anweisung eines Arztes, Zahnarztes oder Thierarztes, in letzterem Falle jedoch nur beim Gebrauche für Thiere ver¬ abfolgt werden. Die wiederholte Abgabe ist nur auf jedesmal erneute ärztliche, zahnärztliche oder thierärztliche Anweisung gestattet. Bei Geheimmitteln, welche nur auf ärztliche Anweisung verabfolgt werden dürfen, muss auch auf den Abgabegefässen oder den äusseren Umhüllungen die Inschrift „Nur auf ärzt¬ liche Anweisung abzugeben tf angebracht sein. § 6. Geheimmittel, durch deren Verwendung die Gesund¬ heit gefährdet wird, sowie solche Geheimmittel, durch deren Vertrieb das Publikum in schwindelhafter Weise ausgebeutet wird, dürfen nicht abgegeben oder feilgehalten werden. Welche Geheimmittel diesem Verbote unterliegen, bestimmt die Landes¬ centralbehörde. So soll also endlich die Geheimmittelfrage für ganz Deutschland einheitlich geregelt werden! Gewiss ein grosser Fortschritt gegenüber dem Gewirr der früher erlassenen, für jeden Regierungsbezirk verschiedenen Verordnungen. Man erkennt auf den ersten Blick in dem obigen Entwurf manches Neue und Erfreuliche. Die alte, ewig ungelöste Streitfrage, wie der Begriff Geheimmittel zu bestimmen sei, hat man nicht von Neuem zu lösen versucht, sondern in ganz zweckmässiger Weise umgangen. Prinzipiell ist nur das Eine festgestellt, dass nicht blos Mittel zur Heilung, sondern auch solche zur Verhütung von Krankheiten unter den Begriff Geheimmittel fallen können — früher ist in der Gerichtspraxis gelegentlich das Gegentheil angenommen worden. Sehr wünschenswerth wäre es, wenn ausdrücklich an dieser Stelle auch die Mittel zur Linderung von Leiden Erwähnung fänden, da sonst für findige Giftmischer immer noch ein Hinterthürchen übrig bleibt. Im § 2 ist bemerkenswert!!, dass das Gesetz Bich nicht bloss auf Stoffe und Zubereitungen, sondern auch auf „Gegen* stände“ erstrecken soll. Wem fiele nicht das famose Volta¬ kreuz ein! Bedenklich erscheint der zweite Untersatz diesen Paragraphen, insofern als schwer festgestellt werden kann, oh irgend ein Mittel in der medizinischen Wissenschaft und Praxis allgemeine Anerkennung gefunden hat. Es werden besonders aus dem Auslande massenhafte Spezia¬ litäten eingeführt, die in ihrer Heimath entschieden unter den Aerzten eine Anzahl von Anhängern haben, und auch bei uns zu Lande werden täglich neue Erzeugnisse der chemi¬ schen Industrie ärztlicherseits empfohlen. Wie wird sich die Centralbehörde gegenüber diesen Mitteln stellen? Was unter „öffentlicher Ankündigung“ zu verstehen ist, könnte vielleicht schärfer präzisirt werden. Sehr richtig wäre es, ein für allemal festzustellen, ob das Anbringen von Plakaten in Schaufenstern, eines der gebräuchlichsten An¬ preisungsmittel, hierher gehört. § 5 Abs. 2 ist geeignet, bei strenger Durchführung die Abgabe von Geheimmitteln im Handverkauf fast ganz zu ver¬ hindern. Alle die modernen Spezialitäten bekommt der Händler verschlossen in Originalpackung, so dass es ihm un¬ möglich ist — abgesehen selbst von der oft unüberwindlichen Schwierigkeit derartiger Untersuchungen —, zu prüfen, was für Stoffe in dem Mittel enthalten sind. Weder angeboten noch feilgehalten sollen nur diejenigen Geheimmittel werden, die die Gesundheit gefährden oder deren Vertrieb das Publikum in schwindelhafter Weise ausbeutet. Ganz leicht wird die Handhabung dieses Paragraphen nicht sein. Bis zu einem gewissen Grade gefährdet schliesslich jedes stark wirkende Mittel die Gesundheit, so dass also die Centralbehörde in der Lage wäre, alle derartigen Stoffe oder Zubereitungen, die auf der Geheimmittel-Liste stehen, vom Verkauf auszuschliessen. In einem Punkte ist der Entwurf milder als manche früheren Verordnungen. Während nämlich früher verlangt wurde, dass von allen Spezialitäten die Bestandteile mitge- theilt würden, ist von dieser Bedingung jetzt ganz Abstand genommen worden. Wir halten das für kein grosses Unglücke denn das Publikum kann den Werth oder Unwerth eines Heilmittels ebenso wenig beurtheilen, wenn es unter den Be¬ standteilen fremdländische Pflanzen oder komplizirte che¬ mische Stoffe verzeichnet findet, als wenn es einen beliebigen Fantasie-Namen liest. Vorausgesetzt, dass der Entwurf rechtskräftig wird, so hängt seine Wirksamkeit natürlich zum grossen Theil von der Höhe der festgesetzten Strafen ab. Wir wollen hoffen, dass sie besonders für Uebertreter des § 6 nicht zu milde aus- fallen! Zum anderen Theile aber wird der Centralbehörde die ernste und schwere Verantwortlichkeit für Nutzen oder Un¬ fruchtbarkeit der Vorschriften zufallen. Bei dem ungeheuren Umfang des zu überwachenden Gebietes wird sich bestimmt über kurz oder lang eine besondere Ausgestaltung jener Be¬ hörde mit Rücksicht auf die Ueberwachung des Arzneimittel- handels — in dem es ja auch sonst allerlei offene Fragen giebt — als nothwendig erweisen. Sonst ist zu fürchten, das& die Vorschriften ein Schlag ins Wasser sein werden. Ein Museum für Krankenpflege. Die vorjährige Ausstellung für Krankenpflege hat ein der¬ artig günstiges Ergebniss gehabt, dass ein Ueberschuss von 14000 Mk. erzielt worden ist. Dieses Kapital soll nach einem Handschreiben Ihrer Majestät der Kaiserin an das Komitee den Grundstock für ein zu errichtendes Krankenpflege-Museum bilden. Verantwortlich für den Inhalt: Dr. P. Leppmann in Berlin. — Verlag und Eigenthum von Richard Bcboetz in Berlin. — Druck von Albert Damcke, Berlin. Digitized by Google Di( pAantMehe Beehre ntlndlgra-Zeitung“ «nebelet monatlich twdaai. Dieselbe tat so btiltbea durch den Buchhandel, 41« Port (Ha, 86) oder durch dl« Verlagibaehhendlung tob Blebird Scboots, Berlin NW., Laleonetr. 86, «um Proieo ▼on Hk. 6 — pro Vierteljahr. Aerztliche Allo Honuekrlpte, Mlttheilungen und redoktionollen Aufträgen beliebe men «u eenden an Dr. P. Leppmenn, Berlin W., KurfBretenetr. No. 8. Korrekturen, BeMnelone-Sxempler«, 8onderabdrfleke en die Yerlefebuebbendlung, Ineerete und Betteten en die Annoncen-Expeditlon ton Budolt Moeeo Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und Unfall-Heilkunde. Herausgegeben von Dr. L. Becker Dr. A. Leppmann Dr. F. Leppmann Sanitltsrath, KAnlglleber Phjelkue, Vertreuonaerst 8enittteretb, KSniglioher Phjeikue, Arat der Beobecbtungeenetelt fArgeis ee. prekt Aral. ▼on Berufetenoeeenaehe/ten und Schlodegeriohten. krenke Gefangene ln Moebit-Berlin, 8pesielent fttr Nerren- u. Geisteskrank*. ** * Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstrasse 36. VI. Jahrgang 1900. M 5. Ansgegeben am 1. März. Inhalt Originalien: Gompertz, Isolirte Lähmung eines M. triceps bracchii nach Trauma. S. 85. Hilse, Einfluss erlassener Polizeiverordnungen auf die Genehmi¬ gung der Anträge zum Errichten von Privat-Kranken-, Entbin- dungs-, Irrenanstalten. S. 86. Partisch, Neuerungen im Entmündigungsverfahren. S. 88. Referate: Allgemein«*. Wickel, Siechthum. S. 92. Schneider, Ein Todesfall bei Aethernarkose. S. 92. Neurologie und Psychiatrie. Wolf, Traumatische Lähmung des Nervus supra scapularis. S. 92. Wiersma, Fälle von hemiatrophia linguae. S. 93. Strauss, Alimentäre Glycosurie bei traumatischen Neurosen. S. 93. Lüth, Die Spätepilepsie. S. 94. Kreuser, Selbstanklagen von Geisteskranken. S. 94. innere Medizin. Burghart, Diagnose der Lungenspitzenkatarrhe. S. 94. Hadenfcidt. Totale Pylorusstenose nach Laugenätzung. S. 95. Gr atz, Tödtliche Darmblutung nach einem Unfall. S. 95. Chirurgie. Guttmann, Fälle von Kniegelenk Verstauchung. S. 95. Lissauer, Willkürliche Knieluxation nach Trauma. S. 96. Her hold, Schuss Verletzung des Rückenmarks im Halstheil. S. 96. Passow, Fraktur des äusseren Gehörganges durch Sturz vom Zweirad. S. 96. Gynaecologisches. Bayer, Zerreissungen des Nabelstranges. S. 96. Landwehr, Verletzung des Scheidengewölbes. S. 97. zum Busch, Mertens, Einwanderung vergessener Gazekompresso in den Darm. S. 97. Augen. Alexander, Ein Beitrag zur Ophthalmia electrica. S. 97. Mendel, Ueber Durchtrennung des Sehnerven. S. 97. Aus Vereinen und Versammlungen. Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz. Die Frage der Volks-Nervonheilstätten. S. 98. Gerichtliche Entscheidungen: Aus dem Reichs-Versioherungsamt Sehonungsbedürftigkelt bedingt ebenfalls Erwerbsunfähigkeit im Sinne dos Invalidengesetzes. — Kniegelenksverletzung. — Die volle oder die halbe Rente oder 75 Prozent. — Keine Nerven¬ erschütterung. — Lungenschlag - kein Betriebsunfall! S. 99. BOcherbeeprechungen: Golebiewski, Atlas und Grundriss der Un¬ fallheilkunde sowie der Nachkrankhelten der Unfallverletzungen. — Körner. Die Hygiene der Stimme. — Henning, Lerne gesund- beitsgemäss sprechen. — Liebmann, Vorlesungen über Sprach¬ störungen. — Danzigor, Die Missbildungen des Gaumens und ihr Zusammenhang mit Nase, Auge und Ohr. S. 102. Tagesgeschlohte: Zum neuen Invalidenversicherungsgesetz. — Hygie¬ nische Vorschriften für den Betrieb der Zinkhütten. — Sammel¬ forschung über den Krebs. — Der neunundzwanzigste Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. S. 103. Isolirte Lähmung eines M. triceps bracchii nach Trauma. Von Dr. Karl Gumpertz-Berlin, Nerrenarst. Der im Folgenden beschriebene Fall 1 ) hat einer Begut¬ achtung nicht unterlegen, dürfte aber für den ärztlichen Sach¬ verständigen von Interesse sein, da auch ein Betriebsunfall leicht zu ähnlichen Folgen führen kann. Der 20 Jahre alte Arbeiter O. H. giebt an, er Bei voriges Jahr (1898) vom Pferde gefallen, sodass er auf den linken Arm zu liegen kam, nachher habe er Schwellung und Schwerbeweg¬ lichkeit des Armes bemekt, die er mit Einreibungen behandelte. Ein Arzt sei nicht gefragt worden. Am 15. Juli 1899 stellte ich bei dem kleinen, mittelkräftigen Menschen Folgendes fest: Der linke Arm erscheint erheblich dünner. Der linke Vorderarm steht in mittlerer Beugeßtellung. Streckung des¬ selben gegen den Oberarm ist aktiv fast unmöglich. Erhebt man den linken Arm bis zur Vertikalen und lässt dann die Hand los, bo federt der Vorderarm sofort in die Beugestellung zurück, während die Erhebung des Oberarmes auch aktiv geleistet wird (vergl. die umstehende Abbildung). *) Derselbe entstammt der Praxis des Herrn Sanitätsrath Dr. Leppmann, welchem ich für die Ueberlassung zu Dank verpflichtet hin. Stehend kann Pat. den Arm nie fallen lassen; wenn er ihn au8strecken will, muss er die Schulter zurückziehen und ein wenig heben; dann gelingt die halbe Streckung. Sie gelingt nicht, wenn der Oberarm auf dem Tische aufliegt. Die volle Streckung des Vorderarmes ist selbst passiv nicht ganz möglich. Der grösste Umfang des Oberarmes beträgt r. 27 cm, 1. 24 cm, des Vorderarmes r. 25,7, 1. 24 cm. Die linke Hand ist gleichfalls kleiner als die rechte; der Händedruck links weit schwächer. Die Untersuchung mit dem faradischen Strome ergiebt links fehlende Erregbarkeit des Muskel¬ bauohes des Triceps, geringe Erregbarkeit des Caput longum. Der Aneonaeus IV, welcher rechts den Arm lehr lebhaft streckt, ist links nicht zu erregen. Bei galvanischer Untersuchung erfolgt links ganz geringe Strecklokomotion von der Tricepssehne bezw. von den seit¬ lichen Mu8kelbäuchen, diese Streckbewegung ist nur bei A S Z deutlich darstellbar und erfolgt exquisit träge. Bei Reizung des N. radialis an der Umschlagsstelle er¬ folgt keine sichtbare Zusammenziehung des M. trioeps. Die Sensibilität erscheint überall ungestört. Für die Funktion des Armes ist also hier der Trioeps ganz ausgefallen; der Vorderarm fällt lediglich der Schwere Digitized by LjOOQie 80 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 5. nach und geräth in stärkste Beugung, sobald der Oberarm er¬ hoben wird. Der Anconaeus longus scheint besser erhalten zu sein, er hat noch geringe faradische Erregbarkeit aufzuweisen. Sollte er aber selbst entsprechend funktionstüchtiger sein, so würde durch ihn doch eine erhebliche Streckung nicht herbeigeführt werden. Das Caput longum dient nach den Versuchen von Duchenne 2 ) wesentlich als Feststeller des Oberarm-Schulter¬ gelenks bei der durch den M. latissimus und pectoralis major bewirkten Senkung des Oberarmes. Die in unserem Falle an der gesunden und kranken Seite erhobenen Befunde be¬ stätigen durchaus die Ansicht Duchennes, dass die seitlichen Bäuche des Triceps, demnächst der Anconaeus quartus, für die Streckung des Vorderarmes in Betracht kommen. Die Lähmung des Triceps ist eine degenerative. Sie muss — ebenso wie die noch konstatirbare allgemeine Muskel¬ schwäche des Armes, die Kleinheit der Hand, auf das im vorigen Jahre erlittene Trauma zurückgeführt werden. Da der linke Arm beim Fallen zwischen Boden und Körper ge¬ presst wurde, so ist es vermuthlich zu einer Quetschung des M. triceps und seiner Nervenäste, vielleicht auch zu einem Oberarmbruche gekommen. Nach einem solchen wurde von Seeligmüller bereits eine isolirte Lähmung des M. triceps beobachtet. Auffallend wäre es allerdings, dass ein solcher Bruch ohne rationelle Behandlung so geheilt ist, dass man die Bruchstelle nicht mehr findet. Da Pat. nie ärztlich untersucht wurde, so ist auch nichts darüber bekannt, ob etwa andere Lähmungen im Bereiche des Plexus bracchialis bestanden haben, welche zu der — weniger erheblichen — Unterernährung der Muskulatur des Vorderarmes und der Hand geführt haben. Bei dem Mangel distinkter Muskelatrophie, nachweisbarer Sensibilitätsstörungen und elek- 9 ) Duchenne, Physiologie der Bewegungen. Uebersetzt von Wernicke 1885, S. 98, 99. trischer Veränderungen — abgesehen von dem Triceps- befunde — ist es nicht wahrscheinlich, dass eine ausgebreitete Neuritis vorhanden war. Dass der linke Arm von Hause aus erheblich kleiner und schwächer gewesen sei, ist bei der guten Entwickelung des linken Beines unwahrscheinlich. Was ausser der Tricepslähmung besteht, ist also wohl als Inaktivitätsatrophie aufzufassen. Pat. giebt übrigens an, als Kind einen Schrotschuss durch die linke Maus erhalten su haben, hat aber vor dem Unfälle von einer Kraftlosigkeit der linken Hand nichts gemerkt. Gegen eine reine muskuläre Lähmung und Atrophie spricht die nachgewiesene Entartungsreaktion: auch die Funktions¬ losigkeit und faradische Unerregbarkeit des räumlich von der Druckstelle weit entfernten Anconaeus quartus müsste &uf- fallen. Durch Ueberanstrengung des Triceps sah Oppenheim 3 ) einmal eine Lähmung dieses Muskels, Gowers 4 ) dreimal eine Lähmung des N. radialis entstehen. In unserem Falle war wahrscheinlich der Arm stark ge¬ streckt, als Pat. mit dem Körper auf ihn fiel; der kontrahirte und von dem Körper gedrückte Muskel bewirkte also eine heftige Kompression der einstrahlenden Nervenäste. Ein erhebliches Arbeitshindemiss ist durch diese Lähmung nicht herbeigeführt worden. Einfluss erlassener Polizeiverordnungen auf die Ge¬ nehmigung der Anträge zum Errichten von Privat- Kranken-, Entbindungs-, Irrenanstalten. Von Kreisgerichtsrath Dr. B. Hilse. Auf Grund des § 30 der Gew.-Ord. bedürfen die Unternehmer von privaten Kranken-, Entbindungs- und Irrenanstalten einer s ) Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten 1894, S. 293. 4 ) Bernhardt, Die Erkrankungen der peripherischen Nerven I, Wien 1895, S. 357. Digitized by {jOoq le 1. März 1900. Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. 87 Konzession der höheren Verwaltungsbehörde, welche aus theils in der Person des Bewerbers, theils in der Lage und Beschaffen¬ heit der zu benutzenden Baulichkeiten zu findenden Gründen versagt werden kann. Was die Baulichkeiten anlangt, so ist sie nur zu versagen, wenn nach den von dem Unternehmer einzureichenden Beschreibungen und Plänen die baulichen und die sonstigen technischen Einrichtungen der Anstalt den ge¬ sundheitspolizeilichen Anforderungen nicht entsprechen. Zufolge § 115 des Zust.-G. vom 1. August 1883 beschliesst inPreussen über derartige Anträge der Bezirksausschuss und findet gegen den die Konzession versagenden Beschluss innerhalb zwei Wochen der Antrag auf mündliche Verhandlung im Verwal¬ tungsstreitverfahren mit dem Rechtsmittel der Berufung an das Oberverwaltungsgericht statt. Für die im Verwaltungs¬ streitverfahren zu treffenden Entscheidungen sind die von den Medizinalaufsichtsbehörden innerhalb ihrer gesetzlichen Zu¬ ständigkeit getroffenen allgemeinen Anordnungen über die ge¬ sundheitspolizeilichen Anforderungen, welche an die baulichen und sonstigen technischen Einrichtungen solcher Anlagen zu stellen sind, massgebend. In der wohlmeinenden Absicht, für das gesammte Staats¬ gebiet zu einheitlichen Grundsätzen zu gelangen, wurde unter dem 19. August 1895 (Min.-Bl. d. i. V. S. 261) mittels Rund¬ erlasses der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medi¬ zinalangelegenheiten, des Innern, für Handel und Gewerbe und für öffentliche Arbeiten den obersten Verwaltungsbehörden der Entwurf zu einer Polizeiverordnung betreffend die Anlage, den Bau und die Einrichtung der öffentlichen und Privatkranken¬ anstalten bekanntgegeben, unter dessen Benutzung zunächst die Sigmaringer Polizeiverordnung vom 13. November 1895 er¬ lassen, welcher bald solche für die übrigen Landestheile unter theilweiser Abschwächung derselben gefolgt sind. Für den Umfang der Provinz Brandenburg und den Stadtkreis Berlin ist solche unter dem 8. Juli 1898 verkündet, deren § 28 bereits unter dem 16. Dezember 1898 dahin abgeändert, dass iu be¬ sonderen Fällen Ausnahmen von ihren strengbindenden Vor¬ schriften theils der Regierungspräsident, theils der Polizei¬ präsident in Berlin, theils der Minister der geistlichen, Unter¬ richts- und Medizinalangelegenheiten im Einverständniss mit dem Minister des Innern zulassen darf. Die vorgesehenen Bau- und Benutzungsbeschränkungen sind theils baupolizeilicher, theils gesundheitspolizeilicher Natur. Manche von ihnen sind so lästig, dass sie das Errichten der¬ artiger Heilanstalten in bereits vorhandenen Gebäuden oder in geschlossenen Strassen fast unmöglich machen. Auf die vor ihrem Erscheinen bereits errichteten Anstalten erstrecken zu¬ folge § 26 sich deren Vorschriften nicht. Für diese können mithin die bisherigen Baulichkeiten unbesorgt weiterbenutzt werden, so lange nicht ein umfangreicherer Reparaturbau oder Umbau derselben nothwendig wird. Es werden grosse, mitt¬ lere und kleine Anstalten auseinandergehalten und dement¬ sprechend die Erfordernisse abweichend geregelt. Flure und Gänge sollen in der Regel mindestens 1,80 m breit einseitig angelegt werden. Mittelgänge sind nur zulässig, wenn sie aus¬ reichendes Licht von aussen erhalten, mindestens 2,50 m breit und gut lüftbar sind. Doch genügt bei Anstalten mit nicht mehr als 30 Betten hier eine Breite von 2 m. Die Treppen sollen mindestens 1,30 m breit sein, die Stufen mindestens 28 cm Auftrittsbreite und höchstens 18 cm Steigung haben, auch in grösseren und mittleren Anstalten feuersicher herge¬ stellt werden, endlich Licht und Luft von aussen her erhalten. In Krankenzimmern soll die Fensterfiäche mindestens V 7 ^ er Bodenfläche betragen und die Höhe der Zimmer nicht unter 3,5 m Zurückbleiben. Bei Belegen mit mehreren Betten ist für jedes Bett ein Luftraum von 30 cbm bei Erwachsenen, 25 cbm bei Kindern angeordnet, sowie in Einzelzimmern ein solcher von 40 cbm. Auch müssen in gemeinsamen Kranken¬ zimmern von 4 m Höhe oder mehr mindestens 7,5 qm, in Einzelzimmern mindestens 10 qm Bodenfläche auf jede Lager¬ stelle entfallen. Es dürfen nicht mehr als 30 Betten in einem Zimmer aufgestellt werden. Die Kranken sind nach Geschlechtern abzutrennen, abgesehen von Kindern bis zu 10 Jahren. Für sämmtliche Anstalten muss in jeder Abthei¬ lung oder jedem Geschoss mindestens ein geeigneter Tage¬ raum für zeitweise nicht bettlägerige, in gemeinsamer Pflege befindliche Kranke eingerichtet werden, bei grösseren und mittleren wird auch noch ein Garten in das Auge gefasst. Die Zweckmässigkeit dieser Vorschriften lässt sich nicht verkennen und ebensowenig sich dagegen Etwas einwenden, dass diese allerorts möglichst gleichmässig Anwendung finden sollen. Dass hier und da veränderte Umstände ein Abgehen von den strengen Bestimmungen rechtfertigen können, liegt auf der Hand, und deshalb ist auch voll zu billigen, dass da¬ von dispensirt werden darf. Allein gerade die Regelung der Behandlung der Dispensationsgesuche ist ausschlaggebend da¬ für geworden, dass das Oberverwaltungsgericht in einem Ur- theile vom 27. Mai 1899 (Entsch. Bd. 35 S. 342) den diesbe¬ züglichen Polizeiverordnungen jede rechtliche Wirkung aber¬ kennt. Davon ausgehend, dass derarte Polizeiverordnungen für die nach § 30 der Gew.-Ord. konzessionspflichtigen An¬ stalten den Zweck verfolgen, den § 115 Abs. 3 des Zust.-Ges. vom 1. August 1883 zur Ausführung zu bringen, d. h. die den Medizinalaufsichtsbehörden anvertrauten allgemeinen Anord¬ nungen über die gesundheitspolizeilichen Anforderungen, welche an die baulichen und sonstigen technischen Einrichtungen solcher Anstalten zu stellen sind, zu treffen, mithin bestimmt sind, die konzessionirende Behörde zu binden, gelangt es zu der Schlussfolgerung, dass sie nicht in der Form einer Poli¬ zeiverordnung ergehen können. Denn wie auch schon das Urtheil vom 19. Januar 1898 (Entsch. Bd. 33 S. 341) darge¬ legt hat, ist eine Polizeiverordnung ausgeschlossen, wenn ge¬ genüber den Unterthanen weder ein Gebot, noch ein Verbot, noch eine Strafandrohung zum Ausdrucke gebracht, vielmehr bloss eine andere Behörde bindende Normen getroffen werden sollen; und deshalb bestehen die Polizeiverordnungen vom 8. Juli und 16. Dezember 1898, sowie die den gleichen Ge¬ genstand behandelnden sonstwo erlassenen nicht zu Recht. Dies würde jedoch nicht hindern, dass sie als allgemeine An¬ ordnungen des hier beregten § 115 Abs. 3 Wirksamkeit haben, weil der Umstand, dass bei ihrem Zustandekommen der Pro¬ vinzialrath mitgewirkt hat, dem nicht entgegensteht, sie als Anordnung des Oberpräsidenten gelten zu lassen. Allein die Thatsache, dass in ihnen zahlreiche Ausnahmen von den vor¬ her gestellten Anforderungen zugelassen und die Ertheilung des Dispenses theils dem Regierungspräsidenten, theils dem Polizeipräsidenten, theils dem Minister übertragen sind, steht dem entgegen. Denn es wird durch diese Uebertragung der von dem Bezirksausschuss im Einzelfalle zu treffenden Ent¬ scheidung auf andere Behörden die den Medizinalaufsichtsbe¬ hörden in dem § 115 Abs. 3 des Zust.-Ges. verliehene Befug- niss überschritten. Es können nämlich die dort beregten all¬ gemeinen Anordnungen nur entweder ausnahmslose Vorschrif¬ ten treffen oder müssen, falls sie Ausnahmen gestatten, deren Anwendung der konzessionirenden Behörde überlassen. Und weil hiervon abgewichen ist, auch die zugelassenen Ausnahmen so zahlreiche sind, dass die Mehrzahl der Bestimmungen da¬ durch getroffen werden, verlieren die Anordnungen die recht¬ liche Wirkung. In Folge dessen sind sie nicht geeignet, als Grund zum Versagen der nachgesuchten Erlaubnis aus § 30 Gew.-Ord. herangezogen zu werden. Hat der Bezirksaus- Digitized by Google 88 A er zt liehe Sach verständigen-Zeitung. No. 5. schuss demungeachtet das Errichten einer privaten Kranken-, Irren-, Entbindungsanstalt versagt, weil die baulichen und die sonstigen technischen Einrichtungen der Anstalt den gesund¬ heitspolizeilichen Anforderungen nicht entsprechen, welche die diesbezügliche Polizeiverordnung aufstellt, so wird der Be¬ werber durch Antrag auf mündliche Verhandlung vor dem Bezirksausschüsse und eventuelle Berufung an das Oberver¬ waltungsgericht ein Ausserkraftsetzen dieser Entscheidung herbeiführen. Neuerungen im Entmündigungsverfahren. Von A. Partisoh- Berlin, Amtsgerichtsrath. Die gewaltige Schöpfung eines für ganz Deutschland gel¬ tenden materiellen Rechts im Bürgerlichen Gesetzbuch hat auch eine Umarbeitung der deutschen Civilprozessorduung zur nothwendigen Folge gehabt, um ihre Bestimmungen mit denen des B. G.-B. in Einklang zu bringen und sie mit Rücksicht auf Neueinführungen im letzteren entsprechend zu ergänzen. Solcher Ergänzungen bedurfte insbesondere auch der die §§ 593—627 der C.-P.-O. umfassende Abschnitt über das Ver¬ fahren in Entmündigungssachen in Folge der durch das B. G.-B. neu eingeführten Entmündigungen wegen Geistes¬ schwäche und wegen Trunksucht. Es konnte nicht fehlen, dass bei Berathung des unterm 9. Dezember 1897 dem Reichstage zur verfassungsmässigen Besohlu8snabme vorgelegtenEntwurfs eines * Gesetzes, betreffend Aenderungen der Civiiprozessordnung“, nebst Einführungsgesetz wieder prinzipielle Fragen, wie sie den Reichstag bereits bei Berathung der Civiiprozessordnung von 1877 beschäftigt hatten, aufgeworfen und Anträge eingebracht oder Vorschläge gemacht wurden, welche auf grundsätzliche Abänderung des Entmün¬ digungsverfahrens abzielten. Mit Erfolg wiesen indess die Vertreter der verbündeten Regierungen darauf hin, dass die Frist bis zum 1. Januar 1900, an welchem Tage mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch auch die Aenderungen der Civii¬ prozessordnung in Kraft zu treten hatten, für grundsätzliche Umgestaltungen des Verfahrens zu kurz sei; dass auch das Entmündigungsverfahren in seiner bestehenden Gestaltung im Allgemeinen sich bewährt habe und die gegen dasselbe erhobenen Klagen zum Theil unbegründet oder übertrieben seien, dass abzuwarten sei, ob nicht die im Entwurf gemachten Besse- rungsvorschläge sich als ausreichend erweisen würden, die mehrfach laut gewordene Beunruhigung über die Art und Weise der Durchführung der Entmündigungsprozesse zu zer¬ streuen, und dass deshalb die Frage einer umfassenden Re¬ vision des Verfahrens der Prüfung in einer späteren, dazu geeigneteren Zeit Vorbehalten bleiben müsse. So ist denn von grundsätzlichen Aenderungen des bisherigen Verfahrens, insbesondere Ueberweisung der Entmündigungsprozesse an das Landgericht zur Verhandlung im Parteienstreit, desgleichen auch davon, dem Amtsrichter Schöffen zur Seite zu stellen, Abstand genommen und das Verfahren im Wesentlichen das alte geblieben: ein vom Einzel¬ richter (Amtsrichter) selbständig von Amtswegeu unter Aus¬ schluss der Oeffentlichkeit — letzteres wenigstens im Ver¬ fahren der Entmündigung wegen Geisteskrankheit und wegen Geistesschwäche — durchgeführtes Verfahren. Doch ist in der, mit dem 1. Januar d. J. in Kraft getretenen Neugestaltung desselben in den §§ 645—687 des vom Reichskanzler auf Grund gesetzlicher Ermächtigung unter dem 20. Mai 1898 be¬ kannt gemachten neuen Textes der Civiiprozessordnung dem in der Presse mehrfach laut gewordenen und auch in einer Resolution des Reichstags bei Berathung des Bürgerlichen Ge¬ setzbuchs zum Ausdruck gebrachten Wunsche auf Herbei¬ führung eines grösseren Rechtsschutzes für den zu Entmündigenden und seine Angehörigen, auf eine stärkere Sicherung gegen Fehlbesohlüsse des Gerichts und auf Abstellung einzelner bei der Anwendung hervorge¬ tretener Missstände im Verfahren in mehrfacher Weise Rechnung getragen. — Bevor wir diese Neuerungen, soweit sie für den Zweck des vorliegenden Beitrages von Interesse sind, darlegen und erörtern, erscheint es angebracht, zum besseren Verständnis« derselben das Entmündigungsverfahren, wie es bisher sich ge¬ staltet hat und von den demnächst zu besprechenden Neue¬ rungen abgesehen auch ferner sich gestalten wird, in seinem Verlauf uns zu vergegenwärtigen. Es empfiehlt sich dabei, dem Vorbild der Civiiprozessordnung zu folgen und zunächst das Verfahren der Entmündigung wegen Geisteskrankheit — dem im neuen Recht auch das Verfahren der Entmündigung wegen Geistesschwäche mit nur geringen, hier nicht in Be¬ tracht kommenden Sonderheiten gleich gestaltet ist — vorzu¬ führen und dann kurz auf die Abweichungen von demselben, denen das Verfahren der Entmündigung wegen Verschwen¬ dung — und das wiederum dem letzteren gleichgebildete Ver¬ fahren der Entmündigung wegen Trunksucht — unterliegt, hinzuweisen. — Zu seiner Einleitung bedarf das Verfahren der Ent¬ mündigung wegen Geisteskrankheit eines von berechtigter Seite (Verwandten, Ehegatten, Vormund bezw. jetzt „dem gesetzlichen Vertreter, dem die Sorge für die Person zusteht 8 , oder Staatsanwalt) gestellten Antrages; weiter und zu Ende geführt wird es zunächst von Amtswegen. Der Antrag soll — nothwendig ist dies jedoch nicht — eine Angabe der ihn begründenden Thatsachen unter Anführung von Beweismitteln dafür enthalten; auch kann das Gericht die Beibringung eines ärztlichen Zeugnisses verlangen. Erachtet daB Gericht das Vorliegen einer Geisteskrankheit für genügend glaubhaft ge¬ macht, auch seine Zuständigkeit für begründet, so leitet eB das Verfahren ein. Es stellt alsdann von Amtswegen Ermittelungen über den Geisteszustand des zu Entmündi¬ genden an. Hierbei soll es zwar die in dem Anträge angegebenen Thatsachen und Beweismittel benutzen (und ist hierzu, wenigstens anfangs, meist auch schon mangels anderer Anhaltspunkte genöthigt), ist im Uebrigen aber in keiner Weise an die Anträge der Betheiligten — auch nicht des Staatsanwalts, obwohl diesem, auch wenn er nicht der Antragsteller ist, ein Recht, Anträge zu stellen, zusteht — gebunden, noch auf dieselben beschränkt, hat vielmehr nach seinem selbständigen Ermessen die ihm geeignet er¬ scheinenden Beweise zu erheben. Es kann demgemäss Zeugen sowie auch Sachverständige vernehmen, Urkunden — nament¬ lich Schriftstücke, welche von dem zur Entmündigung Gestell¬ ten herrühren oder auf ihn sich beziehen und geeignet sind, auf seinen Geisteszustand ein Licht zu werfen — herbei¬ schaffen und prüfen ; ebenso kann es Akten einsehen, z. B Dienstakten, polizeiliche Personalakten, Strafakten, Eheschei- duugsakten, sonstige Prozessakten, Vormundschaftsakten, Testamentsakten u. s. w., kann Auskünfte von Behörden oder Dienststellen einholen, es kann, wenn dies zweckdienlich er¬ scheint, auch den Augenschein einnehmen. Zur besonderen Pflicht ist dem Gericht ferner gemacht, den zu Entmündigen¬ den persönlich unter Zuziehung eines oder mehrerer Sachver¬ ständigen zu vernehmen, und, bevor es die Entmündigung ausspricht — nicht auch, wenn und bevor es die Entmündi¬ gung ablehnt — einen oder mehrere Sachverständige über den Geisteszustand des zu Entmündigenden zu hören; die per¬ sönliche Vernehmung kann auch durch einen ersuchten Richter J Digitized by {jOOQie 1. März 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 89 erfolgen; Bie kann auch gänzlich unterbleiben, wenn sie nach Ansicht des Gerichts schwer ausführbar oder für die Entschei¬ dung unerheblioh oder für den Gesundheitszustand des zu Entmündigenden nachtheilig ist. Bei der Auswahl der Sachverständigen ist das Ge¬ richt ebenfalls weder an die Anträge der Betheiligten, noch des Staatsanwalts, noch an bestimmte Persönlich¬ keiten gebunden; zwar soll nach § 404 C. P. 0. (n. F.) das Prozessgericht, wenn für gewisse Arten von Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt sind, andere Personen nur dann wählen, wenn besondere Umstände es erfordern; indess ist diese nur instruktionelle Vorschrift schon für den Prozess- richter nicht bindend, und sodann erscheint es äusserst zwei¬ felhaft, ob diese zunächst für das allgemeine Rechtsstreit- verfahren gegebene Vorschrift auch auf das so besonders, ins¬ besondere als Offizial verfahren gestaltete Entmündigungs¬ verfahren Anwendung findet; überdies war in Preussen bereits durch eine Allgemeine Verfügung des Justizministers vom 10. Mai 1887 (Just. Min. Bl. Seite 129), in welcher das Recht der freien richterlichen Auswahl der Sachverständigen gleich¬ falls zum Ausdruck gebracht ist, und ist neuerdings durch die Allgem. Verf. des Justizministers vom 28. November 1899 (Just Min. Bl. Seite 888) den Gerichten empfohlen, die Wahl der Sachverständigen in erster Linie auf solche Per¬ sonen zu richten, welche auf dem Gebiete der Irrenheil¬ kunde den Rut besonderer Erfahrung besitzen, wenn aber solche Personen nicht zu erreichen sind, möglichst einen Kreisphysikus (Kreisarzt) oder wenigstens einen zu diesem Amt geprüften Arzt zu wählen. Auch in den Verhandlungen der Reichstagskommission ist wiederholt auf die Wichtigkeit der Zuziehung von auf dem Gebiete der Geisteskrank¬ heiten erfahrenen Sachverständigen hingewiesen und zu¬ gleich dem Bedauern Ausdruck gegeben worden, dass die Zahl der psychiatrisch vorgebildeten Aerzte so gering und dadurch wie häufig auch durch die grosse Entfernung zwischen ihrem Wohnort und dem Sitze des Gerichts ihre Zuziehung erschwert ist. — Noch sei bei dieser Gelegenheit erwähnt, dass durch die gedachten Ministerial-Verfügungen vom 10. Mai 1887 und vom 28. November 1899 die Gerichte aufgefordert worden sind, den Sachverständigen die Ladung zu dem Termin zur persönlichen Vernehmung des zu Entmündigenden so zeitig — etwa sechs Wochen vor dem Termine — zuzustellen, dass sie sich, wenn nöthig, schon vorher durch Besuche, Nachfragen oder sonst über den Geisteszustand des zu Entmündigenden ein sicheres Urtheil bilden können; auch soll ihnen die Ein¬ sicht der Akten, soweit dies angängig, gestattet werden. Gleich¬ zeitig mit der erstgedachten Justizministerial-Verfügung sind auch durch eine Verfügung des Herrn Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten vom 28. April 1887 (abgedruckt im Just. Min. Bl. Seite 180 sowie auch in den Amtsblättern) die ärztlichen Sachverständigen, unter Hinweis auf die §§ 6 und 7 des Gesetzes vom 9. März 1872 über die den Medizinalbeamten zu gewährenden Vergütungen (Ges. S. Seite 265), mit näherer Anweisung über die von ihnen zu machenden Vorbesuohe und den genaueren Inhalt des von ihnen zu erstattenden Gutachtens versehen worden. An sich brauchen diejenigen Sachverständigen, welche das Gericht über den Geisteszustand des zu Entmündigenden „hört“, mit denjenigen, welche bei der persönlichen Verneh¬ mung desselben zugezogen waren, nicht identisch zu sein; doch wird hinwiederum ohne besondere Ursache das Gericht keine anderen für die Begutachtung wählen, zumal die bei der persönlichen Vernehmung anwesend gewesenen durch die Ergebnisse der letzteren und durch ihre Vorbesuche meist be¬ reits ein ausreichend sicheres Urtheil haben gewinnen können. Seinen Abschluss findet das amtsgeriohtliche Entmündi¬ gungsverfahren durch eine in Form eines „Beschlusses“ er¬ gehende Entscheidung des Gerichts, welche entweder die Ent¬ mündigung ausspricht oder den Antrag auf Entmündigung ab¬ lehnt. Das Gericht erlässt diesen Beschluss auf Grund der Ueber- zeugung, die es aus dem gesammten Ergebniss der Er¬ mittelungsverhandlungen (also der Beweiserhebungen, der persönlichen Vernehmung des zur Entmündigung Gestellten und der Gutachten des oder der Sachverständigen) über das Vor¬ liegen oder Nichtvorliegen einer Geisteskrankheit im gesetz¬ lichen Sinne gewonnen hat, und ist dabei an irgend welche Beweisregeln nicht gebunden; es ist insbesondere auoh an das Gutachten der Sachverständigen nicht gebunden, kann viel¬ mehr, wenn es durch dasselbe nicht überzeugt wird, von dem¬ selben abweichen; diese Stellung des Gerichts ist auoh in der Reichstagskommission anerkannt, indem Anträge, das Gutachten als für das Gericht verpflichtend zu erklären, abgelehnt wur¬ den; es liegt indess nahe, dass der Entmündigungsrichter, zumal wenn das Gutachten von einem erfahrenen Psychiater erstattet und gehörig begründet ist, nicht ohne Weiteres sich über dasselbe hinwegsetzen wird; auch ist es dem Gericht unbenommen, den Sachverständigen auf diejenigen Punkte aufmerksam zu machen, welche den Richter von der Richtig¬ keit des Gutachtens nicht zu überzeugen vermögen, um den Sachverständigen, wenn möglich, zu einer entsprechenden Er¬ gänzung der Begründung des Gutachtens zu veranlassen; eben¬ so kann das Gericht, um eine sichere Ueberzeugung nach dieser oder jener Seite hin zu gewinnen, weitere Beweis- ermittlungeu veranstalten, und insbesondere wird es in dieser Beziehung Vorschlägen der Sachverständigen selbst, welche geeignet erscheinen, dem Richter eine überzeugendere Grund¬ lage für seine Entscheidung zu verschaffen, Beachtung schen¬ ken. Auch kommt es öfter vor, dass von den Sachverstän¬ digen, weil sie selbst aus dem Ergebnisse der Verhandlungen und ihrer Vorbesuche noch nicht zu einem sicheren Urtheil über dem Geisteszustand des zur Entmündigung Stehenden gelangt sind, Anträge auf Ergänzung der Ermittelungen in be¬ stimmter Beziehung gestellt werden, und es wird dann das Gericht, schon im Interesse der Gewinnung einer eigenen festen Ueberzeugung, solchen Anträgen, sofern ihre Erheblich¬ keit dargelegt wird, gern Folge geben. Ferner steht dem Ge¬ richt, da es von Amtswegen den Geisteszustand des zu Ent¬ mündigenden auf jede hierzu geeignet erscheinende Weise zu ermitteln hat, zweifelsohne auch, wenn — sei es nach dem Urtheil der Sachverständigen, sei es nach der Auffassung des Gerichts — dieser Geisteszustand zweifelhaft erscheint und der Zweifel anderweit zur Zeit nicht gehoben werden kann, wohl aber Aussicht vorhanden ist, dass der Zustand sich im Laufe absehbarer Zeit ändern und klarer erkennbar ge¬ stalten wird, die Befugniss zu, die Entscheidung vorläufig auszusetzen und nach einem mehr oder minder langen Zeitraum eine erneute Untersuchung vorzunehmen, die sich dann meist auf eine abermalige persönliche Vernehmung des zu Ent¬ mündigenden in Gegenwart der Sachverständigen und nötigen¬ falls abermalige Vorbesuche derselben wird beschränken können; auoh kann es erforderlichenfalls solche Aussetzung wieder¬ holen; doch wird das Gericht hiervon absehen müssen, wenn der Antragsteller auf sofortige Entscheidung nach Lage der Sache drängt. Die Entmündigung hat die Stellung des Entmündigten unter Vormundschaft zur Folge, welche letztere das zu¬ ständige Vormundschaftsgericht herbeiführt. Zu diesem Zweck hat der Entmündigungsrichter dem Vormundschaftsriohter die erfolgte Entmündigung mitzutheilen. Aber auch schon vorher soll der Entmündigungsrichter, sobald er im Laufe des Ver- Digitized by Google 90 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 5. fahrens der Entmündigung eines Geisteskranken die Anord¬ nung einer Fürsorge für die Person oder das Vermögen des¬ selben für erforderlich hält, der Vormundschaftsbehörde behufs Herbeiführung einer solchen Fürsorge Mittheilung machen. Gegen den die Entmündigung ablehnenden Beschluss des Gerichts steht dem Antragsteller und dem Staatsanwalt das Rechtsmittel der sofortigenBeschwerde zu, über welche das Landgericht, ebenfalls durch Beschluss, entscheidet; das Be¬ schwerdegericht kann vor Erlass desselben ebenfalls ihm ge¬ eignet erscheinende Ermittelungen anstellen, auch die des Amtsgerichts wiederholen. Gegen den die Entmündigung aussprechenden Beschluss des Amtsgerichts oder des Beschwerdegerichts ist ein Rechts¬ mittel nicht gegeben; derselbe ist vielmehr von selbst rechts¬ kräftig und hat wie erwähnt die Einleitung der Vormundschaft zur Folge. Um die Aufhebung seiner Entmündigung und damit der Vormundschaft herbeizuführen, stehen dem Entmündigten — und anderen Berechtigten — zwei bezw. drei Wege offen: Erstens: Die Anfechtungsklage, welche sich auf die Behauptung zu Btützen hat, dass der Entmündigte zur Zeit der Entmündigung nicht geisteskrank gewesen, seine Entmündigung also zu Unrecht erfolgt sei. Sie ist nur b innen Monatsfrist zulässig, wird beim Landgericht angebracht und im Parteienstreit — mit einigen Abweichungen von dem¬ selben—verhandelt. Auch das Landgericht hat den Entmündigten in Gegenwart eines oder mehrerer Sachverständigen zu ver¬ nehmen und bevor es die Klage abweist einen oder mehrere Sachverständige über den Geisteszustand des Entmündigten zu hören; es kann aus denselben Gründen wie das Amtsgericht die persönliche Vernehmung des Entmündigten unterlassen; es darf aber weiter auch von der Vernehmung Sachverständiger Abstand nehmen, wenn es das vor dem Amtsgericht abge¬ gebene Gutachten für genügend erachtet. Die Entscheidung des Landgerichts erfolgt durch „ Urtheil“ und unterliegt den gewöhnlichen Rechtsmitteln. Das den Ent¬ mündigungsbeschluss des Amtsgerichts aufhebende Urtheil er¬ langt erst mit der Rechtskraft Wirksamkeit; es können jedoch schon vor derselben auf Antrag einstweilige Verfügungen zum Schutze der Person oder des Vermögens des Entmündigten vom Prozessgericht, und in dringenden Fällen vom zuständigen Amtsgericht, erlassen werden. Zweitens kann die Wiederaufhebung der Entmündigung wegen eingetretener Genesung beim Amtsgericht be¬ antragt werden. Dieser Antrag ist naturgemäss an eine Frist nicht gebunden. Das amtsgerichtliche Wiederaufhebungsverfahren unterliegt den gleichen Vorschriften wie das Entmündigungs¬ verfahren; es wird daher auch hier der Regel nach der Ent¬ mündigte persönlich in Gegenwart von Sachverständigen ver¬ nommen und werden Sachverständige über seinen Geistes¬ zustand gehört. — Gegen den Wiederaufhebungsbeschluss des Amtsgerichts steht dem Staatsanwalt das Rechtsmittel der so¬ fortigen Beschwerde zu, über welche das Landgericht durch Beschluss, nöthigenfalls nach Veranstaltung eigener Ermitte¬ lungen, entscheidet. Drittens: Wird der Wiederaufhebungsantrag vom Amtsge¬ richt abgelehnt, so kann die Wiederaufhebungsklage beim Landgericht angestellt werden. Auch diese muss sich auf die Behauptung der eingetretenen Genesung des Entmündigten gründen. Für das landgerichtliche Wiederaufhebungsprozess- Verfahren gelten gleiche Vorschriften wie für das Anfechtungs¬ prozess-Verfahren (oben No. 1). — Nachdem wir in Vorstehendem das Verfahren bei der Entmündigung wegen Geisteskrankheit (und wegen Geistes¬ schwäche) skizzirt haben, bleibt noch übrig, kurz auf die Ab¬ weichungen von demselben hinzuweisen, welchen das Ver¬ fahren der Entmündigung wegen Verschwendung (und wegen Trunksucht) unterliegt. Sie ergeben sich von selbst, wenn wir in Berücksichtigung nehmen, dass bei letzterem Verfahren 1 . die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft fortfällt; 2 . eine persönliche Vernehmung des zu Entmündigenden nicht erforderlich ist; 3. eine Anhörung von Sachverständigen vor Erlass des Entmündigungsbeschlusses, wie sie § 655 C. P. O. (n. F.) für das Verfahren der Entmündigung von Geisteskranken (und Geistesschwachen) vorschreibt, hier nicht vorgeschrieben ist. Ausserdem ist in diesem Entmündigungsverfahren eine Mittheüung an die Vormundschaftsbehörde zum Zwecke der Anordnung einer Fürsorge für die Person oder das Vermögen des zu Entmündigenden ebenfalls nicht vorgesehen. Der Umstand zu 3, nämlich dass eine Anhörung von Sach¬ verständigen im Verfahren wegen Trunksucht und Ver¬ schwendung nicht vorgeschrieben ist, sohliesst übrigens die Vernehmung von Sachverständigen im Ermittelungsverfahren zum Zwecke der Beweiserhebung nicht aus, eine solche ist vielmehr nach § 680 Abs. 3 C. P. 0. (n. F.) — verbunden mit § 653 ebenda — durchaus zulässig; sie wird unter Umständen wün8chenswerth sein, z. B. wenn dem Gericht Zweifel ent¬ standen sind, ob in einem schwebenden Verfahren der Ent¬ mündigung wegen Trunksucht die im § 6 Bürgerlichen Gesetz¬ buchs zur Bedingung der Entmündigung gemachten Erforder¬ nisse, dass der Trunksüchtige in Folge seiner Trunksucht „seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag“ oder „die Sicherheit Anderer gefährdet“, vorliegen und diese Zweifel durch thatsächliche Feststellungen nicht gehoben werden können; eine Vemehmuug ärztlicher Sachverständigen wird ferner geboten sein, wenn das Ermittelungsverfahren den Verdacht entstehen lässt, dass die verschwenderischen Hand¬ lungen eines wegen Verschwendung zur Entmündigung Ge¬ stellten durch eine krankhafte Verschwendungssucht bei dem¬ selben veranlasst, mit anderen Worten Ausfluss einerGeistes- krankheit sind; oder wenn bei einem Verfahren der Entmündi¬ gung wegen Trunksucht sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Neigung zum Trinken auf eine bei dem Trunksüchtigen be¬ stehende Geisteskrankheit zurückzuführen ist oder dass die fortgesetzte Befriedigung der Trinkneigung den Trunk¬ süchtigen geisteskrank gemacht hat. In solchen Fällen würde eine Entmündigung wegen Verschwendung bezw. eine Entmündigung wegen Trunksucht unzulässig sein, weil die civilrechtliche Verantwortlichkeit des zu Entmündigenden für seine Handlungen fehlt; es müsste der gestellte Entmündigungs¬ antrag zurüokgewiesen werden, und würde die Entmündigung nur wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche in dem für diese vorgeschriebenen Verfahren erfolgen können.- Wie bereits eingangs angedeutet wurde, hat sich das vorstehend dargelegte, durch die Civilprozessord- nung vom 30. Januar 1877 eingeführte Entmündi¬ gungsverfahren in derPraxis im Grossen und Ganzen durchaus bewährt; der u. A. gegen dasselbe wohl erhobene Vorwurf, dass bei ihm das Schicksal der zu Entmündigenden zu sehr in den Händen der Psychiater liege, manche von diesen aber geneigt seien, bei blossen Sonderbarkeiten einzelner Personen bereits Geisteskrankheit anzunehmen, widerlegt sich dadurch, dass, wie oben ausgeführt ist, der Richter an das Gutachten der Sachverständigen nicht gebunden ist, viel¬ mehr nach seiner freien, aus dem gesummten Ergebniss der Ermittelungsverhandlungen gewonnenen Ueberzeugung ent¬ scheidet; auch widerspricht jener Besorgniss die statistisch Digitized by VjOOQie 1. März 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 91 (für die Jahre 1891 bis 1895) festgestellte Thatsache, dass von über 4000 im Deutschen Reich jährlich ausgesprochenen Entmündigungen durchschnittlich nur 76 überhaupt, und noch erheblich weniger mit Erfolg, angefochten worden sind. Gleichwohl lässt Bich nicht in Abrede stellen, dass das bisherige Entmündigungsverfahren einzelne Missstände und Lücken aufwies, die sich störend in der Praxis der Gerichte bemerkbar machten, und dass bei ungeeigneter Handhabung des Verfahrens der zur Entmündigung Gestellte ausreichenden Rechtsschutzes zur Wahrnehmung Beiner Interessen entbehrte. Es waren diese Missstände und Mängel aber namentlich fol¬ gende: 1 . Die zu leicht gemachte Abstandnahme von der persön¬ lichen Vernehmung des zu Entmündigenden. Jeder, der praktisch mit Entmündigungen zu thun hat, weiss, wie wesent¬ lich für Gewinnung einer Ueberzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Geisteskrankheit es häutig ist, den an¬ geblich Geisteskranken persönlich zu sehen und zu hören; da sind der Ausdruck des Gesichts* das Mienenspiel, die Bewe¬ gungen der Hände und der Füsse, die Haltung und das Be¬ nehmen überhaupt, die Art und Weise der Wiedergabe der Empfindungen des Augenblicks, der schnelle Wechsel der Stimmungen, unmotivirtes Lachen und Weinen, die Art des Sprechens, namentlich das Verschlucken oder Auslassen von Silben oder Buchstaben, das unterbrochene Herausbringen der Sätze, die Zusammenhangslosigkeit der Rede, das Abspringen vom Gegenstände und Sichverlieren in Fernliegendes, und vieles Andere nicht selten geeignet, auch dem Laien die Ueberzeugung von dem Vorliegen einer Geisteskrankheit bei¬ zubringen, mehr bisweilen als umfangreiche Beweisaufnahme dies erreicht. Andererseits bietet die persönliche Besprechung mit dem Richter dem zur Entmündigung Gestellten Gelegen¬ heit, seine GeistesgeBundheit darzuthun, Missdeutungen seiner Handlungen vorzubeugen, Vorgänge aufzuklären, sein Ver¬ halten zu rechtfertigen, akute Verwirrtheits-Zustände und ihr Verschwundenem aus den Ursachen zu erklären u. A. m. Diese thatsächliohe Bedeutsamkeit der richterlichen Ver¬ nehmung des zu Entmündigenden ist im bisherigen Gesetz nicht genügend zum Ausdruck gebracht, und dieser Umstand barg die Gefahr in sich, dass die Gerichte geneigt sein konnten, auch zu überwindenden Hindernissen gegenüber zu leicht von der persönlichen Vernehmung Abstand zu nehmen. Befördert wurde letzteres durch: 2 . das Fehlen des Rechts, das Erscheinen des zu Ent¬ mündigenden zur persönlichen Vernehmung erzwingen zu können. Eine nicht geringe Zahl gerichtlicher Vernehmungs¬ termine verläuft fruchtlos, weil die zu Entmündigenden der gerichtlichen Vorladung keine Folge geben, auch um der Ent¬ mündigung zu entgehen, mehrfach ihre Wohnung wechseln. Dadurch ist auch den Sachverständigen öfter die einzige Ge¬ legenheit, die zu Entmündigenden sprechen und auf ihren Geisteszustand untersuchen zu können, genommen; denn noch mehr wie den gerichtlichen Terminen entziehen sich dieselben den gerichtsärztlichen Untersuchungen. Durch der¬ artige Manöver der zu Entmündigenden wird das Verfahren nicht selten nachtheilig in die Länge gezogen und findet häufig erst dadurch Fortgang, dass der zu Entmündigende wegen — erneuten — gemeingefährlichen Ausbruchs seiner Geisteskrankheit in eine Irrenanstalt gebracht wird, wo als¬ dann auch ohne weitere Erschwerung seine persönliche Ver¬ nehmung und Untersuchungen seitens der gerichtlichen Sach¬ verständigen stattfinden können. 3. Ein weiterer Mangel des bisherigen Verfahrens, der sich namentlich bei zweifelhaften Gemütszuständen, wie sie in grösseren Städten besonders häufig sich finden, recht störend bemerkbar machte, war, dass durch dasselbe nicht die Möglichkeit gewährt war, wie sie z. B. durch § 81 der Strafprozessordnung im Strafverfahren eingeführt ist, einen der Geisteskrankheit Verdächtigen auf mehr oder minder lange Zeit zur Beobachtung seines Geisteszustandes in eine Anstalt bringen zu können. Es giebt bekanntlich eine Anzahl unzweifelhaft krankhafter Gemüthszustände, welche festzu¬ stellen auch dem Sachverständigen schwer und bei nur einige Male, in Zwischenräumen erfolgenden Untersuchungen des Kranken bisweilen unmöglich wird, deren Feststellung viel¬ mehr meist erst durch eine längere beständige Beobachtung, wie sie nur in einer Anstalt möglich ist, gelingt. Ebenso kann häufig eine Simulation oder eine Dissimulation der Geisteskrankheit nur durch eine längere unausgesesetzte Be¬ obachtung in der Anstalt mit Sicherheit ermittelt werden. 4. Auch darin zeigte sich ein Verkennen der ungemeinen Wichtigkeit der persönlichen Vernehmung des zu Entmündi¬ genden durch den zur Entscheidung über die Entmündigung berufenen Richter selbst, dass nach dem bisherigen Recht die Vernehmung in allen Fällen, wo der Entmündigende sich in einem anderen Gerichtsbezirk aufhielt — und dies kommt, in¬ folge Unterbringung desselben in einer Anstalt, einem Sana¬ torium, auf einer ländlichen Besitzung u. 8. w. nicht selten vor — durch einen ersuchten Richter erfolgen konnte und — geradeso wie die Vernehmung der ausserhalb deB Bezirks des Prozessgerichts wohnenden Zeugen im Rechtatreitverfahren, die nach den Grundgedanken der Civilprozessordnung als Regel eigentlich vor dem Prozessgericht stattfinden soll — auch meist erfolgte. Es ist bereits oben — unter No. 1 — ange¬ deutet, von wie nicht zu unterschätzender Bedeutung es auch für den Laien häufig ist, den zu Entmündigenden selbst zu sehen und zu sprechen. Der hierbei gewonnene Eindruck kann durch ein noch so genau aufgenommenes Protokoll eines anderen Richters nicht ersetzt werden; es ist überdies, solange die Protokolle nicht stenographisch aufgenommen werden, häufig, namentlich wenn die zu Vernehmenden im manischen Zustande schnell sprechen und dabei zusammenhangslos von einem Gegenstände auf den anderen überspringen, gar nicht möglich, den Verlauf der Besprechung genau oder charakte¬ ristisch getreu wiederzugeben; noch schwerer möglich ist eine getreue Wiedergabe des charakteristischen übrigen Verhaltens des Vernommenen während der Vernehmung. Dieser Mangel des persönlichen Eindrucks wird auch nicht dadurch ersetzt, dass der ersuchte Richter, wie dies bisweilen in der Praxis geschieht, den Eindruck, den er aus der Vernehmung ge¬ wonnen hat, für den ersuchenden Richter zu den Akten registrirt; die Ueberzeugung eines Andern reicht nicht aus, um eine eigene zu rechtfertigen, und der ersuchende Ent¬ mündigungs-Richter, der auf Grund der Ueberzeugung des er¬ suchten Richters eine Entmündigung ausspricht oder ablehnt, übernimmt eine Verantwortlichkeit, die ihm nicht zugemuthet werden sollte. 5. Erwähnt sei endlich noch, dass es in der Praxis sich wiederholt als ein Mangel des Gesetzes empfindbar machte, dass die Anordnung einer Fürsorge, insbesondere für das Vermögen des zu Entmündigenden, wie sie im Verfahren der Entmündigung wegen Geisteskrankheit vorgesehen war, nicht auch im Entmündigungsverfahren wegen Verschwendung erfolgen konnte; es konnte in Folge hiervon ein Verschwender seine verschwenderische Lebensweise ungestört fortsetzen, und dies manchmal noch recht lange, da sich das Verfahren der Entmündigung wegen Verschwendung in Folge der gerade bei diesem nicht selten erforderlichen umfangreichen Beweiser¬ hebungen häufig in die Länge zieht. — Digitized by Google 92 Aerztliche Sachverständigen- Zeitung. No. 5. Sehen wir nun, wie der Gesetzgeber diesen Uebelständen und Mängeln des bisherigen Rechts abzuhelfen bemüht ge- gewesen ist und welche weiteren neuen Anordnungen zu er¬ höhtem Schutze der Persönlichkeit und zur noch sichreren Ver¬ meidung von Fehlsprüchen der Gerichte in der mit dem 1. Januar 1900in Kraft getretenen revidirten Civilprozess- ordnung getroffen worden sind. Es sind dies aber im einzelnen insbesondere folgende: 1. Gemäss §§ 650 und 651 C. P. 0. (n. F.) kann das zu¬ ständige Gericht, wenn der zu Entmündigende sich im Bezirke eines anderen Amtsgerichts aufhält, nach Einleitung des Ent¬ mündigungsverfahrens wegen Geisteskrankheit oder Geistes¬ schwäche, jedoch nur solange es selbst den zu Entmündigenden noch nicht vernommen hat, die Verhandlung und Entschei¬ dung dem für den Aufenthaltsort zuständigen Amtsgericht überweisen, und das letztere kann unter den gleichen Voraus¬ setzungen eine weitere Ueber Weisung vornehmen. — Der Zweck und Nutzen dieser Vorschrift leuchtet ein: Es wird dadurch er¬ reicht, dass derselbe Richter, welcher den zu Entmündigenden persönlich vernommen hat, auch den Beschluss über die Entmün¬ digung erlässt. Damit ist der hohe Werth der eigenen Verneh¬ mung des zu Entmündigenden durch den entscheidenden Richter im Gesetze selbst zum Ausdruck gebracht. Wenn das Gesetz die Ueberweisung in das Ermessen des Gerichts stellt (das Gericht „kann* überweisen, muss also nicht), so waren hierfür praktische Erwägungen massgebend: Wenn der Aufenthaltsort in der Nähe des zuständigen Gerichts belegen ist, der Aufent¬ halt auch vielleicht ein vorübergehender ist, so liegt kein Be¬ denken vor, dass der zuständige Richter selbst — nach Ein¬ holung der nach dem Gerichtsverfassungsgesetz zu solcher Handlung erforderlichen Genehmigung des Gerichts des Aufent¬ haltsorts — den zu Entmündigenden an seinem Aufenthaltsort vernimmt. Es kann auch im Einzelfalle zweckmässig er¬ scheinen, den zu Entmündigenden, wenn dies ohne Gefahr für seine Gesundheit ausführbar erscheint, zu nöthigen, zu seiner Vernehmung sich am Gerichtsort einzufinden; nament¬ lich kann dies empfehlenswerth sein, wenn ein willens¬ schwaches, den Einflüssen Anderer, z. B. eigennütziger Ver¬ wandten zugängliches Individuum an seinem Aufenthaltsort solchen Einflüssen ausgesetzt ist. Sodann sollte vermieden werden, dass durch solche Ueberweisungen einzelne Gerichte, in deren Bezirk sich grössere Irrenanstalten befinden, über¬ mässig belastet werden. Aus letzterem Grunde ist auch noch im Gesetz ausdrücklich zur Bedingung der Ueberweisung weiter gemacht, dass die Ueberweisung „mit Rücksicht auf die Ver¬ hältnisse des zu Entmündigenden erforderlich erscheint.“ (Schluss folgt.) Referate. Allgemeines. Siechthum. Gutachten, mitgetheilt von Dr. C. Wickel, Ass.-Arzt a. d. psych. Klinik in Tübingen. (Friedr.BL 1900, H. 1.) Unter „Siechthum“ im Sinne des § 224 des Reichs-Straf¬ gesetzbuchs (Schwere Körperverletzung) ist nach Maisch zu verstehen: der Verfall in einen langdauernden, in seinem Ver¬ laufe nicht abgeschlossenen Krankheitszustand, der den gan¬ zen Menschen schwer benachtheiligt, durch Beschädigung wich¬ tiger Organe eine Schwächung oder Hinfälligkeit des Gesammt- Organismus, eine Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens und somit der Erwerbs- und Leistungsfähigkeit nach sich zieht. Der Begriff unheilbar liegt nicht unbedingt im Worte Siech¬ thum, eine Besserung ist so wenig ausgeschlossen, als eine Verschlimmerung. In diesem Sinne lag Siechthum in folgendem Falle vor: Ein Bauer wurde von einem Nachbar erst mit dem Rie¬ men, dann mit dem Stiel einer Peitsche mehrmals heftig auf den Kopf geschlagen, dass das Blut herunterlief. Heftige Kopfschmerzen, die jeder Behandlung trotzten, blieben zurück. Meist musste der Verletzte das Bett hüten. Indessen waren seine Angaben insofern bedenklich, als er von Nachbarn als bösartiger Simulant bezeichnet wurde. Er kam in die Tübin¬ ger Klinik zur Beobachtung. Hier fiel er andauernd durch sein klägliches gedrücktes Wesen auf. Er fürchtete stets, nicht wieder gesund zu werden. Bedeutungslose Erscheinun¬ gen, z. B. ein Knacken in der Ohrgegend beim Gähnen, waren ihm ein Zeichen dafür, dass Eiter in seinem Gehirn sei. Jeden Windhauch fürchtete er. Er klagte über Kopfschmerz, Schlaf¬ losigkeit, häufiges Kältegefühl und rasche Ermüdbarkeit. Ob¬ jektiv war ein entweder von selbst oder bei seelischer Erre¬ gung auftretendes Zittern des ganzen Körpers, besonders der Lippen, der Augenlider, der Zunge und der Finger, eine be¬ deutende Herabsetzung des Schmerzgefühls, eine Neigung zu Faserzuckungen in den Muskeln, ferner eine starke Erregbar¬ keit der Hautgefässe, wesentliche Steigerung der Kniesehnen- reflexe, Beschleunigung und rascher Wechsel des Pulses (90 bis 130), insbesondere Zunahme der Pulszahl bei Druck auf die angeblich schmerzhafte Stelle am Kopfe nachzuweisen. Damit war Simulation ausgeschlossen, und es musste ange¬ nommen werden, dass der Untersuchte, der vor der Verletzung gesund war, in Folge dieser an einer schweren Hypochondrie- Neurasthenie erkrankt sei, deren Vorhersage als ungünstig be¬ zeichnet werden musste. Alle Kennzeichen des Siechthums waren gegeben. Das Gericht schloss sich dieser Auffassung an. Thatsächlich hat sich im Laufe des nächsten JahreB das Befinden des Verletzten eher verschlechtert. Ein Todesfall bei Aethernarkose. Von San.-R. Dr. Schneider, Direktor des Landkrankenh. zu Fulda. (I). m. W. 1K99 n. 5*.M Bei einem 58jährigen Manne, der an Lebercirrhose, körni¬ ger Nierenschrumpfung, Herzvergrösserung, Emphysem, links¬ seitiger Brustwassersucht und allgemeiner Arterienverkalkung litt, wurde wegen Fussgangraen unter Aethernarkose nach Julliard der Unterschenkel abgesetzt. Gegen Ende des Ein¬ griffs trat plötzliche Athemstockung ein, bald darauf stand das Herz still. Gegenmassregeln waren erfolglos. Da die Leichen¬ öffnung Stauungszeichen im kleinen Kreislauf ergeben hat, vermutet Verf., dass der Aether zunächst das Athmungs- centrum gelähmt hat, dass aber das Herz durch die ein¬ tretende Stauung dann sofort zum Stillstand gebracht worden ist. Dass die Aethernarkose bei diesem durch und durch kranken Manne nur der „Tropfen, der das Glas zum Ueber- fliessen brachte“, war, wird sicher niemand anzweifeln. Psychiatrie und Neurologie. Isolirte, wahrscheinlich traumatische Lähmung des Ner¬ vus supra scapularis. Von Dr. W o 1 f - Danzig. (Mon. f. ünf 1899, No. 11.) Der im Titel bezeichnete Nerv versorgt den MuBkel der oberen und den der unteren Schultergrätengrube. Der letztere Digitized by Google 1. März 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 93 ist ein Auswärtsroller des Arms, der eretere hat mannigfache Aufgaben: er unterstützt den Deltamuskel beim Heben des Arms, hilft den Arm auswärts rollen und presst den Gelenk¬ kopf fest gegen die Pfanne, gleichzeitig bildet er nach Ansicht des Verfassers ein Widerlager, gegen das sich der Gelenkkopf bei der Hebung des Arms mit zu stützen vermag. In dem von W. mitgetheilten Falle handelte es sich um einen Mann in mittleren Jahren, der schon im Winter 1898/99 an Reissen im rechten Schultergelenk gelitten hat, bald darauf aber noch einen Sturz auf die ausgestreckte rechte Hand und hierbei eine Verrenkung im Schultergelenk erlitten haben soll, auf den er die Gebrauchsunfähigkeit des Armes, die jetzt be¬ steht, zurückführt. Zur Zeit ist rechts die Gegend des Delta¬ muskels leicht abgeflacht, die untere Grätengrube zeichnet sich fast als Grube ab, die obere ist abgeflacht. Der rechte Arm kann langsam nur bis 50° gehoben werden, nur im Schwünge kann der Kranke ihu bis etwa 100° hoch schleudern. Nach der Seite ist die Beweglichkeit ebenso verringert, nach hinten nicht. Passiv lässt sich auch nur eine Hebung bis 135° be¬ werkstelligen. Elektrisch ist der obere wie der untere Gräten¬ muskel unerregbar. Verfasser hält den Unfall für die wahrscheinlichste Ursache der sicher vorhandenen Lähmung der vom Ober-Schulterblatt- nerven versorgten Muskeln. Man könnte wegen der Abflachung der Deltamuskel-Gegend an eine gleichzeitige Lähmung des Achsel¬ nerven denken, doch fehlen hierfür alle weiteren Erkennungs¬ zeichen. Wahrscheinlich ist der Deltamuskel nur deswegen etwas geschwunden, weil der Arm in Folge der sicher nebenbei bestehenden Gelenkentzündung lange Zeit geschont worden ist. ! Fälle Ton hemiatrophia linguae. Von Dr. E. Wiersnia, Priv.-Doz. a. d. Univ. Groningen. (Neurol. Centr. 1899, No. 18.) Eine sehr hübsche Zusammenstellung von verschieden zu deutenden Krankheitsfällen, denen der halbseitige Zungen¬ schwund gemeinsam ist. I. Ein sonst völlig gesundes Mädchen von 24 Jahren be¬ hält nach einem leichten Schnupfen Heiserkeit und Schluck¬ beschwerden. Die linke Zungenhälfte findet sich verschmälert, aber ohne Veränderung der elektrischen Reizbarkeit; ferner ist das linke Gaumensegel und Stimmband gelähmt. Die Er¬ scheinungen weisen auf einen Herd im verlängerten Mark. Zweifelhaft bleibt, ob es sich um Entzündung der grauen Sub¬ stanz, Blutung oder Embolie handelt. II. Ausgeprägte Zeichen einer Höhlenbildung im Rückenmark. Der vorhandene halbseitige Zungenschwund ist mit hierauf zu beziehen. III. Bei einer 61jährigen Frau hat sich seit einem Jahre Schwindel, allmählich Schwanken beim Gehen bis zur Unfähig¬ keit, sich allein aufrecht zu halten, ausgebildet. In den letzten Monaten sind Sprach- und Schluckstörungen, Gesichts- und Augenmuskellähmungen der rechten Seite dazugekommen. Der Kappenmuskel und der Kopfnicker sind rechts deutlich abge¬ magert. Die Zunge weicht beim Herausstrecken nach links ab, ihre rechte Hälfte ist schlaff und verschmälert. Der Puls iBt beschleunigt. Die Leichenöffnung, zu der sich bald Ge¬ legenheit bot, ergabt ein Fibrosarkom der harten Hirn¬ haut, das die rechte Kleinhirnhälfte verdrängt und auf den rechten sechsten bis zwölften Hirnnerven gedrückt hat. IV. Bei einer 31jährigen tuberkulös belasteten Frau hat in der Kindheit eine vereiterte Drüse unter dem linken Unter¬ kiefer bestanden. Schon seit damals ist die Zungenbewegung beschränkt. Es findet sich eine linksseitige Zungenatrophie ohne Entartungsreaktion. Als Ursache ist der Druck der tuberkulösen Drüse auf den Nervus hypoglossus an¬ zusehen. V. Eine 36jährige Frau erkrankt akut mit Schwindel, Er¬ brechen, Schmerzen hinter dem rechten Ohr und Fieber. Später stellt sich Schwäche und Vertaubung des rechten Arms, dann Doppelsehen, Undeutlichkeit der Sprache, häufiges Verschlucken ein. Nachher besserte sich der Zustand allmäh¬ lich. Nach drei Monaten besteht noch Augenzittern, eine geringe Erschlaffung der rechten Gesichtshälfte, Verschmälerung und Erschlaffung der rechten Zungenhälfte mit völliger Ent¬ artungsreaktion, und endlich eine Herabsetzung des Tast-, Schmerz- und Temperatursinns wie auch des Lagegefühls auf der rechten Seite. Jetzt, 4 Jahre später, fühlt die Frau sich wohler, hat aber die Zungenschrumpfung behalten. Das Krank- keitsbild weist auf einen Herd am Grunde der rechten hinteren Schädelgrube, vielleicht eine örtlich be¬ grenzte Hirnhautentzündung, hin. VI. Ein Mann von 29 Jahren, der als Kind eine vom Ge¬ hirn ausgehende Lähmung des rechten Arms acquirirt hat (cerebrale Kinderlähmung), kommt zum Arzt wegen Schlaf¬ losigkeit infolge übermässiger Arbeit. Von den Hirnnerven erweist sich der rechte Zungenbewegungsnerv und nur dieser als nicht in Ordnung. Die rechte Zungenhälfte ist schlaff und verschmälert, die Zungenspitze weicht in der Ruhe nach links, beim Vorstrecken nach rechts ab, der Nerv selbst ist elektrisch nicht erregbar, die rechte Zungenhälfte in stark vermindertem Grade. Der Kranke ahnt von alledem nichts. Die Deutung des Falles ist unklar. Mit der cerebralen Kinderlähmung kann der Zungenschwund nicht wohl Zusammenhängen. Es muss eine periphere Schädigung des Nerven vorhanden sein, aber wodurch? VII. Ein junger Mann hat vor einem Jahre einen Ba- jonnetstich grade unter dem Kieferwiukel erhalten. Es be¬ steht Zungenschwund rechts mit völliger Unerregbarkeit deB Zungenbewegungsnerven und ausgesprochener Eutartungs- reaktion der Zungenmuskeln rechts. Subjektive Störungen be¬ stehen nicht. Alle andern Organe sind frei von Abweichungen. Hier liegt eine isolirte Verletzung des Nervus Hypo- glossus vor. Ueber die diagnostische Verwendbarkeit des Versuchs der alimentären Glycosurie für die Feststellung der traumatischen Neurosen. Von Priv.-Doz. Dr. Strauss-Berlin. (Mon. f. Unf. 1809, No. 12.) Der durch seine Arbeiten über das Erscheinen vou Trauben¬ zucker aus der Nahrung im Harn um die Erforschung dieses interessanten Gebietes verdiente Verfasser giebt hier eine für den Praktiker bestimmte Zusammenstellung der Hauptergeb¬ nisse seiner Forschungen. Da nach dem Durchschnittsergebniss aller bisher veröffent¬ lichten Versuchsreihen bei über 30 Prozent der an traumati¬ schen Neurosen Leidenden Traubenzucker aus der Nahrung in den Harn übergeht, während bei Gesunden der Prozentsatz ungleich geringer ist, kann der positive Ausfall des Ver¬ suchs, natürlich nur wenn gleichzeitig andere Anzeichen für ein funktionelles Nervenleiden vorliegen, zur Festellung der Krankheit mit verwerthet werden. Bedingung ist, dass der Versuch nicht blos einmal, sondern regelmässig gelingt. Die Prüfung wird zweckmässig in der Weise augestellt, Digitized by Google 94 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 6. dass der zu Untersuehende 100 g wasserfreien Traubenzucker in einem halben Liter Wasser gelöst Morgens nüchtern inner¬ halb 10 Minuten zu sich nimmt, ln den nächsten 4 Stunden wird der Harn, und zwar gesondert in stündlichen Portionen aufgefangen. Die Untersuchung hat mittelst Polarisirapparats oder Gärungsprobe stattzufinden. Um Fehlerquellen zu vermeiden, hat man sich zu ver¬ gegenwärtigen, dass gewisse akute Zustände (Fieber, Vergif¬ tungen), unter den chronischen Krankheiten besonders die Schuppenflechte mit einer Verringerung der Fähigkeit des Körpers, Zucker zurückzuhalten, einhergehen können. Gewohn- heitsmässiger Alkoholgenuss, Fettleibigkeit und chronische Bleivergiftung geben jedes für sich keine bedeutende Veran¬ lagung zum Fütterungs-Zuckerharn; wenn aber mehrere dieser Einflüsse Zusammentreffen, werden sie doch für das Ergebniss der Untersuchung entscheidend sein können. Ob die trau¬ matischen Neurosen mehr als die auf anderem Wege ent¬ standenen geeignet sind, alimentäre Glycosurie zu bedingen, ist nicht ganz sicher entschieden, doch neigt Verf. dazu, diese Frage zu bejahen. Es stehen in der Statistik 30,3 gegen 14,4 Prozent. l)ie Spätepilepsie. Von W. Lüth, A88.-Arzt d. Anst. Wuhlgarten. (Zeitechr. f. Psych. 1899, Bd. 56, H. 4.) Die Fallsucht macht nur selten bei Männern nach dem 30., bei Frauen nach dem 25. Lebensjahr ihre ersten Erschei¬ nungen geltend. Dennoch giebt es eine „Spät-Epilepsie“, und es fragt sich, in welchem Verhältniss sie zu der gewöhnlichen Fallsucht steht, insbesondere ob beide Formen die gleichen Ursachen haben. Aus dem reichen Material von Wuhlgarten stellt L. 38 Fälle zusammen, von denen 20 unzweifelhafte Beispiele der Spät¬ epilepsie (E. tarda Mendel) darstellen, während in vier Fällen Zeichen einer epileptischen Erkrankung — freilich keine Krampfanfälle — bis in jüngere Jahre verfolgt werden können, in fünf weiteren die Diagnose schwankte, da Hirnsyphilis bezw. Lähmungsirrsein nicht auszuschliessen war und endlich bei den drei letzten Fällen die Erkundigungen keine aus¬ reichende Sicherheit über den Beginn der Krankheit brachten. Allen Krankengeschichten sind die Sektionsbefunde beigefügt. Jene 26 Fälle betrafen 9 Frauen, die mit 28—80 (!) Jah¬ ren, und 17 Männer, die mit 85—70 Jahren an Epilepsie er¬ krankten. In sämmtlichen Fällen bestand ausgesprochene Arterien- verhärtung, ein Umstand, den der Verf. als besonders wichtig hervorhebt. Er erblickt in der Gefässkrankheit die Haupt¬ ursache der Spätepilepsie. Für eine erhebliche Bedeutung der erblichen Belastung, welcher Mendel trotz des späten Lebensalters, in dem die Krankheit sich geltend macht, eine grosse ursächliche Rolle zuschreibt, ergiebt sich aus L.'s Fällen kein Anhaltspunkt; ebensowenig, bei Anwendung einiger Kritik, für eine Bedeutung vorhergegangener Verletzungen. 14 von den Kranken waren Trinker, bei ihnen ist eine Schuld des Alkoholmissbrauchs am Bestehen der Gefässerkrankung möglich, in gleichem Sinne kann bei vier andern, die aber gleichzeitig zu den eben genannten Alkoholikern gehörten, die nachweislich überstandene Syphilis gewirkt haben. Be¬ merkenswerth ist noch, dass der erste Anfall zwei Mal an Fehlgeburten und einmal an eine heftige Gemüthsbewegung — Tod des Ehemanns — sich anschloss und ein anderes Mal mit dem Beginn der Wechselzeit zusammentraf. Klinisch glich die Krankheit im Allgemeinen der echten Fallsucht. Grosse Reizbarkeit und eine starke Neigung zu Schwindelanfallen war den Kranken eigen. Als Besonderheit ist die Schnelligkeit der Verblödung genannt, die um so mehr hervortritt, in je höherem Alter die Leute erkranken. Die Heilungsaussichten sind durchaus schlecht. Beitrag zur forensischen Würdigung der Selbstanklagen von Geisteskranken. Von Dr. Kreuser-Schussenried. (Zoitochr. f. Pf yd). Bd. 66, H. 4.) Der aus guter Familie stammende, erblich belastete E. M. war frühzeitig verdorben uad dem Trunk ergeben. Beim Mili¬ tär machte er mehrmals alberne Fluchtversuche. Später liess er sich Unterschlagungen und Diebstähle zu Schulden kommen. Von 1893 bis 1898 zeigte er sich sieben Mal wegen Eigen¬ thumsvergehen an und wurde bestraft Ferner hat er sich zweier Brandstiftungen bezichtigt, die in seiner Vaterstadt passirt und ungeahndet geblieben waren und endlich eines angeblichen, 10 Jahre zurückliegenden Raubmords. Wenn schon bei jenen beiden Verbrechen die angestellten Ermitte¬ lungen zur Folge hatten, dass die Eröffnung des Hauptver¬ fahrens gegen M. unterlassen wurde, so liess sich vollends kein Anhaltspunkt dafür finden, dass ein Mord, wie der von M. geschilderte überhaupt verübt worden sei. Um so dring¬ licher verlangte M. seine Bestrafung und Hinrichtung, er suchte immer mehr Gründe zu häufen und beschuldigte und verdächtigte Polizei und Gerichte, die ihn zurückwiesen, in schwerster Weise. Aerztlich untersucht, klagte M. über Verdauungsstörungen (Erbrechen, Durchfall, schmerzhaftes Drängen), ferner über Kopfschmerz und Schlaflosigkeit. Er erzählte, jede Nacht er¬ scheinen ihm die Personen der von ihm Geschädigten und der Henker mit seinen Knechten. Thatsächlich ist er Nachts immer, selbst narkotischen Mitteln zum Trotz, schlaf- und ruhelos. Die Selbstanklagen sind formell klar, ihr Inhalt streift nie ans Un¬ mögliche, Einwände bringen ihn zunächst in Aufregung und zum Schimpfen und Verläumden, dann aber dazu, seinem Ge¬ bäude von Behauptungen und Beweisen neue Glieder einzu¬ fügen. Für die Erfolglosigkeit seiner Selbstbezichtigungen macht er nur gewisse schmutzige Sachen verantwortlich, in die die Beamten seiner Vaterstadt verwickelt seien, und die bei der Verhandlung zum Vorschein kommen würden. Des¬ wegen stemple man ihn zum Narren. M. ist, trotz der Eigenart seines Falles, das klassische Beispiel eines chronisch Verrückten. Unter dem Einfluss von Erinnerungsfälschungen und Sinnestäuschungen formt er sich ein Wahnsystem, in dem er selbst zwar einerseits als schwe¬ rer Staatsverbrecher dasteht — eine etwas ungewöhnliche Art von Grössenwahn, andererseits doch wieder als ein um sein Recht von Andern Betrogener. Wäre seinen Selbstanklagen Glauben geschenkt worden, so hätte er das Schaffot bestiegen — in Wahrheit gehört er ins Irrenhaus. Innere Medizin. Beitrag zur Diagnose der Lungenspitzenkatarrhe. Von Stabsarzt Dr. Burghart, Ass. a. d. I. med. Univ.-Klinik zu Berlin. (D. Zeitschr, 1900, H. 1.) Die Tuberkulose der Lungen pflegt mit Erkrankungen der Lungenspitzen zu beginnen, deren Erkennung schwer zu sein pflegt und unmöglich sein kann. Das sicherste Zeichen eines solchen Spitzenkatarrhs sind die Rasselgeräusche, aber diese fehlen oft. Verf. hat nun die merkwürdige Beobachtung ge¬ macht, dass bei Kranken mit unzweifelhaft bestehendem tuber¬ kulösem Spitzenkatarrh, denen am Ort der Erkrankung Rassel¬ geräusche fehlten, häufig an einer andern Stelle, näm- Digitized by Google 1. März 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 95 lieh am unteren Lungenrande zwischen Brustwarzen- und vorderer Aohsellinie, Rasselgeräusche zu hören sind. Da diese Stelle für die Ansiedlung von Keimen äussers wenig veranlagt ist, können offenbar die Geräusche nur durch angesaugtes Sekret aus den kranken Theilen zu Stande kommen. Dass es gerade die vorderen Theile des Lungengrundes sind, wo man die Geräusche vernimmt, wird vielleicht zum Theil dadurch bedingt, das B.’s Kranke fast sämmtlich tagsüber ausser Bett, also in aufrechter Stellung sich befanden. Nie¬ mals wurden die Geräusche auf der der kranken Spitze ent¬ gegengesetzten Seite gehört. Machten sie sich auf der bisher für gesund gehaltenen Seite geltend, so stellte sich bald her¬ aus, dass hier die Spitze miterkrankt war. Das Rasseln klingt verschieden, je nach der Flüssigkeit des Sekrets bezw. nach der Zeit seines Verweilens am unteren Lungenrande. Mitunter, namentlich wenn flüssigerer, reich¬ licherer Auswurf vorhanden ist, klingt es mehr grossblasig und feucht, meist aber, zumal bei zähem Auswurf, feinblasig, trocken, knisternd. Manchmal lässt sich beobachten, wie durch Eindickung des Abgesonderten die erste Form des Rasseins in die letzterwähnte übergeht. Pleuritische Geräusche, mit denen die von B. beobachteten verwechselt werden könnten, werden meist nicht auf den einen engbegrenzten Bezirk beschränkt sein. Bisher hat das von ihm entdeckte Erkennungsmittel den Verf. in keinem Falle irregeführt. An Nachprüfungen wird es sicher nicht fehlen, man kann ihren Ergebnissen mit einiger Spannung entgegensehen. lieber totale Pylorusstenose nach Laugenätznng. Von Dr. A. Hadenfeldt-Kiei. (Münch. Med. W. 1900 No. 7.) Aetzende Flüssigkeiten pflegen die Speiseröhren-Schleim- haut zu verwunden und hier durch nachträgliche Schrumpfung eine Verengung herbeizuführen. Sehr selten dürfte der Sitz der Aetznarbe am Pförtner des Magens zu suchen sein. Der siebenjährige Kranke, über den H. berichtet, hat beide Formen der narbigen Verengerung durchmachen müssen. Er hatte Lauge statt Kaffee getrunken und nachdem die bedrohlichen Anfangs¬ erscheinungen rasch vorübergegangen waren, nach einer Woche die Erscheinungen einer Speiseröhren-Enge dargeboten. Binnen 8 Tagen war er unter Sondenbehandlung hiervon ge¬ nesen. Nach einer weiteren Woche fiel den Angehörigen auf, dass der Leib des Kindes stark aufgetrieben war. Der Arzt fand jetzt neben der durch Gase bewirkten Aufblähung nur ganz vorübergehend geringes Fieber. Erbrechen war zunächst nicht vorhanden, der Schmerz war gering, dabei magerte der Kranke jedoch sichtlich ab. Nach einigen Tagen stellte sich Brech¬ neigung mit geringer Wirkung ein. Ferner breitete sich zu beiden Seiten des enorm geblähten Leibes eine Dämpfung von zunehmender Grösse aus. Von den in Betracht kommenden Krankheiten konnte bei dem Verlauf des Leidens eine Bauch¬ fellentzündung in Folge von Geschwürsdurchbruch, eine innere Einklemmung oder Blutung ausgeschlossen werden. Mehr Wahrscheinlichkeit war für eine chronische tuberkulöse Bauch¬ fellentzündung gegeben, zumal das Kind tuberkulös belastet war. Jedenfalls erschien ein Probe-Bauchschnitt geboten. Dieser ergab einen ganz unerwarteten Befund. Von der Beckenfuge bis zum Zwerchfell und seitlich bis in die Weichen wurde der Bauch durch eine prall gespannte Blase mit seidenpapierdünner Wand ausgefüllt. Geöffnet erwies sich diese Blase als der Magen, der sich nach der Entleerung bis annähernd zur gewöhnlichen Grösse zusammen¬ zog. Er hatte mindestens 5 Liter enthalten. Der durch die Oeffnung vorgezogene Pförtner zeigte sich durch Granulations¬ gewebe völlig verlegt. Es wurde eine Verbindung zwischen Magen und Darm hergestellt. Der Kranke erholte sich, abge¬ sehen von einigen Bauchdecken-Abscesschen, glatt und voll¬ ständig. Aus den sich anschliessenden Bemerkungen des Verfassers sei hervorgehoben, was er über die Geringfügigkeit des Er¬ brechens sagt: Es dürfte, vielleicht abhängig von der Narbe in der Speiseröhre, am Magenmuude eine Art Klappenventil bestanden haben, das wohl Nahrungsaufnahme, aber nicht Er¬ brechen gestattete. Tödtliche Darmblutung nach einem Unfall. Von Dr. Gratz-Sobbowitz, W.-Pr. (D. med. Wochenschr. 1899, No. 27.) Ein bisher gesunder, 47jähriger Arbeiter, der beim Legen eines Bahngeleises beschäftigt ist, will mittelst eines Hebe¬ baumes das Geleis hoohdrücken, dabei gleitet der Hebel ab und der Arbeiter stürzt hin. Er hat gleich nachher Schmer¬ zen im Leibe, bleibt aber bei der Arbeit. Am Nachmittag werden die Schmerzen, besonders in der Nabelgegend, unge¬ mein heftig. Uebelkeit und Aufstossen gesellt sich dazu. Der alsbald herbeigerufene Arzt findet objektiv nur mässige Auf¬ treibung des Leibes und Druckempfindlichkeit unter dem lin¬ ken Rippenbogen, kein Erbrechen, keine Pulsbeschleunigung, keine Temperatur-Erhöhung. Abends wird er nochmals citirt, findet aber den Mann schon todt. [Die Thatsache des vorher¬ gegangenen Unfalls wird ihm erst am folgenden Tage vom Betriebsleiter, der selbst Augenzeuge gewesen ist, mitgetheilt.] Die Sektion ergab zwischen den Blättern des Gekröses zahlreiche flächenhafte Blutergüsse, und eine Füllung des Dünndarmes mit theils geronnenem, theils flüssigem Blut. Nirgends fand sich eine Zerreissung oder Geschwürsbildung an der Darmschleimhaut, nirgends die Verletzung eines grösse¬ ren Gefässes. Verf. sucht die Ursache dieser tödtlichen Blutung aus feinsten Gefässen in der starken Anspannung der Bauchpresse beim Drücken auf den Hebebaum (?), schliesst aber auch einen Schlag des Hebebaumes gegen den Leib nicht aus. Chirurgie. Zwei Fälle von Kniegeleiiksverstauchang. Von Dr. Guttmann-Otterndorf. (Die JtrstUdie Praxis 1900 No. 1.) Die Kniegelenksverstauchung, deren Erkennung leicht zum Schaden der Kranken verfehlt werden kann, ist im Stande, die Erwerbsfähigkeit der Verletzten ernst und dauernd herab¬ zusetzen. Der sie begleitende Bluterguss wird schwer aufge¬ saugt und führt zu einer Kapselerschlaffung, der Reiz des liegenbleibenden Blutes bedingt chronische Entzündungszu¬ stände. Die Verletzten klagen dann hauptsächlich über Un¬ sicherheit beim Stehen und Gehen, insbesondere wenn sie Lasten tragen sollen, und über Schmerzen, namentlich bei Anstrengungen. Man findet scheinbar geringe Abweichungen: das Bein kann im Gelenk ein wenig überstreckt, ein wenig seitlich verschoben werden, die Muskeln des Oberschenkels magern etwas ab. Da es aber bei unsern Steh- und Geh¬ werkzeugen eben darauf ankommt, sie in jeder beliebigen Lage vollkommen feststellen zu können, so sind jene geringen Veränderungen in der Berufsthätigkeit von grosser Bedeutung. Auffälliger werden die Störungen natürlich, wenn Bänderzer- reissungen mit erfolgt sind. Auf dem Boden ganz gering¬ fügiger Verstauchungen entwickelt sich als schwerste Folge dieser Unfälle nicht ungern die Gelenkstuberkulose. Zwei kurze Krankengeschichten sind beigefügt. Digitized by Google 96 No. 6. Aerztliohe Sachverständigen-Ze itung. Eine 50jährige kräftige Frau stürzte auf schlüpfrigem Boden, wobei sie sich ihr linkes Beiu „verdrehte“. G. fand einen starken Bluterguss im Gelenk. Ausserdem liess sich das Bein im Knie überstrecken, woraus er eine Abreissung der gekreuzten Gelenkbänder folgert. Der Unterschenkel liess sich gegen den Oberschenkel nach aussen etwas abknicken und um den äusseren Rollhügel desselben ein wenig rotieren. Hieraus ergab sich also auch eine Zerreissung des inneren Verstärkungsbandes der Gelenkkapsel. Um die Heilung der zerrissenen Theile zu sichern, wurde nach Ablauf der ersten stürmischen Erscheinungen ein Dauer-Gipsverband angelegt. Nach einigen Monaten konnte die Frau eben anfangen, mit Stock und Knieschutzkappe zu gehen. Jetzt nach 2 Jahren geht sie leidlich gut am Stock mit umwickeltem Knie, ist aber grösseren Anstrengungen keineswegs gewachsen. Dabei be¬ stehen objektiv nur geringfügige Wackelbewegungen neben einem mässigen Schwund der Muskulatur. Die der Verletzten zugebilligte Rente von 60 Prozent scheint eher zu niedrig als zu hoch. Eine 17jährige kräftige, nicht tuberkulös belastete Magd erlitt eine Verstauchung des Knies, die objektiv nur durch den Bluterguss gekennzeichnet war. Unter geeigneter Be¬ handlung schien alles gut zu werden, doch blieb das Gelenk 2 cm dicker als das der andern Seite, und zwar blieb eine Kapselverdickung bestehen, die dem Verf. stark tuberkulose¬ verdächtig ist. Ein sehr deutliches Beispiel für Gelenkstuber¬ kulose nach Verstauchung stellt dieser Fall nicht dar. Es sind gerade in letzter Zeit eine ganze Anzahl von Fällen ver¬ öffentlicht worden, die darauf hindeuten, dass auch völlig gut¬ artige Gelenkentzündungen mit Gewebswucherung nach Ver¬ stauchungen entstehen können. Ueber einen Fall von willkürlicher Knieluxation nach Trauma. Von Dr. Lissauer-Heidelberg. (Mon. f. Unf. 1800. No. 12). Ein Schlepper wurde von herabfallenden Lehmmassen ge¬ troffen, als er das linke Bein nach vorn gesetzt und im Knie leicht gebeugt hatte. Er erlitt eine Verrenkung des Unter¬ schenkels nach hinten, die erst 5 Tage nachher wieder zurück¬ gebracht wurde. Nach 6 Wochen wurde er aus der Kranken- hausbehandlung als geheilt entlassen. Er bemerkte jedoch bald, dass er den Unterschenkel im Kniegelenk willkürlich nach hinten und vorn verschieben konnte. Dabei war er im Gehen sehr behindert, immer kam es ihm vor, als wolle das Bein nach hinten durchbrechen. Im Vulpius’schen Institut wurde eine ziemlich beträchtliche Verdickung des Gelenks, ein Erguss in demselben und knirschen bei Bewegungen gefunden. Es zeigte sich, dass die Angaben des Verletzten über seine Fähig¬ keit, das Knie in Verrenkungs- (Subluxations ) Stellung und aus derselben willkürlich durch Muskelzug zu bringen, richtig waren. Wenn er beim Stehen oder Gehen das Bein strecken will, tritt ohne seinen Wunsch und unter Schmerzen gleichfalls die Ver¬ renkung ein. Daher geht er gewöhnlich mit leicht gebeug¬ tem Knie. Die Verletzungsfolgen sind recht unangenehm und ernst. Ohne entsprechende Behandlung würde einerseits die Er¬ schlaffung der Bänder immer höhere Grade erreichen, andrer¬ seits würden sich wahrscheinlich chronisch entzündliche Störungen im Gelenk festsetzen. Der Verletzte hat daher einen Schienenhülsenapparat er¬ halten, durch den womöglich eine Schrumpfung der erschlaff¬ ten Gelenkkapsel erreicht werden, mindestens aber, weun er den Apparat dauernd tragen muss, die Gehfähigkeit gebessert werden soll. Ueber Schussverletzung des Rückenmarks im Halsthell. Von Oberarzt Dr. Herhold-Altona. (D. MiliUtränrtl. Zeitecbr. 1900 No. 1.) Durch den Bleikern eines abgelenkten Geschosses wurde ein Gefreiter in der Mitte des Nackens verletzt. Er brach zu¬ sammen und war an allen Gliedmassen, sowie an Blase und Mastdarm völlig gelähmt. Die Reflexe waren erloschen, die Hautempflndung bis aufwärts zur zweiten Rippe aufgehoben. Alsbald stellte sich hohes Fieber ein. Der Tod erfolgte am vierten Tage. Das Geschoss war zwischen den Bögen des vierten und fünften Wirbels eingedrungen, hatte das Rücken¬ mark seitlich verletzt und war im Wirbelkörper stecken ge¬ blieben. Ein blutiger Eingriff wäre offenbar nutzlos gewesen. Zu Friedenszeiten sollen derartige Verletzungen ungemein selten sein und am ehesten noch bei Selbstmördern, die sich in den Mund schiessen, Vorkommen. Fraktur des äusseren Gehörganges beiderseits durch Sturz vom Zweirad. Von Prof. Passow-Heidelberg. (Mon. f. Unf. 1900 No. 1.) Ein gesunder Mann ir. mittleren Jahren stürzt vornüber vom Zweirad. Er erhält eine quere Quetschwunde am Kinn, aus beiden Gehörgängen träufelt Blut ab. In die Klinik ge¬ bracht, bekommt er, ohne dass vorher Reinigungsversuche angestellt werden, einen Deckverband, der den Unterkiefer mit feststellt. Das anfangs sehr herabgesetzte Gehör bessert sich schon bis zum nächsten Tage etwas. Jetzt lässt die Untersuchung Hautrisse in beiden Gehörgängen erkennen, während die Trommelfelle unversehrt sind; aus dem Riss auf der rechten Seite ragt alsbald, aus dem auf der linken nach einigen Tagen ein Knochensplitter hervor. Beide Splitter werden entfernt. Die Wunden heilen mit kaum merklicher Einziehung. Eine Hörstöruug bleibt nicht zurück. Hier hat also der Unterkieferfortsatz beiderseits beim Sturz auf das Kinn aus seiner Gelenkhöhle Stücke, die dem knöchernen Gehörgang angehörten, ausgesprengt, ohne dass die inneren Theile der Ohren verletzt wurden. Bemerkens¬ werth ist, dass in anderen ähnlichen Fällen nachträgliche Ver¬ engerungen des Gehörganges, jedenfalls durch Kalluswuche¬ rung, vorgekommen sind. Hier ist nichts derartiges entstanden. Gynäkologie. Ueber Zerreisstingen des Nabelstranges und ihre Folgen für den Neugeborenen. Von Dr. Joseph Bayer-Köln. (Volkman'sche Hefte N. F. N. 265.) Veranlassung zu der Arbeit gab ein Fall, in welchem eine 18jährige Erstgebärende, angeblich allein, im Bett bei der Geburt eines reifen Kindes bewusstlos wurde. Man fand das Kind todt, mit durchrissener Nabelschnur, Schädelbrüchen und Leberriss. Nach den übrigen Befunden hatte es geathmet und gelebt. Wegen Beweismangel wurde Mutter und Grossmutter des Kindes freigesprochen. B. geht diesen Fall durch bezüglich einzelner Verletzungen und spricht sich dabin aus, dass das Kind nicht anders als durch verbrecherische Manipulationen gestorben sein kann. Er bringt die Literatur und Versuche über die Zerreiss- barkeit der Nabelschnur innerhalb und ausserhalb des Mutter¬ leibes, ohne eigene Versuche hinzuzufügen. Ebenso beweist er aus der Literatur, dass die Stürze auf den Kopf bei Sturz¬ geburten höchst selten den Neugeborenen Schaden zufügen und dass Leberrisse spontan höchst selten bei praecipitirten Geburten zu Stande kommen. Digitized by Google 1. März 1900. Aerztliche Sachverständige n-Zeitung. 97 Für gerichtsärztliche Gutachten ist der Aufsatz wichtig und von Interesse. Schwarze. Ein Fall von Pfählung mit Verletzung des Scheidengewölbes. Von Dr. Friedrich Land wehr-Bielefeld. (Deutsche medisiotsche Wochenschrift No. 42, 1899.) Der vom Verf. mitgetheilte Fall von Pfählung bietet ein Beispiel für die relativ starke Widerstandsfähigkeit des Becken¬ bodens gegen Gewalten, welche von unten her eindringen, so dass dieselben verhältnissmässig selten zu einer Eröffnung der Bauchhöhle führen. Eine 44 jährige Frau war in der Weise verunglückt, dass sie beim Ueberklettern einer Holzschranke sich auf einen aufrechtstehenden runden, mit stumpfem Ende versehenen Pfahl von etwa 1 m Länge und 3 cm Dicke aufspiesste. Von einer zur Hilfe herbeieilenden Person wurde die VeVletzte bald aus ihrer Situation befreit, wobei sich sofort eine starke Blutung einstellte. Bei der 2 Vs Stunden nach der Verletzung vorgenommenen Untersuchung ergab sich folgender Befund: Die Blutung erfolgte aus der Vagina. Das Scheiden¬ gewölbe war auf der rechten Körperseite in der Mitte neben der Portio eingerissen. Der Riss setzte sich in den oberen Theil der Scheide fort und verlief schräg in der Längsrichtung derselben in einer Länge von etwa 4 cm. Die Schleimhaut war völlig durchtrennt, und die Wunde erstreckte sich in das subfasciale Bindegewebe, ohne dass eine Perforationsöffnung in die Bauchhöhle zu fühlen war. Nach Stillung der Blutung durch Tamponade der Vagina wurde die Verletzte ins Kranken¬ haus überführt. Bei der hier vorgenommenen Katheterisirung entleerte sich klarer Urin, so dass der Verdacht einer Blasen¬ verletzung sich als unbegründet erwies. Ausser der Haupt¬ wunde zeigten die Vagina als die Eintrittsstelle des Pfahles, sowie die Portio nur unbedeutende Verletzungen. Den Blut¬ spuren nach zu urtheilen (ein übrigens sehr unsicheres Kri¬ terium. Ref.) muss der Pfahl etwa 10 cm tief in den Körper eingedrungen sein. Die Wunde wurde durch eine fortlaufende Katgutnaht geschlossen; es trat primäre Heilung ein. -y. Kami eine bei einer Laparotomie vergessene Gazekom¬ presse in den Darm einwandern, ohne schwere Symptome zu machen l Von Dr. J. P. zum Busch, Oberarzt am Gerraain Hospital. (Central-Bl. f. Chir. 99 No. 51.) Ein Fall von Einwanderung einer bei einer Laparo¬ tomie zurückgelassenen Kompresse in den Dünndarm. Von Dr. J. Merttens-Düsseldorf. (Centr.-Bl. f. Gyn. 1900 No. 4.) Im ersteren Falle ging am 70. Tage nach einer abdomi¬ nalen Myomotomie eine vergessene Gazekompresse durch den After ab, ohne dass die Kranke schwere Erscheinungen oder weiteren Schaden hatte. Im Falle von Merttens hatte eine schwere abdominale Adnexoperation stattgefunden. 5 Monate später zeigte sich unter heftigen Schmerzen im Leibe eine wurstförmige Schwel¬ lung, welche sich beim Leibschnitt als eine Dünndarmschlinge erwies, in welcher eine GazekompreBse lag: Resektion des Darmstücks — Heilung. Merttens erwähnt den analogen Fall Rehns, den er auf dem Chirurgen-Kongres 1899 vortrug. Hier wurde die Compresse er. 6 Monate nach einer Pyosalpinx- Operation aus dem Darm entfernt, in welchem sie ohne wesentliche Verwachsungen zu machen, gelegen hatte. Weitere Fälle der Art sind der von Michaux, in dem 4 Wochen nach der Exstirpation von Uterus und Ovarien heftige Krämpfe begannen und in einem unentwirrbaren Knäul von Darmschlingen und Verwachsungen sich im Innern einer Dünn¬ darmschlinge eine Kompresse fand. Die Patientin starb. Schliesslich Pilate’s Fall, der 6 l / f Monat nach einer Lapa¬ rotomie den Abgang einer Kompresse durch den After be¬ obachtete, ohne Schaden für die Patientin. Schwarze. Augen. Ein Beitrag zur Ophthalmia electrica. (Aus der Augenheilanstalt von Dr. Herzog in Graudenz.) Von Dr. L. Alexander-Nürnberg. (Deutsche medfiinische Woobengehritt 1899, No. 47.) Mit der in steter Zunahme begriffenen Ausdehnung elek¬ trischer Anlagen mehren sich auch die durch den elektrischen Strom direkt oder indirekt hervorgerufenen Betriebsunfälle. So gehört die „elektrische Augenentzündung“ keineswegs mehr zu den selten beobachteten Unfällen. Meist handelt es sich um Schädigungen des Sehorganes, die durch länger einwirken- des elektrisches Licht hervorgerufen wurden; zuweilen bildet aber auch das durch Kurzschluss herbeigeführte plötzliche Aufleuchten eines intensiven elektrischen Lichtstrahles das schädliche Agens. So war es der Fall bei der von Verf. mit- getheilten Beobachtung. Ein Monteur war damit beschäftigt, an einer Schalttafel in der elektrischen Centrale die Entfernung zwischen zwei Bolzen an den Strassenbahnmaschinen zu messen. Durch unvorsichtiges Manipuliren kam Kurzschluss zu Stande; es entstand ein greller Lichtbogen. Pat. fiel vor Schreck rückwärts gegen die Wand und war eine Viertelstunde lang nicht in der Lage, die Augen zu öffnen. Wenn er dazu den Versuch machte, so bekam er über beide Augen heftige Schmerzen, die nach dem Genick zu auBstrahlten. Als Pat. seine Augen wieder öffnen konnte, bemerkte er vor beiden stark blaue und gelbe Flecke, die sich etwa V 2 Stunde lang beständig hin- und herbewegten. Die Augen thränten und brannten; zwölf Stunden nach dem Unfall traten sehr heftige Schmerzen an den Augen auf, die nach sechs Stunden all¬ mählich nachliessen, um dann ganz zu verschwinden. Zur Zeit der Untersuchung klagt Pat. nur noch über etwas Brennen, Thränen und Müdigkeitsgefühl in beiden Augen. Der Befund ist Folgender: Am linken Auge sind die oberen Cilien zum grössten Theil an ihrer Spitze versengt. Die Conjunctiva pal¬ pebrarum ist beiderseits, besonders an dem unteren Lide, stark geröthet, die Uebergangsfalten mässig geschwellt. Ausser der stärkeren Thränenabsonderung keine Sekretion. Die Conjunctiva bulbi ist etwas injizirt, am stärksten im Lidspaltenbezirk, hier auch etwas chemotisch. Beide Pupillen sind stark verengt und zeigen nur träge Reaktion. Das Gesichtsfeld ist beider¬ seits in der Peripherie von normaler Ausdehnung, am rechten Auge auch central. Links dagegen giebt Pat. ein positives Scotom an, welches er auf ein vorgehaltenes weisses Blatt als eine fast kreisrunde Scheibe projizirt. Die Hauptsymptome waren also neben der Versengung der Cilien der heftige Ble¬ pharospasmus, die Erscheinungen, die als Netzhautreizung auf¬ zufassen sind und die lebhaften Schmerzen. Die Therapie muss sich in solchen Fällen auf ein symptomatisches Vorgehen beschränken (Schonung, Kokain). —y. lieber Durchtremrang des Sehnerven. Von Dr. Fritz Mendel, Ass.-A. d. Hirschbergschen Augenheilanstalt. (B. kl. W. 1899, No. 45.) Der Sehnerv ist ein Theil des Gehirns: einmal völlig durchschnitten, kann er nie wieder zusammenwachsen. In diesem Falle tritt dauernde, völlige Erblindung ein, und die Pupille zieht sich auf Lichteinfall nicht mehr zusammen. Da der Nerv in seinem dicht am Augapfel gelegenen Theile die Centralarterie enthält, wird nur bei Durchscheidung dieses Digitized by Google Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 5. Ö8 Theils der Blutkreislauf der Netzhaut sofort gestört: die Schlag¬ äderchen werden unsichtbar, in den Blutäderchen zerfällt die Blutsäule in kurze Cylinder, die Netzhaut trübt sich milchig — ganz wie bei Verstopfung der Centralarterie oder unmittelbar nach dem Tode. Wird der Sehnerv unvollständig durchtrennt, so ist die Blindheit nur im Anfang vollkommen, später stellt sich ein mehrweniger grosser Theil des Sehvermögens wieder ein. Nach diesen Vorbemerkungen sind die nachfolgend kurz wiedergegebenen Fälle ohne weiteres verständlich. 1 . Einem Arbeiter flog ein Stück Holz von einer unge¬ heuer schnell rotirenden Maschine gegen das eine Auge. So¬ fort trat dauernde Blindheit ein. Der Augenspiegelbefund ent¬ sprach dem einer Embolie der Centralarterie. Das Herz war gesund. Da ein Gutachter Embolie annahm, wurde der Mann, der, damals noch auf Grund des Haftpflichtgesetzes, Ent¬ schädigung beanspruchte, wegen Betrugs angeklagt. Der zweite Gutachter nahm Durchtrennung des Sehnerven dicht am Augapfel an. Eine sehr seltne Verletzung. 2. Ein junger Mann lief mit dem Auge in ein Rappier. Sehfähigkeit und Pupillenreaktion waren und blieben ver¬ schwunden. Der Spiegelbefund war Anfangs normal, dann blasste die Sehnervenpupille in ihrer äusseren Hälfte ab. 3. Ein Mann stürzte von einer Leiter mit dem Auge auf einen vorstehenden Eisennagel. Das Unterlid war durchbohrt. Stockblindheit und Pupillenstarre bestanden wie bei 2, der Augenspiegelbefund war derselbe. In diesen beiden Fällen war der Sehnerv in der Mitte der Augenhöhle zerrissen. 4 . Nach Florettstich ins Auge bestand acht Tage lang völlige Blindheit, dann blieb ein Ausfall des Sehvermögens in der Mitte des Gesichtsfelds und eine allgemeine Schwach¬ sichtigkeit zurück. 5 . Ein fünfjähriger Junge erhielt einen Heugabelstich in’s Auge. Unmittelbar nachher vermochte er auf der verletzten Seite nur Handbewegungen zu sehen, die Pupille reagirte gut, der Hintergrund war fast normal. Die Sebfähigkeit besserte sich, das Gesichtsfeld behielt oben und unten Lücken und in der Mitte eine Verdunkelung, die Schläfenhälfte des Sehnerven blasste ab. 6 . Ein Knabe stiess sich gegen einen Blumenstock und erhielt eine Wunde am rechten unteren Lide. Vom Gesichts¬ feld fehlte Anfangs die ganze untere Hälfte, später stellte es sich vollkommen wieder her. Die Sehnervenpapille blasste ab. 7 . Ein Student erhielt einen Stoss mit stumpfem Rappier gegen das rechte Auge. Eine Viertelstunde lang bestand völlige Blindheit, doch war der Augenhintergrund normal. Dann stellte sich bei stark abgeschwächter centraler Seh¬ schärfe die untere Hälfte des Gesichtsfelds wieder ein. Während die Sehschärfe sich immer mehr besserte, blieb die obere Gesichtsfeldhälfte verloren, und der untere Theil der Papille hat sich entfärbt. Die Fälle 4—7 stellen unvollständige Sehnerven-Ver¬ letzungen verschiedenen Grades dar. Aus Vereinen und Versammlungen. Die Frage der Vol ks-Nervenheilstätten wurde bei der 03. Versammlung des psychiatrischen Ver¬ eins der Rheinprovinz in klaren und umfassenden Re¬ feraten behandelt, deren Inhalt wir um so lieber hier mit¬ theilen, weil seine Verbreitung in weitere Kreise sicher ge¬ eignet ist, das Interesse für die Heilstättenbewegung zu fördern. lieber den Stand der Frage der Errichtung von Nerven- heilstätten und die Wege zu ihreu Lösung. Von Sanitätsrath Dr. J. Peretti- Grafenberg, lieber Nothwendigkeit und Einrichtung von Volksheil¬ stätten für Nervenkranke. Von Dr. Aug. Ho ff mann-Düsseldorf. Peretti gab zuerst einen gedrängten geschichtlichen Abriss der Bewegung und hob dann kurz hervor, wie es so viele Nervenkranke giebt, die nach dem übereinstimmenden Urtheil aller Fachleute von der Sprechstundenbehandlung wenig oder nichts haben, und denen zu einer gründlichen Kur im Hause oder noch besser ausserhalb desselben die Mittel fehlen. Für diese Ungezählten müssen die Heilstätten geschaffen werden! Der Vortragende besprach sodann die Grundfrage: Woher sollen die Mittel kommen? Der Staat wird sicher nichts geben, die Provinzen und Gemeinden voraussichtlich ebenso¬ wenig. Von der Privat-Wohlthätigkeit verspricht P. sich nicht allzuviel, weil sie schon zu sehr in Anspruch genommen ist. Dagegen bei den Berufsgenossenschaften ist geradezu das Bedürfnis nach solchen Heilstätten für ihre nervenkranken Unfallrentner vorhanden, ebenso bei den Invaliditätsver- sicherungs Anstalten, die ja jetzt auch die Aufgabe über¬ nommen haben, Invalidität zu verhüten, und endlich werden die Kassen, besonders auch die Bahnkassen, Kranke in die Heilstätten schicken. Alsodie B etriebskosten würden schon gedeckt werden, aber für dieErrich tun gekosten bleibt nichts anderes übrig als, private Wohlthätigkeit mit in Anspruch zu nehmen, und bei aller Skepsis kann man hoffen, dass diese im Verein mit den oben erwähnten Instituten doch ausreichende Mittel schaffen wird. Hoff mann streifte erst kurz den naheliegenden Einwand, die Zeit sei jetzt für die Nervenheilstätten ungünstig gewählt, da man gerade jetzt grosse Summen für Lungenheilstätten ausgebe. Bei Dingen, die wirklich nothwendig sind, dürfen solche Erwägungen nicht massgeblich sein, und dass die Nervenheilstätten nothwendig sind, wird allgemein, selbst von solchen zugegeben, die den Lungenheilstätten mit geringen Erwartungen gegenüberstehen. Für welche Kranke sind sie nun nöthig? Zunächst und in der Hauptsache für einen grossen Theil aller Neurastheni- schen und Hysterischen. Ihre Behandlung stellt Anforderungen, die zu erfüllen das gewöhnliche Krankenhaus nicht in der Lage ist. Alle Privatanstalten sind zu theuer und für Leute niederer Stände meist zu vornehm. Leichtere Formen von circulärem Irrsein und periodischer Melancholie, allenfalls auch die leichtesten von Schwachsinn, Verrücktheit, Zwangsvor¬ stellungen und Hypochondrie können mit Aufnahme finden. Ausgesprochene Geisteskranke und Epileptiker müssen ausge¬ schlossen sein. Für vereinzelte Kranke mit halbseitigem Kopfschmerz, Veitstanz, Zitterlähmung und Muskelkrämpfen kann die Heilstätte von Nutzen sein. Die nach Schlaganfällen und Hirnentzündungen Gelähmten, Lähmungsirrsinnige mit sehr geringen seelischen Erscheinungen (eine immerhin recht bedenkliche Kategorie! Ref.), verschiedene Rückenmarkskranke dürften zeitweilig Aufnahme finden. Die Unfallneurosen werden ständig einen Theü der Insassen bilden. H. stellt sich mit dieser Liste auf denselben Boden, wie etwa Möbius. Insbesondere will er die Unfall-Neurosen schon aus finanziellen Rücksichten nicht ausschliessen, ihren un¬ günstigen Einfluss auf die anderen Kranken fürchtet er, wenn sie nicht zu zahlreich sind, weniger als Fürstner. Von der Anwesenheit der nicht seelisch, sondern körperlich Kranken verspricht er sich für Arzt und Mitkranke viel Vortheil. In der langweiligen und trübseligen Gesellschaft von Hypochon¬ dern und Neurasthenikern sollen sie ein interessantes und Digitized by Google I. März 1000. Aerztliciie Saohverständigen-Zeitung. 99 dabei für die anderen Kranken anregendes und erheiterndes Element bilden. Um für die Zahl der Kranken, die zur Zeit in der Rhein¬ provinz der Heilstätte bedürften, einen ungefähren Anhalt zu gewinnen, haben die Referenten eine Umfrage bei den Kranken¬ häusern und einzelnen Kollegen veranstaltet. Es stellte sich heraus, dass 1898 in 32 Krankenhäusern (kaum die Hälfte der Gesammtzahl) und von drei Aerzten 1760 Nervenkranke be¬ handelt worden sind. 554 litten an Hysterie, Neurasthenie und Aehnlichem, ausserdem waren 150 nach Verletzungen und 819 theils organisch, theils an leichten Seelenstörungen erkrankt. Nimmt man von den ersten beiden Gruppen 50 Prozent und von der letzten 10 Prozent als anstaltsbedürftig an — eine viel zu niedrige Schätzung —, so kommen schon 433 Perso¬ nen zusammen. Eine Heilstätte, die nicht gut mehr als 100 Betten haben kann, würde also sofort reichlich gefüllt werden können. Ferner wurde festgestellt, dass am 1. Juli 1898 von etwa 20000 Invalidenrentnern rund 900 Nervenleidende waren, von denen sicher ein Theil vor der Invalidität hätte bewahrt .werden können. Bei der obigen Statistik fielen von ca. 1500 Personen etwa die Hälfte den Krankenkassen, ein Siebentel den Ge¬ meinden zur Last, die Uebrigen zahlten selbst. Diese letztere Gruppe, die „Minderbemittelten“, sind es, denen eine Fürsorge heutzutage am meisten Noth thut. Aufgenommen dürften in die Heilstätten nur heilbare oder doch voraussichtlich besserungsfähige Kranke werden. Die Heilstätte soll nicht über 100 Insassen haben. Als Haupt-Heilmittel soll die Arbeit angewandt werden, aber nicht Zwangs- und schablonenmässig, am meisten jedenfalls in Form von Garten- und Feld-, Tischlerei-, Buchbinder- und Schreibarbeit, auch leichter geistiger Beschäftigung. Daneben sollen andere Nervenbehandlungsweisen keineswegs vernach¬ lässigt werden. Ruhe muss in der Anstalt herrschen. Die Verpflegung muss einfach sein, alkoholische Getränke wird man, auch ohne Ultra-Abstinenzler zu sein, gern streichen. Eine Angliederung an eine bestehende Irrenanstalt, die Peretti nicht ganz ausschliesst, widerräth H., ebenso die an Epileptikeranstalten (Wildermuth) oder an ein Krankenhaus. Eine Universitätsanstalt, in der die physikalischen Heilweisen gelehrt werden, Hesse sich mit der Heilstätte gut verbinden. Die Schlusssätze der Berichterstatter lauteten: I. Die Errichtung von Heilstätten für minder be¬ mittelte Nervenkranke ist eine Nothwendigkeit. II. Der Verein wählt eine Kommission von fünf Mitgliedern, die sich mit den dabei interessirten Korporationen, Vereinen etc. in Verbindung zu setzen hat, um die Errichtung zunächst einer Heilstätte in der Rheinprovinz anzustreben. Warme Fürsprecher fanden diese Anträge in Thomson, Pelmann und Hoestermann. Der Letztere wies auf eine wahriich der Fürsorge bedürftige Klasse von Nervenleidenden, auf die nervös abgespannten Lehrerinnen hin, für die jetzt in Boppard ein Heim mit geringen Preisen gegründet worden ist. Meyhöfer glaubt nicht, dass die Privatwohlthätigkeit gegenwärtig leicht zu gewinnen sein wird. Von der Ver¬ pflichtung der InvaUditätsanstalten, für die Nervenkranken, die ihnen später zur Last fallen könnten, zu sorgen, ist er über¬ zeugt. Dass bei diesen Anstalten das Bedürfnis nach der Existenz von Heilstätten jetzt schon vorhanden sei, bestätigt er. Am bedenklichsten drückt sich Oebeke aus, der es nicht eben für praktisch hält, in diesem Augenblick die Frage an¬ zuschneiden. Trotz dieser Zweifel nahm die Versammlung die Sätze der Berichterstatter einstimmig an. Zu Kommission8mitgUedem werden Hoffmann, Meyhöfer, Pelmann, Peretti und Oebeke gewählt. Gerichtliche Entscheidungen. Ans dem Reicfas-Versichernngsamt. Schonungsbedflrftlgkeit bedingt ebenfalls Erwerbsunfähigkeit Im Sinne des Invaliden-Qesetzes. Rek.-Entecheidung vom 21. März 1899. Gegen das ungünstige Urtheil des Schiedsgerichts hat der Vorstand der Versicherungsanstalt rechtzeitig die Revision ein¬ gelegt und die Aufhebung der angefochteten Entscheidung, sowie Abweisung der Klägerin mit ihrem Rentenanspruch be¬ antragt. Der Revision wurde der Erfolg versagt, weil die angefochtene Entscheidung weder auf der unrichtigen Anwen¬ dung oder Nichtanwendung des bestehenden Rechts, noch auf einem Verstoss wider den klaren Inhalt der Akten beruht, das Verfahren auch nicht an einem wesentHohen Mangel leidet, mithin keiner der vom InvaHditäts- und Altersversicherungs- gesetz zugelassenen Revisionsgründe vorliegt. Insbesondere ist die Feststellung des Schiedsgerichts, dass in den Verhält¬ nissen der Klägerin eine Veränderung, welche sie nicht mehr als dauernd erwerbsunfähig erscheinen lasse, noch nicht ein¬ getreten sei, weder aktenwidrig noch rechtsirrthümHch. Zu¬ nächst kann dem Schiedsgericht im HinbUok auf das ihm nach § 18 der Kaiserlichen Verordnung vom 1, Dezember 1890 zu¬ stehende Recht der freien Beweiswürdigung nicht entgegen¬ getreten werden, wenn es bezüglich der oben bezeiohneten Frage das Gutachten des von ihm gehörten ärztHchen Sach¬ verständigen Dr. G. vom 9. Mai 1898 als massgebend erachtet hat. Inhalts dieses Gutachtens ist nun zwar die Klägerin nicht nur in ihrem Befinden erhebhch gebessert, sondern auch wieder zu einem Drittel erwerbsfähig befunden worden, andererseits aber die Befürchtung ausgesprochen, dass, wenn die Klägerin sich wieder regelmässig beschäftige, eine erneute Verschlimmerung ihres Zustandes eintreten werde. Hiernach ist also für die Klägerin noch Enthaltung von der Arbeit ge¬ boten, um zu verhüten, dass sie nicht wieder erwerbsunfähig wird. Solche Zeiten der Schonung sind einer mit Er¬ werbsunfähigkeit verbundenen Krankheit gleich zu achten. Dieser Grundsatz trifft auch zu für den hier vor- Hegenden Fall des § 33 Absatz 1 des Invaliditäts- und Alters¬ versicherungsgesetzes. Ein Rentenempfänger hört nicht schon dann auf, erwerbsunfähig zu sein, wenn er zwar an sich schon wieder im Stande ist, durch Lohnarbeit den gesetzHchen Mindest verdienst zu erreichen, aber Gefahr läuft, durch Ver¬ richtung der Arbeit seine Erwerbsfähigkeit wieder zu verlieren, er also, um dieses zu vermeiden, die Wiederaufnahme der voUen Ar¬ beit einstweilen unterlassen oder sich doch Schonung auferlegen und bis zur Wiedergewöhnung an die Arbeit und Wieder¬ erlangung der Erwerbsfähigkeit in der Betätigung seiner Arbeitskraft angemessen beschränken muss. Erst wenn die Kräftigung so weite Fortschritte gemacht hat, dass eine Ver¬ schlimmerung des Zustandes durch Ausübung einer versiche¬ rungspflichtigen Beschäftigung nicht mehr zu besorgen ist, er scheint die Annahme begründet, welche die Anwendung des § 33 Absatz 1 a. a. 0. rechtfertigt, dass der Rentenempfänger nicht mehr dauernd erwerbsunfähig sei. Diese Grundsätze entsprechen auch den Gesichtspunkten, von denen auf dem verwandten Gebiete der Unfallversicherung das Reichsver¬ sicherungsamt sich bei der Auslegung und Ausgestaltung der §§ 65 und 7 des Unfallversicherungsgesetzes hat leiten lassen. M. Digitized by LjOOQie 100 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 6. Kniegelenksverletzung. — Die volle oder die halbe Rente oder 75 Prozent. Rekurs-Entscheidung vom 15. Dezember 1899. F. D. aus Ch. bezog zuletzt seit dem 31. Juli 1898 von der Fuhrwerks-Berufsgenossenschaft in Folge eines am 28. Sep¬ tember 1897 erlittenen Betriebsunfalls bestehend in einer Quetschung des rechten Knies, die Rente für völlige Erwerbs¬ unfähigkeit Durch Bescheid der Genossenschaft vom 27. Jan. 1899 ist die Rente vom 1. Februar 1899 ab auf 33V8 Prozent der Vollrente herabgesetzt worden, weil in den Verhältnissen des Rentenempfängers, welche für die Feststellung der Ent¬ schädigung massgebend gewesen sind, nach dem Gutachten des Dr. K. vom 23. Januar 1899 eine dementsprechende Aende- rung eingetreten sei. Auf die Berufung des Verletzten for¬ derte noch das Schiedsgericht ein Obergutachten des Sanitäts¬ raths Dr. B. ein, in welchem Folgendes ausgeführt wurde: D. giebt an, dass er früher stets gesund, am 28. September 1897 beim Möbeltransport durch Auffallen eines Spindes eine Quetschung des rechten Knies erlitten habe. Danach hat er trotz mannigfacher Beschwerden bis in den Dezember 1897 weitergearbeitet, indem er zwischenein immer einige Tage aus¬ setzte. Dann hat er sich krank gemeldet bei Herrn Dr. B. in Ch., und ist auch in der Poliklinik der Charitä punktirt wor¬ den. Sechs Wochen ist er auch im Krankenhause zu Ch. be¬ handelt, und noch vier Wochen in der Charite. Auf ein Gut¬ achten des Herrn Dr. K. vom 20. August 1898 hat er von der Berufsgenossen8ohaft die Vollrente erhalten, und trat seit die¬ ser Zeit in die Behandlung des genannten Arztes. Nachdem dieser ihn bis zum 23. Januar 1899 behandelt, setzte ihm die Berufsgenossenschaft auf Grund des Gutachtens vom 23. Jan. 1899 seine Rente auf 387 3 Prozent herab. Dagegen hat er jetzt Berufung ans Schiedsgericht eingelegt, indem er behaup¬ tet, dass er mehr geschädigt sei, denn er hätte Schwäche im rechten Bein und Anschwellung des Knies, sodass er sich auf dem Bein unsicher fühlte. Bis jetzt habe er noch gar keine Arbeit anfangen können. Abgesehen von dem rechten Bein sei er ganz gesund. Bei der Untersuchung zeigte der p. D. sehr gesundes Aussehen und sehr kräftigen Körperbau mit kräftig entwickelter Muskulatur. Seine inneren Organe sind gesund. Am rechten Knie bemerkt man alsbald eine beträcht¬ liche Verdickung, sein Umfang über der Kniescheibe gemessen, beträgt 42,5 cm (gegen 37,5 links); beim Zufassen bemerkt man, dass diese Umfangsvermehrung auf einer Verdickung der Gelenkknorren und auf einen beträchtlichen Erguss in das Gelenk selbst beroht; die Kniescheibe ist abgehoben; es be¬ steht eine ausgiebige abnorme seitliche Beweglichkeit im Ge¬ lenk in gestreckter Stellung: die Streckung im Gelenk ist ausführbar, die Beugung bleibt um 25 Grad gegen links zu¬ rück. Bei Bewegungen des Gelenkes hört man Reibegeräusche. Es besteht eine so mangelhafte Festigkeit des Gelenkes, dass D. auf dem rechten Bein allein nicht stehen kann. Die Muskulatur des rechten Oberschenkels ist weicher als die des linken, und bleibt im Schritt um 1 cm (56:57), in der Mitte um 2 cm (52:54) und Handbreit oberhalb des Knies um 2 cm (42 : 46) gegen links zurück. Der Umfang der Wade ist gleich und eine Anschwellung des Unter¬ schenkels besteht nicht mehr. Dieser Befund weicht im Wesentlichen nur insofern etwas von dem durch Herrn Dr. K. geschilderten ab, als das Umfangsmass des rechten Knies jetzt um 2 cm stärker ist; im Uebrigen ist der Befund der¬ selbe. Es ist auch zuzugeben, dass durch Beseitigung der Anschwellung des rechten Unterschenkels gegen den Zustand vom 20. August 1898 eine gewisse Besserung eingetreten ist. Aber diese Besserung kann sich in Bezug auf die Gebrauchs- fähigkeit des Gliedes und somit der Erwerbsfähigkeit des Mannes nicht als wesentlich ansehen. Das verletzte rechte Knie des p. D. befindet sich noch immer in einem so hoch¬ gradigen Zustande der Entzündung und Ausschwitzung, dasB D. meines Erachtens noch immer auf die Pflege und Behand¬ lung seines erkrankten Beines angewiesen und zu keinerlei Arbeit fähig ist. Er ist noch krank und der ärztlichen Be¬ handlung, auch operativer Behandlung in einem Krankenhause bedürftig. Ich muss daher mein Gutachten schliesslich dahin abgeben, dass bei dem p. D. seit der Untersuchung vom 20. August 1898 noch keine wesentliche Besserung eingetreten ist, sondern dass er noch immer in Folge seines Unfalls vom 28. September 1897 als völlig erwerbsunfähig anzusehen ist. Das Schiedsgericht sprach darauf dem Kläger die Vollrente zu und machte geltend: dem sehr eingehenden und wohlbe¬ gründeten Gutachten des Sanitätsraths Dr. B., welcher dem Schiedsgericht auf dem Gebiete der Unfallheilkunde als her¬ vorragend bekannt ist, hat sich der Gerichtshof ohne Bedenken angeschlossen. Diese Entscheidung focht die Genossenschaft durch Rekurs beim Reichs-Versicherungsamt an, welches noch ein Gutachten des Professors Dr. R. einholte. Letzterer machte u. A. geltend, es handle sich hier um eine deformirende Ge¬ lenksentzündung mit Ausschwitzung. Das Leiden ist die Folge des Unfalls und nicht heilbar. D. kann mit Hilfe eines Stockes sich gut fortbewegen. Zum Tragen schwerer Lasten ist er völlig ungeeignet. Dagegen ist er aber zu jeder Arbeit im Sitzen fähig. Er kann auch leichtere Verrichtungen im Gehen und Stehen vornehmen. Die Erwerbsbesohränkung ist mit 50 Prozent genügend bewerthet. — Das Reichs-Ver¬ sicherungsamt sprach jedoch dem Verletzten eine Rente von 75 Prozent zu und machte geltend: Mit dem Inhalt des Gut¬ achtens von Professor Dr. R. ist nicht vereinbar, wenn Letzterer übereinstimmend mit Dr. K. den Kläger für halb er¬ werbsfähig erachtet, denn das Bestehen einer Gelenksent¬ zündung mit Ausschwitzung im Knie beschränkt die Fähigkeit des Klägers zu selbst leichten Verrichtungen im Gehen und Stehen auf ein geringes Mass, während die Schmerzen und Beschwerden, die mit einer derartigen Beschaffenheit des Knies verbunden sind, auch das Arbeiten im Sitzen erschweren uud zeitweise ausschliessen. Erscheint auch der Kläger nicht an jeder Arbeitsleistung gehindert, so reicht doch eine Rente von 50 Prozent nicht aus. Der Kläger hat vielmehr nach Massgabe des geringen, ihm verbliebenen Restes von Er¬ werbsfähigkeit Anspruch auf eine Rente von 75 Prozent der¬ jenigen für völlige Erwerbsunfähigkeit von dem Tage ab, mit welchem die Genossenschaft die Rente herabgesetzt hat, d. h. dem 1. Februar 1899. M. Keine Nervenerschütterung. Rek.-Entsch. vom 3. Nov. 1899. Der 70 Jahre alte Droschkenkutscher C. K. zu Berlin, welcher am 20. Oktober 1898 durch Betriebsunfall Verletzun¬ gen an beiden Knien und an den rechten Knöcheln erlitten hat, ist mit seinem Anträge auf Entschädigung wegen dieses Unfalls mittelst Bescheides der Berufsgenossenschaft vom 24. Februar 1899 abgewiesen worden, weil derselbe nach dem Gutachten des Dr. L. vom 15. Februar 1899 erwerbsbe¬ schränkende Folgen nicht hinterlassen habe. Die gegen diesen Bescheid eingelegte Berufung wurde vom Schiedsgericht unter dem Vorsitz des Regierungs-Assessors T. abgewiesen, indem u. A. ausgeführt wurde, auch nach dem im schiedsgericht¬ lichen Verfahren eingeholten Obergutachten des Dr. K. vom 8 . April 1899 sind als direkte Rückstände des Unfalls bei dem Kläger nur zwei Hautnarben an beiden Kniegelenken vorhanden, die einer Erwerbsbeschränkung nicht bedingen. Ferner aber leidet der Kläger an Altersbeschwerden, von denen ein Lungenemphysem, gestörte Herzthätigkeit und Blut- Digitized by Google 1. März 1000. Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. 101 cirkulation zu benennen sind, in Verbindung hiermit besteht allgemeine Körperschwäche. Nach Dr. K. hat nur der Unfall — Kläger wurde von einem durchgehenden Pferde mitge- schleift — neben den äusseren Verletzungen eine Erschütte¬ rung des Nervensystems zur Folge gehabt. Diese und die bei einem solchen Unfälle unausbleibliche seelische Erregung sind, wie der Sachverständige ausführt, wohl geeignet eine bereits durch das Alter geschwächte Herzthätigkeit noch mehr herabzusetzen, so dass selbst nach Heilung der äusseren Ver¬ letzungen eine Energielosigkeit zurüokbleibt. die bei einem 70jährigen Mann die Arbeitsfähigkeit fast völlig aufhebt. Auch der Kläger fühlt nach Dr. K.’s Ansicht die Altersbeschwerden jetzt in erhöhtem Masse wegen des Unfalls und die hierdurch bedingte Einbusse an Erwerbsfähigkeit ist auf 3373 Prozent zu schätzen. Das Schiedsgericht hat sich diesem Gutachten aber nictot angeschlossen. Der Unfall war ein ziemlich uner¬ heblicher, wie er Droschkenkutschern in Ausübung ihres Be¬ rufs häufig zustösst. Derselbe war deshalb auch nicht geeig¬ net, eine grössere seelische Aufregung oder Erschütterung der Nerven hervorzurufen. Nach Ansicht des Schiedsgerichts ist durch den Unfall eine Erhöhung der Altersbeschwerden nicht eingetreten und der körperliche Zustand des Klägers gegenwärtig bei dem Fehlen äusserer Verletzungen genau in derselben Verfassung wie er auch ohne den Unfall gewesen wäre. Auch ohne den Unfall hätte der Kläger mit Rücksicht auf Bein Alter sich von seinem Beruf zurückziehen müssen. Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Rekurs beim Reichs- Versicherungsamt eingelegt und zur Begründung desselben ein Gutachten des praktischen Arztes Dr. B. in Berlin vom 13. Juni 1899 überreicht, wonach er um 3373 Prozent in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt sei. Dr. B. machte geltend, K. sei bis zum Tage des Unfalls in seinem Berufe als Kut¬ scher thätig gewesen, von da ab habe er diesen Dienst nicht mehr versehen können. Das sei erklärlich, denn ein durch Leiden bereits geschwächtes Individuum werde durch einen solchen Unfall wie der vorliegende, bei dem zweifellos eine Nervenerschütterung stattgefunden habe, einem viel schnelle¬ ren Kräfteverfall preisgegeben; ein junger, kräftiger Mensch würde durch einen solchen Unfall wenig oder gar nicht beein¬ trächtigt werden. Geschäftsführer Z. beantragte die Zurückweisung des Re¬ kurses aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung. Das Reichs-Versicherungsamt unter dem Vorsitz des Direktors Pf. wies aber den Rekurs des Klägers ab und führte u. A. aus: Mit dem Schiedsgericht nimmt auch das Rekursgericht an, dass diejenigen Leiden, welche sowohl Dr. K., wie auch Dr. B. in ihrem Gutachten als bei dem Kläger vorhanden festge¬ stellt haben, ursächlich auf den von demselben erlittenen Unfall nicht zurückgeführt werden können, und schliessen sich in dieser Hinsicht den überzeugenden Ausführungen des ange¬ fochtenen Schiedsgerichtsurtheil8 durchweg an. Wie dieses nimmt es insbesondere auch an, dass der an und für sich recht geringfügige Unfall nicht geeignet war, eine Nerven¬ erschütterung oder auch nur eine besondere seelische Erre¬ gung bei dem Kläger hervorzurufen, und hält dafür, dass lediglich das hohe Alter des Klägers dessen vorhandene Be¬ schwerden und Leiden ganz unabhängig von dem Unfälle des¬ selben hervorgerufen hat. Deshalb ist es auch als ausge¬ schlossen zu erachten, dass die durch diese Altersbeschwerden und Leiden hervorgerufene Beschränkung der Erwerbsfahig- keit durch den Unfall in irgend einer Weise gefördert oder verstärkt worden ist, und dass dieser Unfall auch nur eine wesentlich mitwirkende Ursache der jetzt bestehenden Er- werbBfähigkeitseinbuBse bildet. Da aber die geringfügigen Verletzungen an den Knieen, welche nach den in dieser Hin¬ sicht durchaus übereinstimmenden Gutachten der Aerzte die alleinigen direkten Unfallfolgen darstellen, den Kläger in seiner Erwerbsfähigkeit nicht oder doch nur in massbarem Grade beeinträchtigen, ist sein Anspruch auf Gewährung einer Unfallentschädigung unbegründet. Diese Auffassung aber rechtfertigt die Zurückweisung des vom Kläger eingelegten Rekurses. M. Lungenschiag — kein Betriebsunfall! Rekurs-Entscheidung vom 24. November 1899. Der am 12. August 1898 verstorbene Arbeiter K. N., welcher im Betriebe deB Fuhrherrn N. beschäftigt war, fuhr am 12. August 1898 gegen 8 Uhr Abends mit einem Spreng¬ wagen die Quitzowstrasse entlang. Ein hinter ihm fahrender Kutscher bemerkte, dass N. mit dem Kopfe schwankte; er fuhr an N.’b Wagen heran, um zu sehen, was diesem fehle. Während dessen nahm das Pferd des N. ebenfalls eine schnelle Gangart an und N. fiel vom Sitz herunter auf das Trittbrett des Wagens. Von dort wurde er heruntergehoben und in einen Hausflur gebracht, woselbst er alsbald verstarb. N. konnte nicht mehr sprechen, sondern röchelte nur noch. Der hinzugerufene Arzt Dr. N. konstatirte den inzwischen einge¬ tretenen Tod und nahm „Lungenschlag“ als Todesursache an. Eine Sektion der Leiche fand nicht statt. Durch Bescheid des Vorstandes der Fuhrwerks -Berufsgeno<*senschaft vom 20. Februar 1899 ist nach einem vorher eingeholten Gutachten des Dr. N. vom 17. Januar 1899 die Gewährung der Hinter¬ bliebenenrente gemäss § 6 des ReichBgesetzes vom 6. Juli 1884 abgelegt worden, weil der Tod des N. nicht durch Folgen eines Unfalls eingetreten sei. Das Schiedsgericht forderte noch ein Obergutachten des Sanitätsraths Dr. L. B. ein, in welchem u. A. Folgendes ausgeführt wurde: Der herbeige¬ rufene Arzt Dr. N. fand N. bereits leblos vor, er konstatirte geschwollene bläuliche Lippen und vermuthete Tod durch Lungenschlag. Frau N. erklärte, dass ihr verstorbener Mann in den 25 Jahren, die sie mit ihm verheirathet gewesen, früher nie krank gewesen sei; erst im Oktober oder November 1897 sei er erkrankt, nachdem er sich angeblich in Moabit bei einem Fuhrherrn verhoben hatte; er erkrankte zu der Zeit mit Herzklopfen und wassersüchtiger Anschwellung des Ge¬ sichts, der Beine etc. Dr. med. P. sagte ihm, dass er einen und Herzfehler hätte, dass er die schwere Arbeit wie früher nicht mehr machen könnte. Trotzdem fing er seine frühere Arbeit mit Heben von schweren Säcken wieder an, erkrankte aber nach acht Tagen wieder mit Anschwellung der Beine und Herzklopfen. Nach einigen Monaten fing er eine Be¬ schäftigung als Sprengwagen-Kutscher an, die er zur Noth verrichten konnte. Aus diesen Angaben der Frau geht her¬ vor, dass N. in den letzten Jahren vor seinem Tode herz¬ leidend und wahrscheinlich auch nierenkrank gewesen ist. Dieser Umstand spricht sehr dafür, dass der Tod des N. an Lungenschlag erfolgt ist, was Dr. N. bereits aus der Beobach¬ tung der geschwollenen bläulichen Lippen des N. vermuthete. Diese Ansicht kann nur als zutreffend bezeichnet werden, ln dem Vorgang, wie er gelegentlich des Todes des N. sich abspielte, können aber die Kriterien eines Unfalls nicht ge¬ funden werden. Das Sitzen auf dem Bock des Wagens kann nicht die Veranlassung zum Eintritt des Todes gegeben haben; es ist eine Thätigkeit, die keinerlei ursächliches Moment für einen schädigenden Einfluss abgeben kann. Das Herabsinken vom Sitz auf das Trittbrett war bereits Folge der durch den Lungenschlag eingetretenen Bewusstlosigkeit. Vielmehr muss angenommen werden, dass ohne äussere Veranlassung zu dieser Zeit in natürlicher Weiterentwickelung seines Herz¬ leidens Lungenschlag und Tod eingetreten ist. Der Tod des Digitized by Google 102 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 5. N. ist nicht als Folge eines Unfalls eingetreten. Das Schieds¬ gericht unter dem Vorsitz des Regierungsassessors T. schloss sich der Auffassung des Obergutachtens in jeder Beziehung an und wies die Berufung als unbegründet ab. Diese Ent¬ scheidung fochten die Hinterbliebenen durch Rekurs beim Reichs-Versicherungsamt an. Die Armendirektion der Stadt Berlin hat sich dem Rekurse angeschlossen und gleichfalls die Verurtheilung der Fuhrwerks-Berufsgenossenschaft bean¬ tragt. Letztere hingegen beantragte durch ihren Geschäfts¬ führer Z., den Rekurs aus den Gründen des Schiedsgerichts zu verwerfen. Demgemäss erkannte auch das Reichs-Ver- sicherungsamt unter dem Vorsitz des Geheimen Regierungsrath J. und machte Folgendes geltend: In der Vorinstanz ist aus zutreffenden Gründen verneint, dass der Tod des N. in ur¬ sächlichem Zusammenhänge mit einem zu entschädigenden Unfall steht. N., welcher in den letzten Jahren seines Lebens schon leidend gewesen ist, ist nach der übereinstimmenden Annahme des Dr. N. und des Bezirksphysikus Sanitätsrath Dr. B. einem Luugenschlage erlegen. Sein Tod ist zwar während der Verrichtung einer Berufsarbeit erfolgt, es fehlt aber jeder Anhalt dafür, dass ein bei der Ausübung der Be- rufsthätigkeit eingetretenes zeitlich bestimmbares Ereigniss — ein Unfall — den Tod herbeigeführt, oder dass ein solcher Unfall eine ins Gewicht fallende mitwirkende Ursache für den tödtlich verlaufenen Lungenschlag gewesen ist. Wenn der Beruf als Kutscher dem körperlichen Zustande des N. nicht zuträglich gewesen ist, so mag dadurch eine allmähliche Verschlimmerung seines Leidens eingetreten und sein Tod beschleunigt worden sein, als Unfall ist indess das Endergeb- niss einer längeren, der Gesundheit des Arbeiters nachtheiligen Betriebsarbeit nicht anzusehen. Die Sonnenhitze, welcher N. ausgesetzt sein soll, kann zwar unter Umständen einen Be¬ triebsunfall herbeiführen, es muss aber auch dann eine plötz¬ liche Einwirkung der schädigenden Temperaturverhältnisse nachgewiesen werden. Eine solche kann aber auch bei weitester Ausdehnung des Begriffs der zeitlichen Bestimmbar¬ keit des schädigenden Ereignisses nicht festgestellt werden, wenn der Tod eine Folge der zehn Tage hintereinander be¬ sonders stark aufgetretenen Hitze gewesen sein soll. Ueber- dies sohliesst Dr. N. Hitzsohlag als Todesursache aus, und die Zeit, in der der Tod eingetreten ist, Abends zwischen 7 und 8 Uhr, spricht ebenfalls dagegen, dass Sonnenhitze das schä¬ digende Ereigniss gewesen ist. Das Reichs-Versioberungsamt nimmt vielmehr mit dem Sanitätsrath Dr. B. an, dass der Lungenschlag ohne äussere Veranlassung in natürlicher Weiter¬ entwickelung des Herzleidens des Klägers eingetreten ist. M. BQcherbesprechungen und Anzeigen. Golebiewski, Dr. Ed., Atlas und Grundriss der Unfall¬ heilkunde sowie der Nachkrankheiten der Unfall¬ verletzungen, mit40 farbigen Tafeln nach Originalaqua¬ rellen des Malers Johann Fink und 141 schwarzen Abbildun¬ gen. Lehmanns Med. Handatlanten, Bd. XIX. München, 1900, J. F. Lehmann, 642 S., Pr. 15 M. Mit ausserordentlichem Fleiss hat der Verf. die Fülle des Materials, welches er in seinem Institute seit 13 Jahren zu beobachten Gelegenheit hatte, in diesem Werk zusammen¬ gestellt. Der Inhalt umfasst beinahe den ganzen Umfang der sog. Unfallheilkunde, nur einzelne Spezialgebiete, wie die Augen- und Ohrenheilkunde und die Verletzungen der weib¬ lichen Sexualorgane sind fortgeblieben. Das ganze Werk zerfällt in zwei Theile, einen allgemeinen und einen speziellen. In der Einleitung und in dem allgemeinen Theil werden die gerichtlich-medizinischen Beziehungen sowie die Allgemein- Erkrankungen in etwas kursorischer Weise erörtert, aber es berührt ausserordentlich sympathisch die Bemerkung des Verf. bei Erwähnung der Simulation: »Auf ärztlicher Seite werden die meisten Simulanten immer von den jüngeren, noch uner¬ fahrenen Medizinern gefunden. Je genauer man untersucht, desto mehr Berechtigung findet man an vielen Klagen deB Verletzten*. Seinen Hauptwerth bietet das Werk in dem speziellen Theile, in welchem die Eintbeilung nach den Körper¬ regionen getroffen werden. Da sind sehr hübsche Abbildun¬ gen von Wirbelverletzungen, Rippenbrüohen u. A. enthalten. Im Kapitel über die Unterleibsbrüche ist ein kleiner Irrthum unterlaufen; es heisst da (S. 243): Das Austreten eines alten Bruches wird demnach als Verschlimmerung des körperlichen Zustandes im Sinne des § 65 angesehen*. Nun bandelt aber der angezogene § 65 des U.-V.-G. nicht von Verschlimmerung von Leiden, welche vor dem Unfall bestanden, sondern von einer Veränderung der Verhältnisse der Unfallsfolgen; das ist etwas ganz Anderes! Die werthvollsten Gaben bietet dieser spezielle Theil durch seine Abbildungen von verletzten Ex¬ tremitäten; das sind die Glanzpunkte des Buches. Das ein¬ zige Bedauern könnte man hier haben über die äussere Form des Buches, welche dazu zwingt, dass die Abbildungen auf den etwas kleinen Tafeln, wie sie die Lehmann’schen Atlanten vorschreiben, im eigentlichen Sinne des Wortes zu kurz kommen; es ist das wohl auch der Grund, weshalb auf die Wiedergabe der Röntgenbilder vom Becken, Hüftgelenk und Wirbelsäule verzichtet werden musste. Aber abgesehen von diesen kleinen Ausstellungen bietet das Buch im Ganzen eine solche Fülle von gut beobachteten Einzelheiten, dass es nur Jedem, der sich mit „Unfallheilkunde“ beschäftigt, aufs Wärmste zum Studium empfohlen werden kann. B. Körner, Dr. 0., Prof. ord. hon. der Medizin und Direktor der Ohren- und Kehlkopfklinik der Universität Rostock, Die Hygiene der Stimme. Ein populär-medizinischer Vortrag. 31 Seiten. Wiesbaden, 1899. J. F. Bergmann. — Preis 0,60 M. Seiner Hygiene des Ohres (1898) lässt Körner eine Hygiene unserer Stimmwerkzeuge folgen. Die Ausführungen hierüber aus so berufenem Munde verdienen um so mehr Beachtung, als in der That, wie K. hervorhebt, selbst der Gebildete auf die Pflege der Stimmwerkzeuge wenig Sorgfalt verwendet und durch falsche Anschauungen verleitet, seine Stimme sogar immer wieder in unnöthiger Weise schädigt. Und doch haben ganze Berufskreise, wie Prediger, Richter und Anwälte, Offi¬ ziere, Lehrer, Schauspieler und Sänger, ein intensives Interesse an der guten Instandhaltung ihrer Stimmmittel. Das Thema lautet: „In welcher Weise kann jedermann der Schädigung seiner Stimme Vorbeugen?“ Zuerst wird die Bedeutung der Nasenathmung hervorgehoben. Die Athmungs- luft darf nicht zu warm, auch nicht immer gleichmässig warm sein, sie darf nicht zu trocken und muss thunlichst frei von Staubbeimengungen sein. Die Einathmung von Staub, aus den verschiedensten Quellen, erfährt in ihrem Einfluss auf die Stimme eine eingehende Würdigung. Speisen und Ge¬ tränke dürfen nicht zu heiss genossen werden; auch faulende Zahntrümmer gefährden die Stimme. Ebenso interessant wie lehrreich und beherzigenswerth sind dann die Ausführungen über die Schädlichkeit zu warmer Halstücher und zu enger Kragen, welch letztere zu Blutstauungen und damit nicht nur in Störungen der Stimme, sondern sogar in den Ohren und der Nase Veranlassung geben können. Aufrechte Kopfhaltung beim Singen und Vorlesen, Schonung der Stimme in der Zeit des Mutierens, desgleichen in rauchigen Räumen, ist anzu^ Digitized by Google 1. März 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 103 empfehlen, langes Sprechen bei Heiserkeit, vieles Räuspern und Husten zu widerrathen. Massvolle Leibesübungen in guter Luft nutzen dem Ge- «ammtorganismus nicht nur, sondern auch der Stimme. Rudern wird besonders empfohlen, vor dem Radfahren dagegen — vom Standpunkt der Stimmhygiene — gewarnt Singen ist eine ausgezeichnete Lungengymnastik und damit auch der fitimme hygienisch günstig; doch warnt Verf. vor der falschen Meinung, dass ein ungenügendes Stimmorgan durch fleissige Uebung leistungsfähig gemacht werden könnte. Wer daher den Gesang zum Lebensberuf wählen will, thut gut, vorher den Arzt zu befragen, ob seine Konstitution und seine Stimm¬ werkzeuge dieser Aufgabe gewachsen sind. Richard Müller. Hennig, Prof. C. R., Kgl. Musikdirektor, Lehrer der Stimm¬ bildung für Sprache und Gesang, Posen, Lerne gesund- heitsgem&gs sprechen. Uebungen zur Pflege der Sprach- organe nebst kurzer Einführung in das Wesen der Sprech¬ kunst. Gemeinfasslich dargestellt für Berufsredner und Sänger. — 69 Seiten. Wiesbaden. 1899. J. F. Bergmann. Preis 1,00 M. „Lerne kunstmässig sprechen“ oder auch „lerne ästhetisch echön sprechen“ wäre vielleicht ein richtigerer Titel für die vorliegende Arbeit gewesen. Der Verf. behandelt das Sprechen als eine Kunst und hat dabei in der Hauptsache die Aus¬ sprache des Deutschen im Auge. Er spricht von dem „Voll- und Wohlklang“ unserer Muttersprache und von der Erkennt- niss des „schönen“ Sprechens, dem er das „hässliche“ Sprechen gegenüberstellt. Die gesundheitliche Seite wird zwar auch berührt, wobei Verf. von der nicht näher bewiesenen Ansicht ausgeht, dass das „schöne“ Sprechen gleichzeitig das gesundheitlich zuträglichste sei; in der Hauptsache aber ist die Arbeit vom ästhetischen Standpunkte aus geschrieben: *Soll im Volke das Verständniss für den Werth der Muttersprache gesteigert werden (also nicht für die ge- «undheitliche Seite des Sprechens, Ref.), so kann dies nur von der Seite der ästhetischen Phonetik her geschehen.“ — Nach einer Einleitung zur Einführung in das Wesen der Sprech¬ kunst giebt Verf. eine gemeinfassliche, von wissenschaftlicher Begründung ausdrücklich absehende Darstellung von Uebungen zur Pflege der Sprechorgane. Die Ausführungen sind für die Kreise, an welche sich der Verf. im Speziellen wendet, für Redner und Sänger, in hohem Grade interessant, werthvoll und beherzigenswerth; vom ärztlichen Standpunkte gewinnt man den Eindruck, dass der Verf. den gesundheitlichen Werth des von ihm dargestellten Gebietes doch wohl etwas über¬ schätzt. Richard Müller. Liebm&nn, Dr. A., Arzt für Sprachstörungen in Berlin. Vor¬ lesungen über Sprachstörungen. 4. Heft: Poltern (Paraphrasia praeceps). 57 Seiten. Berlin. Oscar Coblenz. 1900. —* Preis 1,20 M. Unter „Poltern“ versteht Verf. die Sprachstörung, die sich in zu hastigem Sprechen äussert. Er giebt eine eingehende Schilderung der einzelnen Symptome dieser krankhaften Er¬ scheinung, die nicht selten auch psychische Störungen, wie allgemeine Verstimmung, Schüchternheit und Menschenscheu zur Folge hat. Oft sind mit dem Poltern andere Sprachfehler komplizirt, in erster Linie Stottern, dann aber auch die fehler¬ hafte Aussprache einzelner Buchstaben, so des s (Lispeln), des r und des g bezw. k. Zur Illustration lässt Verf. 7 (nicht fl, wie irrthümlich nummerirt ist,) Krankengeschichten folgen, um dann noch einige Bemerkungen über die Aetiologie des Leidens und nach einer eingehenderen Darstellung der Unter¬ suchung solcher Kranken die Diagnose, die Prognose und die Verhütung dieses Sprachfehlers zu besprechen. Den Schluss bildet die Behandlung des Leidens, wobei Verf. neben Artiku- lations- und Lese-Uebungen auch grossen Werth auf die freie Rede legt. R. M. Danziger, Dr. Fritz, Ohrenarzt in Beuthen, Die Missbil¬ dungen des Gaumens und ihr Zusammenhang mit Nase, Auge und Ohr. Mit 13 Abbildungen im Text und 20 Figuren auf Lichtdrucktafeln. 54 Seiten. Wiesbaden. 1900. J. F. Bergmann. — Preis 3,20 M. In der Einleitung weist der Verf. auf die Nothwendigkeit hin, beim Studium der Missbildungen des Gaumens auch die Nachbarorgane, speziell den Unterkiefer, das Septum narium, die Zähne und die Augen, mit in Betracht zu ziehen, und giebt dann eine Zusammenstellung einer Anzahl von einschlä¬ gigen Fällen, bei denen er die genannten Nachbarorgane mit in den Bereich seiner Untersuchungen gezogen hat Sämmt- liche Fälle zeigten nicht nur Gaumenmissbildungen, sondern auch Deformitäten des Unterkiefers, des Septum, der Zähne und der Augen; an den letzteren war stets Astigmatismus vorhanden, den Verf. auf eine Vorbildung des Bulbus und der Orbite zurückführt. Die Ursache der Missbildungen erblickt D. in einer allgemeinen Schädelverbildung in Folge frühzeiti¬ ger Synostosen einzelner Schädelnähte und besonders der Kranznaht, sowie in basalen Wachsthumsstörungen des Schä¬ dels. Einen längeren Abschnitt seiner Arbeit widmet Verf. alsdann der Darstellung von Anomalien an den Augen, die er gleichzeitig mit Schädel- bezw. Gaumenmissbildung und ge¬ paart mit Taubstummheit gefunden hat; er bespricht den Astigmatismus, das Schielen, Leukome, Mikrophthalmus, Hy¬ peropie und Retinitis pigmentosa, Augenfehler, die er alle auf Sohädelbau-Anomalien zurückführt. Den Schluss bildet der Hinweis, dass auch die Taubstummheit auf Verbildungen der Schädelbasis in Folge von Wachsthumsstörungen zurückzu¬ führen sei; schräge bezw. fast horizontale Stellung des Trom¬ melfells bei Taubstummen sei häufig der Ausdruck dieser Schädelmissbildung. Durch die eingehende Besprechung der genannten Kom¬ plikationen tritt die Behandlung des eigentlichen Themas, der Gaumenmissbildungen, etwas sehr in den Hintergrund; doch ist der Hinweis auf den Zusammenhang jener Abnormitäten mit den Missbildungen des Gaumens, sowie die Zurückführung aller dieser Erscheinungen auf eine gemeinsame Ursache, nämlich auf Hemmungsbildungen des Schädels, zweifellos nicht ohne Interesse. R. M. Tagesgeschichte. Zum neuen Invalidenversicherungsgesetz. Der Preuss. Minister für Handel und Gewerbe hat unter dem 6. Dezember 1899 eine Anweisung, betreffend das Ver¬ fahren der unteren Verwaltungsbehörden in Bezug auf die §§ 57—64 des neuen Invalidenversicherungsgesetzes vom 13. Juli 1899, erlassen, welche auch die ärztlichen Kreise berührt. 1 . Nach § 57 I.-V.-G. liegt den unteren Verwaltungs¬ behörden insbesondere ob: a) die Entgegennahme und Vorbereitung von Anträgen auf Bewilligung von Invaliden- und Altersrenten (§112) oder auf Beitragserstattungen (§ 128) sowie die Begutachtung der Anträge der Rentenbewilligungen; b) die Begutachtung , der Entziehung von Invalidenrenten (§§47,121); c) die Begutachtung der Einstellung von Rentenzahlungen (§§ 48, 121); Digitized by Google 104 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 5v d) die Benachrichtigung des Vorstandes der Versicherungs¬ anstalt über die zur Kenntniss der Verwaltungsbehörde kommenden Fälle, in welchen Grund zu der Annahme vorliegt, dass Versicherte durch ein Heilverfahren vor baldigem Eintritte der Erwerbsunfähigkeit werden bewahrt werden, dass Empfänger von Invalidenrenten bei Durch* führung eines Heilverfahrens die Erwerbsfähigkeit wieder erlangen werden (§ 47 Abs. 2), dass die Invalidenrente zu entziehen ist (§ 47 Abs. 1) oder Rentenzahlungen einzustellen sind (§ 48); e) die Auskunftsertheilung über alle die Invalidenversiche¬ rung betreffenden Angelegenheiten. In der Anweisung heisst es nun in Bezug auf die ärzt» liehen Gutachten für die Rentenbewerber: „Sofern es sich um die Bewilligung einer Invalidenrente handelt, ist der Ver¬ sicherte befugt, ein ärztliches Zeugniss über seine Erwerbs¬ unfähigkeit vorzulegen. 11 Sofern aber ein ausreichendes ärzt¬ liches Zeugniss nicht vorgelegt wird, hat die untere Verwal¬ tungsbehörde eine Untersuchung des Gesundheitszustandes und die Abgabe eines Gutachtens über die Erwerbs- fähigkeit des Antragstellers durch einen Arzt und zwar durch den Vertrauensarzt der Versicherungs¬ anstalt, falls ein solcher bestellt ist, herbeizu¬ führen. Nach einer weiteren Bestimmung der Anweisung sind diese Sachverständigengebühren von der Versicherungs¬ anstalt zu zahlen, und zwar sollen für die Zahlung dieser Gebühren, soweit nicht die Anstalt mit den Aerzten ihres Bezirks besondere Gebührensätze vereinbart hat, die Be¬ stimmungen der Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständigen massgebend sein. Mit diesen Bestimmungen der ministeriellen Anweisung sind endlich diejenigen Missstände beseitigt, welche früher bestanden und verursacht wurden durch den Umstand, dass die Versicherungsanstalten den Versicherten, welche arbeits¬ unfähig und, in den ärmlichsten Verhältnissen lebend, völlig ausser Stande waren, ärztliche Untersuchung und Begutachtung zu bezahlen, es auferlegten, solche Gutachten zu beschaffen. Es bleibt nur zu wünschen, dass die „unteren Verwaltungs¬ behörden“ nunmehr ihrer Aufgabe in humaner und sachge- mässer Weise nachkommen. B Hygienische Vorschriften für den Betrieb der Zinkhütten. Ueber den Betrieb der Zinkhütten hat der Bundesrath auf Grund der §§ 120 e und 139 a der Gewerbeordnung Vorschriften erlassen, welche der „Reichs-Anzeiger“ am Dienstag, 13. Fe¬ bruar veröffentlichte. Die Räume, in denen Zink, Erz oder Rothzink bearbeitet wird, müssen geräumig, hoch und aus¬ reichendem, beständigem Luftwechsel zugängig sein. Die Wände müssen mindestens einmal jährlich mit Kalk frisch angestrichen werden. Das Dach ist mindestens einmal jährlich von Staub zu reinigen, In der Nähe der Arbeitsstellen muss gutes, gegen Eindringen von Staub geschütztes Trinkwasser reichlich vor¬ handen sein, so dass die Arbeiter es jederzeit bequem erreichen können, ohne ins Freie zu treten. In der Nähe der Oefen sind Einrichtungen zum Besprengen des Fussbodens anzubringen, der mindestens einmal täglich feucht zu reinigen ist. Weitere Vorschriften beziehen sich auf die Anlage der Destillationsöfen, das Sieben und Verpacken der Nebenprodukte. Vom 1. Januar 1902 ab dürfen Arbeiterinnen an den Destillationsöfen, sowie bei der Entfernung der Räumeasche nicht mehr beschäftigt werden. Neue Arbeiterinnen dürfen hierzu vom l.Juli ab nicht mehr herangezogen werden, ebenso wenig Arbeiter zwischen 16 und 18 Jahren. Neben den Arbeitsräumen muss ein Wasch- und Ankleideraum mit ausreichend Wasser, Seife und Hand¬ tüchern, und getrennt davon ein Speiseraum vorhanden sein. Beide Räume müssen sauber, staubfrei und während der kalten Jahreszeit geheizt sein. Zur Kontrole über den Gesundheit*- zustand der Arbeiter muss der Arbeitgeber ein Buch führen» Die Ueberwachung des Gesundheitszustandes ist einem dem Gewerbe-Aufsichtsbeamten namhaft au machenden Arzt zu über¬ tragen, der die Arbeiter mindestens einmal monatlich im Be¬ triebe aufzusuchen und insbesondere auf die Anzeichen von Bleierkrankungen zu achten hat. — Die Arbeiter dürfen den Speiseraum erst betreten oder die Anlage verlassen, wenn sie zuvor Gesicht und Hände sorgfältig gewaschen haben. Diese Bestimmungen treten mit dem 1. Juli in Kraft. (D. Arb.-Ztg.) Sammelforschung über den Krebs. Am 18. Februar traten auf Anregung der Herren von Leydenr und George Meyer im Sitzungssaal der Medizinalabtheilung des Kultusministeriums Aerzte und Medizinalbeamte zu einem Comitä zur Sammelforschung über die Verbreitung des Krebses¬ und ähnlicher Geschwülste zusammen. Der neunundzwanzigste Kongress der Deutschen Gesell» Schaft für Chirurgie findet vom 18. bis 21. April in Berlin statt. Die Eröffnung des Kongresses findet Mittwoch, den 18. April, Vormittags IO Uhr, im Langenbeckhause statt. Während der Dauer den Kongresses werden daselbst Morgensitiungen von 10—1 und Nachmittagssitzungen von 2—4 gehalten. Die Vormittagssitzung am Mittwoch, den 18. April und die Nachmittagssitzung am Freitag, den 20. April sind zugleich Sitzungen der Generalversammlung. Am ersten Sitzungstage (Mittwoch, den 18. April) findet um 10 Uhr Abends eine einstündige Demonstration von Pro¬ jektionsbildern aus Diapositiven statt. Meldungen dazu sind an Herrn Joachimsthal, Berlin W., Markgrafenstr. 81, und Immelmann, Berlin W., Lützowstr. 72, zu richten. Eine Ausstellung von Röntgen-Photographien findet nicht statt. Ankündigungen von Vorträgen und Demonstrationen bitte¬ ich zeitig und wenn irgend möglich spätestens bis zum 17» März an meine Adresse (v. Bergmann, Berlin NW., Alexan¬ derufer 1) gelangen zu lassen. Eine Ausstellung von chirurgischen Instrumenten und Apparaten, Bowie Gegenständen der Krankenpflege ist in Aus¬ sicht genommen. Die Sitzungen werden mit nachstehenden Vorträgen er¬ öffnet werden: Mittwoch, den 18. April. Herr Czerny (Heidelberg): Die Behandlung inoperabler Krebse» Herr Krönlein (Zürich): Darm- und Mastdarmcarcinom und die Resultate ihrer operativen Behandlung. Herr Rehn (Frankfurt a. M.)s Die Verbesserungen in der Technik der Mastdarm-Amputation und -Resection. Donnerstag, den 19. April. Herr Israel (Berlin): Ueber Operationen bei Nieren- und Uretersteinen. Freitag, den 20. April. Herr von Angerer (München): Ueber Operationen wegen* Unterleibs-Kontusionen. Herr von Bergmann (Riga): Ueber Darm - Ausschaltungen beim Volvulus und dessen Diagnose. Herr Credä (Dresden): Die Vereinfachung der Gastro- und Enterostomie. Sonnabend, den 21. April. Herr Lexer (Berlin): Ueber teratoide Geschwülste in der Bauchhöhle und deren Operationen. Verantwortlich für den Inhalt: Dr. P. Leppmann in Berlin. — Verlag and Bigentham von Richard Sohoets in Berlin. — Druck von Albert Damcke, Berlin. Digitized by * Google Dia ^AmdUkc BMbnntl]>dl|«B-E«ltang Baten werden sich wohl recht bald veranlasst sehen, dem Beispiel Bayerns zu folgen. Die Bedürfnissfrage kann wahrhaftig schon als beantwortet gelten. Den Aerztekammern ist nunmehr endlich die Erfüllung eines sehr berechtigten Wunsches von Seiten des Kultusministers zugesagt worden: Erlasse die den ärztlichen Stand angehen im Allgemeinen in- teressireu, werden in Zukunft den Aerztekammern zur Kenntniss gebracht werden. _ Anleitung betreffend den Kreis der nach dem Invaliden- Yersichernngs- Gesetz vom 13. Juli 1899 versicherten Personen. Unter obigem Titel bringt No. 7 der Arbeiter-Versicherung eine vom Reichs-Versicherungsamt ausgearbeitete Zusammen¬ stellung, in der sehr übersichtlich und klar dargelegt wird, welche Personen in den Bereich des genannten Gesetzes fallen, insbesondere ist die nicht ohne Weiteres für Jedermann leichte Unterscheidung zwischen Lohnarbeit und selbständiger Er- werbsthätigkeit nicht blos so genau wie irgend möglich im Allgemeinen erläutert, sondern noch für die verschiedensten Berufe einzeln festgestellt. Den Schluss der Veröffentlichung bildet eine Uebersicht der Bestimmungen über die freiwillige Versicherung. Wenn der Gegenstand auch vorwiegend juristisches Interesse hat, so werden doch unter Umständen auch Aerzte Ver¬ anlassung finden, sich das betreffende Heftchen anzuschaffen. Bezüglich der diesjährigen Naturforscher-Versammlung war in der Berl. Klin. Wochenschrift die Befürchtung ausge¬ sprochen worden, dass durch die Weltausstellung in Paris und die vielen mit ihr verbundenen ärztlichen Kongresse die Frequenz der Versammlung bedenklich leiden möchte, und es war vor¬ geschlagen worden eventuell lieber eiomal gar keine als eine ver¬ unglückte Naturforscher-Versammlung abzuhalteu. Inzwischen hat jedoch die Geschäftsführung mitgetheilt, dass bereits um¬ fassende Vorbereitungen für die Aachener Versammlung im Gange sind, so dass an einen Ausfall derselben nicht mehr zu denken ist. Vier allgemeine Vorträge, von van’t Hoff- Berlin, Hertwig-Berlin, Naunyn-Strassburg und Chiari-Prag werden die Entwickelung der exakten Naturwissenschaften, der Biologie, der inneren Medizin mit Bakteriologie und Hygiene und der pathologischen Anatomie und äusseren Medizin be¬ handeln. Feiner wird Professor Holzapfel-Aachen über die deutschen Kohlenlager, Professor von Drygalski- Berlin über die deutsche Süd - Polar-Expedition, Hansemann-Berlin über einige Zellenprobleme und ihre Bedeutung für die wissenschaftliche Begrün¬ dung der Organ-Therapie und Julius Wolff-Berlin über die Wechselbeziehungen zwischen Form und Funktion der einzelnen Gebilde des Organismus sprechen. Bei dieser Fülle interessanter Ankündigungen ist zu erwarten, dass die Versammlung ihre bisherige Anziehungskraft auch dies Jahr in nicht zu sehr verringertem Masse bewähren wird. Die internationalen Kongresse werden sich dieses Jahr im Anschluss an die Pariser Welt¬ ausstellung ganz besonders häufen; im Juli wird ein Kongress für Samariter- und Rettungswesen in der Ausstellung, kurz darauf eine Versammlung der medizinischen Fachpresse und der erste internationale Kongress für ärztliche Standes¬ angelegenheiten tagen. Im August folgt dann der XIII. medizinische Kongress. Eine internationale Sani¬ täts-Konferenz officiellen Charakters soll, wie die Blätter melden, auf Anregung der italienischen Regierung geplant sein, insbesondere um über die Verkündigung der Quarantäne wegen Pest und ähnlicher Erkrankungen einheitliche Bestimmungen zu verabreden. Berichtigung von Druckfehlern. No. 3 S. 49 I Z. 13 v. u. lies „beweisend“ statt „annähernd“ „ 3 „ 50 I „ 13 v. u. „ „ einen“ s „feinen“ . 3 ,5211, 2 v. o. „ „Tic“ » „activ“ „ 4 , <)9 I , 9 v. u. , „leicht“ „nicht“ „ 4 • 72 II „ 18 v. o. „ „eine Reihe“ n „ein Schein“ „ 5 „ 88 11 „ 30 v. o. „ „demnächst“ >> „zunächst“ Verantwortlich für den Inhalt: Dr. F. Leppmann in Berlin. — Verlag und Sigenthnm von Richard Sohoetn in Berlin. — Druck Ton Albert Damcke, Berlin. Alle Manuskripte, Mittheilnngcn und redaktionellen Anfragen beliebe man cn senden an Dr. F. Lappmann, Berlin W., KurfBrstenstr. No. 8. Korrektoren, Rezension*-Exemplaic, SunderabdrUcke an die Verlagsbuchhandlung, Inserate und Beilagen an die Annoncenexpedition von Rudolf Moase. Sachverständigen-Zeitung Die „ A erstliehe SachverstKudlgen-Zeltung 41 erseheint monatlieh zweimal. Dieselbe ist zu beziehen durch den Buchhandel, die Post (No. 36) oder durch die Verlagsbuchhandlung von Richard Schoetz, Berlin NW., Luisenstr. 86, sum Preise von Mlc. 6.— pro Vierteljahr. Aerztliche Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und Unfall-Heilkunde. Herausgegeben von Dr. L. Becker Dr. A. Leppmann Dr. F. Leppmann SanitRtsrath, Königlicher Physlkus, Vertrauensarzt SanltRtsrath, Königlicher Physlkns, Arzt der Beobachtnngsanstalt für gelstes- prakt. Arat von Berufsgenossenschaften und Schiedsgerichten. kranke Gefangene in Moabit-Berlin, Spezialarzt flir Nerven, n. Geisteskranke. Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstrasse 36. VI. Jahrgang 1900. Ml. Ausgegeben am 1. April. Inhalt: Originalton: Kutschora, Traumatische Leukämie. S. 129. Schuchardt, Plötzlicher Tod nach Herausschneidung von ver- grösscrten Gaumen-Mandeln, ob durch Verblutung, Erstickung oder Shok? S. 131. Gumpertz, Ueber das Recht der Schuld Verhältnisse zwischen Aerzten nach dem Bürgerlichen Gesetzbuche. S. 135. Referate: Allgemeines. Die Bekämpfung der Tuberkulose. S. 137. Neurologie und Psychiatrie. Sehrwald, Klimmzug-Lähmungcn. S. 140. Hohenthal, Ein Fall von saltatorischem Krampf. S. 140. Chirurgie. Thiem, Therraotherapieb.Nacbbehdlg.Unfallverletzter.S.140. Lange-Hermstädt, Ueber Karbolgangrän. S. 141. Stern, Isolirte Pankreas Verletzungen. S. 141. Vergiftungen. Herxheimer, Ueber Chlor-Acne. S. 141. Schmidt, Ein Fall von Vergiftung mit Bromoform. S. 142. Augen. Schirmer, Die Impferkrankungen des Auges. S. 142. Roemer, Ueber Lidgangrän. S. 142. Simeon, Verhütung von Gewerbsunfällen am Auge. S. 143. Zeper, Ueber Haut- und Angonaffektion. S. 143. Ohren. Lehr, Die otitischen Erkrankungen des Hirns. S. 143. Muck, Die otitischen Erkrankungen des Hirns. 1. Forts. S. 143. Witte. Die otitischen Erkrankungen des Hirns. 2. Forts. S. 143. Aus Vereinen und Versammlungen. III. Generalversammlung des Bahn¬ ärzte-Vereins für den Eisenbahndirektionsbezirk Magdeburg. Versamralungsbericht. — Interessante Verletzungen. Me¬ dizinisch-naturwissenschaftliche Gesellschaft zu Jena. — Verein der Aerzte zu Halle a. S. — Verein für innere Medizin zu Berlin. — Gesellschaft der Aerzte in Wien. — Altonaer ärztlicher Verein. S. 143. Gerichtliche Entscheidungen: Aus dem Reichs-Versicherungsamt Oborgutachton über einen Fall von tödtlich verlaufener Hunds- wuth. — Betriebsunfall liegt nicht vor. Eine Bruchanlage kann nicht durch Unfall entstehen. — Leistenbruch. Betriebsunfall liegt nicht vor. — Uebertreibung. S. 145. Mittheilungen aus der italienischen Literatur. S. 148. Bücherbesprechungen : Dieckerhoff. Gerichtliche Tierarzneikunde — Hof fa, Atlas und Grundriss der Verbandlehre. — Windschoid, Pathologie und Therapie der Erkrankungen des peripherischen Nervensystems. — Paulsen, Die Singstimme im jugendlichen Alter und der Schulgesang. — Andreae, Die Verletzungen des Sehorganes mit Kalk und ähnlichen Substanzen. S. 149. Tagesgeschichte: Zum Unfall-Versicherungsgesetz. — Der preussische Medizinal - Etat. — Zur Revision dos Krankenversicherungs- Gesetzes. — Eine Epidemie von bisher unaufgeklärter Art. — Geistesstörungen in der Armee. — Zur Vermeidung unbegrün¬ deter Rentenansprüche für Unterleibsbrüche. S. 150. Traumatische Leukämie Von Dr. Adolf Kutschera, Ritter von Aichbergen, k. k. Bezlrksant in Grai. Die zunehmende Beachtung, welche dem ursächlichen Zu¬ sammenhänge der Leukämie mit Traumen in den letzten Jahren geschenkt wurde, veranlasst mich, drei einschlägige Fälle mitzutheilen, die ziemlich gleichzeitig zur Beobachtung gelangt sind. Der erste Fall zeichnet sich besonders durch genaue Feststellung der wichtigen anamnestischen Momente und un¬ unterbrochene ärztliche Beobachtung seit dem erlittenen Trauma aus. Johann S., 50 Jahre alt, stammt von gesunden Eltern, ist verheirathet, kinderlos und war nie erheblich krank. In seinem auf 18 Jahre zurückreichenden Krankenbuche sind nur einige wenige und kurz dauernde Erkrankungen an Rheuma und an Bronchialkatarrh verzeichnet. S. war schon seit vielen Jahren in derselben Fabrik be¬ schäftigt und hatte daselbst drei Knochenmühlen zu bedienen. Seine Arbeitsleistung, die er täglich in elfstündiger Arbeitszeit verrichtete, bestand in dem Füllen der Mühltrichter mit den bereits zerkleinerten Knochen, die in Säcken zu 30—50 Kilo Gewicht neben den Mühlen aufgestapelt waren, und in dem Wegschaffen der 100 Kilo schweren, mit Knochenmehl ge¬ füllten Säcke, das mittelst Rollkarrens erfolgte. Am 28. November 1898 Abends erlitt S. dadurch einen Unfall, dass von den aufgeschichteten, mit Knochenschrot ge¬ füllten Säcken einer herabfiel, ihn an der linken Körperseite traf und gegen den Rand des Mühltrichters drückte. S. er¬ schrak hierüber heftig, musste sich auf etwa fünf Minuten niedersetzen, konnte jedoch dann, obgleich mühsam, zu Fuss in seine etwa einen Kilometer entfernte Wohnung gehen. Auf dem Heimwege klagte er angeblich einem Mitarbeiter über Athemnoth, meinte jedoch, dass er am folgenden Tage werde wieder zur Arbeit kommen können. Im Laufe der Nacht schwoll aber die Gegend des linken Rippenbogens in der Axillarlinie stark an und es stellten sich heftige Schmerzen ein, so dass S. am Morgen des 29. No¬ vember den Kassenarzt holen liess, der eine Röthung und Schwellung der Weichtheile feststellte und die sofortige Er¬ stattung der Unfallsanzeige unter der Diagnose „Quetschung der Rippen in der Milzgegend“ veranlasste. Der behandelnde Arzt giebt an, dass er ungeachtet ge¬ nauer Untersuchung in den ersten drei Tagen sonst nichts nachweisen konnte und ganz überrascht war, am vierten Tage plötzlich eine grosse Geschwulst unter dem linken Rippen¬ bogen in der Bauchhöhle zu findeu, die er wegen des akuten Digitized by AjOOQle 130 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 7. und stürmisch fieberhaften Verlaufes für ein peritoneales Ex¬ sudat hielt Das Fieber dauerte 14 Tage, anfänglich war auch häufiges Aufstossen und beständiger Brechreiz vorhanden, der Unter¬ leib war stark gespannt, es kam jedoch nicht zum Erbrechen. In der siebenten bis neunten Woche traten heftige Darm¬ blutungen auf, die sich im weiteren Verlaufe der Erkrankung mehrmals wiederholten. Durch elf Wochen war der Kranke bettlägerig, blieb je- dbch auch später vollkommen arbeitsunfähig. Der Tumor in der Bauchhöhle nahm in den ersten Tagen sehr rasch, in den nächsten Monaten langsam zu, und blieb später ziemlich stationär. Im Sommer 1899 füllte der Tumor nahezu die ganze linke Bauchseite von der neunten Rippe an bis zur Scham¬ fuge herab aus, reichte in der Nabelgegend mit seinem deut¬ lich scharfen Rande etwas über die Mittellinie nach rechts und zeigte eine vollkommen glatte Oberfläche. An den Knochen und Lymphdrüsen waren keine Verän¬ derungen wahrzunehmen, der Harn enthielt eine geringe Menge Eiweiss. Im Blute war eine bedeutende Vermehrung der weissen Blutkörperchen nachzuweisen, von welchen eines auf sechs rothe Blutkörperchen kam. Im Winter 1900 wurde der Kranke neuerlich bettlägerig, es stellten sich zeitweise Fieber und Oedeme der unteren Extremitäten ein; hierbei verkleinerte sich der Tumor in ganz unbedeutendem Ausmasse. Der Verfasser hat sich bei der Begutachtung des Falles, die ihm von der Arbeiter-Unfallversicheruugsanstalt für Steier¬ mark und Kärnten übertragen wurde, dahin ausgesprochen, dass die Arbeitsunfähigkeit des Kranken mit dem Unfälle vom 28. November 1898 in ursächlichem Zusammenhänge steht und dass dieser Unfall zum Entstehen der Leukämie entweder wesentlich beigetragen oder aber die bereits vorher in ihren Anföngen bestehende Erkrankung in einer solchen Weise akut verschlimmert hat, dass hierdurch die dauernde volle Erwerbs¬ unfähigkeit des Verletzten herbeigeführt worden ist. Für dieses Qutachten waren folgende Erwägungen mass¬ gebend : Der Unfall selbst war unzweifelhaft festgestellt und hatte die Qegend der Milz getroffen, wo der Hauptsitz der späteren Erkrankung sich befindet; die Qewalteinwirkung war, wie aus der Röthung und Schwellung der Weichtheile entnommen werden konnte, ziemlich erheblich; diese unmittelbaren Un¬ fallsfolgen waren durch ärztliche Beobachtung nachgewiesen und gingen direkt in die leukämische Erkrankung über, ohne dass ein Zeitraum voller oder auch nur theilweiser Arbeits¬ fähigkeit dazwischen gefallen ist. Die Möglichkeit einer absichtlichen Täuschung seitens des Kranken lässt sich deshalb ausschliessen, weil dieser zur Zeit, als die Unfallsanzeige erstattet wurde, nicht wissen konnte, dass er an Leukämie erkranken werde, da diese Diagnose selbst vom behandelnden Arzte erst weit später gestellt worden ist. Es bleibt somit nur die Frage offen, ob die Leukämie etwa in ihren Anfängen bereits vor dem Unfälle bestanden hat; dies ist möglich, jedoch nicht wahrscheinlich, weil der Kranke seine ziemlich schwere Arbeit bis dahin anstandslos verrichtet hat und weil der ziemlich stürmische fieberhafte Beginn des Leidens auf eine akute Entwickelung desselben hindeutet, womit die ärztliche Beobachtung übereinstimmt, dass der Milztumor bereits am vierten Krankheitstage nach¬ gewiesen wurde. Der Kranke wird von der Arbeiter-Unfallversicherungs¬ anstalt für Steiermark und Kärnten als gänzlich erwerbs¬ unfähig unterstützt. Gelegentlich der Demonstration des Patienten im Vereine der Aerzte Steiermarks erlangte der Verfasser Kenntniss, dass sich auf der medizinischen Klinik in Graz zwei Fälle von Leukämie befinden, die ebenfalls mit Verletzungen in Zu¬ sammenhang stehen und deren Veröffentlichung dem Verfasser vom Vorstande der Klinik, Professor Dr. Fr. Kraus, freundlichst überlassen wurde. Der erste dieser Fälle betrifft einen 38 Jahre alten Eisen¬ arbeiter Mathias Sch. aus St. Pölten, der mit fünf Jahren Blattern, mit 17 Jahren eine Lungenentzündung überstanden hatte, seither jedoch nie erheblich krank gewesen war. Am 27. August 1898 trug er ein Bündel Eisenstäbe im Gewichte von 50 Kilo auf der rechten Schulter, anstatt wie gewöhnlich auf der linken, weil er auf dieser wund geworden war. An Ort und Stelle angekommen, liess er das Bündel von der Schulter herabgleiten, indem er sich mit der rechten Brust¬ seite etwas entgegenstemmte, und verspürte hierbei plötzlich einen Stich in dieser Seite. Sch. arbeitete an diesem Tage (einem Sonntage) noch bis Schichtschluss weiter und meldete sich am 29. August (Montags) krank, wobei er angab, heftige Kreuzschmerzen zu empfinden. Der Arzt stellte einen Bruch der dritten rechten Rippe mit Verschiebung der Bruchenden fest. Am 1. September wurde die Anzeige des Unfalls an die Arbeiter - Unfallversicherungsanstalt für Niederösterreich er¬ stattet. Etwa drei Wochen nach dem Unfälle traten Schmerzen in der Milzgegend auf und wurde vom Arzte ein Milztumor festgestellt, der am 2. November 1898 bei der Aufnahme des Kranken in das Krankenhaus in St. Pölten schon ziemlich gross war. Erst im Januar 1899 trat ein Stillstand im Wachs¬ thum des Tumors ein, der sich seither allmählich verkleinerte. Im allgemeinen Krankenhause in Graz wurde der Kranke im Frühjahre 1899 aufgenommen und verblieb hier bis zu seinem im Dezember 1899 erfolgten Tode. Aus dem Befunde ist hervorzuheben, dass die Milz sehr bedeutend vergrössert war; ihr Rand kam links vom Schwert¬ fortsatz unter dem Rippenbogen hervor und überschritt die Mittellinie ober dem Nabel; etwa 2 Querfinger ober der Symphyse bog er wieder nach links um, und lagerte sich dann in die Darmbeinschaufel ein. Die Leberdämpfung begann in der Mammillarlinie an der fünften Rippe und reichte zwei Querfinger unter den Rippen¬ bogen nach abwärts. An der dritten Rippe rechts war in der Brustwarzenlinie eine deutliche Stufe zu tasten, der Brustbeinkörper war stark schmerzhaft, das linke Schienbein ebenfalls etwas druck¬ empfindlich, ebenso einzelne Brustwirbeldorne. Die Lymphdrüsen waren am Halse, in den Achsel- und Leistengegenden bis zu Erbsen- und Mandelgrösse vergrössert. Die Zahl der weissen Blutzellen war nur mässig ver¬ mehrt. Zeitweilig stellte sich hohes Fieber unter entzündlichen Erscheinungen in den Athmungsorganen ein, welches auch unter zunehmender Schwäche den Tod unmittelbar verur¬ sachte. Aus dem Obduktionsbefunde ist hervorzuheben, dass das Gewicht der Milz 2750 g und jenes der Leber 3400 g be¬ tragen hat. In diesem Falle, der von der Arbeiter-Unfallversicherungs¬ anstalt für NiederÖBterreich gleichfalls als vollständig erwerbs¬ unfähig entschädigt worden ist, drängt sich der Gedanke auf, dass die Leukämie schon vor dem Unfälle vorhanden gewesen ist und der Unfall nur in Folge abnormer Brüchigkeit der Knochen zustande gekommen ist. Digitized by Google 1. April 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 131 Obgleich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit anzu¬ nehmen war, dass die Leukämie in diesem Falle auch ohne Hinzutreten des Unfalls sich weiter entwickelt und zum Tode geführt hätte, erscheint die Qewährung der Unfallsentschä¬ digung doch deshalb gerechtfertigt, weil die volle Arbeits¬ unfähigkeit des Arbeiters thatsächlich erst vom Tage des Un¬ falls ab eingetreten, daher durch den Unfall unmittelbar be¬ dingt worden ist. Der dritte Fall betrifft eine 21 Jahre alte Gouvernante J. F., die im Februar 1899 dadurch rücklings zu Boden fiel, dass ihr ein ungezogener Zögling den Sessel wegzog, als sie sich eben niedersetzen wollte; sie spürte nach diesem Falle Schmerzen im linken Hypochondrium, denen sie aber keine Bedeutung beilegte. Im April erkrankte sie an Gelenksrheu¬ matismus und brachte deshalb 14 Tage im Spitale zu. Ende Mai bemerkte sie einen Tumor in der linken Milzgegend, der sich allmäblig vergrösserte und im Winter 1899/1900 bereits beinahe bis zur Mittellinie und nach abwärts gegen die Sym¬ physe reichte. Das Blut zeigte eine bedeutende Vermehrung der weissen Blutzellen. In diesem Falle sind die Beziehungen der Leukämie zu dem erlittenen Trauma wohl am wenigsten klar, weil die Zeit zwischen dem Unfälle und dem Auftreten der leukämischen Erscheinungen Monate beträgt und in dieselbe überdies die schwere Erkrankung an Gelenkrheumatismus fällt. Immerhin wird aber auch hier die Möglichkeit des Be¬ stehens ursächlicher Beziehungen zur erlittenen Verletzung zugegeben werden müssen, was aber in diesem Falle ohne weitere Konsequenzen ist, da eine Entschädigung des Unfalles nicht in Betracht kommt. Plötzlicher Tod nach Herausschneidung von ver- grösserten Gaumen-Mandeln, ob durch Verblutung, Erstickung oder Shok? Von Dr. Bernhard Schuchardt -Gotha. Geh. Regierangs- n. Ober-Medizinalrath n. D. Den 16. Oktober 1896 machte der praktische Arzt Dr. F. in W. dem Amtsgerichte daselbst die Anzeige, dass er an diesem Nachmittage der Tochter der S. eine Mandel heraus¬ geschnitten habe, ohne Anwendung von narkotischen Mitteln, und dass dieselbe kurz darauf, möglicher Weise an dem Blute, welches sich im Halse angesammelt, erstickt und so plötzlich verstorben sei. Er versicherte dabei, dass er sofort durch Eil¬ boten den Staatsanwalt in G. von dem Vorfall in Kenntniss gesetzt habe. Der Bericht an letzteren lautete: Ich nahm heute unter Hülfe meiner Wirthschafterin, Frau W. und deren zufälliger Weise anwesenden Sohn der 13jährigen Tochter der S. zu W. die geschwollenen Halsmandeln heraus. Während die rechte entfernt wurde, richtete sich das Kind plötzlich auf, schrie laut auf und dabei schoss ein Blutstrom aus ihrem Munde. Nach etwa 5 Minuten verschied das Kind in meinem Sprechzimmer. Der Tod erfolgte infolge Erstickung durch geschlucktes Blut. Ein Narkotikum war nicht angewen¬ det worden. Ich stelle dem Staatsanwalt anheim, eine Obduk¬ tion vornehmen zu lassen. Wahrscheinlich ist ein grösseres Blutgefäss, welches in Folge der Entzündung der Mandeln ver¬ wachsen war, angeschnitten worden. Am 17. Oktober Nachmittags wurde die gerichtliche Sek¬ tion vorgenommen. A. Aeussere Besichtigung. 1. Die weibliche Leiche ist 134 cm lang und entspricht dem Alter von 13 oder 14 Jahren, 2. Die Hautfarbe ist im Allgemeinen blass, an der Rücken¬ fläche ist stellenweise blaurothe, durch Einschnitte geprüfte Leichenfarbe verbreitet. 3. Beim Umwenden der Leiche fliesst aus Mund und Stfee reichlich dunkel gefärbtes Blut. 4. Die grossen und kleinen Gelenke sind fast leichenstarr. 5. Verwesungsgeruch ist mässig bemerkbar. 6. Der Kopf ist bedeckt mit U /2 Fuss langem, reiohlichem blonden Haupthaar. Innerhalb desselben sind Verletzungen nicht vorhanden. 7. Im Gesicht sind die Augen nahezu geschlossen, die Lidbindehaut blass, die Augäpfel weich und nachgiebig, die Horn¬ häute trübe glänzend, die Iris blaugrau gefärbt, die Pupillen mässig weit, die linke etwas verzogen. 8. Die Farbe im Gesicht ist blass bläulich, die linke Backe röther gefärbt. Bei Einschnitten zeigt sich in der Haut kein Bluterguss. 9. In den Oeffnungen der Nase ist schaumiges Blut ange¬ sammelt und dieses und schwarzgefärbtes hat sich rechts bis zum Ohre und in die Haare ergossen. 10. Der Mund zeigt bläuliche Färbung der Lippen und ist mässig geröthet. Die bläulich rothe Zungenspitze liegt zwischen den Zahnreihen eingeklemmt, bei Druck tritt aus dem Munde schaumig rothe Flüssigkeit hervor. 11. Beide Ohren sind bläulich roth gefärbt, das rechte von zugefiossenem Blute beschmutzt, die Oeffaungen leer. 12. Der Hals ist stark beweglich, der Kehlkopf ragt nicht hervor. 13. Die Brust ist flach und hinreichend gewölbt. 14. Am Bauche, der flach und gering eingezogen ist, keine Veränderung. 15. Die Schamspalte schliesst, die grossen Lippen sind bläulich gefärbt. 16. Der After ist geschlossen. 17. Au den Extremitäten, Händen und Füssen, keine Ver¬ änderungen; erstere zeigen geringe blutige Beschmutzungen. B. Innere Besichtigung. I. Kopfhöhle. 18. Es wird zunächst durch einen Längsschnitt am Halse rechterseits, entsprechend dem Kopfnicker, die Haut durch¬ schnitten und die unterliegenden Theile untersucht. 19. Die grossen Gefässe des Halses, Schlag- und Blut¬ adern und deren Verzweigungen, namentlich die aufsteigende Rachenader zeigen bis nahe zur Mundhöhle keine Verletzung, auch ist Blut in das Gewebe nirgends ergossen. (Zusatzbemerkung zu 19: In einer nach oben verlaufenden Verzweigung der inneren Drosselvene sind mehrere kleine Luft¬ bläschen vorhanden.) 20. Es wird darauf von aussen die Zunge mit weichem Gaumen, Mandeln, Gaumenbogen, Schlundkopf und oberem Theil der Speiseröhre, sowie Kehlkopf und Luftröhre herausge¬ nommen. 21. Die Zunge und umliegenden Theile sind mit schwärz¬ lichem Blute bedeckt. 22. Die linke Mandel zeigt bei flacher Form eine ober¬ flächliche frische Schnittfläche, Blut ist daselbst in das umge¬ bende Gewebe nicht ergossen. 23. Die rechte Mandel ist in vertikaler Richtung durch¬ schnitten. Der abgeschnittene flachkugelige Theil ist mit der¬ selben noch in Hautverbindung. Von der Schnittfläche der Mandel erstreckt sich nach hinten zu in das Gewebe eine etwa V 2 cm lange Fortsetzung der Schnittwunde, angefüllt mit schwärzlichem Blute. Beim Auseinanderlegen wird daselbst eine geringe Schlagaderöffnung, sowie eine solche, etwas grösser, einer Blutader durchschnitten aufgefunden. Digitized by AjOOQle 132 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 7. 24. Die Speiseröhre ist leer, die Schleimhaut blassroth und gerunzelt. 25. Im Kehlkopfe und oberen Theile der Luftröhre ist die Schleimhaut mit roth gefärbtem dunkeln Blute überlagert, die Farbe derselben etwas dunkler grauroth. 26. Durch einen Schnitt von einem Ohr zum anderen quer über den Scheitel wird die Kopfhaut gespalten und nach vorn und hinter, zurückgelegt. 27. Die Kopfschwarte ist massig dick, innen blass, auf dem Durchschnitt gelblich. 28. Die Beinhaut des Schädels ist gut sehnig und leicht abzuziehen. 29. Es wird darauf durch einen Zirkelschnitt das Schädel¬ dach durchsägt und herabgenommen. 30. Die Kopfknochen sind raässig dick, stellenweise durch¬ scheinend, der Durchschnitt blass. 31. Die harte Hirnhaut ist blassroth gefärbt, auf der Aussenseite rauh, auf der Innenseite sehnig und glatt, der Längsblutleiter leer. 32. Das Gehirn zeigt gute Wölbung der Halbkugeln. 33. Die weiche Hirnhaut ist zart, glänzend und durch¬ scheinend, die Gefässe mässig gefüllt, im hinteren Theile stärker. 34. Die Substanz des Gehirns, die graue sowohl wie die weisse, zeigt weiche Konsistenz, starke Feuchtigkeit und auf Durchschnitte treten wenig Blutpunkte hervor. 35. Die grossen Gehirnganglien, Seh- und Streifenhügel, Balken, Brücke, Gehirnschenkel und verlängertes Mark sind von feuchter Beschaffenheit der Substanz, weich und fast zerfliesslich. 36. Beide Seitenkammern sind leer, die Adergeflechte und obere Gefässplatte bläulichroth gefärbt. 37. An der Gehirnbasis zeigt die weiche Hirnhaut glatte zarte Beschaffenheit, die Gefässe sind wenig mit Blut angefüllt. 38. In der Schädelbasis ist die harte Hirnhaut blass ge¬ färbt und glatt, die Blutleiter sind stärker mit schwarzem Blute angefüllt. IL Brust-Bauchhöhle. 39. Durch einen Schnitt vom Kinn bis zur Schamfuge links vom Nabel vorbei wird darauf die Haut gespalten und die Bauchhöhle eröffnet. 40. In derselben liegen die Organe in normaler Lage. Der obere Theil ist eingenommen durch den linken Leber¬ lappen, darunter liegt, bräunlich gefärbt, der Querdarm, unter¬ halb gelb-röthlich gefärbte Dünndarmschlingen. 41. Das Zwerchfell steht beiderseits zwischen vierter und fünfter Rippe. a) Brusthöhle. 42. Es wird darauf das Brustbein vorschriftsmässig heraus¬ genommen und die Brusthöhle eröffnet. 43. In derselben liegen die Organe in normaler Lage. 44. Inmitten liegt der bläulich roth gefärbte Herzbeutel vor. Beiderseits daneben die blassroth gefärbten und mar- morirten Lungenränder. 45. Der Herzbeutel enthält eine geringe Menge gelblich seröser Flüssigkeit; die Innenfläche ist glatt. 46. Das Herz, so gross wie die Faust, ist bräunlich ge¬ färbt und zeigt unten und oben aufgelagertes Fett. Bei der Eröffnung sind beide Kammerzugänge für zwei Finger durch¬ lässig. 47. Bei der Herausnahme des Herzens fliesst reichlich schwarz gefärbtes Blut. 48. Die rechte Herzkammer war leer, in der linken wenig Blut mit schwärzlichem Gerinsel. 49. Die Herzklappen sind zart und normal. 50. Das Herzfleisch ist braunroth gefärbt und misst in der linken Kammer 15, in der rechten 7 mm im Durchschnitt. 51. Die grossen Gefässe der Brusthöhle enthalten viel dunkel gefärbtes flüssiges Blut. 52. Die linke Lunge ist im oberen Lappen blassroth ge¬ färbt, im unteren dunkler. Die Oberfläche ist glatt und glän¬ zend, die Konsistenz schwammig, im unteren fester. 53. Auf dem Durchschnitt zeigt das Gewebe im oberen Lappen blassrothe Farbe; bei Druck tritt mässig viel blutiger Schaum hervor. Im unteren Lappen tritt reichlich Blut hervor. 54. Die Bronchien, die grossen — und auch feinen Ver¬ zweigungen zeigen blutige Auflagerungen, zum Theil geronnen, auf der Schleimhaut und lassen bei Druck schwarzes Blut reich¬ lich hervortreten. 55. Die Gefässe sind mit Blut von schwarzer Farbe mässig angefüllt. 56. Die rechte Lunge zeigt an der Aussenseite leichte Verwachsungen mit dem Rippenfell. Der Unterlappen zeigt etwas stärkere Konsistenz. Auf dem Durchschnitt vermehrter Blutgehalt: übrigens verhält sie sich ebenso. b. Bauchhöhle. 57. Das Netz ist zart und führt reichlich feinklumpiges Fett. 58. Die Milz ist 15 cm lang, 6 cm breit und 2y 2 cm dick. Die Farbe blassbläulich roth, die Kapsel runzlich und schlaff. Auf dem Durchschnitt ist die Pulpa blassbräunlich gefärbt und blutleer. 59. Die linke Niere ist 15 cm lang, 5 cm breit und 4 cm dick. Die Kapsel ist leicht abzuziehen, stark fettreich. Die Oberfläche glatt und glänzend, die Farbe braunroth. Auf dem Durchschnitt Rinden- und Marksubstanz blass braunrothe Farbe, im Nierenbecken mässig viel Fett und geringer Blutgehalt. 60. Die rechte Niere ist 15 cm lang, 6 cm breit und 4 cm dick, im Uebrigen verhält sie sich ebenso. 61. Die Leber ist 23 cm breit, 20 cm hoch und 5 cm dick, die Oberfläche ist glatt und glänzend, die Konsistenz mässig fest. Auf dem Durchschnitt ist das Gewebe braunroth gefärbt, bei Druck tritt dunkel gefärbtes Blut reichlich hervor. 62. Die Gallenblase ist klein und enthält wenig bräunlich gefärbte, dünnflüssige Galle. 63. Der Magen ist aussen blassroth gefärbt, die Schleim¬ haut blass, stellenweise gerunzelt, und enthält etwa zwei Tassen¬ köpfe voll dicklichen, grünlich gefärbten Speisebrei. Derselbe Inhalt ist auch im unteren Theile der Speiseröhre enthalten. 64. Der Dünndarm, dessen Schleimhaut blass und wenig gerunzelt ist, enthält stellenweise grosse Ansammlungen dick¬ lichen und klumpigen, grünbraun gefärbten Inhaltes. 65. Im Dickdarm zeigt die Schleimhaut blasse Farbe; in demselben sind Kothmassen in grosser Menge vorhanden. 66. Die Harnblase ist fast leer, die Schleimhaut blass ge¬ färbt und runzlich. 67. An den Geschlechtsorganen, Gebärmutter und Adnexen keine Veränderung. Es gaben hierauf die Obduzenten ihr summarisches Gut¬ achten folgendermassen ab: Der Tod erfolgte durch Erstickung, verursacht durch An¬ füllung der Luftwege mit ergossenem Blute. Den 21. Oktober 1896 fanden bei dem Amtsgericht zu W. folgende Vernehmungen statt: Dr. F.: Am 30. September d. J. wurde ich zu der 13 jäh¬ rigen S. gerufen. Dieselbe klagte über Halsschmerzen. Bei der Untersuchung fand ich beide Mandeln stark in die Mund¬ höhle hineinragend und mit weissgelblichen Pfropfen besetzt (Angina follicularis). Ich verordnete Gurgelungen und machte den Vorschlag, wenn die entzündlichen Erscheinungen abge- laufen seien, die Mandeln herauszunehmen. Am Donnerstag Digitized by LjOOQie 1. April 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 133 den 15. Oktober in meiner Abwesenheit schickte der Vater der S. wieder nach mir und liess am 16. morgens anfragen, wann denn endlich die Mandeln herausgenommen werden sollten. Ich ging nach der Sprechstunde hin, sah im Munde der S. nach und bestellte dieselbe auf Nachmittags in die Sprechstunde. Gegen 2y 2 bis 2 3 / 4 Uhr erschien die Mutter mit ihrer Tochter. Die Mutter deutete mir durch Geberden an, dass sie bei der Operation nicht dabei sein möge. Ich rief daher meine Wirth- schafterin, welche immer aushilft, und deren zufällig anwesen¬ den Sohn herein. Während meine Wirthschafterin mit der rechten Hand den Kopf der Patientin an ihre Brust hielt, hielt sie mit der linken Hand den Zungenspatel, nachdem ich den¬ selben in die gehörige Lage gebracht hatte. Der Sohn meiner Wirthschafterin hatte nur die Aufgabe, die etwas aufgeregte Pa¬ tientin zu halten. Ich versuchte zuerst, mit dem Mathieu'schen Tonsillotom die Mandeln zu entfernen, da dasselbe jedoch nicht fasste, nahm ich ein halbgebogenes geknöpftes Messer. Ich fasste zuerst die linke Mandel mit einem scharfen Haken, zog dieselbe weit vor und schnitt sie ab. Die Patientin schrie dabei immer laut auf. Darnach liess ich den Mund gründlich aus¬ spülen in ein kleines schwarzes Becken, in welches drei Wasser¬ gläser voll Flüssigkeit hineingehen. Darauf fasste ich die rechte Mandel mit dem Haken, zog sie ebenfalls weit vor und schnitt von oben nach unten. Während ich fast am unteren Ende der Mandel war, machte die Patientin eine heftige Brech- und Aufstehbewegung. Dabei ergoss sich eine dunkle Blutung und zugleich etwas Erbrochenes aus dem Munde in das sofort untergehaltene Becken. Ich liess die Mandel sofort los, neigte den Kopf der Patientin nach vorn und legte die Instrumente bei Seite. In diesem Augenblick rief meine Wirthschafterin: „Herr Dokter, sehen Sie“, oder so ähnlich, und ich sah die Patientin ohnmächtig. Ich legte sie sofort auf die rechte Seite, öffnete die Kleider, fuhr mit der Hand in den Mund, fand darin nur sehr wenig Blut, ebenso den Kehlkopf frei. Beim Hin¬ legen hatten sich noch einige Kubikcentimeter Blut und Er¬ brochenes aus dem Munde ergossen, die Patientin schnappte noch zweimal und war todt. Versuche, durch kunstgemässe Athmung das Leben zurückzurufen, waren erfolglos. Das er¬ gossene Blut machte die kleine Schale, in welcher schon ein Glas Wasser und das Blut von dem ersten Mandelschnitt war, nicht voll. Die Patientin hat etwa 2 /io Liter Blut im Ganzen verloren. Die Gesammtdauer der Operation hat etwa zehn Minuten betragen. Ich muss nun einen kleinen Irrthum be¬ richtigen; ich schrieb in meinem Bericht an den Staatsanwalt, dass die S. innerhalb fünf Minuten todt war. Damit habe ich gemeint, dass ich nach etwa fünf Minuten den Tod konstatirt habe. Wie mir jetzt klar ist, ist das Ohnmächtigwerden schon das Zeichen des Todes gewesen. Es ist also der Tod äusserst plötzlich eingetreten, ohne Todeskampf, Erstickungserschein¬ ungen etc. Entgegen meiner Anfangs gemeldeten Ansicht handelt es sich meiner Meinung nach wegen des Mangels jeg¬ licher Verblutungs- oder Erstickungs-Erscheinung um einen Tod durch Herzschlag, wie es bei lymphatisch-chlorotischem Habitus nicht selten vorkommt. Dass dabei die Blutung und das Er¬ brechen eine gewisse Rolle gespielt habe, ist nicht auszuschliessen. Die Wirthschafterin W., 43 Jahre alt, sagt aus: Ich bin Wirthschafterin bei Herrn Dr. F. und habe auch schon öfters bei Operationen Beistand geleistet. Am besagten Tage, Nach¬ mittags nach 27 2 Uhr wurde das Kind auf einen Stuhl nach dem Fenster zu gesetzt, der Herr Doktor sass vor demselben, mein Sohn stand reohts und ich war links von demselben. Der Herr Doktor nahm meine Hand und sagte mir, wie ich das Kind halten sollte, mit der rechten Hand nach mir zu, damit es Schutz habe. Mein Sohn hielt dasselbe nur am Körper. Der Herr Doktor legte nun dem Mädchen ein Instrument in den Mund, mit dem die Zunge niedergedrückt wurde und welches ich mit meiner linken Hand hielt. Der Herr Doktor schnitt hierauf mit einem Instrument die eine Mandel, die linke, heraus. Das war sehr schnell geschehen. Ich habe hierauf dem Kinde ein Glas Wasser gegeben, mit dem es sich den Mund ausgespült und auch einmal getrunken hat. Das mit Blut vermischte Ausspülwasser hat es in eine dazu bereite Schale gespuckt. Nachdem das Mädchen — es war etwas auf¬ geregt —, sich wieder beruhigt hatte, musste es sich wieder hinsetzen und es wurde dann die zweite Mandel vorgenommen. Ich habe hierbei das Kind gerade wieder so gehalten und auch mit der linken Hand die Zunge niedergedrückt. Das Kind schrie natürlich, wie auch schon bei der ersten Mandel. Der Herr Doktor hörte auf und ging nach dem Waschbecken zu, ich hatte das Kind noch fest im Arm, da schüttelte es sich auf einmal und brach sich. Ich rief gleich den Herrn Doktor und wir legten das Kind sofort auf die Chaiselongue und zogen es aus, es wurde jedoch nicht wieder. — Auf Befragen: Beim Erbrechen fing das Kind an zu husten, vorher hatte es sich geschüttelt. Ob der Herr Doktor mit seiner Operation fertig geworden ist, weiss ich nicht; aber er ging nach dem Wasch¬ becken zu, und wie sich das Kind schüttelte, habe ich gleich gerufen: „Herr Doktor, das Kind schüttelt sich.“ Wir haben dasselbe sofort ausgezogen und das Korsett aufgemacht, es ist jedoch nicht wieder geworden. Das Gutachten des Amtsphysikus Dr. B. zu G. vom 26. Oktober 1896 lautete: Auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft äussert sich der Unterzeichnete bezüglich des Todesfalles des Kindes S. und über event. dabei statt gehabtes Verschulden des behandelnden Arztes mit Rückgabe der Akten ganz ergebenst folgender- massen: Als feststehend ist zunächst anzusehen, dass der Tod in Folge der an dem Kinde vorgenommenen Operation der Ton¬ sillotomie, d. h. Entfernung der Mandeln durch Ausschneiden er¬ folgte. Es muss diese Operation, obwohl an sich ein gering¬ fügiger Eingriff, zu den gewissermassen gefürchteten gezählt werden, weil bei derselben der Natur der Sache und der Oert- lichkeit nach unglückliche Zufälle gefürchtet werden müssen und, wie bekannt, auch öfter eingetreten sind. Abgesehen von dem Umstande, dass dieselbe vielfach bei Kranken nothwen- dig wird, bei denen unruhiges und widerstrebendes Verhalten die Ausführung erschwert und —- Anästhetika werden bei ihr mit Rücksicht auf event. eintretende unzuträgliche Zufällig¬ keiten vielfach vermieden — mit grösster Schnelligkeit aus¬ geführt werden muss, so bietet auch die Oartlichkeit des Ope¬ rationsfeldes wegen der nahen Nachbarschaft mit den grossen Gelassen, Schlag- und Blutadern des Halses, an sich eine grosse Gefahr, insofern wenigstens, als Abnormitäten in Grösse und Verlauf der zu den Mandeln gehörigen Blutgefässe bei der Ab¬ tragung derselben unerwartete gefährliche und selbst tödtliche Blutungen verursachen können. Es wird indessen die Opera¬ tion alltäglich und sehr häufig von den Aerzten geübt, meist ohne alle Zwischenfälle; letztere gehören zu den seltenen Ausnahmen. Neben dem Zusammenhang der Zeit nach — der Tod er¬ folgte während oder gleich nach der Operation — hat die Ob¬ duktion der Leiche auch innere Verletzungen, durch die erstere hervorgerufen, als Todesursache festgestellt. Nach dem sum¬ marischen Gutachten erfolgte der Tod durch Erstickung, in Folge des Eindringens ergossenen Blutes in die Luftwege. Die An¬ zeigen der Erstickung wurden gefunden in der Anwesenheit frei ergossenen Blutes in der Luftröhre und deren grösseren und kleineren Verzweigungen, No. 25, 53 und 54 des Sektions¬ protokolls, der dunklen, schwarzen Färbung des Blutes, No. 25, Digitized by ^ooQie 134 Aerztliche 8 ach verständigen-Zeitung. No. 7. 38, 47, 51, 54 des Sektionsprotokolls, sowie in der stärkeren Blutanfüllung des Herzens und der Gefässe der Brusthöhle, No. 47, 51 des Sektionsprotokolls. Wenn hier bezüglich der Angaben des behandelnden Arztes aus seiner Vernehmung vom 21. d. M. insofern beizutreten ist, dass der Tod ein sehr schneller war, mithin auch die Anzeichen der Erstickung sehr starke und vollkommen ausgeprägte nicht gewesen sind, so muss ihnen doch entgegen getreten werden in der Auffassung, dass Erstickungserscheinungen und solche der Verblutung überhaupt nicht vorhanden gewesen seien, der Tod vielmehr durch Herzlähmung, wie es bei lymphatisch-chloro- tischem Habitus vorkomme, verursacht worden sei. Die Schätzung, dass die Verstorbene nur etwa 2 /io Liter Blut über¬ haupt verloren habe, ist jedenfalls eine nur unsicher approxi¬ mative, zweifellos hat das ergossene Blut, von dem auch ein Theil nach aussen floss und event. durch das Erbrechen wieder hervorgetrieben wurde, genügt, um die grossen Luftwege beider Lungen zu füllen und die Athembewegung und den Luftein¬ tritt zu verhindern. Als primäre Todesursache ist demnach jedenfalls die Erstickung zu betrachten, während die Herz¬ lähmung, wie in vielen Fällen, erst im Gefolge war. Lähmung des Herzens wäre wohl kaum eingetreten ohne den Bluterguss in die Luftwege, d. h. wenn die Operation rechterseits wie links ohne Blutung verlaufen wäre. Als konkurirrende Todes¬ ursache könnte mit viel mehr Berechtigung angezogen werden das Vorhandensein von Luftbläschen in einer Vene am Halse; be¬ kanntlich verursacht die Aspiration von Luft in das Venen¬ system bei Verletzungen mitunter plötzlichen Tod; im vorlie¬ genden Falle konnte diesem Umstande, abgesehen davon, dass die Luftmenge eine geringe war, die letztere Bedeutung nicht zugeschrieben werden, da der Lufteintritt auch artificiell, d. h. erst bei den angestellten Wiederbelebungsversuchen durch künstliche Athmung, also post mortem zu Stande gekommen sein konnte. Als Quelle der Blutung ist in dem hinter der rechten Mandel gelegenen Gewebe des Gaumenbogens, in welches der Schnitt hineinreichte, ein kleines arterielles und grösseres venösesGefäss verletzt, resp. durchschnitten aufgefunden worden, No. 23 des Sektionsprotokolls. Der behandelnde Arzt ist nach seinem eigenen und nach Aus¬ führungen von Zeugen in der gewöhnlichen sachgemässen Weise vorgegangen. Wenn nicht ein besonderes, für die Operation be¬ stimmtes Instrument, das Tonsillotom, zur Anwendung kommt, wird dieselbe mittelst Anhaken mit der Hakenpincette und Schnittführung mit einem geknöpften, d. h. vorn an der Spitze gedeckten, mit stumpfem Knopfe versehenen Messer ausge¬ führt. Linkerseits ist das Entfernen der Mandel auf diese Weise ohne Zwischenfall vor sich gegangen. Auch auf der rechten Seite ist, wie der Befund No. 23 des Sektionsprotokolls erkennen lässt, der Schnitt durch den hervorgezogenen Theil der Mandel bewirkt worden; in diesem Momente hat wahr¬ scheinlich die angegebene Brechbewegung des Kindes statt¬ gefunden und ist, ehe das Messer zurückgezogen werden konnte, die Verletzung der betreffenden Theile, welche sich bei dem Brechakte gewaltsam hervordrängten, zu Stande ge¬ kommen. Der Vorwurf der Fahrlässigkeit wird demnach gegen den behandelnden Arzt nicht erhoben werden können. In Aufforderung der Staatsanwaltschaft zu G. gab ich unter dem 10. November 1896 ein Obergutachten ab. Nachdem ich über den Thatbestand, wie er in dem Obigen aus den Aussagen des behandelnden Arztes und der Wirth- schafterin und aus dem Sektionsprotokoll erhellt, und über den Schluss des Gutachtens des Amtsphysikus Dr. B. berichtet habe, fahre ich weiter fort: Nach den oben angegebenen Mittheilungen über die Aus¬ führung der Operation bis zum eingetretenen Tode und nach den Ergebnissen der gerichtlichen Sektion ist der ganze Her¬ gang meiner Ansicht nach folgender gewesen. Die 13jährige S., mässig kräftig und wohl etwas blutarm und reizbar, hatte bei wohl schon vergrösserten Mandeln gegen Ende September d. J. eine gutartige Mandelentzündung follikulärer Art durchgemacht, welche bald beseitigt wurde. Am 16. Oktober wurde die von dem behandelnden Arzt vor¬ geschlagene Herausschneidung der vergrösserten Mandeln auf Wunsch der Eltern des Kindes in der Wohnung des Arztes von demselben ausgeführt. Nach sachgemässer Fixirung der Patientin durch zwei Personen wurde von Dr. F. mittelst scharfen Hakens und geknöpften gebogenen Messers zuerst der hervorragende Theil der vergrösserten linken Mandel durch einen glatten vertikalen Schnitt entfernt. Nach Stillung der geringen Blutung, bei welcher auch schon während und vor der Operation sich das Mädchen aufgeregt und sehr un¬ ruhig gezeigt hatte, wurde zur Entfernung des hervorragenden Theiles der rechten Mandel in gleicher Weise geschritten. Schon war durch einen gleichen vertikalen Schnitt von oben nach unten der hervorragende Theil der Mandel biB auf einen kleinen Rest der Kapsel derselben nach unten durchschnitten, als das Mädchen ganz unerwartet einen heftigen Rack mit dem ganzen Körper nach oben that und bei zugleich statt¬ findenden Brechbewegungen einen hinter und unter der durch¬ schnittenen Mandel gelegenen Schleimhauttheil in die Messer¬ schneide drückte, so dass dabei die daselbst bei der Sektion Vorgefundene, Va cm lange Schnittwunde und die in derselben Vorgefundene Durchschneidung einer dort gelegenen kleinen Schlagader und einer etwas grösseren Blutader bewirkt wurde. Unmittelbar nach dem angegebenen Ruck des Mädohens nach oben trat eine Ohnmacht ein; das Mädchen schnappte noch zweimal nach Luft und war tot. Dieses Nachobenfahren und Ohnmächtigwerden mit sofort eintretendem Tode, was Alles in ein paar Augenblicken, höchstens zehn Sekunden, verlief, ist unzweifelhaft als ein rascher, fast momentaner Stillstand der Herzthätigkeit, sogenannter Shok, in Verbindung mit gleich¬ zeitiger, oder nur einige Sekunden später, ebenfalls vom Centrum aus eintretender Sistirung der Athembewegungen hinzustellen. Ein solches plötzliches Auftreten von Shok beob¬ achtet man hin und wieder gerade bei lymphatisch-chlorotischen Personen jugendlichen Altera, wie nach der Mittheilung des behandelnden Arztes in diesem Falle vorlag. Hieran schloss sich unmittelbar auch ein Hervortreten von Blut aus den vor¬ letzten Gefässen und dasselbe floss, da in Folge des Shoks auch die Schluckbewegungen des Rachens, sowie die Schliess- bewegungen des Kehlkopfseinganges aufgehört hatten, unge¬ hindert durch den Kehlkopf in die Luftwege, ohne dass Hasten- bewegungen ausgelöst wurden. Es ist dabei festzuhalten, dass dieses Hineinfliessen des Blutes in die Luftwege nicht etwa durch Behinderung des Gasaustausches in den Lungen Erstickung verursacht und so den Tod herbeigeführt hat, son¬ dern die erste und direkte Ursache des Todes ist der rasche, in wenigen Sekunden sich vollziehende Shok, die Sistirung der Herzthätigkeit. Dagegen, dass das Einfliessen des Blutes in die Luftwege und eine dadurch herbeigeführte Erstickung, Behinderung der Athmung in den Lungen und des Gasaustausches in denselben, die erste, direkte und alleinige Ursache des Todes ge¬ wesen wäre, spricht schon der Umstand, dass bei dem Anfängen dieses Einfliessens, ja schon einige Sekunden vorher, derSbok begonnen hatte, welcher mit dem Auffahren nach oben, also schon vor Durchschneidung der Gefässe, auftrat and binnen Digitized by Google 1. April 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 136 wenigen Sekunden Bchon die Herzthätigkeit und die Athmungs- bewegungen und somit das Leben hatte erlöschen lassen. Dass zur Zeit des Beginnes der Blutung aus den verletzten Qefässen auch schon die Thätigkeit des Schluckens sistirt war, geht daraus hervor, dass im Magen sich kein Blut vorfand, welches sonst doch zum Theil herunter geschluckt worden wäre. Wenn dieser Shok nicht vorgekommen wäre, oder wenn man denselben etwa nicht als die direkte Todesursache ansehen wollte, sondern als solche nur eine Erstickung, so hätten die Erstickungs¬ erscheinungen während des Lebens in Folge des Einfiiessens von Blut in die Luftwege in der bekannten Weise auftreten müssen, und es würde von dem Beginn dieses Einfiiessens bis zu den dadurch bedingten Behinderungen des Athmens und zu dem durch Erstickung alsdann erfolgten Tode eine viel längere Zeit, als hier beobachtet worden ist, verflossen sein müssen. Endlich hätten sich bei der Sektion die bekannten charakte¬ ristischen Erscheinungen des Erstickungstodes vorgefunden haben müssen. Nichts von alledem liegt hier vor. Von, die Lebensgefahr anzeigenden Erscheinungen sind nach dem durch das jähe Auffahren in die Höhe bezeichneten Anfänge des Shok8 bis zu dem eingetretenen Tode nur die Ohnmacht und das zweimalige Schnappen nach Luft, was schon den eintre¬ tenden Tod bedeutete, beobachtet worden, während bei alleini¬ ger Herbeiführung des Todes durch Erstickung die Athembe- wegungen sich noch einige Zeit in stürmischer Weise geäussert haben würden, wovon durchaus nichts beobachtet worden ist. Auch ist die Zeit, innerhalb welcher eine derartige Erstickung zum Tode führt, eine weit längere, als die hier beobachtete von einigen Sekunden, indem doch wohl, selbst bei dem kürze¬ sten Verlaufe, bei der Erstickung eine Anzahl von Minuten verstreicht, bis das Leben erlischt, wobei hier in uuserem Falle insbesondere auch noch zu beachten ist, dass bei der Kleinheit der verletzten Qefässe die Menge des ausfliessenden Blutes nur eine mässige war und eine durch dieselbe bewirkte Be¬ hinderung der Luftaufnahme in die Lungen nur nach und nach einen grösseren Umfang annehmen konnte, also jedenfalls eine weit grössere Zeit bis zum Eintreten des Todes hätte ver¬ streichen müssen. Endlich hat sich bei der Sektion nichts von dem gefunden, was für den Erstickungstod charakteristisch ist: Cyanose des Gesichts, insbesondere bläuliche Färbung des freien Randes der Lippen, Ecchymosen in verschiedenen Theilen des Körpers, besondere in den Brustfellen und dem Herzbeutel, Injektion und Röthung der Schleimhaut der Luftwege, Blut¬ überfüllung des Gewebes der Lungen, Oedem, starkes Aufge¬ triebensein derselben, Blutüberfüllung des rechten Herzens, schaumige (mit kleineren und grösseren Luftbläschen durch¬ setzte) Beschaffenheit der in den Luftwegen befindlichen Flüssig¬ keit u. s. w. wurden bei der Sektion nicht beobachtet. Von einem Tode durch Verblutung kann hier selbstver¬ ständlich nicht die Rede sein, da eine solche aus kleinen Ge- fässen eine längere Zeit in Anspruch genommen hätte, und es deutet kein einziger Befund bei der Sektion auf eine solche Ursache. Nach aussen war im Ganzen sehr wenig Blut zu Tage gefördert worden (der behandelnde Arzt Bchätzt es etwa auf 2 /io Liter), und auch das in verschiedenen Höhlen des Körpers (der Nasen- und Mundhöhle) und in den Luft¬ wegen Vorgefundene Blut war von mässiger Menge. Auf das Vorhandensein mehrerer kleiner Luftbläschen in einer nach oben verlaufenden Verzweigung der inneren Drossel¬ vene ist für die Deutung der Todesursache kein weiteres Ge¬ wicht zu legen, zumal da keine Luftblasen in anderen Gefässen und insbesondere im Herzen gefunden wurden. Der Tod des Mädchens ist demnach durch den bei der Operation plötzlich aufgetretenen und in kürzester Zeit ver¬ laufenen Shok, Stillstand der Herzthätigkeit, herbeigeführt worden. Der Tod würde unter diesen Umständen wohl auch eingetreten sein, wenn im Beginn des Shoks die Vorgefundenen Gefässverletzungen nicht stattgefunden hätten. Aus allen diesen Erörterungen geht mit vollständiger Ge¬ wissheit hervor, dass der Arzt bei dieser Operation durchaus sachgemäss vorgegangen ist und dass ihm in keiner Weise irgend ein Verschulden an dem plötzlichen Tode des Mädchens beizumessen ist. Bei der heut zu Tage leider immer grösser werdenden Neigung des gedankenlosen grossen Publikums, die Thätigkeit des praktischen Arztes mit Misstrauen zu verfolgen, war es in diesem Falle gewiss das Richtige, die Vorgänge desselben der genauesten gerichtlichen Untersuchung zu unterbreiten, um so jeder Verdrehung und falschen Beurtheilung vorzubeugen. Es sei noch bemerkt, dass Dr. F. ein sehr tüchtiger Chirurg ist und das Wissenschaftliche und Praktische dieses Faches in seinem ganzen Umfange vollkommen beherrscht. lieber das Recht der Schuldverhältnisse zwischen Aerzten nach dem Bürgerlichen Gesetzbuche. Von Dr. Karl Gumpertz- Berlin, Nervenarzt. Die Verträge der Behörden wie auch der Krankenkassen mit ihren Aerzten werden ausnahmslos schriftlich fixirt, ent¬ halten auch gewöhnlich eine ausreichende Zahl von Para« graphen, in denen der Art des Dienstes, des Urlaubs, der Kündigung gedacht ist. Vor allem sind diese Verträge stets befristete und die Dauer ihrer Geltung ist genau bekannt. Auch hinsichtlich der Rechte und Pflichten, sowie der Kündi¬ gungsbedingungen der Hausärzte dürfte ein Zweifel kaum ob¬ walten. Hingegen giebt es verschiedene Arten privater Beziehun¬ gen zwischen Aerzten, welche gewöhnlich auf unbestimmte Zeit eingegangen werden oder sich auch nur vorübergehend aus der Eigenart des ärztlichen Geschäftes von selbst ergeben. Die reohtliche Tragweite solcher Beziehungen ist häufig den Betheiligten unbekannt. Das Bürgerliche Gesetzbuch ist nun durchweg bemüht, die Forderungsrechte und Leistungspflichten zu fixiren, welche aus solchen mündlichen, unbefristeten, oft nur aus der Ver¬ kehresitte resultirenden Verträgen stammen. I. Der Eckpfeiler des modernen sozialen Lebens ist der Dienstvertrag: 1 ) § 611. Durch den Dienstvertrag wird derjenige, welcher Dienste zusagt, zur Leistung der versprochenen Dienste, der andere Theil zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet. Gegenstand dos Dienstvertrags können Dienste jeder Art sein. Absatz 2 bezieht sich offenbar auch auf die sog. Operae liberales, als welche sowohl die ärztlichen Bemühungen selbst, wie die Unterstützung bei diesen, die besoldete Assistenz und Vertretung zu betrachten sind. Die Dienste sind zu leisten nach dem Prinzip von Treu und Glauben: § 242. Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu be¬ wirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Natürlich ist auch der Dienstberechtigte, welcher ja eben¬ falls eine Leistung zu bewirken hat, diesem Prinzipe unter¬ worfen. § 612. Eine Vergütung gilt als stillschweigend vereinbart, wenn *) Oertmann, Rechte der Schuldverhältnisse, 1899. S. 330. Digitized by LjOOQie 136 Aerztliche Sachverständigen- Zeitung. No. 7. die Dienstleistung den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist. Ist die Höhe der Vergütung nicht bestimmt, so ist bei dem Be¬ stehen einer Taxe die taxmässige Vergütung, in Ermangelung einer Taxe die übliche Vergütung als vereinbart anzusehen. Fordert demnach ein Arzt einen anderen zur Vertretung oder Assistenz auf, so hat der Auffordernde dem Aufgeforderten die taxmässige Gebühr zu entrichten, falls nicht bekannt war, dass die Leistung unentgeltlich sein sollte. § 613. Der zur Dienstleistung Verpflichtete hat die Dienste ira Zweifel in Person zu leisten. Der Anspruch auf die Dienste ist im Zweifel nicht übertragbar. Durch Zuziehung eines blossen Gehilfen bleibt die Leistung die des Dienstverpflichteten. Für den letzteren bedeutet diese Bestimmung nicht nur eine Pflicht, sondern auch ein Recht, indem er bei persön¬ licher Verhinderung zur Bestellung eines Vertreters nicht ver¬ pflichtet ist (Oertmann). Engagire ich also einen Vertreter mit festen Bezügen, und dieser erkrankt, so bin ich, nicht er zur Stellung eines neuen Vertreters verpflichtet. Erkrankt der fixirte Hausarzt einer Familie, so muss diese im Bedarfsfälle auf ihre Kosten einen neuen Arzt nehmen. Das Gleiche geht hervor aus § 616. Dor zur Dienstleistung Verpflichtete wird des Anspruchs auf die Vergütung nicht dadurch verlustig, dass er für eine verhältniss- mässig nicht sehr erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegen¬ den Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung ver¬ hindert wird. Solche Hinderungsgründe werden vornehmlich Erkran¬ kungen sein (die sich der Schuldner nicht leichtsinnig zuge¬ zogen!) sowie militärische Pflichten, Todesfälle in der Ver¬ wandtschaft etc. Ist der eigene Praxis treibende Assistenz¬ arzt durch einen eiligen Fall vorübergehend an der Assistenz verhindert, so ist dies wohl auch als ein in seiner Person liegender Grund aufzufassen. § 617 Abs. 1. Ist bei einem dauernden Dienstverhältnisse, welches die Erwerbsthätigkoit des Verpflichteton vollständig oder hauptsächlich in Anspruch nimmt, der Verpflichtete in die häusliche Gemeinschaft aufgenommen, so hat der Dienstberechtigte ihm im Falle der Erkrankung die erforderliche Verpflegung und Behandlung bis zur Dauer von sechs Wochen, jedoch nicht über die Beendigung des Dienstverhältnisses hinaus zu gewähren, sofern nicht die Er¬ krankung von dem Verpflichteten vorsätzlich oder durch grobe Fahr¬ lässigkeit herbeigeführt worden ist. Die Verpflegung und ärztliche Behandlung kann durch Aufnahme des Verpflichteten in eine Kranken¬ anstalt gewährt werden. Die Kosten können auf die für die Zeit der Erkrankung geschuldete Vergütung angerechnet werden. Wird das Dienstverhältnis wegen der Erkrankung von dem Dienstberech¬ tigten nach § 626 gekündigt, so bleibt die dadurch herbeigeführte Beendigung des Dienstverhältnisses ausser Betracht. Auch bei anderen Verpflichtungen des Dienstberechtigten wird uns die Frage beschäftigen: nimmt das Dienstverhältniss die Erwerbsthätigkeit des Verpflichteten vollständig oder haupt¬ sächlich in Anspruch? Vollständig natürlich nur dann, wenn er ausserdem nichts (etwa durch eigene Praxis) verdient, haupt¬ sächlich dürfte Jemand durch ein Dienstverhältniss in Anspruch genommen werden, welches ihn täglich auf bestimmte Stunden bindet, so dass er eine andere Verpflichtung daneben nicht eingehen kann. Die Aufnahme in die häusliche Gemeinschaft des Dienstberechtigten wird wohl in der Gemeinsamkeit der Wohnung oder der Hauptmahlzeiten gesehen. Die Bestimmung trifft vornehmlich einen in der Krankenanstalt wohnenden Assistenzarzt. Wird durch fristlose Kündigung (§ 626) das Verhältnis vorzeitig gelöst, so geht die Verpflichtung zur Krankenpflege über den so bedingten Schluss des Dienstver¬ hältnisses hinaus. Natürlich wird der erkrankte Assistenzarzt im Kranken¬ hause ebenso verpflegt werden müssen, wie es seinem Stande und seiner bisherigen Stellung in der Häuslichkeit des Dienst¬ gebenden entsprach, also in einer höheren Verpflegungsklasse. § 618 Abs. 1. Der Dienstberechtigte hat Räume, Vorrichtungen und Geräthschaften, die er zur Verrichtung der Dienste zu beschaffen hat, so einzurichten und zu unterhalten und Dienstleistungen, die unter seiner Anordnung oder seiner Leitung vorzunehmen sind, so zu regeln, dass der Verpflichtete gegen Gefahr für Leben und Ge¬ sundheit soweit geschützt ist, als die Natur dor Dienstleistung es gestattet Abs. 3. Erfüüt der Dienstberechtigte die ihm in Ansehung des Lebens und der Gesundheit des Verpflichteten obliegenden Verpflich¬ tungen nicht, so Anden auf seine Verpflichtung zum Schadenersätze die für unerlaubte Handlungen geltenden Vorschriften der §§ 842 bis 846 entsprechende Anwendung. Die Vorschriften des § 618 bedeuten eine sehr wichtige Schutzbestimmung für Aerzte, die in privatem oder öffentlichem Aufträge thätig sind. Erkranken sie durch Thätigkeit in schlecht geheizten Räumen, verletzen sie sich durch schadhafte Instrumente, verunglücken sie durch mangelhafte Beleuchtung, so können sie den Unternehmer regresspflichtig machen. Ebenso hat der Vertreter oder Assistenzarzt von seinem Auf¬ traggeber oder Chefarzt Ersatz zu fordern nach Massgabe der §§ 842-846. § 842. Die Verpflichtung zum Schadenersätze wegen einer gegen die Person gerichteten unerlaubten Handlung erstreckt sich auf die Nachtheüe, welche die Handlung für den Erwerb oder das Fortkommen des Verletzten herbeiführt (der Grund der Verschuldung des Dienstberechtigten ist gleichgiltig). § 619. Die dem Dienstberechtigten nach §§ 617, 618 obliegen¬ den Verpflichtungen können nicht im Voraus durch Vertrag auf¬ gehoben oder beschränkt werden. Eine solche Bestimmung im Kontrakte wäre demnach nichtig. Dagegen kann auf die entstandenen konkreten Er¬ satzansprüche verzichtet werden. 8 ) § 620. Das Dienstverhältniss endigt mit dem Ablaufe der Zeit, für die es eingegangen ist. Ist die Dauer des Dienstverhältnisses weder bestimmt noch aus der Beschaffenheit oder dem Zwecke der Dienste zu entnehmen, so kann jeder Theil das Dienstverhältniss nach Massgabe der §§ 621 bis 623 kündigen. Der Zeitpunkt braucht nicht kalendermässig flxirt zu sein. Ich engagire einen Vertreter für die Dauer meiner Krankheit, meiner Reise, einen Assistenten für die Zeit, in welcher mir eine bestimmte Nebenbeschäftigung obliegt etc. Die Kündigung ist eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung, Voraussetzung einer gütigen Kündigung ist Unbedingtheit derselben 3 ). § 621. Ist die Vergütung nach Tagen bemessen, so ist die Kün¬ digung an jedem Tage für den folgenden Tag zulässig. Ist die Vergütung nach Wochen bemessen, so ist die Kündigung nur für den Schluss einer Kalenderwoche zulässig; sie hat spätestens am ersten Werktage der Woche zu erfolgen. Ist die Vergütung nach Monaten bemessen, so ist die Kündigung nur für den Schluss eines Kalendermonats zulässig, sie hat spätestens am 15. des Monats zu erfolgen. Ist die Vergütung nach Vierteljahren oder längeren Zeitab¬ schnitten bemessen, so ist die Kündigung nur für den Schluss eines Kalendervierteljahres zulässig. § 622. Das Dienstverhältniss dor mit festen Bezügen zur Leistung von Diensten höherer Art Angestellten, deren Erwerbsthätigkoit durch das Dienstverhältniss vollständig oder hauptsächlich in Anspruch ge¬ nommen wird, insbesondere dor Lehrer, Erzieher, Privatbeamten, Gesellschafterinnen, kann nur für den Schluss eines Kalenderviertel¬ jahres und nur unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von sechs a ) Oertmann, 1. c. S. 341. 3) Immerwahr, Die Kündigung, Breslau 1898, S. 81. Digitized by LjOOQie 1. April 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 137 Wochen gekündigt werden, auch wenn die Vergütung nach kürzeren Zeitabschnitten als nach Vierteljahren berechnet ist. Zweifelsohne fällt unter solche Dienste höherer Art auch die Thätigkeit des Assistenzarztes, dessen Vergütung in der Regel nach Monaten bemessen ist. Nach Tagen oder Wochen wird gewöhnlich die Vergütung der ärztlichen Vertreter bemessen; diese können in der Regel nicht auf eine so lange Kündigungsfrist Anspruch machen, weil das Vertragsverhältniss von vom herein als ein vorüber¬ gehendes gedacht war. Ueber den Begriff des durch das Dienstverhältnis voll¬ ständig oder hauptsächlich in Anspruch genommenen Erwerbs- thätigkeit vergl. die Bemerkung zu § 617. Die Bestimmungen der §§621 oder 622 enthalten nicht zwingendes, sondern dispositives Recht 4 ) sind also durch Ver¬ einbarung zu ändern (Planck). Ist jedoch der Kontrakt für den Arbeitnehmer drückend, so kann er als gegen die guten Sitten verstossend ungültig erklärt werden, wenn z. B. Arzt A — der dienstberechtigte — täglich, Arzt B. — der dienstpflich¬ tige — nur vierteljährlich kündigen darf. § 623. Ist die Vergütung nicht nach Zeitabschnitten bemessen, so kann das Dienstverhältniss jederzeit gekündigt werden; bei einem die Erwerbsthätigkeit des Verpflichteten vollständig oder hauptsäch¬ lich in Anspruch nehmenden Dienstverhältniss ist jedoch eine Kün¬ digungsfrist von zwei Wochen einzuhalten. Diese Bestimmung ist anwendbar auf den nach Massgabe seiner Leistungen (gewissermassen nach Stücklohn!) bezahlten Assistenzarzt. Wird demselben nicht die Leistung, sondern das Geleistete bezahlt (z. B. Gutachten), so dürfte seine Thätigkeit unter den Werkvertrag (b. u.) fallen. Dem § 623 steht — hinsichtlich seiner Anwendung auf höhere Dienste — der § 627 entgegen (s. u.). § 625. Wird das Dienstverhältniss nach dem Ablaufe der Dienst¬ zeit von dem Verpflichteten mit Wissen des anderen Theiles fortge¬ setzt, so gilt es als auf unbestimmte Zeit verlängert, sofern nicht der andere Theil unverzüglich widerspricht. Nur wenn der Dienstverpflichtete die Dienste erklärter- massen aus Gefälligkeit fortsetzt, so liegt hierin keine relocatio tacita (Planck 5 ). § 626. Das Dienstverhältniss kann von jedem Theile ohne Ein¬ haltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Diese Kündigung bei Hinzutritt eines äusseren Ereignisses heisst korrekter Rücktritt. 6 ) Der wichtige Grund für die Auflösung des Vertrages liegt nach Crome 7 ) vor, wenn in Person des einen Kontrahenten Umstände eingetreten sind, unter welchen dem anderen Kon¬ trahenten die Fortsetzung des Dienstvertrags nicht weiter zu- zumuthen ist. Diese Gründe können in der Person des Kündigenden ebensowohl wie in der der anderen Partei liegen. Z. B. : Arzt A. hat Arzt B. als Assistenten für die von ihm geleitete Anstalt engagirt. Durch eigenartige Zufälle verliert A. den grössten Theil seiner übrigen Praxis, so dass er jetzt den Anstaltsdienst allein besorgen kann. Oder B. kündigt, weil er nicht von seinen kranken Angehörigen fort kann etc. Meist liegt natürlich der vorgeschützte Rücktrittsgrund in der Person des Gegners. A. findet, dass B. zu wenig Inter¬ esse für die Assistenz hat, zu selbständig wird etc., oder B. will zurücktreten, weil A. ihn nicht nach Wunsch fördert etc. Natürlich wird im Streitfälle nicht ein solches Rücktritts¬ 4 ) Oertmann, 1. c. 342, 343. 5 ) Citirt nach Oertmann, 1. c. p. 344. 6 ) Immerwahr, 1. c. S. 2 u. 3. 7 ) Citirt nach Oertmann, 1. c. S. 345. motiv zur plötzlichen Kündigung ausreichen, sondern nur ob¬ jektive, der Fortsetzung des Dienstvertrages hinderliche, von der kündigenden Partei zu beweisende Thatsachen. Referate. Allgemeines. Die Bekämpfung der Tuberkulose. Sammolbericht über neuere Arbeiten. Seitdem auf dem vorjährigen Tuberkulosekongress die für den Kampf gegen die Schwindsucht wichtigsten Fragen ein¬ gehend erörtert worden sind, ist in der periodischen Litteratur die Zahl der Veröffentlichungen auf diesem Gebiete wieder mächtig angewachsen. Schon bei der Naturforscher-Versamm¬ lung in München wurde wieder eine Anzahl von Vorträgen über die Tuberkulose gehalten, die seither veröffentlicht worden sind, und auch sonst haben die ärztlichen Zeitschriften zahl¬ reiche Beiträge zu der weltbewegenden Frage gebracht. Statt jede dieser Arbeiten einzeln zu besprechen, empfiehlt es sich, das im Sinne der praktischen Hygiene Bemerkenswertheste im Zusammenhang wiederzugeben. Hueppe 1 ) hat in dem Vortrage, mit dem er die gemein¬ same Sitzung der Sektionen für Hygiene und innere Medizin zu München eröffnete, in grossen Zügen die Aufgaben ge¬ zeichnet, die im Kampf gegen die Tuberkulose zu erfüllen sind. Drei Grössen müssen gleichmässig berücksichtigt wer¬ den: der Krankheitserreger, die Krankheitsanlage die Uebertragungsmöglichkeit. Gerade in Bezug auf den Krankheitserreger sind aber noch mancherlei Fragen offen. Die vonVirchow angezweifelte Identität der Tuberkulose bei Säugetbieren mit der bei Hühnern ist inzwischen durch Ver¬ suche von Hueppe selbst und Andern bewiesen worden. Weni¬ ger klar sehen wir noch bezüglich der sogenannten Pseudo¬ tuberkulose, deren Bazillen im Freien an Gräsern u. s. w. Vor¬ kommen, säurebeständig sind und, Thieren eingespritzt, kleinste Tuberkel erzeugen, ohne jedoch sonst ganz gleiche Eigen¬ schaften, wie die echten Koch’schen Bazillen zu haben. (Ins¬ besondere sind sie viel plumper von Gestalt als jene.) Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese beiden Formen eng verwandt sind. Und nun folgert H. weiter: Auch der Tuberkelbacillus ist nicht immer an die höheren Thiere als Parasit gebunden gewesen, auch er vegetirte einmal im Freien, musste eine bestimmte Beschaffen¬ heit der Gewebe bei den erkrankungsfähigenTliieren vorhanden sein, um die engen Wechselbeziehungen zwischen Pilz und Pilz¬ träger zu schaffen, die in der Krankheit selbst ihren Ausdruck finden. Damit kommt Hueppe auf die Krankheitsanlage zu sprechen, die dem Individuum innewohnt. Er mahnt, beim kranken Menschen nicht blos Mittel zur Vernichtung der Bazillen, sondern auch Mittel zur Unterstützung der Gewebe im Kampf gegen die Bazillen zu suchen. Dies ist ebenso gut wie jenes eine spezifische Behandlung. Dass man, um die Verbreitung der Krankheit zu hemmen, die Bazillen vernichten soll, wo immer man ihrer habhaft wird, ist selbstverständlich. Der wich¬ tigste Theil aller dahin gerichteten Bestrebungen ist die Rein¬ lichkeit. Desinfektion im eigentlichen Sinne soll man, statt an die Mittel des Einzelnen und des Staates übermässige An¬ forderungen zu stellen, nur dort anwenden, wo die Krankheits¬ erreger unmittelbar zu fassen sind. Das eigentlich grosse Mittel aber im Kampf gegen die Tuberkulose bleibt die soziale Hygiene, die Bekämpfung der in den ungenügenden Gesund¬ heitsverhältnissen des Volkes begründeten Krankheitsanlage, und hier ist der Hebel anzusetzen bei den Arbeiterwohnungen, die verbessert werden müssen, bei der Volksernährung, die zu arm an Eiweiss ist, und bei der körperlichen Erziehung Digitized by Google 138 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 7. der Jugend, die durch Volksspiele und passende Körperübun¬ gen in den Schulen gefordert werden muss. Viel weiter geht, zum Theil in scharfem Gegensatz gegen Hueppe, der Mailänder Tonta, 2 ) der zwar auch eine Verbesse¬ rung der Ernährungsverhältnisse der Minderbemittelten for¬ dert, daneben aber eine lange Reihe der einschneidensten Massregeln für unerlässlich hält. Nicht nur da, wo man mit einiger Sicherheit die Bazillen vermuthen kann, sollen sie be¬ kämpft werden, sondern an allen möglichen Orten, wo sie sich vielleicht aufhalten könnten. Alle vom Publikum viel be¬ suchten Oertlichkeiten, bezw. überhaupt alle Stätten, wo viel Menschen zusammen zu kommen pflegen, sollen periodisch des- infizirt, alle Menschen, welche Schulen, Akademien, Bureaus, Institute und Fabriken besuchen, sollen alljährlich von Aerzten, alle tuberkulosefähigen Hausthiere von Bezirksthierärzten untersucht, alle Stallungen, Märkte und Schlachthäuser streng überwacht werden II Es darf nicht Wunder nehmen, dass ein so radikaler Reformer den Tuberkulösen auch das Heirathen zu verbieten vorschlägt. Aussichtsvoller dünkt uns das von Pribram 3 ) ausgesprochene Prinzip: Nicht die wirksamsten, sondern die am ehesten durchführbaren Massregeln müssen in erster Reihe angestrebt werden. Dahin rechnet P. die amtliche Desinfektion der Effekten verstorbener Schwind¬ süchtiger mit Ersatz des vernichteten durch den Staat, die Anzeigepflicht fü derartige Todesfälle, die Gründung von Heil¬ stätten, die stetige Belehrung des Publikums u. s. w. Unter den minder umfassenden, nur einzelne Seiten der Pro¬ phylaxe behandelnden Arbeiten wäre zunächst die vonHentzelt 4 ) zu erwähnen, welche vorschlägt, für minderwerthige Kinder Erziehungsstätten einzurichten, in denen sie unter mög¬ lichst günstigen Gesundheitsbedingungen aufwachsen und auf einen ihren körperlichen Fähigkeiten angemessenen Beruf vor¬ bereitet werden könnten. Heubner 5 ) formulirt genauer, welche Kinder in Heimstätten unterzubringen wären: 1. solche, deren Eltern oder Angehörige tuberkulös sind; 2. Kinder gesunder Eltern, die durch konstitutionelle Krankheiten, z. B. Lues, zur Tuberkulose disponirt sind; 3. Skrophulöse; 4. solche, die in Folge überstandener Krankheiten, wie Masern, Diphtherie, Keuchhusten, widerstandsunfähig geworden sind. Den Schutz der Kinder bespricht auch Volland. 6 ) Er führt aus, dass die Skrophulose der Kinder nur eine allerdings gewöhnlich aus¬ heilende, aber oft genug später in ihrer wahren Gestalt wie¬ der ausbrechende Tuberkulose sei. Die Krankheitskeime aber hole sich das Kind aus dem Schmutz des Fussbodens, denn nirgends seien die Keime der Tuberkulose häufiger zu finden, als in diesem. Abgesehen also von der Forderung, den tuber¬ kulösen Auswurf möglichst zu beseitigen, sollen Diejenigen, denen die Pflege der Kinder obliegt, bestrebt sein, die Hände der Kinder vom Fussboden fernzuhalten. Zur Belehrung müssen Schulen oder Lehrgänge für Kinderpflege geschaffen werden. Ein sehr einfaches Mittel zur Bekämpfung der Krank¬ heitsdisposition sieht Barth 7 ) in einer von früh auf durch¬ geführten regelmässigen Atemgymnastik. Einen Weg zur Verbreitung der Tuberkulose erblickt Krönig 8 ) darin, dass besonders durch die Schleppen und Män¬ tel der Frauen Auswurf, der oft tuberkelbazillenhaltig ist, in die Wohnungen geschleppt wird. Er räth zur Abschaffung jener am Boden schleifenden Kleidungsstücke und zur Vor¬ sicht besonders beim Herabsteigen von Stufen. Moöller 9 ) meint, dass die Fliegen oft Träger der Tuberkelkeime sind. Die von Rabinowitsch u. A. ausgeführten Untersuchungen von Milch und Milchpräparaten als Verbreitern der Tuberkel¬ keime hat Ascher 10 ) mit ähnlichem Ergebniss fortgesetzt (cf. 1899 S. 262.) Von der Verhütung zur Behandlung der Tuberkulose über¬ gehend haben wir zunächst der Arbeiten zu gedenken, die sich auf die möglichst frühzeitige Erkennung der Krankheit, die erste Vorbedingung ihrer Heilung beziehen. Eine Seite dieser Frage, nämlich die Untersuchung des Auswurfs, be¬ sprechen Brie ge r und Neufeld. 11 ) Sie stellen vier Grundsätze auf. Erstens muss der Auswurf nicht nur auf Tuberkel- bazillen, sondern auch auf andere Bazillen, speziell die Er¬ reger der sogenannten Mischinfektionen untersucht werden. Hier kommt besonders der Influenzabacillus in Frage. Zwei¬ tens hat die Untersuchung, wenn keine Tuberkelbazillen ge¬ funden werden, öfters und zwar in grösseren Abständen zu geschehen, drittens soll in jedem Fall der klinische Befund berücksichtigt werden — das ist doch wohl eigentlich selbst¬ verständlich! — und viertens endlich soll in den nach mehr¬ facher Untersuchung zweifelhaften Fällen die ebenso gefahr¬ lose als sichere Probe mit Tuberkulin gemacht werden. Die Mischinfektionen sind besonders deswegen wichtig, weil bei ihnen das Krankheitsbild und der bakteriologische Befund durch die nichttuberkulöse Erkrankung so beherrscht werden kann, dass die gleichzeitige Tuberkulose, selbst wenn sie schon vor¬ geschritten ist, ganz verdeckt wird. Andererseits kann eine reine Influenza unter dem Bilde eines chronischen Spitzen¬ katarrhs verlaufen und so Tuberkulose Vortäuschen. In bei¬ den Fällen soll der Ausfall der Tuberkulinprobe entscheidend sein. Hier möchten wir uns einem von Levy und Bruns 12 ) gemachten Einwande anschliessen. Bekanntlich reagirt jeder Mensch, der irgend einen tuberkulösen Herd, sei es auch nur eine einzelne verkäste Drüse, in seinem Körper hat, auf Tu¬ berkulin. Wenn nun ein solcher Mensch — was gewiss in tau¬ senden von Fällen vorkommt — an Influenza erkrankt, würde er doch auch auf Tuberkulin reagiren, und der Schluss, dass er an Lungentuberkulose leide, wäre trügerisch. Für solche Fälle, in denen keine Tuberkelbazillen in den Auswurf über¬ gehen können, bleibt also die Diagnose ungewiss. (Es ist auffallend, dass B. Frankel, 13 ) der die Einwände gegen die Heranziehung des Tuberculins zu diagnostischen Zwecken be¬ spricht und nach Möglichkeit entkräftet, diesen eigentlich nächstliegenden Einwurf unberücksichtigt lässt.) Dagegen giebt es nach Levy und Bruns ein Mittel, um in vielen Fäl¬ len, bei denen das gefärbte Präparat versagt, die Tuberkulose zu erkennen: das Thierexperiment. 0,5 bis 1,5 ccm von ver¬ dächtigen Stellen des Auswurfs werden verrieben und Meer¬ schweinchen eingespritzt. Da diese Thiere mit grosser Sicher¬ heit schon durch die geringsten Mengen von Tuberkelbazillen erkranken', so ergiebt nach einigen Wochen, spätestens Monaten, ihr Sektionsbefund eventuell die Anwesenheit von Tuberbelbazillen in dem verwendeten Auswurf. Krönig 8 ) em¬ pfiehlt für die Auswurfsuntersuchung das Biedert’sche Ver¬ fahren mit einer zeitsparenden Abweichung: das mit 0,2pro- zentiger Natronlauge gekochte Sputum wird in einem Apparat, wie man ihn bei der Harnuntersuchung benutzt, zentrifugirt, der Bodensatz in der üblichen Weise gefärbt. Für die physi¬ kalische Untersuchung empfiehlt K. seine schon 1889 mitge- theilte Perkussionsmethode. Der in dieser Zeitschrift, 1900, Seite 94, referirte Aufsatz von Burghart braucht an dieser Stelle nur kurz erwähnt zu werden. Ueber den Stand der Heilstättenbeweguug hat Ott 14 ) eine Uebersicht gegeben, die allerdings vielleicht in einigen Punkten heute nicht mehr zutrifft, da sie vom Oktober vorigen Jahres datirt. Damals waren im Betriebe die Heilstätten Rupperts¬ hain, Rehburg, Grabowsee, Albertsberg, Loslau, Lüdenscheid, Tannroda, St. Andreasberg, Krailing, Edmundsthal, Gommern, Dannenfels, Arien, Görbersdorf, Schömberg, ferner von Ver¬ sicherungsanstalten erbaut, Oderberg, Andreasberg, Königsberg bei Goslar, Erbprinzentanne, Albrechtshaus und Marienheim im Digitized by Google 1. April 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 189 Harz, Sülzhayn, in Oesterreich nur Alland, in der Schweiz 3, in Russland 3, in Frankreich, Holland und Norwegen je eine, in England keine eigentliche Heilstätte. Die deutschen Heil¬ stätten enthalten insgesammt ca. 1500 Betten. 13 weitere waren im Bau, die Gründung von 12 anderen war bereits beschlossen. Den Nutzen der Heilstätten veranschaulicht eine Statistik der hanseatischen Versicherungsanstalt, 15 ) nach der von 2169 in der Heilstätte untergebrachten Kranken 21 Prozent wieder volle Erwerbsfähigkeit erlangten und von 1336 Per¬ sonen ein Jahr nach der Entlassung 72 Prozent mehr oder weniger erwerbsfähig waren. Auf eine besondere Art von Heilstätten, die allerdings nicht ausschliesslich für Tuberkulöse bestimmt sind, weist Ewald 16 ) mit warmen Worten hin. Es sind die Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten, deren Bedeutung für die Heilung und Verhütung der Tuberkulose durch eine zwanzigjährige Er¬ fahrung bewiesen wird. Dass auch ausserhalb der Heilstätten eine geeignete Pflege von ganz bedeutenden Erfolgen sein kann, zeigt die von Schap er 17 ) veröffentlichte Statistik der Charitö. Hier sind in den letzten 10 Jahren grosse Verbesserungen in Bezug auf Lüftung, Bäder, Zahl der Kranken im Saale, ganz besonders aber in Bezug auf die Ernährung durchgeführt worden. In der gleichen Zeit ist die Zahl der Todesfälle an Tuberkulose von 54,2 auf 34,3 Pro¬ zent gesunken, allerdings mit einer grösseren Schwankung 1894/95, aber immer noch so regelmässig, dass durchschnittlich in den ersten 5 Jahren 4,4 Prozent mehr als in den letzten starben. Die Heilstätten, so führt S. aus, sind deshalb aber nicht weniger nothwendig: die Krankenhausbehandlung bringt die Patienten bis an einen bestimmten Punkt, dann tritt die Heilstätte ein. Und als drittes sind für Unheilbare Heimstätten nothwendig. Für die Ernährung der Phthisiker stellt Blumenfeld 18 ) den Grundsatz auf: der Schwindsüchtige muss nicht nur fetter, sondern auch im alltäglichen Sinne des Wortes kräftiger ge¬ macht werden. Bei normalem Magen ist es am zweckmässig- sten, zur Ueberernährung Fette zu benützen, da zucker- und stärkehaltige Nahrungsmittel meist in zu grossen Mengen ge¬ nossen werden müssen. Auch Milch ist für gewöhnlich zu voluminös, enthält zu viel Flüssigkeit und ist zu reizlos, um in grösserem Massstabe verwendet zu werden. Sie und die Kohlehydrate kommen erst bei hohem Fieber mehr in Betracht. Im Uebrigen empfiehlt es sich nicht, ein Ernährungsschema für alle Bevölkerungsklassen aufzustellen. Der Begüterte pflegt eine konzentrirte fleichreiche Nahrung zu bevorzugen. Würde er diese noch reichhaltiger gestalten, so wäre eine Ueber- lastung des Verdauungskanals und eineUeberreizung des Herzens durch die Fleischsalze die Folge. Er muss also statt weiteren Fleisches Kohlenhydrate, die wieder eine grössere Zufuhr von Fetten ermöglichen, hinzufügen. Der Arme dagegen muss einen Theil der üblichen stärkehaltigen Nahrung durch leicht auf- schliessbares Eiweiss und Fett ersetzen. In diesem Sinne können die Bemühungen, billige lösliche Eiweisspräparate zu beschaffen, sehr segensreich werden. Bezüglich der auf chemischer Wirkung beruhenden Mittel gegen die Tuberkulose dürfen wir uns kurz fassen. Maragliano 19 )Jiofft, durch ein nach Art des Diphterieserums hergestelltes Antitoxin Heilerfolge zu erzielen. Versuche in gleicher Richtung hat Maxutow 20 ) gemacht. Petruschky 21 ) empfiehlt, Koch’sches Tuberculin unter bestimmten V orsichts- massregelnanzu wenden. Kleb s 22 ) macht für Misserfolge der spezi¬ fischen Behandlungsweisen die Magenstörung und die Misch¬ infektion bei Schwindsüchtigen verantwortlich. Die erstere hat er mit frischem Schilddrüsensaft anscheinend erfolgreich zu bekämpfen versucht, gegen die letztere glaubt er mit Nutzen ein aus Typhuskulturen hergestelltes Produkt, die »Typhase“, angewandt zu haben. Zur Prophylaxe der Mischinfektion, die aus dem Tuberkulösen erst einen Schwindsüchtigen macht, hält Brieger 23 ) die Mundpflege für sehr wichtig; auch die Einathmung aromathischer Oele hält er gegen die Mischinfektion für nützlich. Alexander 24 ) räth dringend, allen Tuberkulösen Kamp her subkutan zu geben, bei Fiebernden einmal täglich 0,01 bis höchstens 0,03, wochenlang ohne Unterbrechung fortgesetzt, bei Fieberfreien entweder in derselbenWeise oder vierTage lang täglich einmal 0,1, dann Pause von acht Tagen, dann Wiederholung u.s. f. Er rühmt die Wirkung dieser Methode in allen Stadien der Krank¬ heit gegen Fieber, Appetitlosigkeit, Hustenreiz, Schlaflosigkeit, Schweiss, Kräfteverfall etc. Etwas anders stellt sich die Sache nach v. Cri ege ms 25 ) Bericht dar. V. C. fand den allgemeinen Verlauf der Krankheit, ebenso den Hustenreiz, die Athemnoth, die Schmerzen durch den Kampher nicht beeinflussbar. Da¬ gegen wurde das Kraftgefühl, die Leistungsfähigkeit deutlich gesteigert. Eine bestehende Blutungsneigung schien durch den Kampher vermehrt zu werden. Uebrigens musste v. C. statt der Einspritzungen, die Schmerzen hervorriefen, schliess¬ lich Klysmata anwenden. Es muss bemerkt werden, dass er ein nicht ganz einwandfreies, poliklinisches Krankenmaterial hatte. Jedenfalls bleibt abzuwarten, wie weit die mit grosser Emphase gepriesene Alexander’sche Methode berufen ist, eine grössere Bedeutung für die Allgemeinheit zu erlangen, als die vielen andern, die vor ihr aufgetaucht und wieder verschwun¬ den sind. Litteratur. 1. F. Hueppe. Ueber unsere Aufgaben gegenüber der Tuber¬ kulose. (B. Ki. W. 1899, No. 44.) 2. J. Tonta. Wie kann die Phthisis bekämpft werden. (B. KL W. 1899. No. 48.) 3. Pribram. Ueber Schutzmassregeln gegen die Ausbreitung der Tuberkulose. (Prag. med. W. 1899, No. 26.) 4. Hentzelt. Erziehungsstätten für minderwerthige Kinder. (B. Kl. W. 1899, No. 37.) 5. 0. Heubner. Ueber Prophylaxe der Tuberkulose ira Kindes¬ alter. 71. Naturf.-Vers. (D. Ä. Z. 1899. H. 15. Beil.) 6. Volland. Ueber die Art der Ansteckung mit Tuberkulose. (B. Kl. W. 1899, No. 47.) 7) Barth. Zur Prophylaxe und Therapie der Lungentuberkulose. (D. M. W. 1899. No. 27.) 8. W. Krönig. Zur Prophylaxe der Lungentuberkulose. (D. Ä. Z. 1900, H. 5.) 9) A. Moeller: Zur Verbreitungswelse der Tuberkelpilze. (Ztschr. f. Hyg. 1899. Bd. 32.) 10) Ascher. Untersuchungen von Milch und Butter auf Tuberkel¬ bacillen. (Ztschr. f. Hyg. Bd. 32.) 11. L. Brieger und F. Neufeld. Zur Diagnose beginnender Tuber¬ kulose aus dem Sputum. (D. M. W. 1900, No. 6.) 12. E. Lewy und H. Bruhns. Ueber die Frühdiagnose der Lungen¬ tuberkulose. (D. M. W. 1900, No. 9.) 13. B. Fränkel. Das Tuberkulin und die Frühdiagnose der Tuber¬ kulose. (B. Kl. W. 1900, No. 12.) 14. Ott. Kurze Ueborsicht über den Stand der Heilstättenbewegung. (D. M. W. 1899, No. 42.) 15) Hanseatische Versicherungs-Anstalt. Ergebnisse des Heil¬ verfahrens bei lungenkranken Versicherten. (Hamburg 1899.) 16. C. A. Ewald. Die Kinderheilstätten an den deutschen See¬ küsten. (B. Kl. W. 1899, No. 37.) 17. Schaper. Die Heilerfolge bei Tuberkulose in der Charitö während der letzten 10 Jahre. (B. Kl. W. 1900, No. 12.) 18. F. Blumenfeld. Die Ernährung der Lungenschwindsüchtigen mit besonderer Berücksichtigung der Ernährung im Hause. (B. Kl. W. 1899, No. 49.) 19. E. Maragliano. Ueber Serotherapie bei Behandlung der Tuberkulose. (B. Kl. W. 1899, No. 89.) 20. M. Maxutow. Immunisirung und Serotherapie der Tuber¬ kulose. (D. Med.-Z. 1899. No. 75/76.) Digitized by LjOOQie 140 Aerztliehe Sachverständigen-Zeitung. No. 7. 21. J. Petrnschky. Die spezifische Behandlung der Tuberkulose. (B. Kl. W. 1899, No. 51, 52.) 22. B. Klebs. Einige weitere Gesichtspunkte in der Behandlung der Tuberkulose. (B. Kl. W. 1899, No. 50). 23. L. Brieger. Ueber die diagnostische und therapeutische Be- ] deutung der Tuberkelbazillen und andrer Bakterien im Auswurf. (B. Kl. W. 1900, No. 13.) 24. B. Alexander. Meine Behandlungsmethode der Lungentuber¬ kulose mit subkutanen Injektionen von 01. camphor. (M. M. W. 1900, No. 9.) 25. v. Criegeru. Zur Kenntniss der Alexander’schen Behand¬ lungsmethode etc. (B. Kl. W. 1899, No. 43.) Psychiatrie und Neurologie. Klimmzug-Lähmungen von Stabsarzt Dr. B. Sehrwald-Freiburg i. B. (D. Med. W. 1000 No. 0.) Armlähmungen in Folge von Klimmzügen scheinen in der Armee nicht gar zu selten zu sein. S. theilt zwei neue Fälle davon mit, von denen der eine genau beschrieben wird. Ein bisher gesunder Soldat, dessen Vater allerdings an einem Muskelschwund der rechten Schulter litt, empfand beim Klimmziehen einen Schmerz im linken Oberarm, der ihn hin¬ derte die Uebung weiter auszuführen, und nachher ein Surren bis in die Fingerspitzen. In der Folgezeit wurde der ganze Arm rasch schwächer und es blieben unangenehme Empfin¬ dungen, selbst Schmerzen, darin zurück. Die erst nach Monaten ausgeftihrte Untersuchung ergab eine starke Abmagerung und Kraftlosigkeit des Deltamuskels, der Beuger und Strecker des Ellbogengelenks und des grossen Brustmuskels. In geringerem Grade waren alle übrigen Mus¬ keln des Arms, ferner die beiden Gräten- und Rautenmuskeln sammt dem Heber des Schulterblattes, stärker wieder der grosse Sägemuskel, am geringsten der latissimus dosi, teres major und subscapulares geschädigt. Es waren also nicht nur die zum Armnervengeflecht ge¬ hörigen Nerven betroffen, sondern auch diejenigen, welche, statt unter dem Schlüsselbein hindurch zu ziehen, vorher seitlich abbiegen und dem musculus scalenus medius aufliegen. Solche Fälle sind folgendermassen zu erklären: Nicht etwa heim Klimmzug selbst, sondern beim passiven Hängen am Reck vor oder nach der Uebung wird das Schlüsselbein nach hinten oben gezogen und um seine Längsaxe gedreht. Hierdurch verengt sich der Raum zwischen der ersten Rippe und dem Schlüsselbein. Zunächst wird der 5. uqd 6. Halsnerv, dann je nach dem Grade der Verengerung die Reihe der folgenden Rückenmarksnerven gequetscht. Gleichzeitig muss bei stärkerem Aufwärtsrücken des Schlüsselbeins auch der musculus scalenus gequetscht werden. Aus der Erkenntniss dieses Verletzungsmechanismus er- giebt sich die Forderung, Turner, denen die Klimmzüge schwer werden, nach jedem Versuch abspringen und nicht länger am Reck hängen zu lassen. Ganz zu verwerfen ist die Unsitte mancher Turnlehrer, den Klimmzug durch gewaltsames Ziehen am Körper des Turners zu erschweren. Klagen über auffallende Müdigkeit oder Schwäche, Schmerzen oder Vertaubungsgefühle im Arm nach Klimmzügen sind jedesmal ernster Beachtung zu würdigen. Ein Fall von saltatorischem Krampf. Von Stabsarzt Hohenthal-Köln. (D. Milit.-Aeratl. W. 1900 H. 2.) Der Sohn einer nervenschwachen Mutter, ein von jeher durch Wadenkrämpfe belästigter Mann, erkrankte ein Viertel¬ jahr nach seiner Einstellung im Heere an eigenartigen Krampf¬ zuständen. Während er nämlich längere Zeit stehen musste, zogen sich seine Wadenmuskeln derart zusammen, dass er auf die Zehen gestellt wurde und umgefallen wäre, wenn man ihn nicht gehalten hätte. Die Untersuchung ergab bei dem kräftigen, gut genährten Manne eine Steigerung der Kniereflexe, links liess sich Fuss- klonus hervorrufen. Die Fusssöhlenreflexe waren lebhaft, Krämpfe traten im Anschluss an Reize auf der Sohle nicht ein. Wenn dagegen der Kranke zu stehen versuchte, zogen sich sofort beiderseits die Wadenmuskeln ruckweise zusammen, sodass er sich auf die Zehen erhob und vornüber fiel. Jedes Auftreten mit gestrecktem Bein hatte diesen Erfolg. Auch von selbst im Bett traten öfters schmerzhafte Zitter-Streck- krämpfe in den Beinen ein. Er gab ferner an, öfters ein leichtes Knebeln in den Füssen zu spüren. Andere Ab¬ weichungen am Nervensystem wurden nicht gefunden, und seelisch machte der Mann den Eindruck eines ganz Gesunden. Mit der Zeit besserte sich der Zustand. Nach acht Tagen konnte er aufstehen, ohne zu fallen, vermied aber das Fallen nur dadurch, dass er, wenn der eine Fuss sich streckte, immer den andern vorsetzte und auf diese Weise auf den Zehen vor¬ wärts lief, bis er an einen Stützpunkt kam. Später konnte er auf den Sohlen gehen, so lange er sich breitbeinig und mit gebeugten Knieen vorwärtsbewegte; versuchte er, die Kniee aneinanderzubringen und durchzudrücken, so trat der Krampf wieder ein. Dienstfähig ist der Mann nicht mehr geworden. Für die Annahme, dass dieser „saltatorische* Krampf immer Theilerscheinung einer Hysterie ist, ist dieser Fall nicht verwerthbar. Ziemlich klar ist soviel, dass sich hier bei einem erblich und persönlich dazu veranlagten Menschen ein krankhafter Reflex hergeatellt hat, vermöge dessen jede kräf¬ tige Anspannung der Wadenmuskulatur einen Krampf in ihr auslöste. Von der Haut aus sind die Krämpfe sicher nicht angeregt worden. Die Aussichten auf dauernde Heilung sind insofern zweifelhaft, als zu befürchten ist, dass jede An¬ strengung einen Rückfall bedeuten kann. Chirurgie. Ueber Thermotheraple bei der Nachbehandlung Unfall¬ verletzter. Von Prof. Dr. C. Thiem-Kottbus. (Monatwehr, f. Unfalihellk. 1900, No. 3.) Die Zeiten seien vorüber, in welchen die Berufsgenossen¬ schaften und auch viele Aerzte in dem von Zander so be¬ nannten medico-mechanischen Heilverfahren das einzige, un¬ fehlbar wirkende Allheilmittel zur Beseitigung der Lähmung, der Versteifung, der Ernährungs- und Cirkulationsstörung ver¬ letzt gewesener Gliedmassen erblickten. Ausser den Uebungen an Apparaten und ausser der Handmassage müssen bei der Vielgestaltigkeit der Fälle die verschiedenartigsten Verbände, chirurgische Eingriffe, der faradische und galvanische Strom, auch wohl die Influenzmaschine, geeignete Ernährungsvor¬ schriften, und besonders die Wasserheil- und Badebehandlung angewendet werden. Von allen diesen Hilfsheilmitteln er¬ freut sich die Anwendung hoher Wärmegrade besonderer und berechtigter Beliebtheit. Die hierbei gemachten Erfah¬ rungen hätten den Verf. gelehrt, „einmal, dass unter gewissen Voraussetzungen man sehr hohe Wärmegrade lange Zeit hindurch einwirken lassen kann und dass hierdurch zunächst sehr häufig ein unmittelbares Nachlassen des Schmerzes, zweitens ein augen¬ blickliches Geschmeidigwerden versteifter Gelenke, eine Nach¬ giebigkeit starrer Narben und Muskeln erzielt wird, dass wir in dritter Reihe in der wiederholten Anwendung der Wärme ein auf die Aufsaugung entzündlicher Exsudate, die Wiederherstellung Digitized by LjOOQie 1. April 1900 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 141 unterbrochener oder träger, stockender Cirkulationsverhältnisse und damit auch die Aufbesserung des Stoffwechsels und der örtlichen und allgemeinen Ernährungsverhältnisse mächtig an¬ regendes Mittel besitzen.“ Thiem hat die Wärme angewandt vermittelst der Heissluftapparate, wie sie Krause-Altona an¬ gegeben hat, ferner in Form örtlicher Dampfbäder, in Form mehr oder minder weit reichender Fangoeinpackungen und örtlicher oder allgemeiner Heisssandbäder, ferner in Gestalt von Thermophoren. — Nachdem er auf die Anwendungsweise dieser einzelnen Formen näher eingegangen, kommt Th. zu dem Schluss, dass er die Stärke der Wirkungsweise, wenn No. 1 die stärkste Wirkung darstellt, folgendermassen festsetzt: 1. Fango, 2. Sand, 3. Heissluft, 4. Oertliches Dampfbad, 5. Thermophorwirkung. — In einer Tabelle werden dann 39 Fälle mit diesen Mitteln behandelter Verletzter aufgeführt. B. Ueber Karbolgangrän. Von Dr. Ulrich Lange-Hernstädt-Meckesheim. InAUg.-Dißs. Jena 1899. Da, wie der Verfasser nachweist, die gebräuchlichen Lehr¬ bücher immer noch nicht eindringlich genug vor länger dauern¬ der Anwendung von Karbolwasser auf die Haut warnen, ein¬ zelne geradezu die feuchten Karbolverbände noch empfehlen, so scheint es wirklich nothwendig zu sein, dass die Gefahren dieser Behandlungsweise noch einmal an einer grossen Anzahl von Fällen dargethan werden. Verfasser hat aus der Litteratur und aus eigenen Beobachtungen 79 Fälle zusammengestellt, in denen Karbolverbände oder -Umschläge und -Bäder brandige Zerstörung der Weichtheile zur Folge hatte. Wir können ab- sehen von denjenigen, bei welchen stärkere als fünfprozentige Lösungen angewandt worden waren, da in der Praxis heut zu Tage die Karbolsäure in konzentrirterer Form kaum in Frage kommt. Es bleiben dann noch 37 Kranke übrig, von denen die Mehrzahl zwei- bis dreiprozentiges Karbolwasser anwandten. Sämmtliche Fälle haben viel Gemeinsames. Es handelte sich immer unwkleine Wunden, die vermuthlich bei nicht ein¬ greifender Behandlung glatt geheilt wären; meist wurden Karbolumschläge von Laien oder untergeordnetem Heilpersonal verordnet. Die Wirkung war überall die gleiche: trockenes Absterben derjenigen Theile, die mit dem Karbol in direkte Berührung kamen, nur bei vereinzelten Kranken kam es nicht zum völligen Absterben, sondern es bildeten sich bloss schwer¬ heilende Geschwüre. Verschieden war die Zeit, die bis zum Eintritt des Brandes verging, sie schwankte zwischen wenigen Stunden und 15Tagen. Schon hiernach lässt sich vermuthen, dass die Wirkung der Karbolsäure von individuell verschiedenen Umständen mit ab¬ hängig ist. So wird die Gangrän begünstigt durch Abschluss des feuchten Verbandes mittelst undurchlässiger Stoffe, durch Hemmung des Blutumlaufes mittelst umschnürender Bindfäden oder durch einen stark gequetschten Zustand der Wundränder. Die zartere Haut der Frauen und Kinder leidet eher als die härtere der Männer, die Gefässverkalkung bei alten Leuten ist gleichfalls von schädlichem Einfluss. Am häufigsten werden die mit Karbol verbundenen Finger brandig. Dies ist wohl nicht bloss darauf zurückzuführen, dass kleine Verletzungen überhaupt an den Fingern am ehesten Vorkommen, sondern zum guten Theil auch darauf, dass die verletzten Finger ge¬ wöhnlich mit dem Karbolumschlag ganz umhüllt und so einer besonders intensiven Schädigung ausgesetzt werden. Isolirte Pankreasverletzungen. Von San.-R. Dr. E. Stern, Kr. W. A. in Breslau. (Vierteljschr. f. ger. Med. 1899 H. 4.) Zwei neue Beiträge zur Kenntniss dieser interessanten und höchst seltenen Verletzungen werden beigebracht. Ein Bahnarbeiter gerieth zwischen zwei Puffer, der eine traf ihn von hinten gegen die linke Schultergegend, der andere vorn gegen die untere Brustgegend. Schmerzen in der linken Brustseite waren die ersten Folgen der Verletzung, es ent¬ wickelte sich links eine Rippenfellentzündung. Später trat einmal nach dem Essen ein kurzer heftiger Schmerz unter dem linken Rippenbogen ein, dem Erbrechen folgte, ein Ge¬ fühl der Fülle in der Oberbauchgegend machte sich bemerk¬ bar, und eine entsprechende Auftreibung, über der der Schall gedämpft war, bildete sich aus. Der Bauchschnitt führte in zwei abgesackte Hohlräume mit schwärzlich grauer Flüssigkeit. Die Wundheilung war gut, doch erlag der Mann kurz nachher seinem Lungenleiden. Bei der Sektion fand sich ausser den Zeichen einer Brustfell- und chronischen Lungenentzündung eine Einbettung der linken Hälfte der Bauchspeicheldrüse in festes, gelblich gefärbtes Narbengewebe und eine das ganze Organ quer durchsetzende Narbe. In Folge des Unfalls war demnach offenbar die Drüse mittendurch gerissen, ein grosser Bluterguss war entstanden, nach dessen Eröffnung und Aus¬ heilung die Drüse selbst völlig wieder zusammenge¬ wachsen ist. Ein schwer betrunkener Arbeiter wurde von einer Droschke überfahren. Er klagte am nächsten Morgen über Schmerzen in der Magengrube, grosses Duratgefühl und Appetitlosigkeit. Das Befinden besserte sich jedoch deutlich, bis am achten Tage nach der Verletzung der Kranke plötzlich unter heftigen Schmerzen im L°ibe kollabirte und in der Nacht darauf starb. Kurz vor dem Kollaps hatte er Selter¬ wasser getrunken. Es fand sich eine grosse Menge blutiger Flüssigkeit in der freien Bauchhöhle, das Bauchfell war trübe und zeigte Faserstoffbeläge. Vor der Bauchspeicheldrüse ge¬ langte man durch ein rundliches Loch von 2 cm Durchmesser in eine kindskopfgrosse Höhle, deren Wand mit Blutgerinnseln austapezirt war. Dieser Höhle lag hinten unmittelbar die fast vollständig schräg durchtrennte Drüse an. Alle übrigen Unter¬ leibsorgane waren unverletzt. Vielleicht hatte der Selter¬ wassergenuss durch die starke Aufblähung des Magens dazu geführt, dass die Wand des ausserhalb des Bauchfells ge¬ legenen Blutsacks zerriss und so die tätliche Bauchfellreizung statt hatte. Bei Lebzeiten waren in beiden Fällen die Erscheinungen nicht eindeutig genug, um die Art der Verletzung erkennen zu lassen. Vergiftungen. Ueber Chlor-Acne. Von Dr. Carl Herxheim er, Oberarzt in Frankfurt a. M. (M. M. W. 1899 [9.) Die Arbeiter einer Fabrik, in welcher aus Chlorkali durch Zersetzung mit dem elektrischen Strome Aetzkali hergestellt wird, erkrankten in grösserer Anzahl an sehr hartnäckigen Entzündungen der Talgdrüsen. Die Acneknötchen zeigten eine grosse Neigung, sich in Furunkel, grössere Abscesse und Ge¬ schwüre umzuwandeln. Bei den von H. beobachteten vier Fällen bestanden gleichzeitig Katarrhe der Athmungsschleim- haut, und bei einem von ihnen, dessen Haut besonders arg befallen war, hatten sich recht bedenkliche Störungen des Allgemeinbefindens, Schlaflosigkeit, Gewichtsabnahme und Blutarmuth, entwickelt. Die verschiedensten Heilbestrebungen waren bei diesem von nur geringem Erfolge. Die allen Fällen gemeinsame Hautkrankheit erinnert stark an die Jod- und Brom-Acne. Thatsächlich muss man, da alle andern schädlichen Einflüsse ausgeschlossen werden konnten, als Ursache der Erkrankungen das dem Jod und Brom am Digitized by LjOOQie 142 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 7. nächsten verwandte Element, das Chlor betrachten. Dieses entwickelt sich bei dem obenerwähnten Umsetzungsprozess, und ein Theil davon strömt wahrscheinlich durch die den Prozess abschliessende Mauer hindurch. Da einige der Kranken mit nacktem Oberkörper gearbeitet hatten, läge es nahe, eine direkte Sohädigung der Haut durch das Gas anzunehmen; andere aber sind notorisch in gleicher Weise erkrankt, obwohl sie in voller Kleidung thätig waren, so dass also die Annahme wahrscheinlicher ist, dass das Chlor bei seiner Ausscheidung durch die Talgdrüsen dieselben geschädigt hat. Ein Fall von Vergiftung mit Bromoform. Von Dr. Schmidt-Diburg. (M. M. W. 1899! 5.) Ein fast fünfjähriger Junge, der an Keuchhusten litt, trank etwa 5 g des ihm tropfenweise zum Gebrauch verordneten Bromoforms. Er wurde tief bewusstlos, die Pupillen verengten sich aufs Aeusserste. der Puls wurde unregelmässig und sehr klein, die Athmung ebenfalls unregelmässig. Nach einer Kampher-Einspritzung unter Anwendung von Hautreizen be¬ gann die Bewegungsfähigkeit wiederzukehren, bald darauf trat in Folge eines Keuchhusten-Anfalles Erbrechen ein und nun¬ mehr erholte sich der Knabe rasch und vollständig. Augen. Die Impferkrankungen des Auges. Von Profossor Otto Schirm er-Greifswald. (Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Augenheilkunde, heraus* gegeben von Vossius. 1900. III. Band, Heft 5.) Verf. beobachtete bei einem 54jährigen Manne mit sehr starker Schwellung der Lider des rechten Auges je ein Ge¬ schwür am intermarginalen Saume des oberen und des unteren Lides, sowie mehrere flache Geschwüre auf der Bindehaut der unteren Uebergangsfalte. Gleichzeitig zeigte die Horn¬ haut oben einen grösseren Epitheldefekt, der sich in ein pro¬ gressives Geschwür verwandelte, das nach 10 Wochen noch nicht vollkommen ausgeheilt war und zu einer dichten Trü¬ bung fast der ganzen Cornea führte. »Die Geschwüre an Lid und Conjunctiva heilten ab. Von dem Belag dieser Geschwüre wurden kleine Teilchen in Impfschnitte gebracht, welche an der Bauchhaut eines Kalbes angelegt worden waren. Es ent¬ wickelten sich nach 6 Tagen typische Vaccinebläschen. Die Infektion war höchst wahrscheinlich durch einen Arzt erfolgt, welcher 4 Tage vor Beginn des Leidens die polnischen Ar¬ beiter auf dem Gute, wo Patient in Stellung war, geimpft und bei dieser Gelegenheit das Lidjdes Kranken, dem angeblich etwas ins Auge geflogen war, herumgeklappt hatte. Der un¬ gewöhnlich schwere Verlauf der Hornhauterkrankung ist darauf zurückzuführen, dass die Hornhaut schon in den ersten Krank¬ heitstagen ergriffen wurde. Die Vaccineophthalmiejentwickelt sich nur nach Einbrin¬ gen von Lymphe in das Auge, die gewöhnlich durch den Finger direkt übertragen wird. Meist erkranken Erwachsene, welche ihre geimpften Kinder pflegen, viel seltener letztere selbst. Am häufigsten findet sich die Impfpustel auf den Lidern, nämlich 43mal unter 47 Fällen, und zwar meist am intermarginalen Theile. Auf der Lidhaut zeigen die Vaccine¬ bläschen keine Besonderheiten, am intermarginalen Lidrande dagegen bilden sie meist flache Geschwüre von diphtheriti- schem Aussehen. Anfangs besteht gewöhnlich ein sehr star¬ kes Oedem der Lider, erst später zeigt sich das Geschwür am Lidrande. Die präaurikulare Drüse der erkrankten Seite ist meist geschwollen. Hornhaut und Bindehaut sind in der Regel intakt, doch kann auch eine so heftige Conjunctivitis auf- treten, dass man an Blennorrhoe zu denken geneigt ist. Das Geschwür kriecht oft weiter fort, resp. es entstehen neue Ge¬ schwüre meist auf der Lidhaut, selten auf der Conjunctiva. Die meisten dieser sich später entwickelnden Geschwüre ent¬ stehen durch direkten Kontakt von dem Primäraffekt aus. Nach 8—12 Tagen nimmt die Entzündung ab und es erfolgt die Heilung. Dauernde Veränderungen, namentlich Narben, bleiben nicht zurück. Gelegentlich gehen die Wimpern dauernd verloren. Primäre Conjunctivalvaccinola ist ausserordentlich selten. Sie tritt als kleine Geschwüre der Bindehaut auf, zu denen sich Hornhautaflfektionen gesellen können. Von pri¬ märer Hornhauterkrankung ist nur ein Fall bekannt Ein Arzt verletzte seine rechte Cornea beim Impfen eines Kindes mit der Lanzette und bekam ein Hornhautinfiltrat, das ein grosses Leukom zurückliess. Die Vaccinolaerkrankung der Lider und Bindehaut kann durch Komplikation mit Hornhautleiden ge¬ fährlich werden. Die Hornhautaflfektion besteht entweder in Infiltraten und Geschwüren, welche meist ohne nennenswerthe Narbenbildung abheilen, oder es tritt eine Keratitis profuuda postvacoinolosa auf. Im letzteren Falle bildet sich eine Trübung der tiefen Schichten des Hornhautcentrums, und ausserdem oft noch eine eigentümliche scharfe, kreisförmige Linie, welche einfach oder doppelt vorhanden, konzentrisch zum Hornhautrande ver¬ läuft. Auch diese Keratitisform entsteht vermuthlich durch ektogene Infektion. Für die Diflferentialdiagnose kommt vor allen Dingen die Infektionemöglicbkeit in Betracht. Ein ähnliches Bild, wie die Impfpustel, zeigen der Primäraffekt, der weiche Schanker und die Diphtheritis der Lider. Die Prognose ist gut, so lange die Hornhaut intakt ist. Die Be¬ handlung besteht in antiseptischen Umschlägen oder Jodoform¬ verbänden. Am wichtigsten ist die Prophylaxe durch Beleh¬ rung der Angehörigen des geimpften Kindes über die Gefahren einer Infektion. Groenouw. Ueber Lidgangrln. Von Dr. P. Roemer. (Sammlung zwangloser Abhandlangen aas dem Gebiete der Augenheilkunde, heraas¬ gegeben von Vossius. III. Band, Heft 4. 1900.) Lidgangrän ist eine seltene Erkrankung, sie kann endogen und ektogen entstehen. Die endogene Form tritt bei schwe¬ ren Allgemeinleiden auf, ohne dass an der Haut irgend welche Entzündungserscheinungen bestanden haben. Hier kommen in erster Linie Typhus, Scharlach und Maseru in Betracht, bei welchen ausgedehnte Nekrose der Lider auftreten kann. Bei Influenza sind Abscesse an den Lidern häufiger, doch kommt gelegentlich auch Gangrän vor. Bei Pyämie und Sep¬ sis kann Lidgangrän durch infektiöse Embolien entstehen. Die bei Diabetes mellitus gelegentlich beobachtete Lidgangrän be¬ ruht auf schweren Gefässveränderungen und Ernährungsstörun¬ gen. Die ektogene Form der Lidgangrän kann von Entzün¬ dungsprozessen in der Umgebung des Auges oder durch eine primäre Liderkrankung bedingt sein. Zur ersteren Form ge¬ hören Lidnekrosen im Anschluss an Gesichts-Erysipel. Kleine infizirte Wunden der Lider können zur Bildung schwerer Phlegmonen mit Lidgangrän führen. Primäre Erkrankungen der Lider mit Ausgang in Gangrän sind beobachtet bei Milz¬ brand, Eczema impetiginosum, Variola und Varicellen. Für das letztere Vorkommniss bringt Verf. als Beweis einen eigenen Fall. Ein 4jähriges Kind erkrankte an Varicellen. Am zwei¬ ten Tage nach dem Ausbruch des Ausschlages röthete sich das linke obere Lid und 2 Tage später bestand ausgesprochene Nekrose desselben. Auch die Kopfschwarte wurde weithin eitrig unterminirt. Die Heilung erfolgte mit leichtem Ektro- pium des Lides. Eine Abbildung des erkrankten Kindes ist der Arbeit beigegeben, Groenouw, Digitized by Google 1. April 1900. Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. 148 Ueber die Verhütung von Gewerbsunfällen am Auge. Von Dr. Simeon. Soell. Arcb. f. Augenheilk. Bd. 40, ß. 178—181. (British Medical Association.) Verf. empfiehlt folgende Schutzmassregeln: Für Schleifer gewähren schon grosse Plangläser, eventuell die zur Korrektion der Refraktionsanomalie erforderliche Brille, einen genügenden Schutz. Für Eisen- und Stahlarbeiter sollte der Gebrauch von Schutzbrillen, am besten aus Drahtgaze, obligatorisch ge¬ macht werden. Weiteren Schutz gewährt die Anwendung einer pneumatischen Maschine zum Behauen des Eisens, eine zweckmässige Stellung der Leute bei ihrer Arbeit und der Gebrauch von Schinnen, um die Umgebung und Vorüber¬ gehende zu schützen. Gr. Ueber Haut- und Angenaffektion bei Personen, die Hyacinthenzwiebeln bearbeiten. Von J. Waller Zeper in Haarlem. Kln. Monatsbl. f. Augenheilk. 1899 8. 480-84. (Mit 2 Figuren.) Verf. fand bei Personen, welche sich mit dem Reinigen und Sortiren von Hyacinthenzwiebeln beschäftigten, eine in den Monaten August und September auftretende Konjunktival- Irritation, welche sich bis zur Konjunktivitis steigern kann, und ferner heftiges Jucken der Haut, vor Allem der Arme und des Gesichtes. Die Krankheit ist den Blumenzwiebel- Züchtern seit lange bekannt, sie wird wahrscheinlich durch den sogenannten Zwiebelstaub bedingt, welcher sich zwischen den Schuppen der Zwiebeln oder zwischen der noch fest- sitzenden Zwiebelbrut und der Mutterzwiebel findet. In diesem Zwiebelstaub fand Verf. im Juni und Juli nichts Besonderes, im September dagegen lebende Milben, Larven und Eier der¬ selben. Vermutlich ist es nicht die Milbe selbst, sonderen deren sechsfüssige Larve, welche die Krankheit verursacht. Verf. giebt nur eine vorläufige Mittheilung und beabsichtigt, seine Untersuchungen weiter fortzusetzen. Gr. Ohren. Beiträge zur Kenntniss der otitischen Erkrankungen des Hirns, der Hirnhäute und der Blutleiter. (Aus der Ohren- und Kehlkopfklinik der Universität Rostock). Von Dr. Georg Lehr, Volontärarzt. (Zeitscbr. f. Ohrenheilk., Bd. XXXV, Heft 1.) Verf. führt sämmtliche, seit dem Amtsantritt des Direktors der Klinik, Prof. Dr. Körner, dort beobachteten intrakraniellen Komplikationen von Ohreneiterungen auf, im Ganzen 19 Fälle; 10 davon sind schon anderweit veröffentlicht und werden daher nur citirt, die anderen 9 werden ausführlicher mitgetheilt. Darunter befinden sich 4 Fälle von eitriger Meningitis, die sämmtlich tödtlich verliefen, ferner ein operativ geheilter Hirn- abscess im rechten Schläfenlappen, 2 operativ geheilte extra¬ durale Abscesse und 2 ebenfalls durch Operation geheilte Fälle von Phlebitis des Sinus sigmoideus. Die Fälle sind, abgesehen von allen, zum Theil hochinteressanten spezialistisch-otiatrischen Gesichtspunkten, welche sie darbieten, in ihrer Gesammtheit ein sprechender Beweis für die Gefährlichkeit der selbst in ärztlichen Kreisen vielfach noch für gänzlich harmlos gehalte¬ nen und dementsprechend behandelten Mittelohreiterungen. Richard Müller. Beiträge zur Kenntniss der otitischen Erkrankungen des Hirns, der Hirnhäute und der Blutleiter. I. Fortsetzung. Von Dr. Muck, Assistent. (Zeitschr. f. Ohrenheilk., Bd. XXXV, Heft 3.) Den von Lehr veröffentlichten (Bd. XXXV, Heft 1) 19 Fällen von intrakraniellen Komplikationen eiteriger Mittelohrentzün¬ dungen lässt M. einen 20. folgen. Es handelt sich um einen 12jährigen Knaben, bei dem sich an eine seit früher Kindheit bestehende rechtsseitige Ohreiterung eine chronische Mastoi¬ ditis Empyem des Saccus endolymphaticus und ein perisinuöser Abscess angeschlossen hatte. Der Knabe wurde operirt und war nach Verlauf von nicht ganz 27a Monaten geheilt — ein in Ansehung der Schwere des Falles sehr günstiges Ergebniss. Richard Müller. Beiträge zur Kenntniss der otitischen Erkrankungen des Hirns, der Hirnhäute und der Biutleiter. H. Fortsetzung. Aus der Ohren- und Kehlkopfklinik der Universität Rostock. Von Dr. Witte, 2. Assistent. (Zeitschr. f. Ohrenheilk., XXXV. Bd., 4. Heft.) Bei einem sechs Jahre alten Knaben hatte sich im An¬ schluss an eine zwei Jahre bestehende linksseitige Ohren¬ eiterung eine akute Entzündung des Warzenfortsatzes, Throm¬ bose des Sinus transversus und von da aus Pyämie ange¬ schlossen. Das Kind wurde schwerkrank in die Klinik ge¬ bracht, aber die Operation — mit Unterbindung der Vena jugularis — kam zu spät; der Tod erfolgte in Folge von Lungenmetastasen. Ein neuer Fall, der die Gefährlichkeit der Ohreneiterungen in helles Licht setzt. Richard Müller. Aus Vereinen und Versammlungen. UI. OeneralYersainmlung des Bahnärzte-Yereins für den Eisenbalindirektionsbezirk Magdeburg am 14. Februar 1900. Eigenbericht der Aerztl. Saohverst. Ztg. Die Versammlung wurde von dem Vorsitzenden, Hager- Neustadt-M. — mit einem Nachruf für die verstorbenen Kollegen Geh. San.-Rth. Bette und San.-Rth. Eysoldt eröffnet; die Ver¬ sammelten erhoben sich zum Andenken an die Verstorbenen von ihren Plätzen. Für die verspätete Einladung wird Indemnität ertheilt. In Folge einer Ministerialverfügung wird freie Fahrt all¬ jährlich nur für eine Generalversammlung und für zwei Vor- standssitzungen ertheilt; es wird beschlossen, alljährlich nur eine Generalversammlung abzuhalten. Die Königl. Eisenbahn-Direktion wird für Bahnärzte, Beamte und Arbeiter 1000 Exemplare des Schriftchens von Kalle: „Wie erhält man sich gesund?“ beschaffen. In Folge einer Eingabe des Vorstandes hat die Königl. Eisenbahndirektion den Erlass in Betreff der Untersuchung verdächtigen Auswurfes auf Tuberkelbazillen derart abgeändert, dass diese Untersuchungen vom medizinischen Waarenhaus in Berlin auf Kosten der Verwaltung für die Betriebsbeamten und auf Kosten der Krankenkasse für die Kassenmitglieder und ihre Angehörigen vorgenommen werden. Bei der Wahl des Vorstandes werden Broese-Quedlinburg zum stellv. Vorsitzenden, Hermes-Oschersleben und Lindner- Westerhüsen zu Beisitzern neu-, die bisherigen Mitglieder durch Zuruf wieder gewählt. Krauß-Magdeburg hält den angekündigten Vortrag über „die staatlichen Anforderungen an den Farbensinn der Eisen¬ bahnbeamten.“ Nach der Debatte, in der Caesar-Halberstadt, einen typischen Fall von Simulation mittheilt, wird folgender Antrag Fischer’s-Magdeburg angenommen: „Auf Grund des Vor¬ trages des Kollegen Kraus, der bei der Farbenprüfuug die Vor¬ legung von ca. 200 farbigen Wollbündeln für nothwendig hält, Digitized by Google 144 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 7. wird die Königl. Eisenb.-Direktion ersucht, jedem Bahnarzt eine solche Zahl von Wollbündeln direkt zuzustellen.“ Ebenso wird auf Hager’s-Magdeburg Vorschlag beschlossen, bei der Königl. Eisenbahn-Direktion den Antrag zu stellen, dass bei der praktischen Prüfung der Schwachsichtigen auf dem Bahnplanum von der Zuziehung des Bahnarztes Abstand ge¬ nommen werde. Inzwischen ist festgestellt, dass die Mitgliederzahl des Ver¬ eins auf 80 gewachsen ist. Es folgt Kluge’s-Wolmirstedt Vortrag „Bericht Uber den Tuberkulosenkongress in Berlin. * Bei der Diskussion stellt Barsikow-Magdeburg widerspruchslos fest, dass die jahrelange Nachbehandlung mindestens so wichtig sei wie die Heilstätten¬ behandlung. de Veer-Harzburg weist darauf hin, dass die Heil¬ stättenbehandlung vielfach von Genossen der Kranken als Be¬ vorzugung angesehen werde. Der Vorsitzende theilt mit, dass der für 1900 in Aussicht genommene internationale Bahnärztekongress in Paris nicht stattfinden werde, dass in Thüringen 2 Heilstätten für Lungen¬ kranke unter den Eisenbahnbediensteten im Entstehen begriffen seien, dass die von Brehmer-Berlin unternommenen Enqußte über die Honorarfrage noch nicht beendet sei. Nach 38tündigen Verhandlungen vereinigte noch ein Mahl den grösseren Theil der anwesenden Bahnärzte. Dr. W. Fischer. Interessante Verletzungen. Medizinisch-naturwissenschaftliche Gesellschaft zu Jena. Sitzung vom 11. Januar 1900. (MUocb. med. W. 1900, No. 9.) Herr Wagenmann: Pulsirender Exophthalmus nach Schuss Verletzung. Ein zweiundzwanzigjähriger Mann hat im November 1899 zu selbstmörderischen Zwecken eine Revolverkugel in seine rechte Schläfe geschossen. Er war anderthalb Stunden be¬ wusstlos, dann ziemlich beschwerdefrei. Etwa vierzehn Tage nachher begann das rechte Auge immer stärker vorzutreten. Am 24. Dezember fand sich ausser einer glatten verwach¬ senen Narbe an der bezeichneten Stelle eine hochgradige Vor¬ treibung des Augapfels, der deutlich pulsirende Bewegungen machte. Die untere Hälfte der Bindehaut war dick gewulstet und geröthet, die obere und das Lid von sehr erweiterten Venen durchzogen. Alle äusseren Augenmuskeln bis auf den vom Trochlearis versorgten Oberen Schrägen Muskel waren völlig gelähmt, die Pupille starr, aber die Einstellung des Auges auf die Nähe fast ungestört. Am Augenhintergrund sah man stark ausgedehnte pulsirende Venen. Aber auch das linke Auge wies Spuren von Gefässerweiterung und Vortreibung des Augapfels mit geringen Pulsationen auf. Ueberall am Schädel war für den Untersucher ein deutliches blasendes, rhythmisches Geräusch wahrnehmbar, das auch der Kranke selbst bestän¬ dig hörte. Jegliche Pulsation verschwand sofort, wenn die grosse Halsschlagader zusammengedrückt wurde. Mit Röntgen¬ strahlen wurde ermittelt, dass die Revolverkugel wahrschein¬ lich in der knöchernen Wand der Augenhöhle, im Keilbein¬ flügel oder an der Grenze von Keil- und Jochbein sitzt. Sie dürfte die Schädelhöhle nicht verletzt haben, sondern durch die Keilbein-Kiefergrube eingedrungen sein. Es ist anzunehmen, dass durch Splitterung des Keilbeins eine Verbindung zwischen der Carotis interna und dem Sinus cavernosus, ein Aneurysma arteriovenosum, entstanden ist: Das Blut aus der Carotis strömt unter starkem Druck in den Sinus und veranlasst von da aus Stauung in der Augenvene. Damit wäre auch die beginnende Vortreibung und Pulsation links erklärt: Die Stauung pflanzt sich vom rechten zum linken Sinus cavernosus durch die beide verbindenden Blut¬ leiter fort. Ueber Wochen fortgesetzte täglich stundenlange Zusammen¬ pressung der rechten Halsschlagader hat ein Vorschreiten des Leidens nicht verhindern können. Unterbindung derselben Schlagader ist in Aussicht genommen. Gesellschaft der Charite&rzte. Sitzung vom 18. Januar 1900. (D. med. W. 1900, No. 9.) Herr Widenmann: Pulsirender Exophthalmus nach Trauma. Im Juli 1899 hat Gerhardt einen Kranken vorgestellt, bei dem nach einer Verletzung pulsirende Vortreibung des Augapfels entstand. Damals war hervorgehoben worden, dass gegen das Vorhandensein einer Verbindung zwischen Carotis communis und sinus cavernosus im vorliegenden Falle die Abwesenheit des Kopfschwitzens, der Stauungspapille, der Venenschlängelung und der Gefühlsstörungen im Bereich des ersten Astes vom V. Hirnnerven spreche. Inzwischen ist der Verletzte in Folge einer Darmtuberkulose gestorben, und es hat sich gezeigt, dass thatsächlich die innere Carotis nur cylindrisch erweitert und mit dem Nervus abducens fest ver¬ klebt, nicht aber in den Sinus durchgebrochen war. Dagegen war ein andrer auffallender Befund vorhanden: in den hinteren zwei Dritteln der vorderen Schädelgrube fehlte der Knochen ganz und gar, noch weiterhin war er unvollständig. Man muss vielleicht eine Aufsaugung des Knochens entweder im Anschluss an einen Schädelbruch oder in Folge eines grossen Blutergusses annehmen. Wahrscheinlich war der Puls der stark erweiterten Carotis auf das Auge übertragen worden, möglicherweise freilich auch in Folge der Knochenlücke der Puls des Gehirns. Verein der Aerzte zu Halle a. S. Sitzung vom 24. Januar 1900. Herr Rammstedt: Ueber eine eigentümliche Pfäh- luugsverletzung. Ein Arbeiter wurde überfallen und erhielt mit einer Zaun¬ latte Schläge über den Kopf. Plötzlich durchzuckte ein hef¬ tiger Schmerz sein Gesicht, er konnte von diesem Augenblick ab den Mund nicht mehr öffnen. In die Klinik gebracht, war er nicht im Stande, die Zahnreihen auseinander zu bringen, ln der Höhe des linken unteren Augenhöhlenrandes fand sich eine Wunde, in deren Grund ein harter, graugelber Kör¬ per beim Auseinanderziehen der Wundränder sichtbar wurde. Auf der rechten Wange wurde die Haut durch einen gleich¬ falls harten, ziemlich spitzen Körper von innen her vorge¬ trieben, der sie zu durchbohren drohte. Wie zu erwarten war, handelte es sich um einen Holz¬ splitter, der links unter dem Augapfel in die Augenhöhle ge¬ drungen war, das liuke Siebbein, die linke Oberkieferhöhle, die Nasenhöhle und die rechte Oberkieferhöhle durchbohrt und sich zwischen Kiefergelenk und Kronenfortsatz des Unter¬ kiefers, jede Bewegung des letzteren hindernd, eingeklemmt hatte. Es gelang leicht, den Splitter, der 14 cm lang, oben U/2 und unten 7s cm breit war, zu entfernen. Sofort nachher konnte der Mund geöffnet werden. Die Heilung verlief un¬ gestört. Verein für innere Medizin zu Berlin. Sitzung vom 19. Februar 1900. (Allg. med. Centr. Z. 1900, No. 7.) Herr Jolly: Traumatische doppelseitige Facialis- lähmung. Digitized by Google 1. April 1900. Aerztliohe Sach verständigen-Zeitung. 145 Die Verletzung ist alten Datums, sie geschah vor der Zeit der Unfallgesetze. Ein Mann, der sich an das Schwungrad einer ruhenden Maschine legte, wurde, als diese plötzlich in Gang kam, in halbkreisförmigem Bogen mitgerissen und nach vorn auf einen Kohlenhaufen geschleudert. Ausser andern minder wesentlichen Verletzungen stellte sich nach dem Ab¬ klingen der ersten Erscheinungen (Benommenheit, Nasenbluten, Kopfschmerz und Nackensteifigkeit) eine völlige Lähmung der beiderseitigen Gesichtsmuskeln heraus. Die mimischen Be¬ wegungen fehlen, die anfangs schwer gestörte Sprache hat sich gebessert. Der Verschluss der Lippen beim Essen erfolgt durch Ansaugung, indem Pat. Luft einzieht, beim Trinken müssen die Finger nachhelfen. Beim Versuche des Augen¬ schlusses kann er nur die oberen Lider senken. Die Gau- menmuskeln arbeiten ungestört, die Geschmacks¬ empfindung hat stark gelitten. Das Gehör ist nur in Folge eines alten Mittelohrleidens etwas beeinträchtigt; doch sollen beim Glockenläuten und ähnlichen Geräuschen un¬ angenehme Empfindungen entstehen. Gelähmt sind also beide Faciales unterhalb des Knie-Ganglions: Die vor letzterem ab¬ gehenden Gaumenäste sind unversehrt, die unterhalb abgehen¬ den Geschmacksfasern und der Ast für das Steigbügelmuskel¬ chen dagegen mitbetheiligt. Trotzdem der Mann in Folge der Verletzung auch ein unbrauchbares Auge hat, ist es ihm ge¬ lungen, sich in all der Zeit vorübergehend als Schlosser oder Maschinist, meist als Arbeiter und Pferdewärter durchzuschlagen. Gesellschaft der Aerzte in Wien. Sitzung vom 9. Februar 1900. (Wiener med. Pr. 1900, No. 7.) Herr Biidinger: Fall von subkutaner Sehnenruptur. Ein Mann, der am rechten Fusse ein Ueberbein (Ganglion) hatte, rutschte mit demselben Fusse aus und empfand einen heftigen Schmerz, ohne dass ihm jedoch das Weitergehen un¬ möglich wurde. Die Beschwerden nahmen in der Folgezeit zu und eine Operation wurde vorgenommen. Hierbei fanden sich die Streek-Sehnen der dritten und fünften Zehe über dem Ganglion scharfrandig durchtrennt. Die Verletzung ist eine sehr seltene. Wahrscheinlich waren die Sehnen an der betr. Stelle schon krankhaft verändert und rissen in Folge des Zusammenwirkens der starken Anspannung mit dem Druck, den das Ganglion von unten her ausübte. Altonaer ärztlicher Verein. Sitzung am 2. Dezember 1899. Herr Braun: Zwei Verletzungen des Harnapparates. Vortr. stellt zunächst einen Knaben vor, der durch Ueber- fahren eine Zerreissung der Harnröhre ohne Knochenverletzung und eine Urinfiltration im Beckenbindegewebe bekommen hatte. Interessanter ist ein zweiter Fall, der einen 56jährigen Rücken¬ marksschwindsüchtigen betrifft. Dieser Mann fiel in der Trunkenheit in eine Grube. Bei seiner Einlieferung ins Kran¬ kenhaus hatte er Untertemperatur und schwachen Puls, in der Bauchhöhle war freie Flüssigkeit nachweisbar. Der Ka¬ theter drang auffallend weit, d. h. augenscheinlich bis in die Bauchhöhle vor und entleerte flüssiges Blut. Wie zu erwarten war, zeigte sich nach Eröffnung der Bauchhöhle ein Riss in der hinteren Blasenwand, der stark blutete. Dieser Riss wurde genäbt, die Bauchwunde dagegen nur tamponirt, ein Dauer¬ katheter sicherte den Abfluss des Harnes. Fünf Tage nachher bekam der Mann einen Verwirrtheitzustand, in welchem er etliche Darmschlingen aus der Bauchwunde hervorpresste. Nichts destoweniger ist alles gut gegangen, die Bauchwunde granulirt, und die Blase hält dicht. Gerichtliche Entscheidungen. Ans dem Reichs-Yersicherungsamt. Obergutachten über einen Fall von tätlich verlaufener Hundswuth (lyssa humana), insbesondere mit Rücksicht auf die Frage, ob das diese Krank¬ heit erregende Gift auch durch den Biss eines Hundes übertragen werden kann, der seihst, und zwar auch später, nicht von der Krankheit befallen worden ist. (Amtl. Nachr. d. R.-V.-A., 1900, No. 3.) Von Seiten des Reichs-Versicherungsamts ist am 9. Mai 1899 die Königliche Charitö-Direktion aufgefordert worden, in der Unfallversicherungssache der Hinterbliebenen des Mon¬ teurs Otto Emil R. in C. wider die Sächsisch-Thüringische Eisen- und Stahl-Berufsgenossenschaft ein Gutachten darüber zu erstatten, „ob der am 13. Mai 1897 eingetretene Tod des R. mit Wahrscheinlichkeit auf den von ihm am 3. Mai 1897 erlittenen Biss durch den Hund des Tischlermeisters St. in D. zurückzuführen ist.“ Der Unterzeichnete als Vorsteher der Wuthschutzimpfungs- abtheilung des Königlichen Instituts für Infektionskrankheiten beehrt sich, zu dieser Frage sich zu äussern, wie folgt: Es ist zunächst das thatsächlich Festgestellte kurz zu rekapituliren, wie es sich aus den vorliegenden Akten und gut¬ achtlichen Aeusserungen ergiebt: Am 3. Mai 1897 gegen Abend wird der Monteur R. von dem Hunde des Tischlermeisters St. in den Oberarm gebissen, und zwar durch den Aermel der Jacke hindurch. Die dadurch entstandene Bisswunde ist sicherlich nur unbedeutend gewesen, möglicherweise hat es sich um eine einfache Quetschung der Haut gehandelt. Jedenfalls war am 13. Mai, als Dr. D. den Patienten zum ersten Mal sah, nur. noch eine oberflächliche, ein cm lange Narbe am Oberarm vorhanden. In dem Krankheits¬ bericht des Dr. D. ist ferner angegeben, dass er im Aermel des Rockes, welchen R. am Tage des Bisses getragen hat, ein dreieckiges, mit der Narbe korrespondirendes Loch festge¬ stellt habe. Am 11. Mai, also schon acht Tage nach dem Biss, traten die ersten Krankheitserscheinungen auf, welche, rasch sich steigernd, am 13. Mai zum Tode führten. Die von Dr. D. beob¬ achteten Krankheitssymptome bestanden in typischen, anfall¬ weise auftretenden Krämpfen der Schlund-, Kehldeckel- und Athmungsmuskeln, die besonders bei jedem Versuche zu schlucken ausgelösst wurden. Es bestand dabei massiges Fieber, starker Speichelfluss, das Bewusstsein war erhalten, nur während der jedesmal 5 bis 15 Minuten anhaltenden Krämpfe durch Tob¬ suchtsanfälle getrübt. Dieser von Dr. D. sehr anschaulich beschriebene Verlauf entspricht nach jeder Hinsicht dem furchtbaren Krankheitsbilde der lyssa humana. Mit dieser Annahme stimmt auch das wesent¬ lich negative Ergebniss der am selben Tage noch durch Herrn Medizinalrath Dr. Sch. vorgenommenen Sektion überein. Aller¬ dings hat schon Herr Medizinalrath Dr. Sch. selbst die Möglich¬ keit erörtert, dass ein atypischer Fall von Wundstarrkrampf die Symptome der lyssa vorgetäuscht haben könnte. Leider haben die bakteriologischen Untersuchungen und Thierversuche kein entscheidendes Resultat ergeben, speziell ist das Kaninchen, welchem einige Tropfen der mit Bouillon hergestellten Ver¬ reibung des verlängerten Markes in die Ohrvene injizirt wurden, am Leben geblieben. Doch ist dieser Infektionsmodus, wie Herr Medizinalrath Dr. Sch. selbst zugiebt, nicht als einwand¬ frei zu betrachten. Der negative Ausfall dieses Experimentes kann also nicht gegen die Diagnose „Hundswuth“ geltend ge¬ macht werden. Wenn auch unter diesen Verhältnissen eine absolute Sicherheit über die Art der Krankheit, welcher R. Digitized by Google 146 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 7. erlegen ist, nicht mehr zu gewinnen ist, so ist doch das Urtheil gerechtfertigt, dass es sich zum Mindesten „mit hoher Wahr¬ scheinlichkeit um ly8sa humana gehandelt hat.“ Ganz anders ist aber die Frage zu beurtheilen, ob die am 3. Mai erlittene Bissverletzung mit Wahrscheinlichkeit als Ursache dieses Hunds- wuthfalles zu betrachten ist. Es spricht gegen diesen Zusammenhang die abnorm kurze Inkubation von nur acht Tagen, wie eine solche beim Menschen bisher noch niemals mit Sicherheit beobachtet worden ist. Hätte es sich um sehr ausgedehnte Verletzungen in der Nähe des Gehirns, also um Bisswunden im Gesicht oder auf der behaarten Kopfhaut gehandelt, so würde diese abnorme Kürze der Inkubation nicht gar so unerklärlich erscheinen. Aber bei dem Sitz der ganz oberflächlichen und unbedeutenden Wunde am Oberarm muss man, um das vorzeitige Auftreten der Toll- wuth8ymptome zu begründen, zu unwahrscheinlichen, durch nichts gestützten Hypothesen einer besonders hohen Disposition, zufällig günstigen Resorptionsverhältnissen etc. seine Zuflucht nehmen. Das Alles möchte noch angehen, aber es spricht — und dieses ist der ausschlaggebende Punkt — nichts dafür, dass der heissende Hund überhaupt toll gewesen ist. Das betreffende Thier ist am 13. Mai, zehn Tage nach dem Biss thieräztlich untersucht und gesund befunden worden. Weitere thierärzt¬ liche Beobachtungen desselben Hundes fanden im Februar und Mai 1898 mit demselben Ergebniss statt. Man müsste also annehmen, dass der Hund, obwohl selbst gesund, die Tollwuth übertragen habe, wie dies thatsächlich von dem Königlichen Kreisthierarzt Herrn Dr. Sch. und Herrn Medizinalrath Dr. J als möglich und sogar als wahrscheinlich hingestellt wird. Damit verlassen wir jedoch völlig den gesicherten Boden des wissenschaftlich Festgestellten. Es ist bekannt, dass Hunde schon in der Inkubationszeit, vor dem Auftreten der ersten Wuthsymptome mit ihrem Speichel die Wuth übertragen können. Aber diese Thiere erkranken dann einige Tage später selber und erliegen der lyssa. Es ist dagegen bisher noch nicht ein¬ wandfrei nachgewiesen, dass Hunde, bei welchen die Infektion so weit fortgeschritten ist, dass das Krankheitsgift schon in den Speicheldrüsen sich lokalisirt hat, im weiteren Verlaufe, ohne überhaupt Krankheitssymptone zu zeigen, wieder gesunden können. Die Parallele, welche Herr Medizinalrath Dr. J. mit dem Verhalten der Diphtheritis zu ziehen versucht, scheint mir für die von ihm vertretene Auffassung nicht durchaus beweisend. Bei der Diphtheritis können in der That die Krankheitserreger durch zufällige Berührungen u. s. w. auf die Mundschleimhaut gesunder Personen gelangen und dort in dem Mundspeichel, in den oberflächlichsten Epithelschichten einige Zeit in infektions¬ tüchtigem Zustande sich erhalten, ohne das Individuum selbst krank zu machen. Ganz anders liegen die Verhältnisse bei der Hundswuth. Hier wird das Virus durch Bisse übertragen; das Erscheinen des Virus im Speichel hat deshalb eine ganz andere Bedeutung, es gelangt dahin von den Speicheldrüsen aus und muss als Ausdruck einer schon weit vorgeschrittenen Infektion des Gesammtorganismus betrachtet werden, die nach unseren bisherigen Kenntnissen kaum symptomlos bleiben kann. Unter Berücksichtigung dieser Gründe gebe ich mein Gut¬ achten dahin ab: Es ist nicht wahrscheinlich, dass der am 13. Mai 1897 erfolgte Tod des Monteurs Otto Emil R. auf den von ihm am 3. Mai 1897 erlittenen Biss durch den Hund des Tischlermeisters St. in D. zurückzuführen ist. Berlin, den 2. Juni 1899. Professor Dr. R. Pfeiffer. Gemäss dem vorstehenden Obergutachten hat das Reichs- Versicherungsamt den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem von ihm als Betriebsunfall anerkannten Hundebiss und dem Tode des Ehemannes und Vaters der Kläger nicht für wahrscheinlich erachtet und deshalb die Hinterbliebenen unter Aufhebung des Schiedsgerichtsurtheils mit ihren Entschädigungs¬ ansprüchen abgewiesen. Betriebsunfall liegt nicht vor. Eine Bruobanlage kann nicht durch Unfall entstehen. Rek.-Entsch. 23. September 1899. Der Bergmann Johann St. will sich am 28. September 1898 bei seiner Betriebsarbeit auf der Zeche ver. Wiesche beim Umkippen eines Steinewagens einen linksseitigen und am 29. November 1898 auf derselben Zeche einen rechtssei¬ tigen Leistenbruch zugezogen haben. Der Sektionsvorstand lehnte es ab, eine Unfallrente zu bewilligen, weil die beste¬ henden Bruchleiden nicht die Folge von Unfällen seien, sondern auf einer angeborenen Entwickelungsanomalie beruhten, die sich im Laufe der Zeit allmählich weiter ausgebildet hätten. Die eingelegten Rechtsmittel der Berufung und des Rekurses sind zurückgewiesen worden. Gründe: Die Rekurse sind unbegründet. Was den ersten, am 28. September 1898 ausgetretenen Leistenbruch anlangt, so hat der Kläger am 23. November 1898 zu Protokoll des Bergrevier¬ beamten wörtlich erklärt, und die Richtigkeit der Niederschrift durch Vollziehung derselben bestätigt: „Ich habe den andern Tag noch gearbeitet, da war die Beule viel grösser geworden, nnd ich ging zum Arzte.“ Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Erklärung richtig ist, im Gegensatz zu der später abge¬ gebenen, abweichend lautenden schon deshalb, weil bei der Abgabe jener Erklärung der Hergang noch am Frischesten in der Erinnerung des Klägers haftete. Indessen kommt es hier¬ auf nicht an. Denn nach dem Gutachten Professor L.’s vom 30. November 1898 hat sogar an diesem Tage noch kein aus- gebildeter Bruch, sondern nur eine bedeutende, der Entwicke¬ lung zum fertigen Bruch allerdings nahe Bruchanlage bestanden; und auch in dem Atteste, welches am 9. Februar 1899, das ist vier Monate nach dem Hervortritt der linksseitigen Bruch¬ anlage ausgestellt und von Dr. B. mit vollzogen worden ist heisst es noch; Der linksseitige Leistenbruch tritt aus dem äusseren Leistenring, welcher mässig erweitert ist, nicht her¬ vor. Danach ist der Kläger im Irrthum, wenn er meint, Dr. B. habe am 29. September 1898 einen fertigen, frisch entstan¬ denen Bruch bei ihm festgestellt. Ein solcher Irrthum ist auch begreiflich, da im täglichen Verkehr zwischen einem eigent¬ lichen Bruch im wissenschaftlichen Sinne und einer weit ent¬ wickelten Bruchanlage nicht immer sorgfältig unterschieden wird. Eine Bruchanlage aber kann nicht durch Unfall ent¬ stehen, und es bedarf schon aus diesem Grunde weder der nochmaligen Anhörung des Dr. B., noch der Vernehmung der vom Kläger benannten Zeugen. Was sodann den Hergang vom 29. November 1898 angeht, so sind dessen Folgen am Tage darauf von Professor L. un¬ tersucht und festgestellt worden, mit dem Ergebniss, welches ebenfalls durch das von Dr. B. mit vollzogene Attest vom 9. Februar 1899 bestätigt wird, dass auch auf der rechten Seite bis dahin kein fertiger Bruch, sondern nur eine Bruchanlage bestand. (Kompass, 1899, No. 23.) Leistenbruch. Betriebsunfall liegt nicht vor. Rekurs-Entscheidung vom 13. Juli 1899. Der Bergmann Konrad V. aus Königstein bei Sulzbach in Bayern beantragte beim Sektionsvorstande die Gewährung einer Unfallrente, weil er sich dadurch einen Leistenbruch zugezogen Digitized by LjOOQLe 1. April 1000. Aerztliche Sachverständige n-Zeitung. 147 habe, dass er beim Heben eines 80 Pfund schweren Fels¬ stückes ausgeglitten und hingefallen sei. Während der Sek¬ tionsvorstand den Anspruch ablehnte, weil ein Betriebsunfall nicht vorliege, da es sich um eine allmähliche Entwicklung handle, nahm das Schiedsgericht das Gegentheil an und ver¬ urteilte die Berufsgenossenschaft zur Gewährung einer Rente von 10 pCt. Die Berufsgenossenschaft legte gegen diese Ent¬ scheidung Rekurs ein und führte aus, dass der Leistenbruch des Klägers nach dem Gutachten des Privatdozenten Dr. P. aus München nicht plötzlich entstanden sein könne. Dem Re¬ kurse wurde stattgegeben und der ablehnende Bescheid des Sektionsvorstandes wiederhergestellt. Gründe: Nach ärztlicher, vom R.-V.-A, als richtig anerkannter Er¬ fahrung entwickeln sich Leistenbrüche in der Regel aus ange¬ borener oder unmerklich entstandener Anlage allmählich, und es erfolgt ihr Austritt lediglich in Folge des weiteren Fort- schreitens dieser Anlage ohne wesentliche Mitwirkung eines als Unfall zu bezeichnenden besonderen Ereignisses. Daher muss, wenn eine Ausnahme von dieser Regel behauptet wird, nachgewiesen werden, dass der Bruch plötzlich in Folge eines bestimmten Betriebsereignisses ausgetreten ist. Dies kann im Allgemeinen nur angenommen werden, wenn bei Verrichtung der gewöhnlichen Arbeit besondere Umstände Vorlagen, oder wenn der Wahrnehmung des Bruches eine mit einer nicht be¬ triebsüblichen Anstrengung verbundene ungewöhnliche Thätig- keit oder ein zur plötzlichen Hervorbringung eines Bruches geeigneter ausserordentlicher Vorgang vorausgegangen ist. Es lässt sich nun nicht verkennen, dass im vorliegenden Falle eine Reihe von Umständen vorhanden sind, die für eine plötz- liohe Entstehung des Bruchleidens sprechen könnten. Der Kläger hat einen etwa 80 Pfund schweren Stein gehoben, eine Arbeit, die zwar an sich für einen Häuer über den Rahmen des Betriebsüblichen nicht hinausgehen dürfte, aber doch die Leistungsfähigkeit des nahezu 63jährigen Klägers überschritten haben könnte. Es soll ferner bei jener Arbeit ein ausserordent¬ licher Vorgang vorgekommen sein, indem der Stein, als er etwa bis zur Brusthöhe erhoben war, den Händen des Klägers entglitten und an seinem Körper entlang, die Brust- und Leistengegend treffend, herabgerollt sein soll. Ja, es wird auch behauptet, dass der Kläger selbst beim Erheben des Steines mit den Füssen ausgeglitten sei. Dem Ansprüche des Klägers günstig ist es auch, dass er alsbald nach diesem Vor¬ fall die Arbeit eingestellt, zu seinen Arbeitsgenossen über Schmerzen geklagt, dass er Uebelkeit empfunden, dem Ver¬ treter des Betriebsunternehmers von dem Vorkommnisse Meldung gemacht und am nächsten Tage, nachdem er bis dahin im Bett gelegen, einen Arzt zugezogen haben will. Gleichwohl hat das Rekursgericht dem Schiedsgericht nicht in der Auffassung folgen können, dass der rechtsseitige Leistenbruch des Klägers am 20. Januar 1898 durch das Heben des Steines, das Ausgleiten dabei oder durch die Ge¬ waltwirkung, die der fallende Stein auf den Körper ausübte, entstanden sei. Der Kläger ist nicht nur durch sein hohes Alter, in welchem — zumal bei Leuten, die ihr Leben lang anstrengende körperliche Arbeit verrichtet haben — erfahrungs- mässig die Muskeln und Bänder erschlaffen, und der Austritt von Bauchinhalt durch die anatomisch vorgebildeten Oefifnun- gen der Bauchwand leichter als in jüngeren Jahren sich voll¬ zieht, sondern offenbar auch von Natur zu Unterleibsbrüchen besonders beanlagt. Denn wie Dr. K. in K. und der Privat¬ dozent Dr. Pr. in M. übereinstimmend bezeugen, sind die Leistenkanäle bei V. von ungewöhnlicher und bedeutender Weite, der rechtsseitige ist sogar für drei Finger durchgängig. Der Kläger ist auch schon mit einem linksseitigen Leisten¬ bruch behaftet, den er bereits vor dem 20. Januar 1898 gehabt haben will. Beide Brüche lassen sich, wie es bei allmählich entstandenen die Regel, bei plötzlich eingetretenen selten ist, leicht in die Bauchhöhle zurückbringen. Vor Allem aber hebt Dr. P. hervor, dass der rechtsseitige Leistenbruch grösser ist als der linke, dass er tiefer in den Hodensack hinabgeglitten ist als dieser, und grössere Neigung zum Vorfällen hat, auch der Leistenkanai auf der rechten Seite weiter ist als links, und schliesst daraus, dass der rechte Leistenbruch länger be¬ stehe als der linke. Wäre zur Zeit des Unfalls nur der linke Leistenbruch vorhanden gewesen und hätte der behauptete Vorgang überhaupt den Austritt von Eingeweidetheilen aus dem Unterleibe des Klägers verursacht, so würde nach der einleuchtenden Ansicht des Dr. P. die Folge weit eher ein Auspressen einer grösseren Menge von Darmschlingen durch die linke Bruchpforte als die gewaltsame Hervorbringung eines neuen Leistenbruchs auf der anderen Seite gewesen sein. Diese Darlegungen sind so überzeugend, das das Rekurs¬ gericht — zumal Dr. P. auch die Schmerzen und die Uebel¬ keit, ohne diese Empfindung in Abrede zu stellen, auf andere Weise als durch einen plötzlichen Bruchaustritt erklärt — die Annahme eines solchen für ausgeschlossen erachtet hat, und zwar selbst für den Fall, dass alle obigen Angaben über den Unfall und das Verhalten des Klägers dabei und unmittelbar danach thatsächlich zutreffend sein sollten, was bisher noch nicht feststeht, da nur die eigenen, von den Aerzten wieder¬ gegebenen Mittheilungen des Klägers selbst vorliegen. (Kompass, 1899, No. 22.) Uebertreibung. Rek.-Entseh. vom 27. Oktober 1899. L. Z. aus B. erhielt in Folge einer am 15. Oktober 1895 durch Betriebsunfall erlittenen Quetschwunde am rechten Fuss- rücken von der Fuhrwerks-Berufsgenossenschaft zuletzt auf Grund der schiedsgerichtlichen Entscheidung vom 2. Februar 1898 seit dem 1. April 1897 eine zehnprozentige Theilrente Durch einen weitereu, durch schiedsgerichtliche und Rekurs¬ entscheidung bestätigten Bescheid vom 5. März 1898 wurde die Zahlung der Rente vom 1. April 1898 ab eingestellt, weil nach dem Gutachten des Kgl. Bezirksphysikus Dr. B. vom 8. Mai 1898 eine Erwerbsunfähigkeit nicht mehr vorliege. Dem¬ nächst hat Z. am 17. Januar 1899 den Antrag auf Wieder¬ gewährung einer Unfallrente gestellt mit der Behauptung, dass sich sein Zustand verschlimmert habe. Er ist jedoch durch Bescheid vom 7. März 1899 abgewiesen worden, weil nach dem Gutachten des Dr. L. vom 17. Februar 1899 eine Erwerbs¬ beschränkung nicht eingetreten sei. Hiergegen hat Z. recht¬ zeitig Berufung eingelegt mit dem Anträge, eine Untersuchung oder nötigenfalls eine Beobachtung in einem Krankenhause anzuordnen und die Berufsgenossenschaft zur Zahlung der gesetzlichen Unfallrente zu verurtheilen. Das Schiedsgericht holte ein Obergutachten des Kgl. Bezirksphysikus Dr. B. vom 27. April 1899 ein. Sanitätsrath Dr. B. machte u. A. gel¬ tend: „Z. zeigt einen guten Ernährungszustand. Er hustet in starkerWeise, aber nur zeitweilig; der Husten macht aber den Eindruck des Gekünstelten. An seinen Lungen und am Herzen lässt sich keinerlei krankhafte Affektion feststellen. Auf dem Rücken des rechten Fusses besteht eine Röthung der Haut, kein Geschwür; er hat den Fussrücken mit einer Blei¬ salbe bedeckt und den Fuss mit einer Binde eingewickelt, nach den Knöcheln zu besteht auch eine leichte Schwellung des Unterhautzellgewebes. Irgendwelche Veränderungen der Sehnen, Bänder oder der Knochen ist auch gegenwärtig nicht am Fusse bemerkbar; das Fussgelenk ist frei beweglich. Die rechte Wade ist ebenso fest und umfangreich wie die linke. Digitized by Google 148 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 7. Auch schwankt er in auffälliger Weise, als er auf seinem ge¬ sunden linken Bein allein stehen soll; auf dem rechten Bein will er überhaupt nicht allein stehen können. Er hat tüchtige Schwielen an den Handflächen, die von der Arbeit zeugen. Wenn er unbeobachtet ist, hinkt er beim Gehen nicht. Hier¬ nach kommt der Obergutachter zu dem Ergebniss, dass die leichte Röthung des rechten Fussrückens, welche allein als Folge des Unfalls vom 15. Oktober 1895 in Frage kommen kann, derartig ist, dass durch sie irgendwelche Arbeits¬ beschränkung verursacht sein kann. Bei gutem Willen des Mannes dürfte die leichte Röthung des rechten Fussrückens durch einfache Waschungen des Gliedes leicht zu beseitigen sein. Z. ist in Bezug auf seine Erwerbsfähigkeit von den Folgen seines Unfalls vom 15. Oktober 1895 wiederhergestellt. Das Schiedsgericht erachtete dieses Gutachten für massgebend und erkannte auf Zurückweisung der Berufung. Gegen diese Entscheidung legte der Kläger Rekurs ein mit dem Anträge, erforderlichenfalls nach Anhörung eines anderen ärztlichen Sachverständigen ihm eine Rente zu gewähren. Er erklärte, die Unfallfolgen seien nicht beseitigt, der Rücken des rechten Fusses sei noch immer roth und schmerzhaft, auch gegen¬ wärtig werde er von Dr. L. behandelt. Geschäftsführer Z. bat um Zurückweisung des Rekurses. Demgemäss erkannte auch das Reichs-Versicherungsamt und machte u. A. Folgendes geltend: Eine Rente würde der Kläger gemäss § 65 des Unfall- versicherungsgesetzes nur dann beanspruchen können, wenn nachgewiesen wäre, dass in den Verhältnissen, welche am 5. März 1898 für die Renteneinstellung massgebend gewesen sind, eine wesentliche, auf den Unfall zurückführende, mit einer Schmälerung seiner Erwerbsfähigkeit verbundene Ver¬ änderung eingetreten ist. Dieser Beweis ist aber nicht erbracht und im Hinblick auf die von Dr. L. zu B. vom 17. Februar 1899 vom Kgl. Bezirksphysikus, Sanitätsrath Dr. B. ebendort am 27. April 1899 erstatteten Gutachten wenigstens zur Zeit nicht zu erbringen. Die auch von Dr. B. festgestellte Röthung des rechten Fussrückens, die allein noch als Unfallfolge in Be¬ tracht kommen könnte, übt, wie der Sachverständige über¬ zeugend ausführt, auf die Erwerbsfähigkeit des Klägers keinen nachtheiligen Einfluss aus. Die sonstigen Leiden des Klägers, insbesondere der Bronchialkatarrh, an dem er, wie Dr. L. in dem Gutachten vom 17. Februar 1899 bezeugt, ärztlich be¬ handelt wurde, hängen mit dem Unfall nicht zusammen. Mit Recht hat daher die Genossenschaft die Wiedergewähr einer Rente abgelehnt. Da der Sachverhalt genügend aufgeklärt ist, so bedurfte es der Einholung eines weiteren Gutachtens nicht. M. Mittheilungen aus der italienischen Literatur. Giebt es eine Auswanderung von Eingeweide¬ würmern in die verschiedenen Körperhöhlen post mortem? Diese unter Umständen forensisch wichtige Frage ist mit Nein zu beantworten. Demateis, Arzt am parasitologischen Institut zu Turin, hat in einer längeren Arbeit (riforma med. 1899 No. 231—234) die helminthologische Kasuistik der älteren Autoren einer Bearbei¬ tung unterzogen. Er kommt zu dem Resultat, dass nur Er¬ höhung der Körperwärme die Lumbricoiden wie die Bandwürmer zum Auswandern veranlasst, niemals wandern sie bei niederer Temperatur. Bezüglich der Frage ob Spulwürmer Verletzungen der Darmwand machen können, spricht D. sich positiv aus. Aller¬ dings mögen es meist präexistirende Läsionen der Darmwand sein, welche den durch thermischen Reiz in Bewegung gebrach¬ ten Thieren wenig Widerstand entgegensetzen: so kann ein ulcus in einen Fistelgang verwandelt werden; aber auch eine Auswanderung durch die normale Darmwand ist als möglich zuzugeben. Für die bei uns hauptsächlich in Betracht kommende Infek¬ tion mit taenia solium ist es wichtig, dass die Wanderung dieses Bandwurmes zu einer Autoinfektion mit Cysticerken Ver¬ anlassung geben kann. Im pathologisch anatomischen Institut des Hospitals za Neapel machte Bucco eine Reihe methodischer Untersuchungen über die Durchgängigkeit der Eierschalen fürMikro- organismen. Dieselben bewiesen in stringenter Weise die Durchlässigkeit derEierschaalen für pathogene wie nicht pathogene Bakterien, welche im Eiweiss der Eier einen günstigen Nähr¬ boden Anden. Der Staphylococcus pyogenus aureus, der Bacillus coli und der Typhusbazillus, der Diphteriebazillus u. A. dringen in gekochte wie rohe Eier ein; einige bis ins Eiweiss, andere bis in den Eidotter, und bewahrten in demselben ihre morpho¬ logischen und culturellen Eigenthümlichkeiten. Diese Thatsache ist in hygienischer Beziehung um so wichtiger, als die Eier von den Vorkäufern vielfach unsauber behandelt und aufgehoben werden. So werden dieselben in Neapel auf dem Lande monatelang in feuchter Erde aufgehoben, damit sie an Gewicht und Durchsichtigkeit nicht verlieren. Eier sollten deshalb roh nur genossen werden, wenn man sicher ist, dass sie frisch gelegt Bind und selbst in diesen Fällen hat man Rücksicht zu nehmen auf die mögliche Infek¬ tion derselben mit Keimen, welche vor der Bildung der Eier- schaale in sie hineingelangt sein könnten. Eier bei 100 Grad gekocht faulen schnell: solche die unter hohem Druck oder bei 134 Grad hart geworden sind, halten sich viel länger intakt. rif. med. 1899 No. 226—230. Als ein sicheres Reagens auf Diabetes bewährt sich die Blutuntersuchung, welche Williamson 1897 angegeben hat. Dieselbe ist leicht und wenig umständlich : sie beruht auf dem Prinzip, dass eine sehr verdünnte Methylenblaulösung in der Wärme und bei alkalischer Reaktion von Diabetiker-Blut und zwar einem einzigen Tropfen entfärbt wird. Man giesst in ein Glas 40 Cubikcentimeter destillirten Wassers, fügt demselben einen Tropfen des zu untersuchenden Blutes aus der sorgfältig desinflcirten Fingerkuppe hinzu und setzt dann weiter 1 Cubikcentimeter einer Methylenlösung von 1:6000 und 40 Cubikcentimeter Natronlauge zu. Erwärmt man nun diese Mischung im Wasserbade, so wird das Methy¬ lenblau farblos oder schmutzig grün. Im Anfang kann man zur Kontrole einen Tropfen Blut eines gesunden Menschen in gleicher Weise prüfen und wird Anden, dass das Blau unverändert bleibt, höchstens etwas an Intensität verliert. Durch wiederholte Untersuchungen mit bekanntem Glycosegehalt ist es sogar möglich sich eine Farben¬ skala zu machen, durch welche man annähernd den Prozent¬ gehalt feststellen kann. Diese Prüfung hat den Vortheil, dass man, selbst wenn der Urin zeitweise zuckerfrei befunden wird, doch noch eine Diabeteskrankheit feststellen kann. Der Italiener Lucibelli prüfte in der inneren Klinik zu Neapel diese Reaktion an einer ganzen Reihe von Kranken und auch experimentell an mit Phlorizin diabetisch gemachten Thieren und will sie immer zuverlässig gefunden haben. — Auch eine Reihe anderer Autoren treten für die Sicherheit dieser Untersnchungsmethode ein. (gazzetta degli ospedali e delle cliniche 1899, No. 130.) Hager (Magdeburg.) Digitized by CjOOQie 1. April 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 149 Bücherbesprechungen und Anzeigen. DieckerholT, Geh. Reg.-R. Prof. Dr.: Gerichtliche Thier¬ arzneikunde. Berlin, R. Schoetz. II. Aufl. 1899. 648 S. Pr. 20 M. Längst ist die Zeit vorüber, wo der Medizinalbeamte und der preuss. Physikus der amtliche Sachverständige auch bei Krankheiten und Mängeln der Gebrauchsthiere war. Trotzdem wird es manchem Arzt wünschenswert sein, von einem Werke Kenntniss zu erhalten, welches in der Lit- teratur der Sachverständigenthätigkeit einen bedeutsamen Platz einzunehmen ausersehen ist. Für seine Gebrauchsfähigkeit spricht am Besten der Um¬ stand, dass zwischen Mai und September 1899 zwei Auflagen nothwendig wurden, von denen die zweite eine wesentliche Vermehrung der Gutachten-Beispiele enthält. Das, was das Buch auszeichnet, ist die Klarheit der Dar¬ stellung und die Uebersichtlichkeit der Anordnung, so dass selbst der Leser, welcher nicht Thierarzt vom Fach ist, den Eindruck erhält, dass er eine bis in die Einzelheiten ihm ver¬ ständliche Materie vor sich hat. Gilt dies bei dem eigent¬ lichen Texte im Wesentlichen für Leser mit anatomischen und pathologischen Vorkenntnisseu, so gilt es noch in höherem Mass von den Beispielen, welche man in des Wortes vollster Bedeutung als Mustergutachten bezeichnen kann. „Das gerichtsärztliche Gutachten soll eine den Richter (also einen Laien) überzeugende klinische Darstellung sein*. Diesen Spruch setzte einst Friedberg als Motto vor seine lehrreiche Sammlung gerichtsärztlicher Gutachten, deren Lek¬ türe noch heutzutage jedem Praktiker empfohlen werden kann und die Lösung eines solchen Programms kennzeichnet Diecker- hoff’s Meisterschaft. Besonders in den schwierigen Fragen der Gewährsmängel beim Viehkauf zeigen seine Gutachten eine solche durchsich¬ tige Einfachheit der Darstellung, eine solche Ausmerzung über¬ flüssiger theoretisirender Gelehrsamkeit, dass er die Ergeb¬ nisse wissenschaftlicher Erfahrungen und Erwägungen sicher¬ lich dem Verständnisse d$r Laien möglichst nahe bringt. Da¬ bei vergiebt er der Würde seiner Sachverständigenstellung nie etwas, denn immer markiren sich in der Schilderung die Punkte, wo der Laie die Pflicht empfinden muss, zur Erlan¬ gung der eigenen Ueberzeugung sich dem zu beugen, was ihm als feststehendes Ergebniss wissenschaftlicher Forschung vorgetragen wird. Recht lehrreich ist auch das Kapitel, welches die allge¬ meine Anleitung zur Abfassung thierärztlicher Gutachten giebt. Ohne seine Leser sklavisch auf ein Schema zu verpflichten, betont Dieckerhoff den Werth der Form und Planmässigkeit. Er verschmäht es nicht, für stylistisch schwierige Stellen, z. B. für die Formung und Zusammenfassung des gutachtlichen Resultats eine ganze Reihe von Wendungen und Uebergängen wörtlich anzuführen. Weiss er doch, dass die Praktiker, für die sein Buch bestimmt ist, oft bei guten Fachkenntnissen an der Ungelenkigkeit in der Form scheitern. Dass die thierärztliche Begutachtung neben dem einfachen Gutachten und dem Motivirten noch als besondere Form das Gegengutachten kennt, welches auf Grund desselben Thatbestandes zu anderen Erwägungen und Schlüssen wie ein Vorgutachten gelangt, dürfte auch interessiren zu erfahren. Schliesslich erweist sich der Verfasser auch als ein gründ¬ licher Kenner des einschlägigen Rechts. Ein besonders juristi¬ scher Theil schildert die historische Entwickelung der ver¬ schiedenen „Währschaftssysteme“ beimViehkauf von der ältesten römischen Gesetzgebung bis zu der durch das Bürgerliche Gesetz¬ buch geschaffenen Rechtslage. Auch der Begriff der Thier¬ quälerei und die Beziehungen der Betrugsparagraphen zur thierärztlichen Sachverständigenthätigkeit werden erörtert. Wir zweifeln nicht, dass das Buch für die forensische Wirksamkeit unserer Thierärzte von einschneidender Bedeutung sein wird. L. Hoffa, Dr. Albert, Prof. a. d. Univers. Würzburg. Atlas und Grundriss der Verbandlehre für Studirende und Aerzte. Mit 144 Tafeln. Lehmann’s Handatlanten. Bd. XIH. München J. F. Lehmann 1900. 129 S. Preis 7 M. Das Erscheinen des trefflichen Werkes in zweiter Auflage kann nur mit Freude begrüsst werden. Die Empfehlung, die wir ihm bei einem ersten Erscheinen auf den Weg gaben, wiederholen wir um so eindringlicher, als der Verfasser den gediegenen Inhalt diesmal noch um 16 Tafeln bereichert und auch sonst manche Verbesserungen angebracht hat. Windscheid, Dr. med. Franz, Priv.-Doz. an d. Univers. Leipzig. Pathologie und Therapie der Erkrankungen des peripherischen Nervensystems. Medizin. Biblioth. Nr. 157—-161. Leipzig, C. G. Naumann 1899. 244 S. Preis 2,50 M. Ein sehr sorgfältig ausgearbeitetes Nachschlagebuch. Die zahlreichen Wiederholungen, die beim Durchlesen des ganzen Werkchens störend wirken, sind durch den deutlich verfolgten Zweck, dem praktischen Arzte im Einzelfalle eine rasche und vollkommene Orientirung zu ermöglichen, geboten gewesen. Besonders empfehlenswerth ist das Buch auch für Denjenigen, der sich mit Gewerbekrankheiten und Unfallheilkunde beschäf¬ tigt. Wie es bei der jetzt sehr regen Forschung auf dem Ge¬ biete der peripherischen Nervenkrankheiten nicht anders zu erwarten war, ist seit der Fertigstellung des Buches schon wieder eine ganze Reihe neuer berücksichtigenswerther Einzel¬ heiten aus diesem Gebiete beschrieben worden. Wir wünschen dem Verfasser, dass ihm bald Gelegenheit gegeben werde, in einer neuen Auflage diese Ergänzungen anzubringen. Die in den Text eingefügten Abbildungen Bind, entsprechend der sehr bescheidenen Ausstattung des Ganzen, nicht eben künstlerisch schön, aber ziemlich charakteristisch. Paulsen, Prof. Dr. Ed. in Kiel. Die Singstimme im jugendlichen Alter und der Schulgesang. Kiel, Kommissions-Verlag von Gnevkow und von Gillhorn. 1900. Ausgehend von dem Satze, dass die gegenwärtig übliche Ausführung des Chorgesangs in den Schulen eine Gefahr für viele jugendliche Stimmen darstellt, und dass demgegenüber der Schulung der Stimmen im Einzelnen in einer dem indivi¬ duellen Stimmumfang angemessenen Ausdehnung der Vorzug zu geben ist, giebt Verf. einen beachtenswerthen Beitrag zu der Frage des Stimmumfangs in den einzelnen Altersklassen. Er beschränkt sich dabei nicht auf das schulpflichtige Alter, sondern dehnt seine Untersuchungen bis zum 20. Lebensjahre aus, um das ganze Lebensalter zu umfassen, in welchem sich der Uebergang von der Knaben- zur Männerstimme und von der Mädchenstimme zu der des erwachsenen Weibes vollzieht. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Verf. der Zeit des Digitized by Google 150 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 7. Stimmwechsels bei Knaben; in dieser Zeit bedarf die Knaben¬ stimme, um vor dauernden Schädigungen bewahrt zu bleiben, der grössten Schonung, wie dies ja meist jetzt auch schon üblich ist; Verf. weist aber nach, dass auch die Stimmen der Mädchen in den entsprechenden Jahren ebenfalls mit grösster Vorsicht behandelt werden muss. Bei der Auswahl der Chor¬ gesänge in den Schulen ist auf diese Verhältnisse Rücksicht zu nehmen. Die sehr interessanten und fleissigen Unter¬ suchungen des Verfassers, aus denen die Grenzen leicht er¬ kennbar sind, innerhalb deren sich die gewählten Musikstücke in jedem Falle zu halten haben, sind Fachleuten und allen massgebenden Dienststellen zum speziellen Studium dringend zu empfehlen. R. M. Andreae, Dr. med. et phil. Julius, Die Verletzungen des Sehorganes mit Kalk und ähnlichen Substanzen. Leipzig, W. Engelmann 1899. 178 Seiten. Preis 5 Mark. Während man die Verletzungen durch thermische Ein¬ wirkung mit Recht als Verbrennungen bezeichnet, ist für die durch chemische Einwirkung entstandenen besser der Name Verätzung zu wählen. Verfasser zählt zunächst die verschie¬ denen Stoffe auf, welche Verätzung des Auges bedingen kön¬ nen, um sodann auf das Calcium und seine Verbindungen näher einzugehen. Beim Löschen des Kalkes, d. h. bei der chemischen Vereiuigung von Calciumoxyd und Wasser entsteht keineswegs sofort eine beträchtliche Temperatursteigerung, sondern es vergehen 10 Minuten und mehr, ehe 40 0 C. über¬ schritten werden, eine Steigerung bis 100° C. tritt selten ein, höher steigt die Temperatur unter gewöhnlichen Umständen überhaupt nicht. Der gelöschte Kalk, das Kalkhydrat mischt sich leicht mit Wasser und löst sich dabei theilweise auf, wo¬ bei keine Erwärmung eintritt. Zuckerwasser löst, je nach Konzentration 20—50 mal und Glycerin 3—15 mal soviel Kalk¬ hydrat als gewöhnliches Wasser. Da sich der Kalk sehr Schnell im Wasser löst, so wird selbst ein kleines Kalkstück¬ chen, das in den Bindehautsack gelangt, die immer wieder von Neuem zuströmenden Thränen in eine nahezu konzen- trirte Kalklösung verwandeln, welche längere Zeit auf das Auge einwirkt und so eine höchst deletäre Wirkung entfalten kann. Mechanische Verletzungen durch Calciumverbinduogen sind selten. Abspringende Stückchen von Austernschalen z. B. können in die Hornhaut eindringen und dort neben der me¬ chanischen auch noch eine chemische Wirkung entfalten. Die Annahme, dass in das Auge gelangende Kalkverbindungen sich bei der chemischen Vereinigung mit Wasser erhitzen und so eine thermische Wirkung entfalten können, hält Verf. für un¬ richtig. Nur Aetzkalk und Calciumkarbid erhitzen sich mit Wasser, während dies bei Kalkhydrat und Kalkbrei durchaus nicht der Fall ist, aber diese Wärmeentwicklung ist im Ver- hältniss zu der reichlich vorhandenen Thränenflüssigkeit so unbedeutend, dass von einer Verbrennung nicht die Rede sein kann. Das von manchen Seiten so sehr gefürchtete Heraus- spülen des in das Auge gelangten Kalkes mit Wasser ist also eine sehr richtige, keineswegs eine gefährliche Massnahme. Eine Hitzewirkung und zwar eine sehr gefährliche kann frisch bereiteter Kalkbrei auf das Auge ausüben, wenn die Masse noch heiss — sie kann eine Temperatur bis zu 99 0 C. er¬ reichen — in das Auge gelangt. Die Calciumpräparate wirken ferner wasserentziehend auf die Augenhäute ein und schädi¬ gen dieselben dadurch so stark, dass die sich nun bildenden Calciumsalzlösungen in das Gewebe eintreten und so nament¬ lich zu Trübungen der Hornhaut Anlass geben können. Hier¬ zu kommt noch als weiteres Moment die chemische Auflocke¬ rung der Gewebe durch Zerstörung der intercellulären Kitt¬ substanz und der Zellen selbst. Nahezu unschädlich für das Auge sind die unlöslichen Calciumverbindungen und der Gyps. Die Verletzungen der Bindehaut durch Kalk sind beson¬ ders deshalb gefährlich, weil sie zu Verwachsungen, narbiger Schrumpfung und damit zu Störungen der Augenbewegungen Anlass geben können. Das Epithel der Hornhaut wird gewöhn¬ lich durch Calciumpräparate sehr rasch zerstört und es kommt dann zur dauernden Trübung des Hornhautgewebes durch Ein¬ lagerung von Kalksalzen. Ausserdem bildet sich eine sekun¬ däre Infiltration des Hornhautparenchyms, welche wieder zurückgehen kann, so dass sich die Cornea etwas aufhellt und die trügerische Hoffnung erweckt wird, es könne eine voll¬ ständige Aufhellung eintreten. Die sorgfältigen eigenen Unter¬ suchungen des Verf. ergeben, dass die Calciumsalze nur in gelöster Form schädlich auf das Auge einwirken können. Diese Lösung dringt in das Gewebe ein, schädigt oder zer¬ stört dasselbe und lässt als Spuren ihrer Thätigkeit unlösliche Verbindungen des Calciums mit der eigentlichen Hornhaut¬ substanz zurück. Das Kalkhydrat als solches wird nicht im Gewebe abgelagert, sondern stets in Calciumalbuminat ver¬ wandelt, neben dem sich kleine Mengen von Calciumcarbonat und -phosphat finden. Es ist noch ungewiss, ob das Calcium¬ albuminat als solches bestehen bleibt, oder sich allmählich in kohlensauren Kalk umwandelt, der vielleicht von der kohlen¬ säurehaltigen Gewebsflüssigkeit langsam aufgelöst werden kann. Die gelegentlich beobachteten spontanen Aufhellungen von Kalktrübungen der Hornhaut machen ein dei artiges Ver¬ halten nicht unwahrscheinlich. Was die Behandlung der Kalkverletzungen des Auges an- betriflft, so ist es für die Praxis gleichgiltig, welches Calcium¬ präparat eingewirkt hat. Die erste Behandlung, welche fast stets durch Laien, selten durch einen Arzt erfolgt, hat in einer sofortigen gründlichen Abspülung des Auges mit Wasser zu bestehen. Die Furcht, dass Wasser schädlich ein wirken könne, ist gänzlich unbegründet. Die Kalkreste, welche sich mit dem Wasserstrahl nicht beseitigen lassen, sind instrumentell, am besten durch den Arzt, zu entfernen; sie stellen keineswegs indifferente Fremdkörper dar, sondern können eine recht er¬ hebliche Aetzwirkung ausüben. Die Anwendung anderer Flüssigkeiten als Wasser, dem eventuell, um eine septische Infektion zu verhüten, 2°/ 0 Borsäure zugesetzt werden kann, ist nicht nur zwecklos, sondern oft genug schädlich, erst später kann Oel oder dergl. zur Linderung der Schmerzen eingeträu¬ felt werden. Sind die Kalktrübungen stationär geworden, so hellen sie sich fast nie mehr wieder auf, die Therapie ist ihnen gegenüber machtlos, es kann nur die Tätowirung und die Iridektomie in Frage kommen. Verf. geht dann noch auf die Häufigkeit und die Ursachen der Kalkverletzungen ein, unter letzteren wollen wir hervor¬ heben, dass gelegentlich absichtliche Selbstbeschädigungen der Augen mit Kalk beobachtet werden. Den Verlust eines Auges bei intaktem zweiten, hält Verf. mit einer Rente von 25 % für einen Bauhandwerker für genügend entschädigt. Eine Herabsetzung der Sehschärfe auf die Hälfte der normalen be¬ dingt für einen Maurer noch keine Störung der Erwerbsfahig- keit. Zum Schlüsse wird nochmals ausdrücklich betont, dass das beste Mittel bei einer Kalkverletzung der Augen das so¬ fortige Ausspülen mit reinem Wasser in Form eines Strahles sei. Das Buch ist mit grossem Fleiss und grosser Sorgfalt geschrieben und stützt sich zum grössten Theil auf eigene Untersuchungen des Verfassers. Groenouw. Digitized by AjOOQle 1. April 1900. Acrztliche Sachver ständigen-Zeitung. 151 Tagesgeschichte. Zum Unfallversiclierungsgesetz. Aus der Kommission des Reichstages, an welche die neuen Unfallversicherungsgesetze zur Vorberathung verwiesen worden, und bei welcher wieder einmal kein Arzt hinzugezogen, der über die dabei so wesentlich in Betracht kommenden ärzt¬ lichen Verhältnisse mitrathen konnte, verlautet nach denpoliti- schen Zeitungen, dass die Beschaffung ärztlicher Gutachten mehrfach Gegenstand der Diskussion gewesen ist. Zunächst wurde von einer Seite der Antrag gestellt, dass vor jeder Rentenfestsetzung der den Verletzten be¬ handelnde Arzt zu hören sei. Diesem Anträge wurde von allen Seiten zugestimmt. — Weiter wurde dann beantragt, dass, falls der behandelnde Arzt in einem Vertragsverhältniss zu der Berufsgenossenschaft stehe, der Verletzte berechtigt sein sollte, auf Kosten der Berufsgenossenschaft sich ein Gutachten eines anderen Arztes zu verschaffen. Auch dieser Antrag wurde im Prinzip gebilligt, jedoch in Bezug auf die Kosten dieses zweiten von dem Verletzten zu beschaffenden Gutachtens Vorbehalte gemacht. — Auch unserer Ansicht nach entspricht es nur dem Gesetz der Billigkeit, dass der Verletzte das Recht hätte, ein Gutachten eines Arztes seines Ver¬ trauens beizubringen; und da er in seinen meist ärmlichen Verhältnissen nicht die Mittel hat, sich ein ärztliches Gut¬ achten zu beschaffen, so muss ihm die Bezahlung dieses Rechtsmittels irgendwie erleichtert werden, eutweder durch die Berufsgenossenschaft oder durch den Staat. Da die Be¬ rufsgenossenschaft aber Partei in dem Streite ist, so ist nicht einzusehen, weshalb sie die Kosten ihrer Gegenpartei bezahlen soll. Vielmehr wäre es hier wohl das Natürlichste, wenn der Staat diese Kosten des Gutachtens für den Verletzten über¬ nähme, und alsbald die untere Verwaltungsbehörde an¬ wiese, in solchem Falle von einem ihr bekannten Arzte noch ein anderes Gutachten zu requiriren und die Kosten aus Staats¬ mitteln zu gewähren. Viele Berufungen und weitläufigen Ver¬ handlungen würden dadurch vermieden werden. In Bezug auf das Verfahren vor dem Schiedsgericht, soweit ärztliche Begutachtungen dabei in Frage kommen, hat dann der Abgeordnete Trimborn, welcher sich in hervorragen¬ der Weise für diesen Gegenstand interessirt, folgenden Antrag gestellt und in ausführlicherWeise begründet: Das Schiedsgericht wählt bei Beginn eines jeden Geschäftsjahres in seiner ersten Spruchsitzung, in der Regel nach Anhörung der für den betreffen¬ den Bezirk oder Bundesstaat zuständigen Aerztevertretung, aus der Zahl der am Sitze des Schiedsgerichts wohnenden approbirten Aerzte diejenigen aus, welche als Sachverständige bei den Verhandlungen nach Bedarf zuzuziehen sind. Den zugezoge¬ nen Sachverständigen ist zur Abgabe ihres Gutachtens Einsicht in die Akten des Schiedsgerichts und der Berufsgenossen¬ schaften zu gewähren. Die Namen der gewählten Aerzte sind öffentlich bekannt zu machen. Im Uebrigen wird die Durch¬ führung dieser Bestimmung durch die Landescentralbehörde geregelt.“ Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen. Endlich ist in der Kommission auch wieder einmal die Frage erörtert, ob der Verletzte das Recht haben solle, den vollen Wortlaut des ärztlichen Gutachtens mitge- theilt zu erhalten. Diese Forderung ist von sozialdemo¬ kratischer Seite aufgestellt, „weil das ärztliche Gutachten die Grundlage für die Festsetzung der Renten bilde, und weil der Arbeiter unbedingt Alles wissen müsse, was der Arzt über seinen Gesundheitszustand ausgesagt habe, um eventuell für die nöthigen Beweismittel sorgen zu können“. Mit Recht wurde gegen diese Ansicht zweierlei eingeweudet: Erstens würden die Aerzte nicht frei ihre Meinung über den Zustand des Kranken aussprechen, wenn sie fürchten müssten, dass ihr Gutachten zur Kenntniss des Verletzten gelange. — Wir möchten dem noch hinzufügen, dass doch Jedermann weiss, dass es auch unter den Verletzten eine grosse Anzahl Ueber- treiber, um nicht zu sagen, Simulanten giebt, und dass bei der Begutachtung dieser Leute der Arzt, besonders in kleinen Städten, in die unangenehmste Lage kommt, und in seiner Berufsthätigkeit Schaden leidet, wenn die Gutachten in vollem Wortlaut den Verletzten mitgetheilt werden. Bekanntlich sind schon wiederholt über diesen Punkt Erörterungen angestellt worden, und das Reichs -Versicherungsamt hat in einem Schreiben an den Vorstand der Aerztekammer für Berlin im Jahre 1893*), es dem Taktgefühl der Aerzte überlassen, für ihre Gutachten die richtige Form zu finden. —- Und zweitens ist ebenfalls mit Recht hervorgehoben worden, dass ärztliche Gutachten insofern diskret behandelt werden müssten, als sie oft Dinge enthalten, deren Mittheilung an den Unfallverletzten eine Härte sei, beispielsweise, wenn er erführe, dass sein Zu¬ stand hoffnungslos sei. Die Berathung des Gesetzes im Plenum des Reichstages auf Grund der Kommissionsbeschlüsse soll bald nach Ostern beginnen. B. Der preussische Medizinal-Etat. Bei der Berathung des Medizinal-Etats am 15. März gaben nicht etwa die darin enthaltenen, desto mehr aber die darin vermissten Posten Anlass zu Erörterungen, bei denen die Kol¬ legen Endemann, Martens und Rügenberg das Interesse der Aerzteschaft vertraten. Tragikomisch war die Besprechung der nicht eingestellten Mittel zur Ausführung des Kreisarztgesetzes. In der Kom¬ mission war seitens der Regierung erklärt worden, dass das Gesetz erst am 29. September vorigen Jahres veröffentlicht worden sei und der Etat bis zum 1. Dezember fertig sein musste, ein Zeitraum, innerhalb dessen die zahlreichen Mass¬ nahmen und Erhebungen, die zum Inkrafttreten des Gesetzes nothwendig wären, nicht gemacht werden könnten. Es war jedoch ein Nachtragsetat in Aussicht gestellt worden, der es eventuell ermöglichen würde, dass am 1. Oktober das Gesetz wirksam würde. Sowohl Ende mann als Martens setzten aus¬ einander, wie wenig nach jahrzehntelangen Vorbereitungen diese Gründe stichhaltig seien, und Rügenberg wies darauf hin, wie sehr im Interesse der Volksgesundheit ein endliches Zustandekommen wenigstens dieses Stückchens der Medizinal¬ reform zu wünschen sei. Der Kultusminister aber erklärte, es habe sich herausgestellt, dass auch auf den Nachtrags¬ etat verzichtet werden müsse; in diesem Jahre kön¬ nen also überhaupt noch keine Mittel zur Durch¬ führung des Kreisarztgesetzes eingestellt werden. Der Kultusminister sprach von „hochgespannten“ Erwartungen des ärztlichen Standes, die einstweilen noch nicht befriedigt werden könnten — nun wir glauben, die Erwartungen der Aerzte sind so gering, dass auch diese neue Enttäuschung, ohne grosses Aufsehen zu erregen, zu den übrigen gelegt werden wird. Rügenberg erinnerte des weiteren an die vorjährige ein¬ stimmig angenommene Resolution Douglas, die die Einrichtung von Untersuchungsanstalten für die Zwecke des Sani- täts- und Veterinärwesens für die einzelnen Provinzen *) Mitgetheilt im Lehrbuch der Aerztl. Sachverständigen-Thätig- keit von San.-Rath Dr. L. Becker, 4. Aufl., 8. 87. Digitized by Google 152 Aerztliche Sachverständigen - Zeitung. No. 7. und die einer Central - Landes-Untersuchungsanstalt verlangte. Es wäre zweckässig, derartige Abtheilungen den hygienischen Universitäts-Instituten anzugliedern, die jetzt be¬ reits mit Untersuchungen in öffentlichem und privatem Aufträge überlastet seien. Doch enthalte auch hierfür der Etat noch keine Forderungen. Ministerialdirektor Althoff versprach wohlwollende Erwägung der diesbezüglichen Wünsche. Durch die Tageszeitungen ging die Nachricht, dass auch der Wunsch nach einer grösseren Berücksichtigung der Ge¬ schichte der Medizin im ärztlichen Studium bei Berathung des Medizinaletats laut geworden sei. Das ist, wie sich aus dem stenographischen Bericht ergiebt, ein Irrthum: Von der ge¬ richtlichen Medizin war die Rede, und zwar wurde an¬ geregt, obligatorische Kurse in diesem Fach für die Kreisärzte einzuführen, zu welchem Zwecke aber die gerichtlich-medi¬ zinischen Institute vermehrt werden müssten. Hierbei machte Ministerial-Direktor Althoff die interessante Mittheilung, dass im Entwurf der neuen Prüfungsordnung für das Deutsche Reich die gerichtliche Medizin als obligatorischer Lehrgegen- stand für die Studirenden der Medizin eingeführt sei. Wenn dies Gesetz werde, könne es nicht fehlen, dass das Fach sich von selbst heben werde. Auch auf die Einführung von Fort¬ bildungskursen werde Bedacht genommen werden. Eine Anfrage bezüglich der Vermeidung von Gefahren, die durch die bevorstehende Errichtung von Pest-Labora¬ torien bedingt werden könnten, beantwortete Geheimrath Kirchner, indem er die Nothwendigkeit verhältnissmässig zahlreicher Uutersuchungsanstalten gerade für die Pest nachwies und ausreichende Sicherheitsmassregeln, die angewendet wer¬ den würden, angab. Zur Revision des Krankenversicherungs-Gesetzes. Für die nächste Reichstagssession ist bekanntlich eine Novelle zum Krankenversicherungs-Gesetz angemeldet. Ein auf diese bezüglicher Erlass der Reichsregierung enthält, wie das „Aerztliche Vereinsblatt“ in der Lage ist festzustellen, wörtlich folgenden Passus: „3. Mit Rücksicht auf die Verschiedenheiten, die hin¬ sichtlich der Zulassung nichtapprobirter Personen zur Kranken¬ behandlung in den einzelnen Bundesstaaten bestehen, wird sich fragen, ob es sich nicht empfiehlt, im Gesetz selbst zu bestimmen, ob und in welchen besonderen Fällen die Behandlung durch andere als approbirte Aerzte ge¬ stattet sein soll. Hierbei würde zugleich zu der Frage der freien Arztwahl überhaupt Stellung zu nehmen sein. Man kann sich bei diesen dunkeln Worten allerlei denken und braucht nicht gerade pessimistisch angehaucht zu sein, um, wie es das genannte Blatt thut, ernste Gefahren für den gesammten Aerztestand von dem Gesetzentwurf zu befürchten. Der Ausdruck „andere als approbirte Aerzte“ ist völlig rätsel¬ haft, denn nach der Gewerbeordnung darf sich im ganzen Deutschen Reiche als Arzt eben nur der in Deutschland approbirte Arzt bezeichnen. Wer sind die in Aussicht ge¬ nommenen Andern? Sind es die ausländischen Aerztinnen? Sind es, etwa für bestimmte Hilfeleistungen, die Heilgehilfen und Masseure? Oder sollen wir in der Kassenpraxis die Magnetopathen und Naturheilkundigen als Mitarbeiter be- grüssen? Was die Frage der freien Arztwahl mit der Zu¬ lassung anderer Personen als approbirter Aerzte — so soll es wohl eigentlich heissen — zu thun hat, ist gänzlich unerfindlich. Die Deutsche Aerzteschaft hat thatsächlich vorläufig allen Anlass, über den besagten Erlass beunruhigt zu sein, und es wäre sehr zu wünschen, dass von massgeblicher Seite bald eine Aufklärung erfolgte. Eine Epidemie von bisher unaufgeklärter Art herrscht in der Württembergischen Gemeinde Lippoldsweiler. Laut amtlichen Nachrichten sind die ersten Erkrankungen An¬ fang Februar vorgekommen. Bis Anfang März waren 22 Per¬ sonen erkrankt, 6 gestorben. Bei den Leichenöffnungen haben sich erhebliche Krankheitszeichen nur im Darm gefunden. Die Organe von 3 Verstorbenen sind bakteriologisch unter¬ sucht worden, wobei sich herausstellte, dass die Gekrösdrüsen, das Blut, die Nieren und die Milz ausschliesslich einen Spalt¬ pilz aus der Gruppe des Bakterium coli, zum Theil in reich¬ licher Menge enthielten. Es wäre interessant, von ärztlicher Seite Genaueres über den Verlauf dieser epidemischen, winter¬ lichen Darmkrankheit zu erfahren. Geistesstörungen in der Armee. Wie die Tagesblätter melden, sind in der sächsischen Armee in letzter Zeit auffallend viel seelische Erkrankungen vorgekommen. Insbesondere erweckte in einigen Fällen die auffallende Disziplinlosigkeit der Leute Verdacht, indess ergab sich bei näheren Nachforschungen, dass die Betreffenden früher schon in Irrenanstalten untergebracht gewesen waren, ohne dass dies zur Kenntniss der Militärbehörde gelangt wäre. Die Gemeindebehörden sind daher seitens des Kriegsmini¬ steriums dringend aufgefordert worden, in die Stammrollen aller derjenigen Personen, die nachweislich in irreuärztlicher Behandlung gewesen seien, diesbezügliche Eintragungen zu machen. Zur Vermeidung unbegründeter Rentenansprüche für Unterleibsbrüche ist von der Arbeiterunfallversicherungsanstalt in Wien ein be- merkenswerther Beschluss gefasst worden. Demnächst wird an die versicherungspflichtigen Betriebe ein Plakat folgenden Inhalts, das an jeder Betriebsstätte aufzuhängen ist, versandt werden. Es kommt häufig vor, dass für Unterleibsbrüche Ent¬ schädigungen angesprochen werden, indem angegeben wird, dass diese Gebrechen durch Unfälle oder Ueberanstrengung bei der Arbeit entstanden sind. Da derartige Leiden auch ohne Unfall entstehen können, ja erfahrungsgemäss in der Regel nicht unfallsweise entstehen, so muss bei Unterleibsbrüchen darauf bestanden werden, dass der Nachweis des behaupteten Unfalles in einer jeden Zweifel ausschliessenden Art erbracht werde. Zu diesem Zwecke ist es unbedingt nothwendig, dass Jeder, der durch einen Unfall oder durch übermässige Anstrengung bei der Arbeit einen Unterleibsbruch erleidet, sich sogleich beim Arzte melde und diesem die Entstehungsursache bekanntgebe; ebenso hat er sich, soweit er in Wien wohnt und hieran nicht durch seinen körperlichen Zustand behindert ist, sogleich bei der Arbeiter- Unfallversicherungsanstalt für Niederösterreich in Wien, 1. Be¬ zirk, Schottenbastei 10, einzufinden. Wer in einem solchen Falle nicht sofort den Arzt auf¬ sucht, begiebt sich eines der wichtigsten Beweismittel für die Beurtheilung der Berechtigung seines Anspruches und dadurch in die Gefahr, für seinen Leibschaden keine Unfallrente zu erlangen. Gleichzeitig wird darauf aufmerksam gemacht, dass es im Interesse der Arbeiter gelegen ist, jeden ihnen in dem Betriebe zustossenden Unfall sofort nicht nur dem Unternehmer, son¬ dern auch ihren Nebenarbeitern zur Kenntniss zu bringen. (Arbeiterschutz.) Berichtigung. No. (5 S. 121 I Z. 14 v. u. lies „Löhnberg“ statt „Lehnberg.* Verantwortlich für den Inhalt: Dr. F. Leppmann in Berlin. — Verlag und Blgenthom von Richard Schoete in Berlin. — Druck yon Albert Damoke, Berlin-Schöneberg. Digitized by Google Di« „Aentliehe Szchvcratludlgen-Zeitung“ ereeheint monatlioh zweimal. Dieselbe ist «a beziehen durch den ltuahhandely die Poet (No. 35) oder durch die Verlagsbuchhandlung von Richard Schoeti, Berlin NW., Luieenetr* 36, zu in Preise ▼on Mk. 5.— pro Vierteljahr. Aerztliche Alle Manuskripte, Mittheilungen und redaktionellen Anfragen beliebo man zu senden an Dr. F. Leppmann, Berlin W., Kurftlrstenstr. No. 8. Korrekturen, Rezensiona-Excmplai e, 8onderabdrQcke an die Verlagsbuchhandlung, Inserate und Beilagen an die Annoncen-Expedition von Rudolf Moase. Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene nnd Unfall-Heilkunde. Herausgegeben Dr. L. Becker SanitStsrath, Königlicher Physikus, Vertrauensarzt von Barufagenossensehaften und Schiedsgerichten. Dr. A Leppmann SanltXtsrath, Königlicher Physika«, Arzt der Beobachtnngsanstalt für geistes¬ kranke Gefangene in Moabit-Berlin, 8pezialarzt für Nerven, n. Geisteskranke. Dr. F. Leppmann prakt. Arzt. Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstrasse 36. YL Jahrgang 1900. JVs. 8. Ansgegeben am 15. April. Inhalt: Originalien: Bdel, Betriebsunfall und Gefässerkrankung. 8. 153. Gumpertz, Ueber das Recht der Schuld Verhältnisse zwischen Aerzten nach dem Bürgerlichen Gesetzbuche. (Schluss). S. 157. Referate: Neurologie und Psychiatrie. Ehret, Folgen von Ischias. S. 161. Wittner, Fissnra ossis frontalis, Commotio et Contusio cerebri, Amnesie. S. 161. Redlich, Ueber senile Epilepsie. S. 161. Bernhardt, Lehre von der Haematomyelia traumatica. S. 162. Innere Medizin. Naunyn, Haematurie aus normalen Nieren. S. 162. Simmonds, Ueber Tuberkulose des Magens. 8. 162. Spitzer, Ueber seltene Erkrankungen der Haut. 8. 163. Chirurgie. Baracz, Ein Fall von penetrirender Stichwunde der Herz¬ gegend; Lungenprolaps, Haemothorax, Pneumohaemopcricar- dium; Heilung. S. 163. König, Ueber Schussverletzung von Brust- u. Bauchhöhle. S. 163. Ohren. Eschwoiler, Ein Fall von Sinusphlebitis. S. 164. Hassiauer, Gehörgangsverletzungen. S. 164. Hygiene. Solbrig,Mulert,Hesso.Ueb.Pemphigus neonatorum.S. 165. Pettersson. Konserviren von Fleisch und Fisch mit Salzen. S. 166. Kirchner, Aussatzhäuser sonst nnd jetzt. S. 166. Aus Vereinen und Versammlungen. Protokoll über die Vorlesungen etc. für Bahnärzte. — Aus Französischen Gesellschaften. Sociötö do Mödocino pnbliqne et d’Hygiöne professionelle. — Aca- dömie de Mödecine. — Sociötd de Biologie. — Sociötö Medioale des Höpitaux. S. 166. Gerichtliche Entscheidungen: Aus dem Ober-Verwaltungsgericht. Vom Begriff „Erkranktsein“. S. 168. Aus dem Reichs-Versicherungsamt. Grad der Erwerbsver¬ minderung bei Verlust des linken Armes am oberen Drittel. S. 179. Bfloherbesprechungen: Beyer, Die Untersuchung des Harns und sein Verhalten bei Krankheiten. — Kaposi. Handatlas der Haut¬ krankheiten für Studierende nnd Aerzte. S. 169. Tagesgesohichte: Der Entwurf eines Gesetzes betreffend die Be¬ kämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. — Die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten in Preussen. — Neuo Zeitschrift. — Der Aerztliche Klub von Berlin. — Anzeigepflicht für Schäl¬ blasen. — Die 25. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege. S. 169. (Aus dem Asyl für Gemiithskranke zu Charlottenburg.) Betriebsunfall und Gefässerkrankung. (Platzen eines Ammoniakkompressors. Spätere Apoplexie mit Demenz. Tod an Herzschwäche.) Von Dr. Max Edel. Die folgenden Ausführungen behandeln die Frage eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen Tod an Arteriosklerose nnd eine Reihe von Jahren vorher eingetretenem Betriebs¬ unfall. Der Tod pflegt sehr häufig in einem gewissen Lebens¬ alter an den Folgen von Gefässerkrankung aufzutreten. Es dürften daher die Gründe von Interesse sein, aus welchen im vorliegenden Falle ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Unfall und Tod wahrscheinlich erscheint. Der Maschinenmeister C. R. 1836 geh. erlitt im Juli 1891 in einem Brauereibetriebe, in welchem er mehrere Jahre zur Zufriedenheit gewirkt hatte, einen Unfall durch Explosion eines Ammoniakkompressors. Er wurde bewusstlos gefunden und hatte einen komplizirten Bruch des linken Oberschenkels, so¬ wie eine Verätzung beider Augen erlitten. Von den ausströmen¬ den Ammoniakgasen war ihm das Innere des Mundes und das Gesicht nicht unerheblich verbrannt. Das rechte Auge er¬ blindete bis auf die Unterscheidung von hell und dunkel, das linke behielt eine Hornhauttrübung in der Mitte und wurde schwachsichtig. Seitdem war er ganz invalide und klagte über Kopfschmerzen und Müdigkeit Der Bruch des linken Oberschenkels heilte mit Verkürzung. Die betreffende Be- rufsgenoBsenschaft gewährte dem Verletzten zunächst die ganze Invaliditätsrente und musste ihm dieselbe auch nach Ent¬ scheidung des Reichsversicherungsamtes bis zu seinem Lebens¬ ende belassen, nachdem zuerst eine Herabsetzung der Rente auf 75 Prozent erfolgt und die Berufung vom Schiedsgericht abgewiesen war. Das im Jahre 1893 von dem verstorbenen Physicus Sani¬ tätsrath Dr. Littauer abgegebene Gutachten, welches sich für seine völlige Invalidität ausspricht, hebt hervor, dass er an Kurzathmigkeit leide. „Die Untersuchung der Brustweite ergab keine besondere Ab¬ weichung von der Norm, die Leberdärapfung beginnt in der Brust¬ warzenlinie etwas tiefer als im normalen Zustand und auch die Herz- dämpfung ist weniger ausgedehnt und weniger intensiv als im nor¬ malen Zustande. Das Athmungsgeräusch und die Herztöne sind normal; die Arterien fühlen sich etwas starr an. Es fiel das kurze, mühevolle, von einem Geräusch begleitete Athmen auf. Ueber die Entstehung der Athemnot sagte der Gutachter, dass die Einathmung von Ammoniakdämpfen die Veranlassung zu den Athembeschwerden gewesen sein kann. Er hält es aber nicht für unmöglich, dass die¬ selben bereits vor dem Betriebsunfall bestanden, oder dass sie sich nach dem Unfall, aber unabhängig von diesem entwickelt haben. Die anatomische Grundlage für die Athembeschwerden sind eine Digitized by Google 154 Aerztliohe Sachverständigen- Zeitnng. No. 8. \eichte Aufblähung der Lungen und gewisse Altersveränderungen des Herzens und der Gefässe (atheroraatöse Beschaffenheit). Die Ein- athmung von Ammoniakdämpfen kann sehr wohl ein Gelegenheits¬ moment für die vor- bezw. frühzeitige Entwickelung von Alters¬ veränderungen darstellen. Wenn der p. R. nur dieses Leiden gehabt hätte, würde er höchst wahrscheinlich noch viele Jahre das Amt eines Maschinenmeisters haben bekleiden können. Es liegt durchaus kein Grund vor, dass das die Athembeschwerden erzeugende Leiden sich erst in der Zeit nach dem Betriebsunfall unabhängig von diesem entwickelte. Bis zu dem Betriebsunfälle aber hat der p. R. seine Aufgaben und Pflichten ganz und voll erfüllt, wie aus den so sehr lobenden und die Leistungen und den Charakter des R. aner¬ kennenden Zeugnisse hervorgeht/ Nach dem späteren Gutachten des Herrn Dr. Hermes hatte er schon seit dem Jahre 1891 oft über Kopfschmerzen geklagt, so dass seine Frau ihm des Oefteren nasse Umschläge auf den Kopf legte. Im März 1893 erlitt der Verstorbene einen Schlaganfall. Eine Lähmung kam nicht zu Stande; nach etwa zwei Tagen war der Zustand wieder derselbe wie vorher. Von dieser Zeit an will Frau R. ausser einer Sprachverände- rung Aenderungen im Wesen und Charakter, leichte Vergess¬ lichkeit an ihm beobachtet haben. Das Gedächtniss wurde allmählich schwächer, merklich seit Ende 1897. Er wurde leicht aufbrausend und erregt. Im April 1899 konstatirte Dr. H. harte und starre Gefässwände der Handarterien, unregel¬ mässigen und ungleich hohen Pulsschlag, Schwellung der Beine und der linken Hand. Der Patient weinte oft unmoti- virt, wurde häufig sehr erregt und schimpfte auf seine Um¬ gebung. Die Verstandesthätigkeit war auf ein Minimum re- duzirt; er beschäftigte sich fast ausschliesslich mit seinem Stuhlgang. Die Gedächtnisschwäche war eine hochgradige. Dr. H. fand also starke Abnahme des Gedächtnisses und der Intelligenz, ethischen Defekt und starke Reizbarkeit. Nach Angabe der Frau R. schlief der Patient seit Anfang April schlecht, zog sich des Nachts an und ging umher. Er redete seit dieser Zeit irre. Die Polizei solle das Gaus umstellen, weil eine Räuberbande darinnen sei. man solle ihm ein Messer geben, damit er sich den Hals abschneiden könne. Das ganze Zimmer wäre voller Spiritisten. Am 20. Mai 1899 erfolgte seine Aufnahme in unsere Irrenanstalt. Der etwas fettleibige Mann hatte Herzschwäche, sehr unregel¬ mässigen, kleinen und beschleunigten Pul6, dyspnöische Athmung, Cyanose der Wangen und Lippen, starke Oedeme der Extremitäten, geschlängelte und verhärtete Gefässe. Es bestand Emphysem und Bronchitis. (Abgeschwächtes Athmen mit Rasseln und Pfeifen.) Links ist ein Inguinalbruch vorhanden. Der linke Oberschenkel weist einen Callus auf. Das linke Bein ist verkürzt, der Gang sehr schleppend. Die Nasolabialfalten sind different. Das rechte Auge ist erblindet, das linke schwachsichtig mit Cornealfleck. Urin ohne Albumen und Sacharum. Der Kranke war unfähig den Inhalt der gestellten Fragen aufzufassen und zeigte vorgeschrittene Demenz. Er war örtlich und zeitlich gar nicht orientirt, erschien äusserst vergesslich, weinte leicht und glaubte sich verfolgt. Nachts war er unruhig, sprach anhaltend verworren und war bettflüchtig. Er hatte Gesichts¬ täuschungen, sah z. B. Steine auf dem Fussboden und forderte den Pfleger auf, sie fortzuschaffen. Am 29. Mai 1899 erkrankte er an Diarrhoeen. Dieselben nahmen trotz strenger Diät, Schleimsuppen, Heidelbeerwein, Verordnung von Sol. Argent. nitric., Opium, Stärke- klystiren, Wisrauth, Tanninklystiren zu. Heftiger Tenesmus trat auf. Es war keine Blutbeimengung zu bemerken. Unter leichter Tempe¬ ratursteigerung verschlechterte sich das Allgemeinbefinden von Tag zu Tag. Am 7. Juni 1899 trat der Exitus letalis an Herzschwäche ein. Die Sektion des Darmes (die übrige wurde aus äusseren Grün¬ den leider nicht ausgeführt) ergab einen diphterischen Prozess namentlich im Dickdarra. Die ganze Schleimhaut war stark injizirt, trcoken, stellenweise grau belegt. Die Belege waren nicht ohne Substanzverlust abziehbar. Vielfach war die Darmschleimhaut defekt. Zahlreiche kleinere Blutungen fanden sich vor (Dysenterie). Die Witwe erhob nun einen Anspruch auf Witwenrente mit Bezug auf ein Gutachten von Dr. H. zu Charlottenburg vom 18. Oktober 1899, in welchem ein ursächlicher Zusammen¬ hang zwischen Tod und Unfall bescheinigt wird. Herr Dr. H. bejaht die Frage, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem erlittenen Unfall und dem frühen Greisenalter in körper¬ licher und geistiger Schwäche besteht. Er führte zur Begründung die Bemerkung des San.-Rath Dr. L. an, dass die Einathmung von Ammoniak dämpfen sehr wohl ein Ge¬ legenheitsmoment für die vor- bezw. frühzeitige Entwicklung von Altersveränderungen darstellen kann. Dr. H. fügt hinzu: Die mit dem Unfall erlittene Nervenerschütterung, sowie die fast vollständige Erblindung hätten die frühzeitige Alterung bedingt, wie sie sich zwei Jahre nach dem Unfall als Luftmangel und Geiässverkalkung doku¬ men tirte. Er weist auf die Kopfschmerzen nach dem Unfall hin. Die Nervenerschütterung pflege besonders in der Labilität der Gefäss- nerven in die Erscheinung zu treten und aus einer solchen, ver¬ bunden mit Blutfülle des Gehirns Hesse sich der Schlaganfall, welcher den Altersblödsinn im Gefolge hatte, erklären. Eine Blutung hielt er bei Mangel von Körper- und Gesichtslähmung nicht für vorliegend. Bei dem bis dahin völlig rüstigen Maschinenmeister habe sich nach dem Unfall Erwerbsunfähigkeit und als indirekte Folge desselben allmählich eine greisenhafte körperliche und geistige Schwäche ent¬ wickelt, im Verlauf derer und an welcher er zu Grande gegangen wäre. Das Gutachten schliesst: »Infolge der vorzeitigen Altersver¬ änderungen ist der p. R. zu Grunde gegangen, demnach hat der Un¬ fall verkürzend auf sein Leben gewirkt und der Famifie früher als sonst den Ernährer genommen*. Auf Aufforderung der betr. Berufsgenossenschaft erstattete nun Herr Dr. Sch. im November 1899 ein Gutachten, in welchem er zu dem Schluss kommt, dass der Tod in keinem ursäch¬ lichem Zusammenhang mit dem Unfall stehe, dass derselbe vielmehr infolge von Herzschwäche erfolgte, und dass die Herzschwäche als Folge einer seit Jahren mit grosser Wahr¬ scheinlichkeit schon vor dem Unfall bestehenden Verkalkung der Blutgefässe aufzufassen ist. Herr Dr. Sch. hatte sich per¬ sönlich mit dem Verf. in Verbindung gesetzt und Einsicht in die Anstaltsakten erhalten. Er begründet sein Gutachten kurz folgenderm assen: Das Physikatsattest spreche von Blödsinn nach Schlaganfall. Da die über den UnfaU ausgestellten Gutachten bis zum Anfang des Jahres 1893 nichts von Veränderungen des Herzens und der Lunge erwähnten, so müsse der p. R. also während dieses Zeitraums von diesen Organen ausgehende Beschwerden nicht gehabt haben. Dass er bereits 1893 an Verkalkung der Blutgefässe geUtten habe, gehe aus dem Gutachten des verstorbenen Kreisphysikus Dr. L. hervor. Es wird weiter betont, dass der Unfall im 55. Lebensjahre auftrat, zu einer Zeit, in der die Verkalkung der Blutgefässe für gewöhnfich ihren Anfang nehme. Diese Gefässerkrankung hätte die Athembe¬ sch werden bedingt, nicht aber die Einathmung von Ammoniak¬ dämpfen, welche nachtheiUg nur unmittelbar nach dem Unfall hätte wirken können. Der Schlaganfall beruhte in einer Blutung aus brüchigen Gcfässchen im Gehirn oder auf einer Verstopfung eines solchen Gefässchens mit einem Blutpfröpfchen. SchliessHch wird noch der reichliche Alkoholgenuss des p. R. als ein das frühzeitige Erscheinen der Arteriosclerose begünstigendes Moment angeführt. Nunmehr wurde Ende November 1899 von seiten der be¬ treffenden Berufsgenossenschaft die Anstaltsdirektion aufge¬ fordert sich ebenfalls gutachtlich hinsichtlich des unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhangs der Todesursache mit dem Unfall zu äussern. Das Attest lautete nach der Einleitung: „Es ist die Frage zu beantworten, ob und aus welchen Gründen der am 7. Juni 1899 erfolgte Tod des p. R. mit dessen am 6. Juli 1891 er^ folgten Betriebsunfall in ursächlichem Zusammenhang stehend zu erachten ist. Eventuell sollte näher erörtert werden, inwie¬ weit die ursächliche Mitwirkung des Unfalls an dem tot¬ bringenden Leiden als eine erhebliche zu bezeichnen ist; Digitized by Google 16. April 1900. Aerztliche Sachverständigen* Zeitung. 165 ferner ob als erwiesen zu erachten ist, dass, wenn der Unfall eine wesentlich mitwirkende Ursache für die tötlich verlaufene Krankheit gewesen, das Leben des R. durch den Unfall und dessen Folgen erheblich verkürzt worden ist, oder ob und welche Gründe dafür sprechen, dass es der Verletzte auch ohne den Unfall zu einem höheren Lebensalter nicht gebracht haben würde. Der p. R. wurde am 20. Mai 1899 in die diesseitige Irren¬ anstalt als Patient aufgenommen. Er litt an Altersblödsinn, welcher sich in Gedächtnissschwäche, Verwirrtheit und Auf¬ regungszuständen äusserte. Der Kranke bot einen unregel¬ mässigen, kleinen und beschleunigten Puls, geschlängelte Ge- fässe, bläuliche Wangen, geschwollene Füsse und starke Kurz- athmigkeit dar. Es bestand demnach Herzschwäche bei Ver¬ änderung im Gefässsystem und Lungenerweiterung. Der Patient war hinfällig und erlag am 7. Juni d. v. J. einem hin¬ zugetretenen Darmkatharrh, welcher sich bei der Sektion als Darmruhr herausstellte. Als Todesursache wurde Herzschwäche bei Diarrhoe und Altersblödsinn angesehen. Auch ohne die Darmruhr waren die Tage des p. R. bei der schon z. Z. seiner Aufnahme festgestellten Herzschwäche gezählt. Diese Herz¬ schwäche hängt mit der Gefässveränderung ursächlich zu¬ sammen. Es fragt sich also, ob diese Gefässveränderung, welche auch die Ursache des Altersblödsinns durch die da¬ durch hervorgerufene Ernährungsstörung des Gehirns bildet, als mit dem Unfall in Zusammenhang stehend zu er¬ achten ist. Es ist keineswegs durchaus wahrscheinlich, dass der p. R. schon vor dem Unfall an GefässVerkalkung gelitten hat, ob¬ wohl dieselbe in dem Alter, in dem er damals stand, öfter beobachtet wird; jedenfalls war er bis zu dem Unfall nach den Zeugnissen seiner Vorgesetzten durchaus leistungsfähig und es wurden auch keine Beschwerden bemerkt, welche auf Gefässveränderung hindeuteten. Dass R. als Brauer, wie es Brauer gewöhnlich thun, viel getrunken hat, wird als den Eintritt der Gefässveränderung beschleunigendes Moment an¬ geführt. Indessen ist der Einfluss des Alkohols auf den Zeit¬ punkt einer eventuellen Gefässerkrankung ein individuell ganz verschiedener. Aber selbst zugegeben, dass bereits vor dem Unfall Gefässveränderungen bestanden haben, ohne allerdings irgendwie erhebliche Krankheitserscheinungen gemacht zu haben, ist es nicht zu leugnen, dass der Unfall eine wesent¬ liche Verschlimmerung der Gefässerkrankung durch die plötz¬ lich hinzugetretenen starken mechanischen und chemischen Schädigungen mit grösster Wahrscheinlichkeit mit sich ge¬ bracht hat. Insbesondere ist die mit der Explosion des Kom¬ pressors verbunden gewesene mechanische Erschütterung eine grosse gewesen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Cylinderdeckel des Kompressors nebst der darin befindlichen Rohrleitung abgesprengt und gegen den linken Oberschenkel des p. R. geschleudert wurde. Die Erschütterung des Gehirns führt erfahrungsgemäss durch Schädigung der Gefässe zu kleinen Blutungen und Erweichungen, welche sich durchaus nicht immer in körperlichen Lähmungen zu äussern brauchen. Der p. R. lag bewusstlos inmitten der ausgeströmten Gase, welche das ganze Zimmer erfüllten, am Boden. Dass die Einathmung dieser Ammoniakgase, welche seine Augen der¬ artig verätzten, dass das rechte erblindete und das linke schwachsichtig wurde, bei der dichten Berührung mit den Lungengefässen auf die Körpergefässe und auch auf die Ge- hirngefässe einen chemisoh schädigenden Einfluss ausgeübt haben kann, ist mehr als wahrscheinlich. R. wurde nach dem Unfall völlig invalide. Die Schädigung des Gehirns nach dem Unfall äusserte sich auch in häufigen Kopfschmerzen und Er¬ müdungserscheinungen. Die gesteigerte Neigung der Gebirn- gefässe zur Erkrankung führte 1893 in einem noch verhält- nissmässig frühen Alter zum Schlaganfall, der wieder die all¬ mähliche Verblödung im Gefolge hatte. Was die Lungen¬ erkrankung angeht, so stehen wir auf dem Standpunkt, dass die Athembeschwerden wahrscheinlich in Folge des Unfalles durch die Einathmung der Ammoniakdämpfe und deren schädi¬ gende Wirkung auf das Gefässsystem verschlimmert sind, wenn sie bereits vor dem Unfall bestanden haben sollten; denn dass das Einathmen von Ammoniakdämpfen für die Lunge nicht gleichgiltig sein kann, ist wohl ohne Weiteres klar; die Verätzung des Mundinneren beweist das Eindringen des Ammoniaks in die Mundhöhle. Wir glauben sogar, dass die schädliche Einwirkung der Ammoniakdämpfe bei bereits erkrankten Luftwegen eine um so grössere gewesen sein wird. Wenn nun der chemisch schädigende Einfluss dieser Dämpfe die Gefässe in Mitleidenschaft zieht und die Verkalkung der Blutgefässe die Athembeschwerden bedingen, so ist auch nicht nothwendig, dass die nachteilige Wirkung in den Lungen unmittelbar nach dem Unfall in die Erscheinung tritt, können doch „Jahre vergehen, bis die ersten Störungen (von Seiten der Gefässverkalkung) sich in den Körperfunktionen bemerk¬ bar machen; allmählich findet dann ein kompensatorisches Hinausrücken der Lungen nach auswärts statt. “ Eine Sektion ist abgesehen von Eröffnung des Darmes nicht vorgenommen worden, aber zur Beurtheilung der vorliegenden Frage nicht von zu grossem Belang, stimmen doch alle Begutachter darin überein, dass Herzschwäche vorlag, und dass Veränderungen des Gefässsystems der Krankheit zu Grunde lagen. Nach alledem ist man nicht berechtigt, bei dem vor dem Un¬ fall gesunden, nach demselben völlig invalide gewordenen p. R. einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Tode und dem Unfall auszuschliessen, vielmehr sprechen die angeführten Gründe dafür, dass der Unfall durch mechanisch erschütternde und chemisch schädigende Wirkung zu der Entwickelung der krankhaften Gefässveränderung wesentlich beigetragen hat, die wieder zu Altersblödsinn, Herzschwäche und Tod geführt hat. Dass er zufällig schliesslich an Darmruhr erlag, spielt keine Rolle, da er auch ohne diese sehr bald an Herzschwäche gestorben wäre. Es liegt kein Grund vor, anzunehmen, dass R. es ohne den Unfall zu einem höheren Lebensalter nicht gebracht hätte, da selbst, wenn ein leichter Grad von Lungen¬ blähung vor dem Unfall vorausgesetzt wird, sein Leben lange hätte währen können. Dahingegen hat die durch den Unfall bedingte Invalidität mit ihren Folgen die gesammte Wider¬ standsfähigkeit des Organismus stark herabgesetzt, vorzeitiges Alter hervorgerufen und den Eintritt seines Ablebens sehr wahrscheinlich beschleunigt.“ Unabhängig von dem Trauma betrachtet könnten die psychischen Erscheinungen in unserem Falle wohl als Blöd¬ sinn nach Schlaganfall aufgefasst werden. Hält man sich in¬ dessen den gesammten Verlauf der Erkrankung vor Augen so bietet schon die Art der psychischen Erkrankung verschie¬ dene Züge, welche sich mit einem traumatischen Charakter gut vereinen lassen. (Kopfschmerzen, Kongestionen nach dem Kopf, späterer apoplektischer Anfall, Veränderung des Cha¬ rakters und Wesens, die Reizbarkeit, das Auftreten ethischer Defekte und die Abnahme der geistigen Fähigkeiten in Form fortschreitender Verblödung und zugleich mit zeitweiligen An¬ fällen zornmüthiger Erregtheit. 1 ) Es kann als ziemlich sicher angesehen werden, dass schwere psychische Depressionen, andauernde Gemüthsbewe- gung der Entwickelung der Arteriosclerose Vorschub zu leisten ^ Schlockow, Der preussische Physikus. Berlin 1895 S. 263. Digitized by Google 156 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 8. vermögen. 2 ) Huchard 8 ) macht auf die durch Gemüthsbeweg- ungen hervorgerufenen lebhaften vasomotorischen Erregungen aufmerksam, wodurch Drucksteigerungen im arteriellen System bewirkt werden. In dieser Beziehung weise ich, abgesehen von dem Shok, der durch das Trauma gesetzt wurde, auf die andauernden Gemüthserregungen hin, welche naturgemäss durch die gänzlich veränderte Lebenslage geschaffen wurden, durch das Bewusstsein des Siechthums und die lang andauern¬ den Sorgen und Kämpfe um die Erwerbung und Erhaltung der Höhe der Rente. Mechanische schädigende Momente und chemische Reize, wie sie hier vorliegen, kommen bekanntlich für die Entwickelung der Arteriosclerose hauptsächlich in Betracht. Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass bei Einspritzung von Ammoniak an Thieren eine erhebliche Steigerung des Blutdrucks beobachtet worden ist 4 ), was ja auch im Hinblick auf die Entstehung der Arteriosclerose nicht ohne Bedeutung wäre. Die Ammoniakeinathmung bewirkt in tödlichen Fällen schwere Erscheinungen in den Luftwegen und Lungen, Schwel¬ lung und Entzündung der Schleimhäute bis in die feinsten Verzweigungen hinab. Wenn eingewandt wird, dass in unserem Falle nach dem Unfall eine Erkrankung der Luftwege nicht beobachtet wurde, so mag dies wohl darin seinen Grund haben, dass dieselbe hinter den komplizirten Bruch und die Ver¬ letzung der Augen zurücktrat. ' In unserm Falle hat sich zweifellos eine organische Ver¬ änderung der Herzmuskulatur und eine allgemeine Arterio¬ sclerose allmählich nach einem erheblichen Trauma entwickelt. Für die organische Natur der Herzveränderung sind die Be¬ schaffenheit des Pulses und die schweren Cirkulationsstörungen charakteristisch. Der vorliegende Fall, in dem man zur An¬ nahme der Entwickelung einer organischen Erkrankung des GefäsBsystems nach einem Trauma gedrängt wird, steht nicht vereinzelt da. Stern äussert in seinem Buch über trauma¬ tische Entstehung innerer Krankheiten: 5 ) Gerade infolge von Unfällen sieht man nicht selten, wie bereits Oppenheim 6 ) her¬ vorgehoben hat, und ich auf Grund eigener Erfahrung bestä¬ tigen kann, eine abnorm frühzeitige und abnorm rasche Ent¬ wickelung von Arteriosclerose.“ Becker 7 ) beschreibt einen Fall von Stoss gegen das Herz mit anschliessendem Herzfehler, wobei der Patient als zur Hälfte erwerbsfähig 8 ) erklärt wurde. Stern führt mehrere Fälle von chronischer Herzmuskelerkran¬ kung an, die sich höchstwahrscheinlich infolge einer Brust- kontusion entwickelt hatten, und weist ausdrücklich darauf hin, dass in einzelnen Fällen, in denen ursprünglich lediglich eine nervöse Herzaffektion angenommen wurde, später sich die Zeichen einer organischen Herzkrankheit herausbildeten. Drey- fuss, 9 ) Bernstein 10 ) u. a. haben inzwischen die Literatur über organische Herzkrankheiten nach Unfällen noch weiter ver¬ mehrt. Oppenheim 11 ) konnte in einer Reihe von Fällen durch *) Eulenburg, Realencyclopedie, Bd. II, S. 274. 1894. A. Fränkel *) Huchard, Maladies du coeur. Paris 1893 8. 130 ff. 4 ) Eulenburg, Realencyclopädie. Bd. I. S. 495. Gepport. 5 ) Stern, Ueber die Entstehung innerer Krankheiten. Jena 1896. ®) Oppenheim, Die traumatischen Neurosen. 2. Aufl. Berlin 1892. 7 ) Becker, Lehrbuch der ärztlichen Sachverständigenthätigkeit. Berlin 1895. S. 186. ®) L. c. S. 21 u. 57. 9 ) J. Dreyfuss, Ruptures valvulaires cons^cutives au trauma- tisme et ä l’effort. Thöse. Paris 1896. lü ) Bernstein, Ueber die durch Kontusionen und Erschütterun¬ gen entstehenden Krankheiten des Herzens. Zeitschr. f. klin. Medi¬ zin. Bd. 29, Heft 5 u. 6. il ) L. c. lange fortgesetzte Beobachtung die Entstehung von Arterio¬ sclerose und organischer Herzveränderung verfolgen. Einen seiner Fälle hebe ich hervor, in dem ebenfalls eine Apoplexie später hinzukam. Ein 43jähriger Lokomotivführer, welcher 1882 einen Eisenbahnunfall erlitten hatte und infolge davon in einen Zustand hoher Aufregung gerathen war, zeigte kon¬ stant beschleunigte Pulsfrequenz. Eine Hypertrophie und Di¬ latation beider Ventrikel, sowie ein an den peripheren Arte¬ rien nachweisbarer, mässiger Grad von Arteriosclerose bildete sich allmählich aus. Das Leiden verschlimmerte sich unter dem Einfluss langwieriger Prozessverhandlungen zusehends. Unter zunehmender Erweiterung und Debilität des Herzens trat 1892 der Tod ein, nachdem sich alle Störungen gesteigert hatten und etwa dreiviertel Jahre vor dem Tode eine Hemi¬ plegie hinzugekommen war. Oppenheim und Stern weisen bereits darauf hin, dass die fortwährende psychische Erregung, in der sich diese Kranken befanden, höchstwahrscheinlich auch die Entwickelung der später beobachteten Arteriosclerose be¬ günstigt bezw. beschleunigt haben. Das Zustandekommen von Arteriosklerose der Gehirn¬ arterien nach Verletzungen insbesondere erklären sich Freund und Sachs 12 ) durch die bekannten vasomotorischen Störungen, welche nach Verletzungen aufzutreten pflegen. Durch die wechselnde Innervation der Wandung der Gehirnarterien, d. h. durch die Erschlaffung derselben und den dadurch be¬ dingten verstärkten Blutzufluss zum Gehirn (Kongestionen) wie durch die pathologische Zusammenziehung der Gehirn¬ arterien kommen die Kopfschmerzen und Schwindelerscheinun¬ gen zustande. Oft sich wiederholende Fluxionen führen aber durch häufige starke Inanspruchnahme der Gefässe zur Ab¬ nahme ihrer Widerstandsfähigkeit, welche wiederum die Ver¬ härtung und Verkalkung der Arterienwände mit sich bringt. »Die Arteriensklerose wiederum begünstigt das Auftreten der Kongestionen, so dass auf diese Weise ein Circulus vitiosus geschaffen wird.“ Das durch Alkohol geschwächte Gehirn rea- girt nun gerade auf Verletzungen in intensiverer Weise und gerade durch Hyperämien, so dass dadurch der Circulus vi¬ tiosus und damit also das Zustandekommen der Arterioskle¬ rose noch gefördert wird. Die Entstehung eines späteren Schlaganfalles nach Traumen würde sich nach dem Aus¬ geführten ohne Schwierigkeit vermittelst der durch dieselben hervorgerufenen oder geförderten Arteriosklerose der Gehirn- gefässe erklären lassen. Es kann aber auf noch direkterem Wege ein Trauma den Grund für einen Schlaganfall legen. Die Annahme, dass bei einem schweren Fall kleine Zer- reissungen der Gehirnsubstanz und der Wände von Gehirn¬ arterien stattfinden, ist eine verbreitete. Sei es, dass diese Zerrei8sungen der Gefässwände miliare Aneurysmen erzeugen, 1 ) welche später die Veranlassung zu Blutungen werden, sei es, dass die umschriebenen Erweichungsherdchen an und für sich das Zustandekommen späterer Blutungen durch Verminderung der Widerstandsfähigkeit an der erweichten Stelle fördern; 2 ) jedenfalls ist eine krankhafte Veränderung und verminderte Widerstandsfähigkeit von Gehirngefässen als Folge von trau¬ matischen Einwirkungen anzusehen. Der Zeitraum zwischen dem Trauma und dem Eintritt der Spätapoplexie kann ein sehr verschiedener sein. (Bollinger 8 ), Böhm 4 ), Stein 5 ), Schlos- ,a ) Sachs und Freund: Die Erkrankungen des Nervensystems nach Unfällen. Berlin 1899. S. 248 u. 389. *) Monakow, Gehirnpathologie, S. 719, und die Unfallversiche¬ rungspraxis No. 1. 1899. S. 8. *) Michel, Ein Beitrag zur Frage von der sogenannten trau¬ matischen Spätapoplexie, Wiener klin. Wochenschr. 1896. S. 789. *) Bollinger, Ueber traumatische Spätapoplexie, intemation. Beiträge zur wissenschaftlichen Medizin. 1891. Bd. II, S. 459. Digitized by Google 15. April 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 157 ser 4 * 6 ), Michel 2 ) u. A.) In einem Fall von Wernicke 7 ) kam die Hirnblutung #/ 4 Jahr nach dem Trauma zu Stande. Obwohl in unserem Fall mehr als IV 2 Jahr nach dem Unfall verflossen sind, ist es wahrscheinlich, dass derselbe auch hier den Boden für den späteren Schlaganfall geebnet hat, entweder in Folge von traumatischen Aneurysmen, oder indem es im Anschluss an das Trauma zu Erweichungsherden und in diesen durch Gefässalteration und veränderte Druckverhältnisse zur Blutung gekommen sein kann (Bollinger, Michel). Wenn also auch ohne das Bestehen von Oefässverkalkung das spätere Auftreten der Apo¬ plexie durch den Unfall allein sehr wohl möglich erscheint, so kann eine solche noch leichter zu Stande kommen, wenn eine atheromatöse Entartung der Gehirngefässe als prädispo- nirendes Moment schon vor dem Unfall bestanden hat. „Bei derartiger Beschaffenheit des Gehirnsystems", schreibt Michel, „dürfte schon eine verhältnissmässig geringe traumatische Ein¬ wirkung genügen, um traumatische Erweiohungsherde zu setzen, aus denen dann bei einem geringen Anlass Spätapoplexien sich um so leichter entwickeln können." Ob die Arteriosclerose in unserem Falle vor dem Unfall bereits bestanden hat oder nicht, kann ich nicht entscheiden, sie kann ja lange Zeit, ohne Erscheinungen zu machen, be¬ stehen, und andererseits kann auch mit Recht der reichliche Biergenuss und die angestrengte Muskelarbeit des Maschinen¬ meisters als prädisponirendes Moment zur Entstehung der Arteriosclerose angesehen werden. Die angeführten Gründe sprechen jedenfalls dafür, dass — selbst bei Voraussetzung der Arteriosclerose — durch den schweren Unfall wahrschein¬ lich eine Verschlimmerung derGefässerkrankung bewirkt wurde. Wie ich erfahre, wurden die Ausprüche der Wittwe von Seiten der Berufsgenossenschaft anerkannt und es ist ihr eine Rente zugebilligt worden. Ueber das Recht der Schuldverhältnisse zwischen Aerzten nach dem Bürgerlichen Gesetzbuche. Von Dr. Karl Gumpertz- Berlin, Nerven&rat. (Schluss.) § 627. Hat der zur Dienstleistung Verpflichtete, ohne in einem dauernden Dienstverhältnisse mit festen Bezügen zu stehen, Dienste höherer Art zu leisten, die auf Grund besonderen Vertrauens über¬ tragen zu werden pflegen, so ist die Kündigung auch ohne die im § 626 bezeichnete Voraussetzung zulässig. Der Verpflichtete darf nur in der Art kündigen, dass sich der Dienstberechtigte die Dienste anderweitig beschaffen kann, es sei denn, dass ein wichtiger Grund für die unzeitige Kündigung vorliegt. Kündigt er ohne solchen Grund zur Unzeit, so hat er dem Dienst- berechtigten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Beispiel: Arzt A. ist erkrankt und lässt sich durch B. ver¬ treten, welcher nach Leistung bezahlt wird. Arzt A. verliert das Vertrauen zu B. (A. braucht keine Gründe zu nennen.) A. kann plötzlich das Verhältniss lösen. — Tritt B. plötz¬ lich vom Vertrage zurück, so wird A. der sofortige Ersatz oft unmöglich sein; B. ist also verpflichtet, zu bleiben oder haftet für den Schaden im Sinne des Erfüllungsinteresses. Unklar ist nur, wie lange vorher B. überhaupt kündigen darf; nach § 623 scheint es, als ob ihm höchstens eine zwei¬ wöchige Kündigungsfrist zugemuthet werden könne. 4 ) Böhm, Inaugural-Dissert. München 1889. *) Stein, Zeitschrift für Nervenheilkunde. Bd. VII. 6 ) Schlosser, Ein Fall von traumatischer Apoplexie ohne nach¬ weisbare Schädel Verletzung. Wiener klin. Wochenschr. 1898. 8. 387. *) Wernicke, Zeitschrift für Nervenheilkunde. Bd. VII. § 628. Wird nach dem Beginne der Dienstleistung das Dienst- verhältniss auf Grund des § 626 oder 627 gekündigt, so kann der Verpflichtete einen seinen bisherigen Leistungen entsprechenden Theil der Vergütung verlangen. Kündigt er, ohne durch vertragswidriges Verhalten des anderen Teiles dazu veranlasst zu sein oder veranlasst er durch sein vertragswidriges Verhalten die Kündigung des anderen Theiles, so steht ihm ein Anspruch auf die Vergütung insoweit nicht zu, als seine bisherigen Leistungen in Folge der Kündigung für den anderen TheU kein Interesse haben. Wird die Kündigung durch vertragswidriges Verhalten des an¬ deren Theiles veranlasst, so ist dieser zum Ersätze des durch die Aufhebung des Dienstverhältnisses entstehenden Schadens verpflichtet. Der Paragraph will wohl sagen, dass diejenige Partei, welche grundlos kündigt oder durch ihr vertragswidriges Ver¬ halten die Kündigung des anderen Theiles veranlasst, dem anderen Theile Schadensersatz zu leisten hat. Auf den durch geleistete Arbeit verdienten Lohn hat der Rücktritt keinen Einfluss. Nur braucht dem Dienstpflichtigen Stückwerk nicht bezahlt zu werden. Ist B. Assistent von A. und kündigt plötzlich am 10. des Monats, so muss A. sich einen neuen Assistenten suchen, dem er den vollen Monat zu bezahlen hat; kann A. dies nachweisen, so verliert B. den An¬ spruch auf die zehn Tage Assistentengehalt. Handelt B. vertragswidrig (bleibt z. B. aus dem Dienste weg) und giebt dadurch A. Anlass zu fristloser Kündigung, so verliert er gleichfalls den Anspruch auf Gehalt für die Zeit in welcher A. nachweislich eine Ersatzkraft engagiren musste Auch hier kann B. für die durch Gewinnung einer Ersatzkraft erforderten Mehrkosten haftbar gemacht werden (bei nicht fixirtem Gehalt schon nach § 627). Das hier erforderte ver¬ tragswidrige Verhalten muss ein subjektives sein (Planok, Oertmann); eine justa causa aus § 626 (z. B. Verheirathung, Aenderung der Verhältnisse, Krankheit etc.) genügt zu solchen Ansprüchen nicht. Auch ein ohne Absicht den Interessen des Dienstberechtigten widersprechendes Verhalten des Dienst¬ verpflichteten ist nicht als vertragswidrig aufzufassen. Ausser- dienstliches Verhalten beider Theile dürfte wohl nur in den allerseltensten Fällen als vertragswidrig anzusehen sein, hoch.-* stens dann, wenn eine objektive Verschuldung vorliegt (etwa Bruch des Amtsgeheimnisses) oder wenn grobe Achtungsver¬ letzung aus authentischen Reden oder Handlungen der einen Partei hervorgeht. Die blosse Meinung einer Partei, dass die andere gegen ihr Interesse handle, ist kein Rüoktrittsgrund. Der Dienstberechtigte ist kontraktbrüchig, wenn er den ausbedungenen Lohn nicht entrichtet oder Versprechungen, die er darüber hinaus — in verbindlicher Weise — gegeben, nicht einhält. Er handelt aber auch vertragswidrig, wenn er den Assi¬ stenten nicht in der vereinbarten Weise beschäftigt oder ihm den wissenschaftlichen Erfolg seiner Thätigkeit vereitelt. Der wissenschaftliche Erfolg ist eben häufig eine Komponente des ausbedungenen Entgeltes für die Dienstleistung, z. B. würde Prof. X., der dem Assistenten Y. nie erlaubt, unter eigenem Namen die Resultate seiner Thätigkeit zu veröffentlichen, diesem Ursache zur Entschädigungsklage geben; allerdings muss Y. den Nachweis führen, dass die Verweigerung der Publikationserlaubniss sachlich nicht begründet war. Kündigt der Chefarzt A. ohne Grund oder veranlasst er in der erklärten Weise den Rücktritt des Assistenten B., so haftet A. dem B. auf Schadensersatz im Sinne des vollen Er¬ füllungsinteresses, d. h. A. muss dem B. das ausbedungene Gehalt für die rückständige Zeit weiterzahlen bis zu dem Ter¬ mine, an welchem das Verhältniss durch korrekte Kündigung hätte aufgelöst werden können. Beispiel. A. und sein Assistent B. verkehren gesellschaft¬ lich miteinander. Am 28. März kritisirt B. das Verhalten des Digitized by Google 158 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 8. A. in einer ausserdienstlichen Angelegenheit. A. geräth in Erregung und sagt: „Herr Kollege, wir wollen lieber unsere Beziehungen lösen.“ Zweifelsohne bot das Verhalten des B. dem A. keinen aus¬ reichenden Kündigungsgrund. Das B. G. B. vertritt nicht den Standpunkt, dass ein für gewisse Dienstleistungen Bezahlter den Zahlenden als Brodherrn oder Lehrer zu ehren habe. Von einem Assistenzarzt wird zu verlangen sein, dass er sich in der Ausführung der zum Dienste gehörenden Handlungen dem Chefarzte unterordnet, selbst wenn er an wissenschaft¬ licher Qualifikation demselben gleichsteht, ob aber B. dem A. in Radfahren oder Skatspielen überlegen ist, hat mit dem Dienstverhältnisse nichts zu thun. Nach § 622 durfte A. — wenn er wegen der Meinungs¬ verschiedenheit das Verhältniss lösen wollte — nur zum 1. Juli kündigen und hat das Gehalt bis dahin weiterzuzahlen. An¬ ders ist es, wenn A. zwar das Verhältniss mit B. plötzlich löst, diesem aber sofort eine gesellschaftlich und pekuniär mindestens gleichwertige Stellung verschafft. § 324 Abs. 1. Wird die aus einem gegenseitigen Vertrage dem einen Theil obliegende Leistung in Folge eines Umstandes, den der andere Theil zu vertreten hat, unmöglich, so behält er den Anspruch auf die Gegenleistung. Er muss sich jedoch dasjenige anrechnen lassen, was er in Folge der Befreiung von der Leistung erspart oder durch anderweitige Verwendung seiner Arbeitskraft erwirbt oder zu erwerben böswillig unterlässt. A. darf demnach von dem Gehalte für die drei Monate das abziehen, was B. an Fahrgeldern oder sonstigem Aufwande hätte ausgeben müssen. Hat B. lediglich der Assistenz wegen sich ein Zimmer miethen oder Telephon anschaffen müssen, so sind ihm diese Unkosten so weit zu vergüten, als er sie — in Folge entsprechender Kontrakte — nach Beendigung der Assi8tententhätigkeit weiter zu tragen hat. Wenn B. in der Tageszeit, die sonst der Assistenz be¬ stimmt war, zufällig etwas erwirbt (durch ärztliche Besuche oder schriftstellerische Thätigkeit), so kann A. diesen Erwerb vom Gehalte nicht abziehen, er müsste denn den Nachweis führen, dass dem B. ohne Befreiung von jener Leistung dieser Erwerb überhaupt entgangen wäre. § 629. Nach der Kündigung eines dauernden Dienstverhältnisses hat der Dienstberechtigte dem Verpflichteten auf Verlangen an¬ gemessene Zeit zum Auf suchen eines anderen Dienstverhältnisses zu gewähren. Hieraus dürfte sich der Anspruch der Assistenzärzte auf Reiseerlaubniss zwecks Erlangung einer neuen Stellung be¬ gründen. Wer gekündigt hat, ist gleichgiltig (Oertmann S. 348). § 630. Bei der Beendigung eines dauernden Dienstverhältnisses kann der Verpflichtete von dem anderen Theile ein schriftliches Zeug- niss über das Dienstverhältniss und dessen Dauer fordern. Das Zeugniss ist auf Verlangen auf die Leistungen und die Führung im Dienste zu erstrecken. Ohne Verlangen des Pflichtigen darf der Berechtigte sich in dem Zeugnisse nicht über das in Satz 2 Angegebene aus- lassen ! II. Einzelne ärztliche Verrichtungen können anstatt unter den Dienstvertrag (locatio conductio operarum) auch unter den Werkvertrag (locatio conductio operis) fallen. So wird bei dem ärztlichen Gutachten das Arbeitsprodukt, nicht die darauf verwendete Arbeit vergütet. § 631. Durch den Werkvertrag wird der Unternehmer zur Herstellung des versprochenen Werkes, der Besteller zur Entrichtung der vereinbarten Vergütung verpflichtet. Gegenstand des Werkver¬ trages kann sowohl die Herstellung oder Veränderung einer Sache als ein anderer durch Arbeit oder Dienstleistung herbeizuführender Erfolg sein. § 632 sagt, dass eine Vergütung im Zweifel als still¬ schweigend vereinbart gelte. Wird eine ärztliche Leistung als unter den Werkvertrag fallend angesehen, so kann der „Besteller“, falls sie Mängel aufwei8t, deren Korrektur verlangen. § 633. Der Unternehmer ist verpflichtet, das Werk so herzu¬ stellen, dass es die zugesicherten Eigenschaften hat und nicht mit Fehlern behaftet ist, die den Werth oder die Tauglichkeit zu den gewöhnlichen oder dem nach dem Vertrage vorausgesetzten Gebrauch aufheben oder mindern. Ist das Werk nicht von dieser Beschaffenheit, so kann der Be¬ steller die Beseitigung des Mangels verlangen. Der Unternehmer ist berechtigt, die Beseitigung zu verweigern, wenn sie einen unverhält- nissmässigen Aufwand erfordert. Ist der Unternehmer mit der Beseitigung des Mangels im Ver¬ züge, so kann der Besteller den Mangel selbst beseitigen und Er¬ satz der erforderlichen Aufwendungen verlangen. Uebergiebt also Arzt A. seinem Vertreter B. ein Gutachten zur Herstellung, so muss B. etwaige Mängel desselben auf Auf¬ forderung des A. beseitigen. Lässt A. durch B. eine Opera¬ tion ausführen — für dereo Ausführung B. eine feste Ver¬ gütung zugesichert ist — so hat B. etwa erforderliche Nach¬ operationen ohne besonderes Entgelt zu übernehmen. Besorgt er diese nicht rechtzeitig, so kann sie A. selbst besorgen oder durch einen Dritten besorgen lassen und dem B. den Betrag für die ihm hierdurch erwachsenden Unkosten von der vereinbarten Vergütung abziehen. UI. Bittet Arzt A. den Kollegen B., einen Besuch für ihn zu machen, so handelt B. als Beauftragter (Mandatar) von A., vorausgesetzt, dass die Leistung des B. nicht als entgelt¬ liche gedacht wird: § 662. Durch die Annahme einos Auftrages verpflichtet sich der Beauftragte ein ihm von dem Auftraggeber übertragenes Geschäft für diesen unentgeltlich zu besorgen. Die nachträgliche Gewährung eines Honorars ist mit der Eigenart des Auftrages vereinbar, nur die Uebernahme der Verpflichtung darf nicht entgeltlich erfolgen 8 ) Wird ein Ho¬ norar sonach freiwillig gewährt, so ist dasselbe nicht als Schenkung aufzufassen, höchstens als solche im Sinne des § 534: „Schenkungen, durch die einer sittlichen Pflicht oder einer auf den Anstand zu nehmenden Rücksicht entsprochen wird, unterliegen nicht der Rückforderung und dem Widerrufe.“ § 663. Wer zur Besorgung gewisser Geschäfte öffentlich be¬ stell fc ist oder sich öffentlich erboten hat, ist, wenn er oinon auf solche Geschäfte gerichteten Auftrag nicht annimmt, verpflichtet, die Ablehnung dem Auftraggeber unverzüglich anzuzeigen. Das Gleiche gilt, wenn sich Jemand dem Auftraggeber gegenüber zur Besorgung gewisser Geschäfte erboten hat. Dieser Paragraph trifft im Verkehr mit dem Publikum den Arzt, welcher eine öffentliche Sprechstunde angezeigt hat und einen Klienten nicht annehmen will. Er hat es diesem von vornherein mitzutheilen. Ueberweist mir ein Kollege einen Patienten zur poliklinischen Behendlung, während ich ihn hier¬ zu nicht für geeignet halte, so muss ich dem Kollegen ent¬ sprechende Mittheilung machen. Die öffentliche Bestellung kann auch eine entgeltliche, das einzelne Geschäft muss ein unentgeltliches sein. Lehnt also der fixirte Armen- oder Kassenarzt die Behandlung eines Kranken ab, so hat er dies der anstellenden Behörde mitzu¬ theilen; ebenso der fixirte Assistenzarzt oder Vertreter seinem Chefärzte oder Auftraggeber. (Vergl. auch § 675). Satz 2 dürfte die Geschäfte des Volontärarztes treffen. 8 ) Oertmann, 1. c. S. 393. Digitized by Google 16. April 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 169 § 664. Der Beauftragte darf im Zweifel die Ausführung des Auftrages nicht einem Dritten übertragen. Ist die Uebertragung ge¬ stattet, so hat er nur ein ihm bei der Uebertragung zur Last fallen¬ des Verschulden zu vertreten. Für das Verschulden eines Gehilfen ist er nach § 278 verant¬ wortlich. Der Anspruch auf Ausführung des Auftrages ist im Zweifel nicht übertragbar. Ist also Arzt B. von Arzt A. beauftragt, für A. eine ärzt¬ liche Verrichtung zu leisten, so darf er ohne Genehmigung von A. den Auftrag nicht an C. weitergeben. Ist die Weiter¬ gabe ihm gestattet, so steht er für die Leistung C.’s nur in Bezug auf dessen Auswahl ein (er vertritt die culpa in eli- gendo), haftet also für die Leistung, wenn C. nicht approbirt oder zu dem Aufträge ersichtlich ungeeignet war. Dagegen trägt B., wenn er sich zu der Leistung eines Assistenten bedient, die ganze Verantwortung. Der angezogene § 278 lautet: Der Schuldner hat ein Verschulden seines gesetzlichen Ver¬ treters und der Personen, deren er sich zur Erfüllung seiner Ver¬ bindlichkeit bedient, in gleichem Masse zu vertreten wie sein eigenes Verschulden. § 665. Der Beauftragte ist berechtigt, von den Weisungen des Auftraggebers abzuweichen, wenn er den Umständen nach annehmen darf, dass der Auftraggeber bei Kenntniss der Sachlage die Ab¬ weichung billigen würde. Der Beauftragte hat vor der Abweichung dem Auftraggeber Anzeige zu machen und dessen Entschliessung ab¬ zuwarten, wenn nicht mit dem Aufschübe Gefahr verbunden ist. Dieser Paragraph scheint gerade auf die Verhältnisse der Praxis zugeschnitten zu sein. Gesetzt den Fall, A. lässt sich von B. bei der Behandlung eines Falles von Perityphlitis vertreten, mit der Weisung, nicht zu operiren; es treten aber Symptome ein, welche nach B.’s Ansicht zur Operation auffordern, so hat B. dies A. zu berichten und dessen Entschliessung abzu¬ warten. Ist A. indessen nicht zu erreichen, so darf B. auch ohne seine Erlaubniss operiren. Anders liegt die Sache, wenn dem Vertreter völlig freie Hand gelassen ist. A. leitet z. B. eine Anstalt für heilbare Geisteskranke und lässt sich auf fünf Woohen von B. ver¬ treten, welcher für diese Zeit gänzlich in die Rechte und Pflichten des dirigirenden Arztes eintritt. B. wird nun einen nach seiner Ansicht unheilbar geisteskranken Patienten einer Irrenpflegeanstalt übergeben müssen, unbekümmert darum, ob A. bei demselben Kranken ebenso verfahren wäre. Dem vertretenden Arzte wird natürlich oft sogar die Pflicht erwachsen, vom Mandat abzugehen, da er ja selbst die Verantwortung für sein ärztliches Handeln zu tragen hat. Ob die Vertretung gegen Entgelt oder ohne solches er¬ folgt, ist gleichgiltig, s. u. Bemerkung zu § 675. § 670. Macht der Beauftragte zum Zwecke der Ausführung des Auftrages Aufwendungen, die er den Umständen nach für erforder¬ lich halten darf, so ist der Auftraggeber zum Ersätze verpflichtet. Es handelt sich also nicht blos um Aufwendungen, die objektiv nöthig waren. Der Vertreter konnte sehr wohl die Anschaffung eines Instrumentes, die Besorgung eines Gehilfen für nöthig halten, ohne dass es schliesslich zu der entsprechen¬ den Operation kam. § 671. Der Auftrag kann von dem Auftraggeber jederzeit wider¬ rufen, von dem Beauftragten jederzeit gekündigt werden. Der Beauftragte darf nur in der Art kündigen, dass der Auf¬ traggeber für die Besorgung des Geschäfts anderweit Fürsorge treffen kann, es sei denn, dass ein wichtiger Grund für die unzeitige Kün¬ digung voriiegt. Kündigt er ohne einen solchen Grund zur Unzeit, so hat er dem Auftraggeber den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Liegt ein wichtiger Grund vor, so ist der Beauftragte zur Kün¬ digung auch dann berechtigt, wenn er auf das Kündigungsrecht ver¬ zichtet hat. Nach Absatz 1 wäre also die Zulassung eines Volontär¬ arztes jederzeit widerruflich. Absatz 2 entspricht dem Prinzipe der §§ 626 und 627 (s. 0.). § 678. Auf einen Dienstvertrag oder Werkvertrag Anden die Vorschriften der §§ 663, 665 bis 70 . . . entsprechende Anwendung. Wird durch diese Bestimmung einmal die Unentgeltlich¬ keit der Mandate eingeschränkt, so geht ferner hieraus her¬ vor, was der Gesetzgeber bei Dienst- oder Werkverträgen als vertragswidrig im Sinne des § 628 ansieht: die Nichterfüllung der Aufträge des Dienstberechtigten bezw. Bestellers. Als ver¬ tragswidriges Verhalten des letzteren dürfte also wohl eine mit dem Inhalt des Vertrages nicht im Einklang stehende Auftragserteilung anzusehen sein. IV. Die Eigenart der ärztlichen Geschäfte bringt es mit sich, dass gelegentlich ein Arzt den andern vertritt, ohne von diesem dazu beauftragt zu sein. B. wird zu einem Kranken gerufen, dessen Behandlung der zufällig abwesende A. begonnen hat. A. wird während einer Entbindung ohnmächtig und kann wegen eines Vertreters nicht um Rath gefragt werden; man holt B., welcher die ärztliche Handlung im Interesse des A. fortzu¬ führen gewillt ist. Auf diese Verhältnisse passt der Titel: „Geschäftsführung ohne Auftrag.“ § 677. Wer ein Geschäft für einen Anderen besorgt, ohne von ihm beauftragt oder ihm gegenüber sonst dazu berechtigt zu sein hat das Geschäft so zu führen, wie das Interesse des Geschäftsherrn mit Rücksicht auf dessen wirklichen oder muthmasslichen Willen es erfordert. Der Geschäftsführer hat also einer doppelten Richtschnur zu folgen: sowohl dem Interesse des Geschäftsherrn, wie der Rücksicht auf dessen wirklichen oder muthmasslichen Willen. Hat Arzt A. erklärt, ein Kranker müsse noch weiter besucht werden oder geht diese Ansicht des A. muthmasslich aus seinen Anordnungen hervor, so hat der freiwillige Ver¬ treter B. noch weitere Besuche zu machen, auch wenn er selbst solche für entbehrlich hält, gleichviel, ob für A. ein pekuniäres Interesse mit der Mehrleistung verbunden ist oder nicht. Widerstreitet der muthmassliche Wille des A. dessen eige¬ nem Interesse, so hat B. dieses letztere zu berücksichtigen; B. darf also die von A. für nicht mehr erforderlich gehaltene Behandlung nicht einstellen, wenn durch deren Einstellung A. die betreffende Hausarztstelle offenbar verlieren würde. § 678. Steht die Uebernahrao der Geschäftsführung mit dem wirklichen oder dem muthmasslichen Willen des Geschäftsherrn in Widerspruch und musste der Geschäftsführer dies erkennen, so ist er dem Geschäftsherrn zum Ersätze des aus der Geschäftsführung entstandenen Schadens auch dann verpflichtet, wenn ihm ein sonsti¬ ges Verschulden nicht zur Last fällt. § 679. Ein der Geschäftsführung entgegenstehender Wille des Geschäftsherrn kommt nicht in Betracht, wenn ohne die Geschäfts¬ führung eine Pflicht des Geschäftsherrn, deren Erfüllung im öffent¬ lichen Interesse liegt . . . nicht rechtzeitig erfüllt werden würde. Ein Fall nach § 678 wäre zwischen Aerzten etwa so denk¬ bar: In einer kleinen Stadt erbietet sich B. einem Patienten oder einer Kasse des für eine Woche abberufenen A., die ärzt¬ lichen Geschäfte für A. zu übernehmen, obwohl er weiss, dass sich A. nie hätte von ihm vertreten lassen. Verliert nun A. die Kassen- oder Hausarztstelle nachweislich in Folge der Vertretung seitens des B., so kann A. diesen regresspflichtig machen, vorausgesetzt, dass kein eiliger Fall vorlag (§ 679). Billigt dagegen A. den Beginn der Geschäftsführung oder konnte B. die Nichtbilligung nicht erkennen, so ist B. für Ver¬ schulden im Sinne des § 677 nicht haftbar. Digitized by Google 160 Aerztliehe Sachverständigen-Zeitung. Fast immer werden bei ärztlicher Geschäftsführung ohne Auftrag die Bedingungen des § 679 erfüllt sein. B. tritt für A. ein, weil die ärztlichen Funktionen desselben sonst nicht rechtzeitig hätten erfüllt werden können. 9 ) § 681, Satz 1. Der Geschäftsführer hat die Uebernahme der Geschäftsführung, sobald es thunlich ist, dem Geschäftsherrn anzu¬ zeigen und wenn nicht mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist dessen Entsckliessung abzuwarten. Also kommt diese Pflicht auch dem ohne Noth in die Praxis eines Kollegen Eingreifenden zu. § 683. Entspricht die Geschäftsführung dem Interesse und dem wirklichen oder dem muthmasslichen Willen des Geschäftsherrn, so kann der Geschäftsführer wie ein Beauftragter Ersatz seiner Auf¬ wendungen verlangen. In den Fällen des § 679 steht dieser An¬ spruch dem Geschäftsführer zu, auch wenn die Uebernahme der Ge¬ schäfte mit dem Willen des Geschäftsherrn in Widerspruch steht. § 684. Liegen die Voraussetzungen des § 683 nicht vor, so ist der Geschäftsherr verpflichtet, dem Geschäftsführer Alles, was er durch die Geschäftsführung erlangt, nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung herauszugeben. Genehmigt der Geschäftsherr die Geschäftsführung, so steht dem Ge¬ schäftsführer der in § 683 bestimmte Anspruch zu. Hat also B. ärztliche Geschäfte für A. gegen dessen Willen besorgt, so muss A. das hierfür erhaltene Honorar an B. ab¬ geben. Die wesentlichsten Vorschriften über die ungerechtfertigte Bereicherung lauten: § 812. Wer durch die Leistung eines Anderen oder in sonstiger Weise auf dessen Kosten etwas ohne rechtlichen Grund erlangt, ist ihm zur Herausgabe verpflichtet. Diese Verpflichtung besteht auch dann, wenn der rechtliche Grund später wegfallt oder der mit einer Leistung nach dem Inhalte des Rechtsgeschäfts bezweckte Erfolg nicht eintritt. Als Leistung gilt auch die durch Vertrag erfolgte Anerkennung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Schuldverhältnisses. Der rechtliche Grund war eben die freiwillige Geschäfts¬ besorgung des B.: durch deren Nichtanerkennung fällt für A. der rechtliche Grund fort, vermöge dessen er das Honorar oder den entsprechenden Anspruch erlangt hatte. Wird die Geschäftsführung gebilligt, so hat der Geschäfts¬ führer nur Anspruch auf Ersatz seiner Aufwendungen, aber nicht auf Entgelt für die Geschäftsführung. Wenn Hahn (1. c.) meint, dass Zeit und Kraft des Arztes auch unter „Auf¬ wendungen* falle, so wird diese Ansicht schwerlich überall anerkannt werden. Im Verkehr unter Kollegen ist es wohl auch Sitte, dass eine solche Vertretung im Einzelfalle aus Gefälligkeit geleistet wird. Stand dagegen B. zu A. in einem Verhältnisse, vermöge dessen er berechtigt war oder zu sein glaubte honorirt zu werden, so kann er nach § 612 (s. o.) eine Vergütung fordern. Gelegentlich wird ein Arzt in der Eile herbeigerufen und geht in der Meinung, die Geschäfte seines Freundes B. zu be¬ sorgen ; thatsächlich greift er in die Praxis des C. ein. Oder B. glaubt, einen neuen Fall seiner eigenen Praxis vor sich zu haben und erfährt nach längerer Zeit, dass die Wirthschafterin des abwesenden Kollegen gerade, welchen B. gelegentlich aus Gefälligkeit vertreten hatte, diesen Fall zu B. in der Absicht geschickt hatte, ihn für A. zu reserviren. B. hat hier ärztlich gehandelt, ohne die Absicht, ein Geschäft für einen Anderen zu führen, es können also auch nicht die Bestimmungen über Geschäftsführung Platz greifen. Die folgenden Paragraphen sind demnach leichtverständlich und stehen im Einklang mit dier allgemeinen Rechtsanschauung: 9 ) Vgl. Hahn, Ueber ausserkontraktliche Ansprüche von Aerzten und Krankenhausverwaltungen gegen Krankenkassen. Berliner Aerzte- Korrespondenz, 1900, No. 2. ‘ No. 8. § 686. Ist der Geschäftsführer über die Person des Geschäfts¬ herrn im Irrthum, so wird der wirkliche Geschäftaherr aus der Ge¬ schäftsführung berechtigt und verpflichtet § 687. Die Vorschriften der §§ 677 bis 686 finden keine An¬ wendung, wenn Jemand ein fremdes Geschäft in der Meinung besorgt, dass es sein eigenes sei. Behandelt Jemand ein fremdes Geschäft als sein eigenes, obwohl er weiss, dass er dazu nicht berechtigt ist, so kann der Geschäfts¬ herr die sich aus den §§ 677, 678, 681 ergebenden Ansprüche geltend machen. Macht er sie geltend, so ist er dem Geschäftsführer nach § 684 Satz 1 verpflichtet. V. In Deutschland noch wenig verbreitet ist die Assoziation zweier oder mehrerer Aerzte zum Zwecke des Betreibens ge¬ meinsamer Praxis. Nur bei Zahnärzten finden wir gelegent¬ lich solche Geschäftsverbindungen. Eine derartige Geschäfts¬ führung würde unter den Begriff der „Gesellschaft* fallen: „Gesellschaft ist die vertragsmässige Gemeinschaft zu auf Er¬ reichung eines gemeinsamen Zweckes gerichteten Leistungen* (Oertmann 1. c. S. 440). Im weiteren Sinne ist auch die Ver¬ einigung mehrerer Aerzte zur Führung einer Poliklinik eine Gesellschaft; da alle Theilhaber vereinbarte Beiträge zur Miethe und Bedienung leisten. Der gemeinsame Zweck dieser Ver¬ einigung ist allerdings weniger ein ökonomischer als ein idealer. Folgende Bestimmungen dürften auch auf Inhaber einer gemeinsamen Poliklinik anwendbar sein. § 705. Durch den Gesellschafts vertrag verpflichten sich die Gesellschafter gegenseitig, die Erreichung eines gemeinsamen Zweckes in der durch den Vertrag bestimmten Weise zu fördern, insbesondere die vereinbarten Beiträge zu leisten. § 709 Abs. 1. Die Führung der Geschäfte der Gesellschaft steht den Gesellschaftern gemeinsam zu; für jedes Geschäft ist die Zustimmung aller Gesellschafter erforderlich. Also: Nur bei Zustimmung aller darf ein neues Mitglied in die Poliklinik aufgenommen, darf Telephon angeschafft } werden etc. § 718. Die Beiträge der Gesellschafter und die durch die Ge¬ schäftsführung für die Gesellschaft erworbenen Gegenstände werden gemeinschaftliches Vermögen der Gesellschafter (Gesellschaftsver¬ mögen). Zu dem Gesellschaftsvermögen gehört auch, was auf Grund eines zu dem Gcsellschaftsvermögen gehörenden Rechtes oder als Ersatz für die Zerstörung, Beschädigung oder Entziehung eines zu dem Gesellschaftsvermögen gehörenden Gegenstandes erworben wird. § 719 Abs. 1. Ein Gesellschafter kann nicht über seinen Antheil an dem Gesellschafts vermögen und an den einzelnen dazu gehören¬ den Gegenständen verfügen; er ist nicht berechtigt, Theilung zu verlangen. Ein Theilhaber einer Poliklinik darf also z. B. die zur ge¬ meinsamen Benutzung von ihm eingebrachten Möbel ohne Ge¬ nehmigung der anderen Theilhaber nicht entfernen. Dieses Recht gewinnt er erst nach korrekter Kündigung, welche den gesammten Gesellschaftsvertrag beseitigt 10 ), nach Massgabe des § 732. Gegenstände, die ein Gesellschafter der Gesellschaft zur Benutzung überlassen hat, sind ihm zurückzugeben. Für einen durch Zufall in Abgang gekommenen oder verschlechterten Gegenstand kann er nicht Ersatz verlangen. Die wichtigsten Ergebnisse unserer Untersuchung dürften folgende sein: 1. Dem mit festem Gehalt auf unbestimmte Zeit ange- stellten Assistenzarzt oder Vertreter darf normaler Weise nur 6 Wochen vor dem Schlüsse eines Kalenderquartals gekündigt werden. 2. Eine fristlose Kündigung ist zulässig auf Grund eines äusseren, den Zwecken des Dienstverhältnisses hinderlichen Ereignisses. ,0 ) S. Oertmann, Kommentar zu § 723 1. c. S. 459. Digitized by Google 15 April 1900. Aerztliche Saohverständigen-Zeitung. 161 3. Der grundlos Kündigende ist dem anderen Theile im Sinne des Erfüllungsinteresses ersatzpflichtig. Nur das schuld¬ hafte vertragswidrige Verhalten eines Kontrahenten scbliesst die Entschädigungsverpflichtung des Kündigenden aus, ja schafft diesem sogar Entschädigungsansprüche. 4. Ein schuldhaftes vertragswidriges Verhalten zeigt a) der Dienstberechtigte, wenn er die vereinbarte Ver¬ gütung nicht zahlt, die versprochene wissenschaftliche oder gesellschaftliche Förderung nicht leistet oder dem Assistenten Aufträge ertheilt, welche mit dem Vertrage nicht verein¬ bar sind; b) der Assistenzarzt, indem er die vereinbarte Thätigkeit ohne zwingenden Grund nicht leistet oder Aufträge des Chef¬ arztes wissentlich und ohne Noth in einer dem Willen des¬ selben nicht entsprechenden Weise ausführt; c) jeder von Beiden, wenn er in- oder ausserdienstlich zu oder über die andere Partei doloser Weise so spricht, dass die derselben geschuldete Achtung verletzt wird. 5. Der Volontärarzt ist ein Beauftragter, welchem fristlos gekündigt werden kann. 6. Der bestellte ärztliche Assistent oder Vertreter hat, wenn er nicht flxirt ist, Anspruch auf das taxmässige Hono¬ rar, falls es nicht seine erkennbare Absicht war, lediglich aus Gefälligkeit zu handeln; in jedem Falle steht ihm der Ersatz seiner Aufwendungen zu. Er darf die Vertretung nicht grund¬ los plötzlich aufgeben, wenn der Auftraggeber sich nicht sofort Ersatz schaffen kann. Anderenfalls haftet jener diesem für den entstandenen Schaden. 7. Im Interesse des Patienten sowie des Arztes selbst darf dessen Vertreter von dem erhaltenen Aufträge ab¬ weichen. 8. Im Nothfalle darf ein Arzt selbst gegen den Willen eines Kollegen in dessen Praxis eingreifen und gewinnt da¬ durch Anspruch auf Ersatz seiner Unkosten. 9. Billigt ein Arzt die von einem anderen für ihn ge¬ leisteten ärztlichen Bemühungen nicht, so hat er das für diese erhaltene Honorar dem anderen herauszugeben, darf ihn aber auch für etwaige aus der Vertretung ihm selbst erwachsende Nachtheile haftbar machen. Vielleicht wird einer oder der andere meiner Leser es für unnöthig halten, die ökonomischen Beziehungen zwischen Aerzten an der Hand des Gesetzbuches zu unter¬ suchen, da die kollegiale Konnivenz und im Nothfalle die ärzt¬ lichen Schiedsgerichte zur Schlichtung aller einschlägigen Differenzen ausreichten. Nun werden die Schiedsgerichte, falls sie sich wirklich mit pekuniären Fragen befassen sollten, nicht umhin können, die gesetzlichen Bestimmungen zu be¬ rücksichtigen. Die Konnivenz aber besteht darin, dass man über seine Leistungspflichten hinausgeht und seine Forderun¬ gen mit grosser Nachsicht geltend macht; beides ist mit Sicher¬ heit nur bei Kenntniss der gesetzlichen Rechte und Pflichten möglich. Referate. Psychiatrie und Neurologie. Zur Begutachtung der erwerbsbeeinträchtigenden Folgen von Ischias. Von Dr. H. Ehret. (Monatschr. f. Unfallhellk. 1900, No. 2.) Verfasser, rühmlichst bekannt durch seine Arbeiten über Ischias, bemüht sich, objektive Anhaltspunkte für die Begut¬ achtung der Fälle von Ischias bei Unfallkranken zu geben. Er nimmt diese Anhaltspunkte aus der eigenartigen Stellung, welche das erkrankte Bein gegenüber dem Rumpf einnimmt und festzuhalten bestrebt ist, und welcher derjenige ist, der die Zug- und Druckverhältnisse für die erkrankten Nerven am günstigsten gestattet, nämlich eine Abduktion, Flexion und Rotation des Beines nach aussen. — Beim Sitzen, beim Auf¬ stehen, beim Bücken, beim Gehen und Stehen, — immer sind es gewisse Zeichen, aus deren Vorhandensein bezw. Vollständig¬ keit Anhaltspunkte zu gewinnen seien, die eine den thatsäch- lichen Verhältnissen entsprechende Abschätzung des Verlustes der Erwerbsfähigkeit ermöglichen. E. schildert diese Zeichen in sehr eingehender Weise. Und da der Spielraum der Ab¬ schätzung bei Ischias von fast vollständiger Erwerbsunfähigkeit bis zu einem unbedeutenden Grade der Beschränkung der Er¬ werbsfähigkeit gehe, so ist die Verwerthung dieser Zeichen von nicht zu unterschätzendem Vortheil. B. Fissura ossis frontalis, Commotio et Contusio cerebri, Amnesie. Von Dr. M. Wittner, emer. Spitalsarzt in Dorohoin (Rumänien). (AUgem. Wiener med. Ztg. No. 47, 1899.) Der im Uebrigen nichts Besonderes darbietende Fall ver¬ dient deshalb Interesse, weil er neben den durch die anato¬ mischen Verletzungen herbeigeführten Symptomen zu einer psychischen Alteration insofern führte, als eine totale Amnesie bezüglich des Unfalles und zwar nur dieses Momentes dauernd eintrat, wiewohl Gedächtniss und Intellekt, wenn auch etwas geschwächt, bald zurückkehrten. Der Verletzte, ein Eisen¬ bahnbeamter, wollte ein auf den Geleisen spielendes Kind vor einem heranbrausenden Zuge retten, und wurde bei dieser Gelegenheit von dem Piston der Lokomotive in der rechten Stirngegend getroffen und bei Seite geschleudert. Die kräftige, blitzschnelle Berührung hatte eine offene Fissur des Os fron¬ tale und Commotio et Contusio cerebri herbeigeführt. Die psychische Lähmung, die dazu führte, dass der Verletzte als Ursache seines Unfalles angab, er sei von der Leiter gerutscht, und sich des eigentlichen Unfalles durchaus nicht zu erinnern wusste, glaubt Verf. auf Konto der allgemeinen Gehirnerschüt¬ terung sowohl, wie der lokalen Läsion setzen zu müssen. In Frage kommt aber jedenfalls auch die schreckenerregende Situation, die das klare Bewusstsein raubte und die rettende That mehr als eine involuntäre Intentionsbewegung, als eine automatische Reflexbewegung, erscheinen lässt. —y. Ueber senile Epilepsie. Von Doz. Dr. E. Redlich-Wien. (Wiener medizinische Presse No. 6, 1900.) Fälle von seniler Epilepsie, wo die ersten Anfälle nach dem sechzigsten Jahre auftreten, sind nicht allzu selten. Die Frage, ob es sich um reine Epilepsie bandelt, ist nicht immer leicht zu entscheiden. Epileptische Anfälle, die nur eine symptomatische Bedeutung haben, kommen bekanntlich im Senium auch bei Nephritis und Diabetes vor. Ebenso führen Hirnprozesse zu symptomatischen epileptischen Anfällen, die zwar in der Regel leicht von der wirklichen Epilepsie abzu¬ sondern sind. Unter Umständen kann dies jedoch nach dem klinischen Bilde allein schwierig sein, so z. B. beim Cysticercus cerebri, dessen Symptomatologie sich auf spät auftretende epileptische Anfälle beschränken kann. Der Heredität kann R. nicht die Bedeutung beimessen, die sie nach Ansicht vieler Autoren haben soll, hingegen können andere Ursachen, wie Alkoholismus, Schädeltraumen, Syphilis, für sich allein oder kombinirt, das Auftreten der Epilepsie im Alter bewirken. Fälle seniler Epilepsie bei chronischen Geisteskranken sind in ihrer Bedeutung noch zweifelhaft. Hingegen kann das Be- Digitized by Google 162 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 8. stehen der sogenannten arteriosklerotischen Epilepsie als sicher¬ gestellt gelten, während sich R. der kardialen Epilepsie skeptisch gegenüberstellt. In symptomatischer Beziehung gleicht die senile Epilepsie vollständig der gewöhnlichen Epilepsie. Die häufige Demenz bei der senilen Epilepsie ist weniger auf Rechnung der Epilepsie als solcher zu setzen, als vielmehr Folge der stets vorhandenen Hirnatrophie. In therapeutischer Hinsicht gelten die gleichen Indikationen wie sonst bei der Epilepsie; freilich sind die Aussichten auf Erfolg im Allge¬ meinen geringe. —y. Beitrag zur Lehre von der Haematomyelia traumatica. Von Prof. M. Bernhardt-Berlin. (NearoL Centr. 1900, No. 5.) Ein starker, bisher gesunder Mann, stürzte nach vorn von einem Wagen. Er war eine Weile bewusstlos. In den nächsten Wochen konnte er sich vor Schmerzen in der Wirbelsäule und den Gliedern kaum rühren. Nach drei Wochen konnte er das Bett verlassen, jetzt wurden gewisse Zustände von Muskel¬ schwäche bemerkbar. Die etwa ein halbes Jahr nach dem Unfall vorgenommene Untersuchung ergab an dem Seelenleben keine Veränderung, ebensowenig eine Abweichung im Bereich der Hirnnerven. Es bestand eine Schwäche im rechten grossen Sägemuskel, ferner rechts im gemeinsamen Fingerstrecker, im ulnaren Handstrecker und den kleinen Handmuskeln, die abgemagert waren, während der Daumen sogar ganz unbeweglich war. Links war dieDau- menmuskulatur frei, die grossen Strecker so wie rechts ergriffen, die kleinen Fingermuskeln noch etwas stärker. An den unteren Gliedmassen bestanden z. Z. keine Lähmungen, früher soll der rechte Wadenbeinnerv gelähmt gewesen sein. Von den Reflexen war der rechte Kniereflex viel schwerer auszulösen als der linke, die Hoden- und Bauchreflexe über¬ haupt nioht. An der Aussenseite des linken Oberschenkels war die Hautempfindung nach jeder Richtung stark herabgesetzt. Der Verletzte klagte nur noch wenig. Beim Bücken empfinde er noch Schmerz im Kreuz. Den Stuhlgang könne er nicht so lange halten wie früher. Jetzt, einige Monate nach der ersten Untersuchung, be¬ stehen noch Kreuzschmerzen und leichte Ermüdbarkeit. Der Sägemuskel arbeitet wieder völlig normal, bemerkenswerth sind Faserzuckungen, die in den Muskeln des Schultergürtels und der Arme, rechts mehr als links, auftreten. Der Krankbeitsverlauf spricht dafür, dass bei dem schwe¬ ren Sturz neben Erschütterung und Zerrung der Wirbelsäule nicht nur eine Blutung um oder in die Rückenmarkshäute, sondern auch eine Schädigung der Rückenmarkssubstanz, wahr¬ scheinlich gleichfalls durch eine Blutung, zu Stande gekommen ist. Nach den klinischen Erscheinungen muss die Blutung in verschiedenen Abschnitten des Marks die Vorderhörner in ver¬ schiedenem Masse geschädigt haben. Besonderes Interesse beansprucht die Gefühlsstörung am linken Oberschenkel, welche der von B. zuerst beschriebenen und unter seinem Namen bekannten (cf. diese Ztschr. 1899, S. 101) sehr ähnlich ist, nur dass es sich bei dieser um Paraesthe- sieen oder Schmerzen, hier nur um eine Abstumpfung der Empfindung handelt. Die „Bernhardtsche Sensibilitätsstörung“ beruht auf einer Entzündung des peripheren Nerven, während bei dem hier besprochenen Verletzten offenbar ein centraler Ursprung angenommen werden muss. Prognostisch stellt der Fall sich keineswegs durchaus günstig. Wenn es sich auch gezeigt hat, dass ausgeprägte Lähmungen einzelner Muskeln wieder völlig schwinden konnten, werden doch die geschwächten Arm- und Handmuskeln kaum wiederhergestellt werden, und die Muskelzuckungen verstärken die an und für sich gegebene Befürchtung, dass fortschreitende Rückenmarksentartung (Poliomyelitis anterior chronica) zu einem Ergriffenwerden weiterer Muskelgruppen führen wird. Innere Medizin. Haematnrie ans normalen Nieren und bei Nephritis. Von B. Naunyn-Strassburg. (Mitthei'. a. d. Grenzgebieten d. Media, n. Chlr. 5. Bd., 4. o. 5. H. 1900.) Es muss nach Verf. für ausgemacht gelten, dass es, auch abgesehen von traumatischen Nierenblutungen, vereinzelte Fälle giebt, bei denen Blutungen aus normalen Nieren auf¬ treten. In einer grossen Zahl der Fälle dürfte es sich aber doch wohl um chronische Nephritis handeln. Es kommen da¬ bei selbstverständlich nicht solche Blutbeimengungen in Be¬ tracht, wie man sie in vielen Fällen von akuter und in nicht wenigen von chronischer Nephritis vorübergehend oder dauernd findet (haemorrhagische Nephritis). Es handelt sich vielmehr dabei um massenhafte, anfallsweise auftretende, meist von Koliken in einer Niere begleitete Blutungen, bei denen fast immer zuerst an Urolithiasis, Tuberkulose oder Neubildung der Nieren gedacht wird, Fälle, die deshalb häufiger zum Chirurgen kommen. Verf. theilt drei hierher gehörige Kranken¬ geschichten mit. —y. Ueber Tuberkulose des Magens. Von Dr. M. Simmonds, Prosektor am AUg. Krankenhause Hamburg-St. Georg. (M. M. W. 1900, No. 10.) Petruschky hat auf Grund einiger, mit Hilfe von Tu¬ berkulin als tuberkulös erkannter Fälle von hartnäckigen Magenbeschwerden die Vermuthung ausgesprochen, dass tuber¬ kulöse Magengeschwüre häufiger sein möchten als man ge¬ meinhin annimmt. Mit der Erfahrung der pathologischen Anatomen ist diese Annahme nicht in Einklang zu bringen. Isolirte bezw. primäre Magengeschwüre „hat wohl selten ein Pathologe zu Gesicht bekommen“, und unter 2000 Sektionen bei tuberkulösen Per¬ sonen hat Verf. nur 8 mal tuberkulöse Magengeschwüre ge¬ funden. Noch besteht die alte Erfahrung zu Recht, dass die Magenschleimhaut auffallend widerstandsfähig gegen Koch- sche Bazillen ist. Verf. neigt der alten, neuerdings in Ver¬ ruf gekommenen Annahme zu, dass der normale Magensaft die Ansiedlung der Bakterien verhindere. Es ist ja zwar er¬ wiesen, dass normaler Magensaft in einer bestimmten Zeit nicht im Stande ist, die etwa in Auswurfballen versteckten Pilze zu töten, aber damit ist noch lange nicht gesagt, dass er nicht fähig wäre, ihrer Einnistung entgegenzuwirken. Zur Stütze dieser Anschauung berichtet Verf. zunächst über einen Fall von Krebs des Pförtners bei einem Schwind¬ süchtigen. Hier war in der Magenschleimhaut eine ganze An¬ zahl kleiner tuberkulöser Geschwüre vorhanden. Es liegt doch sehr nahe, anzunehmen, dass die durch den Krebs bedingte Störung in der Absonderung des Magensaftes hier die Ansied¬ lung der Bazillen begünstigt hat. Kenntlich sind tuberkulöse Magengeschwüre an den be¬ kannten überhängenden Rändern, im Gegensatz zum gewöhn¬ lichen Ulcus ventriculi. Tuberkel findet man in den Rand¬ partien, die Bazillen sind spärlich. Gewöhnlich sind diese Geschwüre klein, doch sah S. in einem Falle eins die Ausdehnung von 10:20 cm erreichen. Nie aber beobachtete er, dass die Tuberkulose des Magens zu Blutungen oder gar Durchbrüchen Ver¬ anlassung gab, nie waren auch nur irgend welche Digitized by Google 15. April 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 163 kliniBehe Erseheinungen vorhanden, aus denen man zu Lebzeiten auf ein Magenleiden schliessen konnte- Nur zwei Mal hatte Verf. Gelegenheit, Schwindsüchtige zu seciren, die ernste Magenbeschwerden gehabt hatten, und in diesen beiden Fällen fanden sich keine tuberkulösen, son¬ dern einfache runde Magengeschwüre. Bei der extremen Seltenheit einer auf den Magen be¬ schränkten Tuberkulose ist der Vorschlag Petruschky’s, Tuber¬ kulin zur Diagnosenstellung zu verwenden, bedeutungslos. Häufiger als in Form von Geschwüren befällt die Tuber¬ kulose, auf dem Blutwege verbreitet, den Magen in Form kleinster Knötchen in allen drei Wandschichten. Klinisch ist diese Form ganz unwesentlich. Ueber einige seltene, in Form von Tumoren anftretende tuberkulöse Erkrankungen der Hant. Aus d. Abtheil. d. Prof. E. Lang i. k. k. Allgom. Krankenhause u. aus d. Instit. f. pathol. Histologie u. Bact. d. Prof. R. Paltauf in Wien. Von Dr. Ludwig Spitzer, Sec. Arzt a. Allgem. Krkh. in Wien. (Mittheil, aus d. Grenzgebieten der Media, u. Chlr. 6. B Obliegenheiten der Schulärzte in Berlin. — Der Kreis¬ arzt nnd der Doktortitel. — Gerichtliche Entscheidung von prin¬ zipieller Wichtigkeit gegen das Kurpfuscherthum. — Ueber Erkrankungen in Folge Genusses verdorbener, nachgemachter oder verfälschter Nahrnngs- nnd Genussmittel. — Die Unter¬ suchung der Wehrpflichtigen. — Eine Malaria-Konferenz. — Eine neue Lungenheilstätte. S. 212. Die durch Ministerialerlass vom 28. Februar 1900 in Kraft getretenen Vorschriften zur Ausführung des Impfgesetzes. Von Dr. Matthias Schulz, Vorsteher der K. Anstalt inr Gewinnung thierischen Impfstoffes so Berlin. Im Juli 1898 tagte im Kaiserlichen Gesundheitsamte eine Sachverständigen-Kommission, deren Aufgabe es war, die älte¬ ren, am 18. Juni 1885 in Bezug auf die Ausführung des Impf¬ gesetzes gefassten Bundesrathsbeschlüsse zu prüfen und sie den Fortschritten der Wissenschaft und den gemachten prak¬ tischen Erfahrungen entsprechend zu ergänzen, bezw. umzu¬ arbeiten. Der Bundesrath unterzog nachher seinerseits die Ergebnisse der Kommissionsverhandlungen der Berathung and steUte in einer Sitzung vom 28. Juni 1899 die „Beschlüsse und Entwürfe von Vorschriften zur Ausführung des Impfge- setzes“ fest. Auf Grand weiterer Erwägungen worden unter dem 28. Fe¬ bruar 1900 die preussischen Ausführungsvorschriften erlassen, welche mit der diesjährigen Impfperiode in Kraft traten. Ein Vergleich der neuen und der alten Bestimmungen er- giebt, dass aus den letzteren vieles Bewährte übernommen ist Die bedeutungsvollsten Veränderungen beziehen sich auf die Durchführung allgemeiner Benutzung der Thierlymphe nnd auf die Einführung der aseptischen Vorschriften in die Technik der Impfung, soweit es die Eigenart der letzteren gestattet Weitere Aenderungen haben die älteren Vorschriften zu dem Zwecke erfahren, die Ausführung des Impfgesetzes in noch höherem Masse zu sichern, als es früher der Fall war, schäd¬ lichen Folgen der Impfung vorzubeugeo, angebliche oder wirk¬ liche Schädigungen durch dieselbe klar zu legen und Einzel¬ nes zu beseitigen, was nach dem jetzigen Standpunkt der Wissenschaft unnöthig ist I. Die allgemeine Benutzung der Thierlymphe. Das Fehlen einer ausreichenden Zahl von Anstalten zur Gewinnung thierischen Impfstoffes machte die ausschliessliche Einführung desselben im Jahre 1885 unmöglich, und der Bun¬ desrath musste sich damals auf den Beschluss beschränken, dass die öffentlichen Impfungen mit Thierlymphe auszufüh¬ ren seien, sobald der Bedarf seitens einer Anstalt in den be¬ treffenden Bezirken gedeckt sein würde. Im Laufe der Jahre sind solche Anstalten von den Staaten in genügender Anzahl eingerichtet, und der Ministerialerlass vom 31. März 1897 ord¬ nete für die öffentlichen Impfungen in Preussen bereits an, dass bei denselben im allgemeinen ausschliesslich tinerischer Impfstoff aus den Landesanstalten zu verwenden sei, und dass der Impfarzt es besonders begründen müsste, wenn sich in einzelnen Fällen die Benutzung von Menschenlymphe als Digitized by AjOOQle 194 Aerztliehe Sachverständigen-Zeitung. No. 10. nothwendig erwiese. Nachdem nun durch den Bundesraths¬ beschluss vom 28. Juni 1899 festgelegt ist, dass Menschen¬ lymphe sowohl bei öffentlichen als auch bei privaten Impfun¬ gen nur in Ausnahmefällen verwendet werden darf, ist in Preussen auch den Privatärzten die Verpflichtung auferlegt, die Menschenlymphe nur ausnahmsweise zu benutzen, und den etwaigen Gebrauch derselben für jeden Pall den Behörden gegenüber eingehend zu begründen. Nun war es die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass die zu den Impfungen zuzulassende Lymphe in der denkbar tadel- freisten Beschaffenheit hergestellt werde. Die für die Staats¬ anstalten bereits vorhandenen Betriebsvorschriften wurden demnach umgearbeitet, und der Beschluss gefasst, dass die Thierlymphe für alle Impfungen nur aus staatlichen Impf¬ anstalten oder deren Niederlagen, oder aus solchen Privat- impfanstalten, welche einer staatlichen Aufsicht unterstehen, bezogen werden darf. Die Privatanstalten, deren Besitzer ihre Zustimmung dazu erklärt haben, werden demnach Revisionen unterzogen, und die Namen derjenigen, deren Lymphe in Deutschland Verwendungfinden darf, gelangen demnächst zur Ver¬ öffentlichung. Ausserdem sind Vorschriften über den Lymphe¬ handel in den Apotheken in Kraft getreten, aus welchen be¬ sonders hervorgehoben werden möge, dass die Abgabe der¬ selben nur in der Originalverpackung der Lymphegewinnungs¬ anstalt erfolgen darf, und dass dieser Verpackung die Bezeich¬ nung der Anstalt, Angaben über die Nummer des Versand¬ buches derselben, den Tag der Abnahme und über die in der Verpackung enthaltene Zahl von Portionen, sowie eine Ge¬ brauchsanweisung beigefügt sein muss. Lymphe, welche vor mehr als drei Monaten abgenommen ist, darf nicht abgegeben werden. Ein ärztliches Rezept ist zum Kaufe des Stoffes nicht nöthig, der Abnehmer hat aber in der Apotheke seinen Namen und seine Wohnung anzugeben. Die Stellung, welche die deutschen Bundesregierungen in Bezug auf die Versorgung der Privatärzte mit Impfstoff aus ihren Staatsanstalten eingenommen haben, ist eine sehr ver¬ schiedene. In einzelnen Staaten wird jedem Arzte sein Bedarf zu Privatimpfungen unentgeltlich aus diesen Anstalten zur Ver¬ fügung gestellt, in anderen war der Impfstoff in denselben unter gewissen Bedingungen käuflich zu erlangen, welche den Be¬ zug erschwerten. Man hörte hier und da die Meinung aus¬ sprechen, dass die Privatimpfungen nicht begünstigt werden sollten, damit der Zulauf zu den öffentlichen Terminen geför¬ dert werde. Dieses Prinzip hat sich nicht bewährt, denn es werden in den grösseren Städten private Impfungen in grosser Ausdehnung vorgenommen, und es ist in Preussen beschlossen worden, den Bezug der Lymphe aus den Königl. Anstalten für das Publikum in mehrfachen Beziehungen zu erleichtern. Denselben liegt nach wie vor die Verpflichtung ob, den Stoff für die öffentlichen und für Impfungen, welche bei Aus¬ bruch der natürlichen Pocken von den Behörden angeordnet sind, oder an ausländischen Arbeitern vollzogen werden, un¬ entgeltlich zu liefern. Anträge auf Abgabe von Impfstoff zu privaten Zwecken können von Aerzten unter vorheriger, porto¬ freier Einsendung des Betrages mit der Post bei den Anstalten gestellt werden. Um den Bedürfnissen grösserer Städte thunlichst Rech¬ nung zu tragen, können Niederlagen der Königlichen Anstalten bei Behörden und in Apotheken eingerichtet werden. Die ersteren kommen nur in Ausnahmefällen in Betracht, von grösserer Wichtigkeit sind die Apotheken-Niederlagen, in wel¬ chen Jedermann Impfstoff ohne ärztliches Rezept kaufen kann. Augenscheinlich hat dieser Bestimmung die Absicht zu Grunde gelegen, Mustereinrichtungen zu schaffen, in welcher der Ab¬ nehmer stets wirksamen Stoff erhalten kann. Dem Anstalts¬ vorsteher fällt dabei die Aufgabe zu, die an die Niederlagen abgegebene Lymphe fortgesetzt auf ihre Wirksamkeit zu, prü¬ fen und minder wirksam gewordene aus dem Verkehr zurück¬ zuziehen, während der Apotheker für zweckmässige Aufbe¬ wahrung Sorge trägt. Beide zusammen werden dahin zu wir¬ kenhaben, dass die Mengedes der Niederlage überwiesenen Stoffes der Grösse des Verkehrs, welcher in den verschiedenen Ab¬ schnitten des Jahres verschieden ist, entspricht, und dass auch die Zeit, nach welcher der Stoff erneuert werden muss, der Jahreszeit angepasst wird. Nach den gegebenen Bestim¬ mungen ist die Liegefrist in der Apotheke auf die Zeit von vier Wochen bemessen, bei grösserer Hitze wird es vorteilhaft sein, dieselbe abzukürzen. Alle diese Aufgaben lassen sich nur richtig erfüllen, wenn die Zahl der Niederlagen eine be¬ schränkte ist. Es würde dem Sinne der ganzen Einrichtung nicht entsprechen, wenn man in allen Apotheken einer Gross¬ stadt, z. B. Berlins solche Lymphe-Depots einrichtete. In vielen derselben würde der Betrieb ein geringer sein, es müsste der Anstalt oft unverkaufter Stoff zurückgegeben werden, und hierdurch würde dieser nebst dem Verpackungsmaterial un¬ genützt in Verlust geraten. Den Staatsanstalten stehen auch nicht genügende Geldmittel und Arbeitskräfte zur Verfügung, um die Versorgung aller Apoteken einer Stadt wie Berlin oder einer Provinz in der oben geschilderten Art und Weise durchführen zu können. — Es erscheint auch nicht aus anderen Gründen geboten, in allen Apotheken Niederlagen der Staatsanstalten einzu¬ richten. Der Verkauf von Thierlymphe ist nicht auf die Apotheken beschränkt, Jedermann kann sie ungestraft vertreiben, und ausserdem ist bei ihrer Anwendung nie eine solche Eile ge¬ boten, dass sie im gegebenen Falle innerhalb ganz kurzer Zeit aus der Nähe herbeigeschafft werden muss. Dem Sachver¬ ständigen ist ja bekannt, dass die Impfung im Allgemeinen erst nach II Tagen vollen Pockenschutz gewährt und dass dieser ganz allmählich eintritt. Es ist im einzelnen Falle daher gleichgiltig, ob sie ein paar Stunden früher oder später vollzogen wird. Die Lymphe, welche Staatseigenthum ist und für deren Eigenschaften die Vorsteher der Staatsanstalten die Verant¬ wortung tragen, kann nicht wie ein anderer Handelsartikel frei verkauft werden. Es muss den Behörden bekannt sein, wer dieselbe abgiebt, und darum ist den Inhabern von Nieder^ lagen verboten, sie Wiederverkäufern zu überlassen, d. h. selber Depots in anderen Geschäften einzurichten. Die Ab¬ gabe würde sich, wenn dies geschähe, gar nicht mehr kon- trolliren lassen, da der Stoff, ehe er an die Konsumenten ge¬ langt, durch verschiedene Hände gegangen wäre. Natürlich darf auch mit der aus staatlichen Anstalten bezogenen Lymphe keine eigentliche Reklame gemacht werden. In Berlin sind 10, in Charlottenburg 2 solcher Niederlagen in verschiedenen Stadttheilen eingerichtet. Bei der Neuordnung des Impfwesens haben auch die Preise der Lymphe eine Veränderung erfahren. In früheren Zeiten gaben die Königl. Anstalten in Preussen den Stoff für eine zu einer Impfung bezw. fünf Impfungen ausreichende Menge für 1 Mark ab. Gegenwärtig kostet eine solche Menge in den Anstalten 60 Pfg. Es erschien aber auch zweckmässig, Den¬ jenigen, welche nur Stoffes zu einer Impfung bedürfen, ent¬ gegenzukommen und darum werden zu Einzelnportionen für je 20 Pf. versendet. Der Umstand, dass bei direktem Bezüge aus den Anstalten die Portokosten für die Bestellung und die Zusendung hinzu¬ treten, lässt den Bezug auB den Niederlagen, aus welchen der Stoff direkt abgeholt werden kann, empfehlenswert!! erscheinen. Digitized by Google 15. Mai 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 195 Diese verkaofen die Einzelnportionen zu 30 Pf., eine zu fünf Impfungen ausreichende Menge für 1 Mark und verdienen daran 33V 3 bis 40 Prozent, ein Gewinn, der ihnen sonst auch bei Spezialitäten zufallt. Besondere Geschäftsunkosten erwachsen ihnen aus dem Verkaufe der Lymphe nicht. (Schluss folgt) Ein Heiierziehung8heim. Von Prof. D. Dr. Zimmer-Berlin-Zehlendort Es bedarf für Aerzte keinerlei Ausführung, dass und wes¬ halb besondere Veranstaltungen getroffen werden müssen, um jene krankhaft veranlagten, reizbaren, erregten, namentlich von den Eltern her belasteten Persönlichkeiten, wie sie das weibliche Geschlecht so viel bietet, aufzunehmen und — zu erziehen. Denn bei psychogenen Krankheitszuständen ist tbat- sächlich nicht die Heilung, sondern die Erziehung die Haupt¬ sache. Für solche Zustände giebt es keine Medikamente, nur ein verständnisvolles, festes, aber doch auf psychiatrischer Bildung beruhendes persönliches Ein wirken. Wenigstens in den AnfangBStadien derartiger Erkrankungen ist nicht die Familie, aber auch noch nicht die Nervenheil- oder Irrenanstalt der Ort, an welchem solche Persönlichkeiten zweckmässige Auf¬ nahme finden. Die Familie versteht solche Kranke überhaupt nicht und erkennt die Krankheit nicht, und so sind hysterische, sexuell Erregte, Schwachsinnige mit ungezügelten Trieben bei leidlich normaler Intelligenz und dergleichen nicht blos für sich selbst in dauernder Unruhe, sondern werden durch den fortwährenden Kampf in ihrer Familie in ihrer krankhaften Neigung nur be¬ stärkt. Sie werden nur immer störrischer und dadurch schliess¬ lich für die Familie unerträglich. Aber wohin mit solchen Mädchen? Die Nervenheilanstalten müssten eine noch neue Aufgabe aufnehmen, wenn sie das erfüllen sollten, was hier gefordert wird. Sie sind doch in erster Linie Heilanstalten und können nur in beschränktem Masse Erziehungshäuser sein. Immerhin sind sie zweckmässiger als die üblichen Mädchenpensionate, in welchem Hysterische direkt Gift und pathologische Lügnerinnen und dergleichen für die Anderen gefährlich sind und für sich selbst keine För¬ derung finden. Man müsste sich deshalb wundern, dass nicht schon längst der Versuch gemacht worden ist, durch besondere Heilerziehungs¬ anstalten Abhilfe zu schaffen, wenn nicht die Bedingungen für eine derartige Veranstaltung nur ungemein schwer zu schaffen wären. Erstlich fehlt es noch ziemlich an Pädagogen, die an psychopathische Minderwertigkeiten gewöhnt sind und dieselben behandeln können. Sodann kann eine derartige Anstalt nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn mit dem Pädagogen der Arzt in engster Gemeinschaft arbeitet, und wenn Psychiater und Neurologen theils zu dauernder Beobachtung, theils zu gelegentlicher Konsultation herangezogen werden können. Weiter, und das ist mindestens ebenso wichtig, muss ein geschultes Erziehungs- und Pflege-Personal vorhanden sein, das auch ge¬ legentlich ausgewechselt werden muss, weil eine derartige Arbeit thatsächlich die Kräfte rasch abnutzen dürfte. Alles dies ist aber im Allgemeinen nur unter materiellen Bedingungen zu schaffen, die über die Leistungsfähigkeit der Meisten, um die es sich hierbei handelt, hinausgeht, und schliesst deshalb ein Risiko in sich, das allein es schon genügend erklärt, wenn bisher eine derartige Anstalt noch nicht eröffnet ist. Auch nicht ohne viele Bedenken und Erwägungen ist vor einem halben Jahre im Heimathhause des Ev. Diakonie¬ vereins in Berlin-Zehlendorf (Heidestr. 20 am Grunewald), eine derartige Anstalt versucht worden. Es kam dem Versuche zu statten, dass dasHeimathhaus desEv. Diakonievereins, welches als Erholungs- und Heimstätte für arbeitsmüde Schwestern und als Lernstätte für die in die Krankenpflege übergehenden jungen Mädchen gebildeter Stände bestimmt ist, die hier einen mehr¬ wöchentlichen theoretischen Kursus durchmachen, etwas auf Zuwachs berechnet werden musste, und also vorläufig eine Etage dieses Hauses, die völlig für sich abgeschlossen sein kann, zur Verfügung stand. Das brachte nun den Gewinn, dass die jungen Mädchen, die für die Heilerziehung aufge¬ nommen sind, ganz nach Bedürfnis mit den vielen im Hause verkehrenden und lebenden normalen Personen in Berührung kommen können. Bekanntlich ist es selbst für Irre überaus werthvoll, dass die Zahl der mit ihnen verkehrenden normalen Menschen eine möglichst grosse ist, und viel mehr natürlich für Mädchen dieser Art, die ja dem Leben der Familie oder des Berufs möglichst bald wiedergegeben werden sollen. Wie gross das Bedürfniss ist, war kaum geahnt worden. Das Heim konnte im November vorigen Jahres mit sechs jungen Mädchen eröffnet werden. Von diesen wurden zwar sehr rasch zwei entlassen, von denen die eine epileptisch, die andere nervenkrank war; dieselben wurden entsprechenden Anstalten zugeführt Von den anderen konnte schon eine dem Töchterheime des Vereins, einer Erziehungsanstalt für normale Mädchen, übergeben werden; eine andere findet be¬ reits unter Aufsicht der Anstalt eine berufliche Anstellung. Die Zahl der Pensionärinnen beträgt z. Zt. sieben. Viel kann man natürlich nach fünf Monaten noch nicht sagen; immer¬ hin musste der Versuch gemacht werden, und vorläufig ist er in jeder Beziehung erfreulicher ausgefallen, als man zu hoffen gewagt hatte. An dem Heim, das den ominösen Namen einer Anstalt nicht zu führen braucht, weil es im * Heimathhause “ des Ev. Diakonievereins untergebracht ist, arbeitet im alleinigen Amt eine zuerst als Kindergärtnerin, dann als Krankenpflegerin ausgebildete, dann 4 Jahre lang in der Heilerziehung und einige Zeit in der Irrenanstalt thätig gewesene Schwester und eine Handarbeits-, Tum- und Zeichenlehrerin; daneben ein Kandidat der Theologie mit heilpädagogischer Vorbildung und eine langjährig erprobte wissenschaftliche Lehrerin. Die pä¬ dagogische Oberleitung führt der Schreiber dieser Zeilen, der in psychiatrischen Fachkreisen durch sein Schriftchen „Sünde oder Krankheit?" vielleicht nicht ganz unbekannt, und zugleich Mitheraüsgeber der heilpädagogischen Fachzeitschrift „Die Kinderfehler" ist. Die ärztliche Oberleitung hat einer der Berliner Bezirksphysiker. Im Uebrigen interessiren sich die leitenden Aerzte der Zehlendorfer Irren- und Nervenheil-An- stalten thatkräftig für das Heilerziehungsheim, und ein be¬ sonderer Hausarzt sorgt für die regelmässige körperliche Ueberwachung. Zur Erziehung dienen die im Hause so leicht möglichen mannigfaltigsten Arbeitsgelegenheiten: Besorgung der Zimmer, Haus- und Garten-Wirthschaft, künstliche Hühner¬ feucht etc. auf der einen, allerlei wissenschaftlicher Unterricht auf der anderen, Betheiligung an der Gemeindepflege und allerlei sonstige Mithilfe in der Vereinsarbeit auf der dritten 8eite. Damit ist die möglichst individuelle Behandlung jeder einzelnen Persönlichkeit gewährleistet, und mindestens wird mit Emst und vieler Freudigkeit ein Versuch gemacht, der nothwendig endlich einmal gemacht werden musste. Digitized by LjOOQie 190 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 10. Objektiv wahrnehmbare entotische Geräusche ohne Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit. Von Stabsarzt Dr. Rlohard NOIIer-Berlin. Objektiv wahrnehmbare, vom Untersucher hörbare Ohren¬ geräusche sind zwar in der Otologie nicht unbekannt, gehören aber immerhin zu den Seltenheiten. Ich selbst habe bisher nur zwei derartige Fälle beobachtet Der eine betraf eine dOjähiige Näherin, bei der man rechterseits mit dem Hör¬ schlauch ein blasendes Geräusch wahrnehmen konnte, das jedesmal mit der Einathmung auftrat und während des ganzen Inspiriums andauerte. Es handelte sich hier um die Fort¬ leitung des schlürfenden Geräusches des Stromes der Ein- athmungsluft durch die abnorm weite Tube. Das Mädchen hatte sich im Laufe der Zeit so an das Geräusch gewöhnt, dass sie sich dadurch nicht mehr belästigt fühlte und ungestört ihrer Thätigkeit als Näherin nachgehen konnte. Der andere Fall, den ich im Folgenden etwas eingehender beschreiben will, betrifft einen 21 Jahre alten, kräftigen Mann, der sieb, ebenso wie die Näherin, durch das Geräusoh in seiner Arbeits- und Erwerbsthätigkeit nicht im Geringsten beeinträchtigt fühlt. Dieser letztere Umstand, der gerade auch für den ärztlichen Sachverständigen von Interesse ist, veranlasst mich, den Fall an dieser Stelle bekannt zu geben. Der Patient, ein grosser, kräftiger, etwas vollblütiger, phlegmatischer Mann mit frischer Gesichtsfarbe, die sich schon bei kleinen Anstrengungen leicht in tiefe Röthe verwandelt, kam am 29. Januar wegen einer akuten linksseitigen Mittelohr¬ eiterung, die er sich durch Erkältung zugezogen hatte, im Lazareth in meine Behandlung. Trotz eingehenden Befragens äusserte er bei der Aufnahme nur Klagen über das linke Ohr, und zwar auch hier nur solche, die auf die seit einigen Tagen bestehende Eiterung Bezug hatten. Der Heilungsverlauf war langsam, erst zu Anfang März hörte die Eiterung auf. Am 16. März, als bereits an die Entlassung des Mannes gedacht wurde, gab er plötzlich auf die Frage, über welche Beschwerden er denn noch zu klagen habe, an, das linke Ohr, das geeitert hatte, sei jetzt ganz in Ordnung, aber im rechten Ohr habe er ein eigentümliches Knaoken. Auf näheres Befragen erfuhr ich jetzt, dass im Jabre 1896 dieses Knacken sioh allmählich und ohne eine ihm bekannte Ursache auf beiden Ohren eingestellt und seitdem beiderseits ununterbrochen bis zu der gegenwärtigen Erkrankung bestanden habe. Mit dem Eintritt der Eiterung linkerseits sei auf diesem Ohr das Knacken verschwunden, dafür habe er in jüngster Zeit manch¬ mal ein dumpfes Sausen links gehabt (am 30. März war auch dieses verschwunden, ohne dass sich dafür das Knacken wiederein gestellt hätte); rechts dagegen sei das Knacken seit 1896 bis jetzt unverändert. Er habe bei der Aufnahme davon nichts erwähnt, weil er keinen Werth darauf legte, und weil die Beschwerden auf dem linken Ohre bei weitem im Vorder¬ gründe standen. Die Untersuchung des rechten Ohres ergab Folgendes: Hörvermögen für Flüstersprache normal. Trommelfell leicht eingezogen, sonst völlig normal. Wenn der Untersucher sein Ohr unmittelbar neben das rechte Ohr des Mannes hält, hört er ein stossweise auftretendes, kurzes, knarrendes, oder knackendes Geräusch, das völlig synchron mit dem Pulsschlag einhergeht. Es ist schwer, für das Geräusch einen passenden Vergleich zu finden; es klingt etwa so, wie wenn man zwei rauhe Hornplättchen kurz über einander hinwegschiebt, oder wie wenn man einen halb vertrockneten, starren Gummi- schlauch biegt, oder wie wenn ein Käfer seine Chitinflügel¬ decken an einander reibt; ein Herr, der mit anderen einen Kursus bei mir hatte, verglich es mit dem Geräusch, das ein in Bewegung gesetzter Phonograph zuerst von sich giebt, ehe er anfangt, das Hineingesproohene wiederzugeben. — Bei Druck auf die rechtsseitigen Halsgefässe hört das Geräusch sofort auf, um beim Nachlassen des Druckes alsbald wieder zu beginnen. Dieser Druck auf die Halsgefässe ist rechter¬ seits etwas empfindlich, links nicht. Das Geräusch besteht fortwährend; es tritt — subjektiv — mit dem Aufwachen auf und währt bis zum Einschlafen, ohne indess den Mann am Einschlafen zu hindern; diesen absolut kontinuirlichen Charakter hat es allerdings nur subjektiv, objektiv war es manchmal nicht zu hören, und zwar gerade auch einmal, als ich es mehreren Kollegen vorführen wollte. Manohmal überschlägt das Geräusch auch einen Pulsschlag, im Allgemeinen aber ist es mit dem Puls völlig synchron.*) Seiner Intensität nach ist das Geräusch ausserordentlich fein; man muss sein Ohr unmittelbar neben das des Unter¬ suchten bringen, und auch da muss völlige Ruhe in der Um¬ gebung herrschen, wenn man es hören will; es wird bereits übertönt von dem feinen Ticken einer Tasohenuhr, die man in die Nähe des Knies des sitzenden Untersuchten hält. Die Herztbätigkeit ist bisweilen beschleunigt, auf 100 bis 108 Schläge, sonst ist aber am Herzen nichts Krankhaftes nachweisbar. Ueber der linken Carotis hört man zwei reine, vom Herzen fortgeleitete, kräftige Töne, doch ist hier der erste von ihnen unmittelbar von einem kurzen, schabenden Geräusch gefolgt, derart, daB8 dieses den Ton manchmal ganz verdeckt. Der Puls ist beiderseits gleichmässig, voll, weich, regelmässig; abnorme Pulsation ist nirgends wahrnehmbar. Nach Luftdurchblasung durch die Ohrtrompete mittels Katheters oder Ballons ist das Geräusch subjektiv wie objektiv unverändert. Es bleibt auch unverändert bestehen, wenn man den Mann den Mund weit öffnen lässt, doch setzt es dabei bisweilen um einen oder mehrere Pulsschläge aus; an der Gaumenmuskulatatur ist nichts Abnormes zu entdecken. Am 30. März wurde der Mann als dienstfähig aus der Behandlung entlassen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass es sich hier um ein Gefässgeräusch handelt; näheren Aufschluss über den Sitz bezw. die Quelle des Geräusches zu erlangen, ist uns aber nicht gelungen. Die interessante Thatsache, dass mit der eiterigen Entzündung des linken Mittelohres das Geräusch links verschwunden ist, spricht dafür, dass es sich wohl um Gefässveränderungen im Mittelohre selbst handeln muss. Die Geräusche haben dem Manne nie Beschwerden gemacht und thun es auch jetzt nicht. Er war früher Hausdiener, später Holzlader; beiden Beschäftigungen hat er ohne irgend welche Beeinträchtigung nachgehen können, ebenso wie er jetzt seinen militärischen Dienst in vollem Umfange thut. Weder auf das Hörvermögen, noch auf den psychischen, noch auf den körperlichen Zustand des Mannes hat das Geräusch irgend welchen schädigenden Einfluss ausgeübt, und es ist daher auch ohne jeden beschränkenden Einfluss auf seine Arbeits- und Erwerbsfähigkeit geblieben. Dieser letztere Punkt ist gerade für den ärztlichen Sachverständigen von Wichtigkeit. Die Beurtheilung der Erwerbsfähigkeit bei Verletzten, die in Folge eines Unfalles an Ohrengeräuschen leiden, ist, wie ich aus vielfacher eigener Erfahrung weise, überaus schwierig. Dass subjektive Geräusche an und für sich die Erwerbsfähigkeit, sogar in hohem Grade, beeinträchtigen können, ist ausser allem Zweifel, und ich *) Bei einer späteren Untersuchung konnte ich feststellen, dass das Knacken auch zn hören war, während der Mann schlief. Digitized by Google 16. Mai 1900. Aerztliohe Sachverst&ndigen-Zeitung. 197 habe bis jetzt den Standpunkt eingenommen, in jedem Falle, wo das Vorhandensein subjektiver Geräusche als nachgewiesen gelten konnte*), auch eine gewisse Einschränkung der Erwerbs- fäbigkeit in Folge dieser Geräusche anzunehmen. Ich würde daher in dem vorliegenden Falle, wenn mir der Mann gesagt hätte, die Geräusche seien ihm hochgradig lästig, sie hinderten ihn, seine Aufmerksamkeit dauernd einem bestimmten Gegen¬ stand zuzuwenden, sie nähmen bei körperlichen Anstrengungen und bei Blutandrang nach dem Kopfe derart zu, dass er öfter gezwungen sei, in der Arbeit innezuhalten, so dass er nicht so viel leisten könne wie ein Gesunder, sie erschwerten ihm das Einschlafen, deshalb sei er am Morgen nicht genügend ausgeruht und auch darum in seiner Erwerbsfähigkeit be¬ schränkt, — ich würde, sage ich, wenn er mir diese oder ähnliche Angaben gemacht hätte, nicht Anstand genommen haben, in einem etwaigen Gutachten seine Erwerbsfähigkeit für in gewissem Grade — vielleicht um 15 bis 20 Prozent — beeinträchtigt zu erklären. Demgegenüber lehrt nun unser Fall, dass selbst da, wo die Ohrengeräusche positiv nachgewiesen sind, eine Beschränkung der Erwerbsfähigkeit durch sie nioht gegeben zu sein braucht Hier spielt offenbar das Temperament eine grosse Rolle, und man muss daher bei der Begutachtung Unfallver¬ letzter mit Ohrengeräuschen auoh diesen Faktor mit in den Bereich seiner Erwägungen ziehen. Referate. Allgemeines. lieber die Gefahren der Aethylchloridnarkose. Von Dr. Lotheissen, Priv.-Doot. u. Ass. a. d. chir. Kl. z. Innsbruck. (M. M. W. 1P00. NO. 18.) L. ist ein Freund der Narkose mit Chloraethyl (Kelen), die durch die Raschheit ihres Eintretens und — nach Weglassung der Kelendämpfe — des Wiedererwachens sein soll. Nach der kleinen bisher vorliegenden Statistik (2550 Narkosen — 2 Todes¬ fälle) würde das Chloraethyl zwischen Chloroform und Aether in Bezug auf seine Gefährlichkeit stehen, doch ist eben das Material noch ungenügend für statistische Zwecke. Verf. hat einen Todesfall in dieser Narkose beobachtet. Bei einem Alkoholiker, dem ein Unterschenkelgeschwür über¬ pflanzt werden sollte, trat starke Erregung ein, weshalb die Menge des Betäubungsmittels vermehrt wurde. Eine Minute nachher — 3 Minuten nach Beginn der Narkose — wurde das Blut der Wunde dunkel, das Gesicht bläulich. Hornhaut- und Pupillenreflexe fehlten, krampfhafte Muskelbewegungen stellten sich ein, die Athmung konnte nur stossweise geschehen. Plötz¬ lich setzte der Puls aus und kam trotz aller Rettungsversuche nicht wieder. Alles das vollzog sich blitzartig rasch. Die Leichen¬ öffnung ergab Herzverfettung und -Hypertrophie neben mittel¬ starker Verhärtung der Kranzadern. Blutungen in die serösen Häute fehlten. Dass Aethylchlorid in zu hoher Gabe Muskelkrämpfe er¬ zeugen kann, ist bewiesen, Athemstörungen scheinen bei zu grosser Dichtigkeit der Dämpfe vorzukommen. In L’s. Falle dürfte Stimmritzenverschluss durch Erregung der Gefühlsnerven des Kehlkopfes zu einer Erhöhung des Druckes in der Brust¬ höhle und damit zur Behinderung der Blutbewegung in den sklerotischen Kranzadern geführt haben. Schliesslich wurde das Herz ungenügend ernährt, seine Nervenzentren versagten *) Ueber die schwierige Diagnose dieser Geräusche habe ich mich in den Charitö-Annalen,XXIIL Jahrgang 8.605, »Die Diagnose der traumatischen Affektion des inneren Ohres", eingehender verbreitet. den Dienst (eine verwiokelte Erklärung, die der Theorie von Mao William und Leonard Hill entspricht). Das Erbrechen, das bei länger dauernden Kelen-Narkosen nioht so selten sein soll, wie man früher annahm, soll nie so heftig wie bei Chloroform oder Aether sein. Um üble Zufälle zu vermeiden, empfiehlt es sich, die Aethyl¬ chloridnarkose mit möglichst kleinen Mengen des Mittels zu bewerkstelligen (Anfangs nie über 3 Gramm!). Ferner ist die geschlossene Aether- oder Bromaethylmaske ungeeignet, weil in ihr leicht die Luft zu stark mit dem Gas gesättigt wird. Vielmehr ist eine Maske mit Ein- und Ausathmungsventil, wie der Breuersche Korb, zu empfehlen. Nie, auch dann nicht, wenn die Betäubten unruhig werden, ist es erlaubt, frisch auf¬ zugiessen, wenn nioht durch Riechen am Ausathmungsventil fe8tge8tellt ist, dass kein Kelen mehr ausgeathmet wird. Kinder und schwache Personen verbrauchen in der Minute 1 Gramm, kräftige Leute 1,5, Trinker und wiederholt Narkotisirte 2 Gramm im Durchschnitt. Nur bei strenger Durchführung aller der aufge¬ zählten VorsiohtsmaBsregeln ist die Aethylohlorid- narkose gefahrlos. Zur Kasuistik des Blitzschlages. Von Dr. Philipp Bauer-Weiden. CMOnoh. med. W. 1890. No. 3.) Von demselben Blitze wurden zwei ländliche Arbeiter ge¬ troffen. Der eine, ein 25jähriger Mann, blieb sofort tot, der andere, ein Knabe von 13 Jahren, wurde bewusstlos, erholte sich aber bald wieder. Unmittelbar nachher verspürte er Brennen in beiden Beinen, der eine Arm war gelähmt. Bei Ankunft des Arztes waren Störungen der Bewegung und Empfindung nicht mehr vorhanden. Bei Besichtigung des Knaben fand man an den Kleidungs¬ stücken nur sieben kleine Löcher mit versengten Rändern, die das Tuch des rechten Jackenärmels durchsetzten. Auf der Haut bestanden zwei riohtige Brandwunden am rechten Ell¬ bogen und Kleinfingerballen, ausserdem eine Blase an der Beere des Zeigefingers. Sehr ausgeprägt waren die als Blitzfiguren bekannten scharlachrothen Verfärbungen, die als korallenartig verästeltes Streifenwerk über die Haut hinziehen. Die linke Wade war völlig scharlachroth verfärbt, von ihr auB zog sich die eine Blitzfigur spiralig um den Schenkel nach der Leisten- und Unterbauchgegend, während die andere von der reohten Gesässgegend nach allen Seiten ausstrahlte. Am dritten Tage waren die Figuren verschwunden. Ueble dauernde Folgen hatte der Blitzsohlag nioht Bei dem Getöteten wurde die Leichenöffnung vorgenommen. Schon die Besichtigung der Kleidung, von der nur der Hut und der Hemdkragen durchlöchert und versengt, Alles Uebrige unversehrt war, zeigte, welche Organe der Blitz zuerst getroffen hatte. Die Kopihaare waren versengt. Hautabschürfungen fanden sich an der reohten Wange und Brust, hier und in der linken Leistengegend, ebenso an der Lendengegend, der linken Hinterbacke und der rechten Kniekehle war die Haut gleich¬ zeitig hellroth verfärbt. Auf dem Rücken bemerkte man massen¬ haft Blutaustritte unter die Haut, alle von geringer Ausdehnung. Das Gehirn war sehr weich, seine Windungen schienen abge¬ flacht, auf Schnitten sah man wenig Blutpunkte, aber hellrothe fleckige Flächenblutungen bedeckten einen Theil des Stirn- und linken Schläfenlappens, sowie des Hirngrundes. Die Gefässe des Darmes waren stark angefüllt, die Milz etwas vergrössert und sehr dunkel, fast schwarz. Sonst waren die inneren Organe bis auf ein altes Leiden — eine Herzverfettung und Herzbeutel¬ verwachsungen — unverändert. Das Blut war flüssig geblieben. Das Sektionsergebni88 hat genau das Bild geliefert, das Digitized by Google 198 Aerztliche Sachverstlndigen-Zeitung. No. 10. Dürck in einem Falle von Blitzschlag gewonnen hat. Auf den Blitz sind zurückzuführen: Die aufgehobene Gerinnungsfähig¬ keit des Blutes, die Verfärbungen und Brandwunden der Blaut, die Versengungen der Haare, die Weichheit und Blutarmuth des Gehirns, die Blutungen unter dessen weiche Haut, die starke Füllung der Darm- und Milzgefässe. Die stetige Zunahme der Krebserkrankungen in den letzten Jahren. Von Dr. Carl Mäder, Ass. am hygien. Inst, in Breslau. (ZUchr. f. Hyg. u. Inf. 1900. No. 2.) Erst kürzlich hatten wir Gelegenheit, einige Aufsätze zu besprechen, die das Häufigerwerden krebsartiger Krankheiten betrafen. Ihnen reiht sich die Arbeit Ma e d er s aus dem Flügge- schen Institut an, die auf den amtlichen Berichten Preussens und der beiden Staaten Sachsen und Baden, in denen die Totenschau gesetzlich geregelt ist, beruht. Auf je 10000 Lebende berechnet, starben in Preussen 1891: 4,50, 1894: 5,27, 1896: 5,52 an Krebs, dagegen 1891: 26,72, 1894: 23,92, 1896: 22,10 an Tuberkulose. Diese Zunahme des Krebses gilt für Männer und Frauen, für Stadt- und Landbewohner. Das Ergebniss ist im Wesentlichen dasselbe, wenn man die Ziffern statt auf Lebende auf Gestorbene berechnet. Einige bemerkenswerthe Thatsachen ergeben sich noch, wenn man von der Zunahme absieht und die Prozentzahlen für Männer uod Weiber, für Stadt- und Landbewohner unter¬ einander vergleicht. Es zeigt sich da, dass der Krebs im All¬ gemeinen, in der Stadt viel häufiger (ca. doppelt so häufig) als auf dem Lande, in den grössten Städten häufiger als in den kleineren ist, und dass in den Städten die Frauen einen deutlich grösseren Antheil liefern als die Männer. Auch die Tuberkulose fordert auf dem Lande im All¬ gemeinen weniger Opfer als in der Stadt. Aber sie trifft mehr die Männer als die Frauen, und, wie oben gezeigt wurde, ihre Sterblichkeitsziffer nimmt stetig ab, auf dem Lande.wie in der Stadt. Es würde hier zu weit führen, genau nach den Angaben M.’s darzulegen, wie Krebs und Tuberkulose sich in den ein¬ zelnen Regierungsbezirken und in den Staaten Sachsen und Baden verhalten. Im Grossen und Ganzen wiederholt sich überall das oben geschilderte Verhältniss zwischen 1891 und 1896, zwischen Stadt und Land, Männern und Frauen, freilich mit grossen Gradunterschieden und einigen wenigen Ausnahmen (z. B. Gleichbleiben der Schwindsucht in Baden). Erwähnens- werth ist nur noch, dass einzelne Landestheile dauernd stärker von Krebs heimgesuoht sind als andere. Die [gesperrt gedruckten] Hauptergebnisse der Statistik hält Verf. für einwandsfrei. Chirurgie. Zwei Fälle von traumatischem Chylothorax. Von Dr. Hand mann, Ass.-A. a. Alten Allgem. Krankenh. Hamborg. (M. M. W. 1899. No. 6.) Bisher sind nur 9 Fälle mitgetheilt, in denen sicher durch Verletzungen das Austreten von Chylus aus dem Brustgang in die Brusthöhle bewirkt worden ist. Bei den beiden neuen, vom Verf. berichteten Fällen war der Sachverhalt, kurz dar¬ gestellt, folgender: Ein 16jähriger Junge wird von der Speiche eines Schwung¬ rades erfasst und gegen das steinerne Fundament des Schwung¬ rades gepresst. Die Untersuchung ergab Brüohe des linken Schlüsselbeins und der ersten bis fünften Rippe rechts. Die Athmung war oberflächlich und schmerzhaft, Auswurf nicht vorhanden. Am nächsten Tage wurde die Lunge untersucht. Beiderseits fand sich hinten unten je eine Dämpfung, links 3, rechts 2 Querfinger breit. Die Probepunktion ergab hier flüs¬ siges Blut, dort aber eine orangefarbene milchige Flüs¬ sigkeit, die weder gerann noch sich schichtete. Mikroskopisch waren in ihr feinste Kügelchen von starkem Lichtbrechungs¬ vermögen in grosser Masse vorhanden, die sich weder mit Osmiumsäure noch mit Sudanroth in der für Fett kennzeich¬ nenden Weise färbten, ausserdem viel weisse, wenig rothe Blutkörperchen. Die Dämpfungsbezirke wurden nicht grösser. Nach 12 Tagen ergab eine erneute Punktion hier milch weisse Flüssigkeit, die durch Aether nicht aufzuhellen war und keinen Zucker enthielt, rechts dagegen klares Serum. Im weiteren Ver¬ lauf der Behandlung schwanden alle abnormen Erscheinungen, der Verletzte wurde voll arbeitsfähig. Ein 22jähriger Mann wurde von einer schwingenden Schaukel vom gegen die Brust getroffen. Es bildete sich links eine bis fast zur Lungenspitze reichende Dämpfung. Punk¬ tion ergiebt 2—3 Liter milchweisse Flüssigkeit mit allen Kenn¬ zeichen des Chylus. Nach noch 2 weiteren Einstichen bes¬ serte sich der Zustand bis zur vollen Heilung. Weitere Notizen sind nicht vorhanden. Bei dem ersten dieser Fälle, bei dem weder Fett in grösse¬ ren Tropfen noch Zucker in der entleerten Flüssigkeit nach¬ gewiesen wurde, beruht die Annahme, dass es sich um Chylus gehandelt hat, lediglich auf dem Aussehen der Flüssigkeit, das besonders beim zweiten Einstich keine andere Deutung erlaubte. Thatsächlich kann Chylus im Hungerzustand sich so verhal¬ ten wie hier. Da es erwiesen ist, dass der Junge vor der Verletzung am selben Tage nur Kaffee und ein Brötchen zu sich genommen hat, da ferner, nach der Grösse der Dämpfung zu urtheilen, später kein Chylus mehr nachgesickert ist und aus dem vorhandenen im Laufe von 10 Tagen der etwa an¬ fangs darin enthaltene Zucker wieder aufgesaugt sein konnte, so liegt ein Widerspruch hier nicht vor. Wahrscheinlich ist gleichzeitig der grosse Chylusgang oder einer seiner Aeste und das Rippenfell durch Ueberstreckung der Wirbelsäule und Zusammenpressung des Brustkorbs eingerissen. Wie die Ver¬ letzung im zweiten Falle zu stände gekommen ist, lässt sich aus den spärlichen Mittheilungen nicht erkennen. Innere Medizin. Ein Fall von Skorbut auf dem Lande. Von Dr. M. Rothsohild-Raudegg (Baden). (IC. M. W. 1900 No. 3.) Es handelt sich um ein erblich nicht belastetes Mäd¬ chen von 25 Jahren, das bis auf einiges Nasenbluten in früheren Jahren niemals eine Neigung zu Blutungen gezeigt, insbesondere nach Zahn-Extraktionen nie stark geblutet hat. Sie lebte unter günstigen gesundheitlichen Verhältnissen, in einem gesunden Orte, einer guten geräumigen Wohnung und war an reichliche gut gemischte Nahrung gewöhnt. Ein Skorbutfall ist bisher im Orte nicht beobachtet worden. Dieses Mädchen erkrankte an „Rheumatismus“ verschiedener Muskeln und Gelenke, der mit Salizylsäure, Salipyrin und andern Mitteln behandelt, zeitweise gebessert wurde. Es fiel auf, dass der Unterkiefer besonders schmerzte, was an anderm Orte vielleicht den Verdacht auf Skorbut erweckt hätte. Nach zwei Monaten trat eine rasche Veränderung ein. Zahnfleisch- blutungen erfolgten, der Appetit schwand, die Haut wurde fahl und trocken, an den Lippen bläulich, später kam Erbrechen und Stirn- kopfschmerz dazu. Alsbald wurde das Zahnfleisoh entzündet und Digitized by Google 15. Mai 1000. Aerztliche Saohverständigen-Zeitung. 199 ^achwürig, Blatangen in die Schleimhaut dee weichen Gaumens md. Zäpfchens, Gebärmutterblutungen kamen hinzu. Trotz aller 3 egenm assregeln erfolgte in drei Tagen der Tod. Die Entstehung der Krankheit ist hier völlig dunkel. TJeber Cavernitis und Lymphangioitis penis. Von Dr. M. Horovitz-Wien. (Wiener mediiinisehe Presse No. 10, 1900). Es giebt eine Reihe sehr differenter und im pathologischen Systeme weit von einander abstehender Krankheitsprosesse, die nicht nur die allgemeine Decke des männlichen Gliedes, sondern auch seine tiefer liegenden Gebilde, wie Tunica albu- ginea und den Sohwellkörper, in Mitleidenschaft ziehen. Diese Krankheitsprozesse rufen auf verschiedene Art eine Prolifera¬ tion des hier befindlichen Bindegewebes hervor; sie bewirken Neubildung eines die Gefässe konstringirenden und die übrigen Gewebselemente verdrängenden Ersatzgewebes. Oft geräth auch die Gefässwand in ein abnormes Wachsthum und erleidet eine Ernährungsstörung; der Gefässkanal wird streckenweise unwegsam, es kommt zu Blutgerinnungen, und zum Schlüsse ist eine Schwiele aus derbem, festem Bindegewebe an der Stelle, wo früher ein weiches, elastisches, eines verschiedenen Füllungsgrades fähiges Gewebe war. Diese Schwiele kann unter Umständen sogar verkalken, oder verknöchern. Die Folgen, welche diese Veränderungen für die Funktion des Organes nach sich ziehen, liegen auf der Hand: Durch das Zirkulationshinderniss verliert das Glied die Fähigkeit, sich in den ergriffenen Partien entsprechend mit Blut zu füllen; es ist auch die Bahn des Blutzufiusses zu den vor der Schwiele gelegenen Partien verlegt. Das Glied kann daher keine kom- plete Erektion effektuiren, was einer BegattungBimpotenz gleich¬ kommt. Als sichergestellte Formen derartiger Penisverhärtungen unterscheidet Verfasser vier, und zwar die syphilitische, go- norrhoische, traumatische und senile. Die gonorrhoische und traumatische Form tritt mit Lymphangioitis des Gliedes ver¬ gesellschaftet auf, die drei ersten Formen setzen mit einer akuten Cavernitis als Anfangsstadium ein, alle führen zur Impotenz. Therapeutisch am günstigsten steht es bei den luetischen und traumatischen Formen, besonders wenn die ge¬ eigneten Mittel (Hg, Jod oder chirurgische Eingriffe) nicht zu Bpät kommen. -y. Zur Uebertragung der Tuberkulose durch die rituelle Circumcision. Von Hofrath Prof. Neumann-Wien. (Wiener med. Prewe No. 13, 1900.) Fälle von Impftuberkulose, welche ihre Entstehung der rituellen Ciroumoision verdanken, sind schon eine ganze Reihe bekannt geworden. Verf. berichtet über einige weitere der¬ artige Fälle und verlangt auf Grund seiner Erfahrungen sani¬ täre Massregeln gegen diese Art der Verbreitung der Tuber¬ kulose. —y. Epidemiologie und Prophylaxis der Malaria vom neusten aetiologischen Standpunkte aus. Von A. Celli. (Berliner klinische Wochenschrift No. 6—7, 1900.) In Italien besteht eine besondere Gesellschaft zur Malaria¬ forschung. In dem vorliegenden Aufsätze giebt Verf. einen Ueberblick über die Arbeiten, die aus dieser Gesellschaft her¬ vorgegangen sind und die sich auf die Aetiologie und Prophy¬ laxis der Malaria beziehen. Aus der inhaltsvollen Zusammen¬ stellung erhellt, dass man in das Wesen dieser Krankheit in den letzten Jahren tief eingedrungen ist. Die Malaria wird hervorgerufen duroh Stechmücken, die zu der Gattung Ano¬ pheles gehören; der Mensch ist der Zwischenwirth, die Stech¬ mücke der eigentliche Wirth der Malariaparasiten. Verfasser geht ausführlich auf Leben und Gebräuche dieser Stechmücken¬ arten ein, bespricht die Transportwege der Malariainfektion, bezeichnet die Haut als die einzige unanfechtbare Invasions¬ pforte für die Malariakeime, erörtert die organische, individuelle, physische, örtliche und sociale Disposition oder Immunität und macht schliesslich eine Reihe von Vorschlägen zur pro¬ phylaktischen Bekämpfung der Malaria. — y. Psoriasis und Glykosurie. Aus d. HI. medizin. Klinik der Charite und der Kgl. Univ. Poliklinik f. Haut- u. Ge8chlecht8krkh. zu Berlin. Von Franz Nageischmidt. (Berliner klinisch© Wochenschrift No. 2, 1900.) Seitdem man begonnen hat, auf den Zusammenhang von Hautkrankheiten mit allgemeinen Erkrankungen des Körpers mehr zu achten, hat die Psoriasis nach dieser Richtung ein ganz besonderes Interesse in Anspruch genommen. So wenig Positives man zur Zeit über ihr Wesen und ihre Aetiologie weiss, so bricht sich doch neuerdings die Anschauung mehr und mehr Bahn, dass das Wesentliche dieser Affektion nicht in der lokalen Erkrankung der Haut zu suchen sei, sondern dass ihr ein konstitutionelles Leiden zu Grunde liege. Unter den Thatsachen, welche die diesbezüglichen Forschungen zu Tage gefördert haben, sind besonders die Beziehungen interes¬ sant, welche zwischen Psoriasis, Nervenkrankheiten, Gicht und Diabetes bestehen. Was speziell den Zusammenhang zwischen Diabetes und Psoriasis betrifft, so ist von verschiedenen Seiten die Behauptung aufgestellt worden, dass Psoriasiskranke eine gewisse Disposition zur Glykosurie zeigen. Das in der Literatur niedergelegte diesbezügliche Material reicht zur Entscheidung dieser Frage nicht aus. Verf. ist deshalb dem Studium dieser Frage auf einem anderen Wege näher getreten, indem er fest¬ zustellen sachte, ob Psoriasiskranke zur alimentären Glyko¬ surie neigen. In der That zeigten von 25 hierauf geprüften PBoriasiskranken 8=32% eine Disposition zur alimentären Gly¬ kosurie. Obgleich diese Zahl eine Überraschend hohe ist, will Verf. vorläufig keine weitgehenderen Schlüsse aus seinen Beobachtungen ziehen. Immerhin ist das Resultat darnach angethan, zu weiteren, umfassenderen Untersuchungen der in Rede stehenden Frage anzuregen. — y. Ueber die Glycosurie der Yaganten. Von G. Hoppe-Seyler-Kiel. M. M. w. 1900 No. 16. Bei einer Anzahl von Leuten, die ein unstetes Wander* leben vor der Aufnahme ins Krankenhaus geführt hatten, bei dem sie wohl auch mangelhaft ernährt und körperlichen Strapazen unterworfen waren, enthielt der Urin gleich nach der Aufnahme Zucker. Meist betrug der Zuckergehalt unter 1 Prozent, einmal aber d x /2 Prozent. Die Menge des Harns war in letzterem Falle gesteigert. Nach einigen Tagen verlor sich bei allen der Zuckergehalt unter Darreichung reichlicher gemischter Kost, und es konnte später auch durch Zufuhr grösserer Mengen von Traubenzucker keiner mehr in den Harn übergeführt werden. Eine eingehende Erörterung über die Natur dieser von der alimentären Glycosurie scharf gesonderten Erscheinung ergiebt, dass aller Wahrscheinlichkeit nach hier zwei Umstände Zusammenwirken: als Hauptursaohe die Unterernährung des Körpers, die sich meist auch in dem Aussehen der Leute zeigte, als Nebenursachen Störungen in der Leber und Bauch¬ speicheldrüse, herrührend von der unregelmässigen Lebens¬ weise, dem übermässigen Alkoholgenass und ähnlichen Schäd¬ lichkeiten. ; \ Digitized by Google 200 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 10. Psychiatrie und Neurologie. Beitrag zur Statistik, Aetiologie und Symptomatologie der allgemeinen progressiven Paralyse der Irren mit besonderer Berftcksiclitigung der Syphilis. Von Hans Sprengeler- Wehnen. (Aller. Ztechr. f. Psych. Bd. 66, H. 5.) Die Arbeit enthält ausser einer sorgfältigen Wiedergabe der gesammten Statistik des Lähmungsirrseins, die sich bisher in der ärztlichen Literatur aufgehäuft hat, eine eigene Zu¬ sammenstellung von 837 Fällen aus der Göttinger psychia¬ trischen Klinik. Verf. kommt zu dem Ergebniss, dass Syphilis die bei weitem wichtigste unmittelbare oder mittelbare Ursache der Paralyse sei. An zweiter Stelle aber ist der Alkoholmissbrauch, an dritter erbliche Belastung, ferner sind noch Kopfverletzung, seelische Erschütterung, Elend und Noth, geschlechtliche Aus¬ schweifungen, Bleivergiftung, Sonnenstich und strahlende Hitze im Stande, die Krankheit hervorzurufen, sei es, dass einer dieser Einflüsse allein oder mehrere vereinigt auf den Men¬ schen eingewirkt haben. Der geistigen Ueberarbeitung einen ähnlichen Einfluss zuzuschreiben, fand S. sich nicht genöthigt. Wir brauchen wohl nur kurz darauf hinzuweisen, dass dieser Statistik, wie den meisten andern ähnlichen, nur ein bedingter Werth zugesprochen werden kann, zumal auch das Material einer Irrenklinik von gewissen Einseitigkeiten nicht frei bleibt Recht interessant sind einzelne besonders hervorgehobene Fälle. Z. B. setzte die Geistesstörung einmal bei einem vor¬ her gesunden Menschen unmittelbar nach einem Hitzschlag, ein anderes Mal gleichzeitig mit einem Influenzarückfalle ein. Ein bis dahin gesundheitlich einwandfreier Schlosser erschrak heftig bei der in seiner nächsten Nähe erfolgenden Explosion eines Kessels, war dann, ohne verletzt worden zu sein, stun¬ denlang sprachlos und verfiel unmittelbar im Anschluss daran in eine rasch fortschreitende Verblödung mit den körperlichen Kennzeichen des Lähmungsirrseins. Veber Suggestion und Psychotherapie. Von Dr. Dubois. (KorrespondensblAtt für Schweizer Aerste No. 3, 1900.) Die tägliche Erfahrung lehrt, dass nervöse Erscheinungen aller Art, gleichgiltig, ob sie die Symptome einer reinen Neu¬ rose, resp. Psychose, etwa der Hysterie, der Neurasthenie darstellen, oder ob sie im Verlaufe somatischer Erkrankungen auftreten, völlig beseitigt werden können, wenn dem Patienten die Ueberzeugung beigebracht werden kann, dass die Heilung eintreten werde. Diese Thatsache muss als die Grundlage jeder Psychotherapie angesehen werden. Der Arzt muss vor Allem wissen, welche Mittel ihm zu Gebote stehen, um diesen felsenfesten, zur Heilung führenden Glauben zur Entwickelung zu bringen. Ein erster Schritt auf dem Wege zu diesem Ziele ist das Wohlwollen. Wenn einmal der Kranke merkt, dass man sich nicht nur für den Klienten, für den Fall, sondern auch für den Menschen interessirt, so ist schon viel erreicht, der Patient neigt schon nach der Heilungsseite. Ein zweites Mittel ist eine exakte Diagnose, welche zu einer günstigen Prognose führt. Sobald der Arzt, gestützt auf eine gewissen¬ hafte klinische Untersuchung die Harmlosigkeit des Uebels, seine völlige Heilbarkeit betonen kann, so ist der Patient schon halb geheilt. Sehr wirksam ist ferner die Erzählung des günstigen Verlaufes in analogen Krankheitsfällen. Nichts giebt dem Patienten soviel Muth und Zuversicht, wie die Mittheilung, dass Patienten mit der nämlichen Erkrankung geheilt wurden. Sache des Arztes ist es, seine Erfahrungen in diesem Sinne zu verwerthen. Ein viertes, sehr wirksames Mittel liegt in der Anwendung einer rationellen körperlichen Behandlung, meist durch rein hygienische Massregeln. Natürlich wirkt diese Therapie schon an sich, aber sie wirkt auch psychisch, sie weckt das Zutrauen und lässt den Patienten die Zusicherung des Erfolges plausibel erscheinen. Endlich, und das ist für Verfasser der Kernpunkt der rationellen Psychotherapie, muss der Kranke in langen und häufigen Unterredungen über die Natur seines Leidens, über die psychischen Faktoren, welche bei der Enstehung desselben mitgewirkt haben, unterrichtet werden. Sämmtliche Erscheinungen der Nervosität lassen sich ohne Mühe auf drei psychische Hauptfehler zurückführen. Krankhaft gesteigert sind bei ihnen die Ermüdbarkeit, die Emotivität und die Autosuggestibilität. Die Neurastheniker sind im Grunde gar nicht schwach, sie sind leicht verstimm¬ bar; ihre angebliche Schwäche ist mehr Unlust als Unfähig¬ keit Es muss den Patienten offen, aber mit Schonung und Takt, gesagt werden, dass ihre Ermüdbarbarkeit im Gemüth liegt. Die Emotivität ist zugleich ein Symptom und eine der Hauptursachen der Nervosität. Durch vernünftige Zuspraohe kann man Kranke zu einer gewissen Selbstdressur bringen, die ihnen über ihre Beschwerden hinweghilft. Gleichzeitig muss man auf dem Gebiete der Autosuggestibilität korrigirend ein- greifen. Die ganze Psychotherapie beruht demnach auf der erzieherischen Thätigkeit, welche der Arzt auf seine Patienten ausüben kann. Welche Erfolge sich auf diese Weise erzielen lassen, zeigt Verfasser an mehreren klassischen Beispielen. Die Psychotherapie ist nach den Erfahrungen, die Verfasser in 25jähriger Praxis gesammelt hat, wirksamer als jede andere Behandlung, sie führt häufig allein zum Ziele und unterstützt in anderen Fällen an sich wirksame medikamentöse und physi¬ kalische Behandlungsmethoden in erheblichem Masse. Will aber der Arzt diesen Weg einschlagen, so muss er sich fest auf folgende Grundgedanken stützen: 1. Die Nervosität, unter welchem Namen die Hysterie, die Neurasthenie und alle ver¬ wandten Mischformen zu verstehen sind, ist ein psychisches Uebel, ein Gemütszustand. 2. Das Ziel der Behandlung soll sein, den Patienten die Selbstbeherrschung wiederzugeben. 8. Das Mittel dazu ist die rationelle Erziehung des Willens, oder, besser gesagt, der Vernunft, denn beim Vernunfts¬ menschen soll der Wille passiv in das von der Vernunft tief gegrabene Geleise fallen. —y. Vergiftungen. Vergiftung mit Sublimat bei einer Schwangeren. Von M. D. Eder. (The Lanoefe 13. Jan. 1900.) Der Verfasser berichtet über eine schwere Vergiftung durch Sublimat, welche merkwürdiger Weise nicht zum Tode führte. Eine schwangere Frau, 30 Jahre alt und im sechsten Monat der Schwangerschaft, nahm durch Zufall 2 Gramm Sublimat. Der Arzt, welcher sie erst drei Stunden später zu sehen be¬ kam, fand sie im schweren Collaps, die Lippen, die Zunge, der Rachen, waren stark angeätzt. Es bestanden grosse Schmerzen im Rachen und im Leibe und fortwährendes Erbrechen. Die Magenpumpe wurde nicht angewandt, sondern nur grosse Quantitäten von Eiweiss mit Wasser wurden verabreicht; an¬ fangs wurde auch etwas Morphium, später dauernd Aether in- jizirt Am folgenden Tage hörte das Erbrechen auf, dagegen traten Durchfälle auf, welche blutigen Schleim enthielten. Die Patientin erholte sich nur sehr allmählig, aber ungefähr nach einem Monat war sie wieder im Stande feste Nahrung zu sich Digitized by Google 15. Mai 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 201 za nehmen. Es blieb keine Verengerung der Speiseröhre zu¬ rück. Vier Monate später nun traten Wehen auf und bei der ärztlichen Untersuchung, welche erst drei Tage später statt hatte, zeigten sich beträchtliche Oedeme der Beine, der Arme, der Vulva und des Gesichtes, welche die Frau geradezu un¬ kenntlich machten. Nach eigener Angabe war sie bereits zwei Monate in diesem Zustande, ohne ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Geburt ging ohne grössere Schwierigkeit von statten; es handelt sich um eine Zwillingsgeburt, bei welcher das erste Kind, ein ausgetragener Knabe, mittelst Zange lebend geboren wurde, das zweite Kind, ein Mädchen, nach Sprengung der Eihäute spontan, aber tot zur Welt kam. Eine später eingetretene Blutung kam durch bimanuelle Kompression und mit Hülfe von Heisswasserspülung und Ergotin zum Stillstand. Einige Tage nach der Geburt noch befand sich die Wöchnerin in kritischer Lage, dann aber war die Bekonvalescenz unge¬ stört, die Oedeme verschwanden, ehe sie das Bett verliess. Der Urin war in diesem Falle nicht untersucht worden. (!) Franz Meyer-Berlin. Ein Fall von akuter Cocainvergiftung. Von Dr. Bergmann-Wolfhagen. (M. IC. W. 1900, No. 12.) Verf. spritzte einem an Ischias leidenden Landmann in der Sprechstunde 0,05 gr Cocain in frischbereiteter Lösung in die Gegend der Hüftnerven ein. Die Schmerzen vergingen alsbald, der Mann konnte beschwerdelos heimwärts laufen. Am näch¬ sten Tage — vielleicht auch noch am selben? — arbeitete der Kranke schwer im Felde. Als er ermattet heimkam, liess er den Verf. rufen und drang in ihn, ihm wegen Schmerz in der Wade eine neue Einspritzung zu machen. B. that dies, wenn auch ungern, er gab diesmal 0,03 gr. Drei Minuten nachher bekam der Kranke einen Ohnmachts¬ anfall, dem beschleunigte Herzthätigkeit, Beklemmung, Benom¬ menheit bis fast zur Bewusstlosigkeit folgte. In den Gliedern stellte sich erst ein Knebeln und Taubsein, dann starke Zuok- krämpfe — ausser in dem kranken Bein — ein, ebensolche bestanden in der Muskulatur der Lider und der Zunge. Das Gesicht war geröthet, die Augäpfel vorgetrieben. Nach einer halben Stunde war der ganze Anfall vorüber, der Krämpfe erinnerte der Kranke sioh nicht mehr. Die Ischias soll von Stund an weggeblieben sein. Der Fall zeigt nach Ansicht des Verf., dass die Bedingun¬ gen der stärkeren oder geringeren Gift-Wirkung von Cocain in mässigen Gaben noch nicht genügend studirt sind. Eine dem einzelnen Menschen innewohnende Ueberempfindliohkeit gegen das Mittel sei hier ausgeschlossen, da die erste kräftige Gabe gut vertragen wurde. Vielleicht kann sich bei wieder¬ holter Darreichung die Wirkung häufen? Wahrscheinlich sei Verf. mit der Spritze in eine Vene gerathen, wodurch das Gift sehr plötzlich in den Kreislauf gelangt sei. U. E. muss man auch berücksichtigen, dass im vorliegenden Falle zwischen den beiden Cocain-Verabfolgungen grosse körperliche Anstrengungen lagen, die die Widerstandsfähigkeit des Körpers zu verringern geeignet waren. Es ist doch zweifelhaft, ob so kräftige Gaben eines narkotischen Mittels bei Ungewohnten mit der Fort¬ setzung der gewöhnlichen Arbeit vereinbar sind. Bradycardie in Folge von Colchicum-Intoxikation oder Gelenkrheumatismus ? Von Dr. Guttmann-Ottemdorf. (Die ttntliche Praxis No. 6, 1900.) Verf. berichtet über einen Erkrankungsfall an Gelenk¬ rheumatismus, der seitens des Vaters des erkrankten Mäd¬ chens mit dem bekannten französischen Gebeimmittel Liqueur de Laville behandelt worden war. Nach Verabreichung des¬ selben stellten sich gastrische Störungen und die Symptome der Bradycardie ein, doch konnten dieselben, was Verf. selbst betont, sehr wohl als Komplikation des Gelenkrheumatismus gedeutet werden. Der Zweck der Mittheilung ist demnach nicht recht ersichtlich. —y. Ohren. lieber Erkrankungen des Gehörorgans bei perniciöser Anämie. Von Dr. Sohwabaoh-Berlin. (ZeiUchr, t Ohrenbeilk., XXXV. B4* Heft l|2.) Schwabach berichtet über 7 Fälle von perniciöser Anämie, die er im Urbankrankenhause in Berlin zum Gegenstand ohren¬ ärztlicher Untersuchungen gemacht hat 2 von den 7 Fällen sind auszu8chalten, weil in ihnen weder über subjektive Ohren¬ beschwerden geklagt wurde, noch objektiv bei der Spiegel¬ untersuchung etwas Abnormes festzustellen war; die Hörfähig¬ keit konnte bei ihnen wegen schwerer Allgemeinerscheinungen ebenfalls nicht konstatirt werden. Die übrigen 5 Kranken klagten sämmtlich über subjektive Geräusche, und zwar 3 auf beiden, 2 nur auf einem Ohre. Ueber Schwerhörigkeit klagten ausserdem 3 von den Kranken, 2 auf beiden Ohren, 1 nur auf dem linken Ohre. Schwer¬ hörigkeit und Geräusche waren zum Theil mit Beginn der Allgemeinerscheinungen der Anämie, zum Theil aber erst später aufgetreten. Als Sitz der Ohrenaffektion konnte in einem Falle mit Sicherheit das Mittelohr festgestellt werden, in den übrigen Fällen blieb die Frage, ob mittleres oder inne¬ res Ohr als Sitz des Leidens anzusprechen sei, unentschieden; von anderer Seite (Habermann) ist aber nachgewiesen, dass auch der schallempfindende Apparat, also das innere Ohr, bei perniciöser Anämie Sitz einer Ohrenaffektion sein kann. Von Interesse, allerdings mehr für den Spezialisten, ist die sorg¬ fältige mikroskopische Untersuchung des rechten Felsenbeins von einem der Kranken. — Die Erklärung für die subjektiven Geräusche und die Schwerhörigkeit sucht Verf. in Blutextra¬ vasaten, wie er selbst sie auch für die bei Leukämie vor¬ kommenden Störungen am Gehörorgan früher als Ursache nachgewiesen hat Es wäre erwünscht, dass die verdienst¬ lichen Untersuchungen und Ausführungen des Verf. dazu an¬ regten, dem Zustand der Ohren auch bei anderen schweren Allgemeinkrankheiten weiter die ärztliche Aufmerksamkeit zu¬ zuwenden. Richard Müller. Methode zur einheitlichen Bezeichnung der Resultate der Hörprüfung. (Aus der Klinik für Ohren-, Nasen- und Kehlkopfkrankheiten an der Kgl Universität in Turin.) Von Prof. G. Gradenigo-Turin. (Zeltsobr. f. Ohrenheilk., XXXVI. Band, 1. u. 2. Heft.) Den vielen in jüngerer Zeit veröffentlichten Versuchen, ein einheitliches und übersichtliches Schema für die Aufzeich¬ nung der Ergebnisse der funktionellen Hörprüfung aufzustellen, lässt Gr. einen neuen folgen — unseres Erachtens mit dem¬ selben negativen Erfolg wie seine Vorgänger. Ein solches Schema würde erst dann Werth haben, wenn es nicht nur von allen Ohrenspezialisten, sondern von der gesammten Aerzte- welt allgemein angenommen würde. Daran ist aber aus den verschiedensten Gründen wohl nie zu denken; und darum mag ein derartiges Schema wohl zu Aufzeichnungen in der Klinik und in der eigenen Thätigkeit dessen, der es sich zurecht ge¬ legt hat, verwendbar sein und hier einigen Wprth im Sinne Digitized by Google 202 Aerztliche Sachverst&ndigen-Zeitung. No. JO. der Kürze and Uebersichtlichkeit der Aufzeichnungen besitzen, — für die Allgemeinheit aber, z. B. schon zur Benutzung in wissenschaftlichen Arbeiten, wird es Werthlos bleiben, da nicht zu verlangen ist, dass der Leser jedesmal den Schlüssel zu dem Schema des betreffenden Autors im Kopfe hat. Zar Be¬ nutzung in ärztlichen Gutachten aber, wo es für den ärztlichen Sachverständigen in Frage käme, ist solch ein Schema erst recht nicht zu gebrauchen; denn was man vom Arzte nicht verlangen kann, kann man noch viel weniger vom Laien, der sich in dem Gutachten auch zurecht finden soll, verlangen. Am Schlüsse seines kurzen Aufsatzes giebt Gradenigo zwei Beispiele für seine „Methode“; ein Blick auf die magierhaften Zeichen dieser Beispiele wird genügen, jeden Unbefangenen von der Richtigkeit der vorstehenden Ausführungen zu über¬ zeugen. Richard Müller. Entotisches Geräusch in Folge eines Aneurysma der Arteria occipitalis. (Aus der Ohren- und Kehlkopfklinik in Rostock.) Von Dr. Muck, I. Assistent. (Zeiteohr. f. Ohrenheilk., XXXVI. Band, 3. Heft) Bei einer 68 Jahre alten Frau bildete sich nach Fall auf den Hinterkopf unter der Haut hinter dem Warzenfortsatz ein der Beschreibung nach wohl fünfmarkstückgrosses Aneurysma der Art. occip. heraus, welches ein klopfendes, quälendes Ge¬ räusch im Ohr verursachte. Nach Ausschneidung des Aneurys¬ mas kam es nach einiger Zeit zur erneuten Bildung eines etwa markstückgrossen Aneurysmas, doch ist das Geräusch seitdem nicht mehr in so hohem Grade störend wie vorher. R. M. Augen. Ueber die Vererbung von Augenleiden mit besonderer Berücksichtigung der Neuritis optica in Folge von Here¬ dität und kongenitaler Anlage (Leber). Von Professor Dr. A. Voss ins. Sammlung swangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Augenheilkunde, heraus- gegeben von VosbIub. III. Band, Heft 6. 1000.) Wir nehmen bei einer Krankheit Vererbung an, wenn die¬ selbe ohne nachweisbaren Grund bei einem Individuum auf- tritt, dessen Eltern oder sonstige Verwandte von derselben oder einer ähnlichen Krankheit befallen gewesen sind, ferner wenn mehrere Geschwister von demselben Leiden betroffen werden, während ihre Eltern und Vorfahren davon verschont gewesen sind. Auch Blutsverwandtschaft der Eltern kann von Einfluss auf die Entstehung bestimmter Augenleiden bei ihren Nachkommen sein. Manche erblichen Krankheiten zeigen ver¬ schiedene typische Eigenschaften, welche sie von ähnlichen Krankheitsbildern unterscheiden. Hierher gehört u. A. die erbliche Neuritis optica, welche besonders von Leber als ein scharf charakterisirtes Krankheitsbild hingestellt worden ist. Die Erkrankung tritt meist plötzlich ein und die Abnahme der Sehschärfe steigert sich in wenigen Tagen bis zu fast völliger Erblindung. Gewöhnlich werden beide Augen nicht gleich¬ zeitig befallen. Nach 2—4 Wochen hat die Sehstörung ge¬ wöhnlich ihren Höhepunkt erreicht und bleibt weiterhin un¬ verändert bestehen. Die Kranken erblinden meist nicht völlig, werden aber doch so hochgradig schwachsichtig, dass sie oft kaum allein gehen können. Besserungen und selbst völlige Heilungen sind in seltenen Fällen beobachtet worden. Im Gesichtsfelde findet sich ein centrales Skotom für weisse und farbige Objekte. Die Peripherie des Gesichtsfeldes behält in der Regel normale Ausdehnung und erkennt noch Farben. Der Augenspiegel weist anfangs nur unbedeutende Verände¬ rungen auf, später entfärbt sich die Papille, besonders in der temporalen Hälfte. Schliesslich wird die ganze Sehnerven- scheibe graugrün oder weisslich, ohne dass dabei immer völ¬ lige Amaurose zu bestehen braucht. Manchmal bestehen gleichzeitig noch andere Erkrankungen von Seiten des Nerven¬ systems: Kopfschmerzen, Schwindel, Uebelkeit, Erbrechen, ferner Epilepsie, Ataxie, Geisteskrankheiten. In der über¬ wiegenden Mehrzahl erkrankten an der hereditären Neuritis in den disponirten Familien die Männer, nämüoh in 87 Prozent, während nur 18 Prozent weibliche Individuen befallen werden. Dagegen übertragen selbst die gesunden Frauen aus erblich be¬ lasteten Familien die Krankheit öfter auf ihre Söhne, welche etwa zwischen dem 17. und 21. Lebensjahre erkranken. Blutsver¬ wandtschaft der Eltern oder Vorfahren scheint nur selten bei dem genannten Sehnervenleiden vorzuliegen. Klopfer ver¬ folgte mit Hilfe der Kirohenbücher den Stammbaum einer erb¬ lich belasteten Familie bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurück und fand, dass in der Familie mehrfach Heirathen zwischen Blutsverwandten stattgefunden hatten. Die heredi¬ täre Neuritis tritt meist idiopathisch bei bis dahin ganz ge¬ sunden Menschen auf. Fälle, in denen Syphilis besteht, wer¬ den wohl mit Unrecht hierher gerechnet. Alkohol- und Tabaks¬ missbrauch werden von einigen Seiten als prädisponirende Momente angesehen. Am wahrscheinlichsten ist die Annahme, dass abnorme Wachsthumsverhältnisse der Schädelknochen zur Verengerung des knöchernen Canalis opticus und damit zur Erkrankung der Sehnerven führen. Sektionen einschlägiger Fälle liegen bis jetzt nicht vor. Die Behandlung hat keine hervorragenden Resultate aufzuweisen. Schmierkuren, Jod¬ kalium, Schwitzkuren, Stryohnineinspritzungen, Galvanisation des Sympathicus sind, theilweise mit Erfolg, angewendet wor¬ den. Verf. giebt zum Schluss die Geschichte einer Famüie mit erblicher Neuritis optica, in welcher durch 3 Generationen hindurch nur männliche Mitglieder, jedoch nicht alle, erkrank¬ ten. Einer dieser Männer hatte 4 gesunde Kinder, während seine beiden, selbst gesunden Schwestern unter ihren Söhnen mehrere Erkrankungen aufwiesen. Groenouw. Hygiene. RAckblicke aaf die internationale Syphiliskonferenz in BrAssel vom 4. bis 8. September 1899. Von R. Wehmer. (Deutsche VierteijfthrBchrift für Öffentliche ae*andhelt*pflege BdL 32 Heft 2.) Verf., einer der Delegirten, die Deutschland zu der im Vorjahre während der Zeit vom 4. bis 8. September 1899 abgehaltenen internationalen Konferenz für Prophylaxe der Syphilis und Geschlechtskrankheiten nach Brüssel entsandt hatte, giebt in den vorliegenden Rückblicken* eine zusammen fassende Darstellung der Arbeiten des Kongresses. Von den vor Beginn der Konferenz den Theilnehmern als Vorarbeit von Seiten der ernannten Berichterstatter über¬ reichten Druckbänden verdient besondere Erwähnung der 2. Band, der das Ergebniss der Erhebungen über den Stand der Prostitution sowie über die Verbreitung der Syphilis- und der Geschlechtskrankheiten in den verschiedenen Kulturländern zusammenfasst. Dieser Band enthält ein überaus werthvolles Material, meist auf Grund amtlicher Ermittelungen, deren Werth ein noch höherer sein würde, wenn der subjektive Standpunkt der einzelnen Berichterstatter als Reglementaristen oder Abo- Monisten weniger sich bemerkbar machte. Dieses Ausein¬ andergehen der Aerzte nach den beiden bezeichnten Rich¬ tungen, das bei jeder Gelegenheit in breitester Weise zur Geltung gebracht wurde, erwies sioh für den wissenschaftlichen Verlauf des Kongresses vielfach störend und hinderlich, wie Digitized by Google 15. Mal 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 803 desgleichen die Erörterungen der Moralisten und Frauenver- einler. Vom Organisationskomite waren 6 Fragen aufgestellt, die den Verhandlungen zu Grunde gelegt werden sollten. Am Lebhaftesten entbrannte der Kampf um die erste Frage: „Haben die thatsächlich geltenden Systeme der Reglementirung einen Einfluss auf die Häufigkeit und die Verbreitung der Syphilis und der Geschlechtskrankheiten?“ Ohne das energisohe Ein¬ greifen Kaposi’s wäre es der rührigen Agitation der Abolitio- nisten in Wort und Schrift fast gelungen, die Konferenz zu einer öffentlichen Kundgebung (Resolution) in ihrem Sinne zu vermögen. Besondere Erwähnung verdient eine von Jullien (Paris) erörterte Statistik, welche die durch und für die Minder¬ jährigen drohenden Gefahren darlegte. Grade diese sind Er¬ krankungen, zumal sie erst in die Prostitution eintreten, am meisten ausgesetzt, vernachlässigen sie aus Unkenntniss und zeitigen damit die schwersten Folgezustände. Hinsichtlich der 2. Frage: „Ist die gegenwärtig übliche ärztliche Ueberwachung verbesserungsfähig?“ neigte die Ver- Sammlung der Auffassung zu, dass eine möglichst häufige Untersuchung, zumal der jugendlichen Dirnen nöthig sei, dass sie mehrmals wöchentlich, in Bordellen thunliehst täglich, zu erfolgen habe, dass aber die Untersuchungen aus den polizei¬ lichen Untersuchungsstationen in die Polikliniken zu verlegen und event. mit therapeutischen Massnahmen zu verbinden seien. Bei der 3. Frage: „Ist es vom ausschliesslich medi¬ zinischen Standpunkt vorteilhafter, Bordelle beizubehalten oder sie zu unterdrücken ?“ neigten die ärztlichen Vertreter der Bejahung der Frage zu, indem auf die Folgen, die mit der vorühergehenden Unterdrückung der Bordelle in einzelnen Ländern gemacht worden sind, hingewiesen wurde. Unter¬ drücke man die Bordelle, so entständen allerlei Surrogate, die jeder Kontrolle entzogen blieben. Als ganz besonders gefähr¬ lich wurde aber bei Mangel ordentlicher Bordelle das Zuhälter¬ unwesen bezeichnet und energisches Vorgehen hiergegen all¬ seitig gewünscht. Auch die 4. Frage: „Ist die polizeiliche Ueberwachung verbesserungsfähig?“ wurde bejahend beantwortet. Soweit die hygienische Seite der Prostitution in Frage kommt, sprachen sioh namhafte Vertreter für Ueberweisung der gesammten Prostitution an dezentralisirte ärztliche Untersuchungsämter aus, hinsichtlich der administrativen Regelung für Uebertragung auf die ordentlichen Gerichte. Ueberwiegend dem sozialen und wirthschaftlichen Gebiet gehörte die 5. Frage an: „Durch welche gesetzlichen Mass¬ nahmen kann man die Zahl der sich durch die Prostitution ernährenden Frauenspersonen verringern?“ Bei der letzten Frage: „ Welche allgemeine Massnahmen können im Hinblick auf alles die Prostitution Angehende er¬ folgreich zur Verminderung der Syphilis und Geschlechtskrank¬ heiten ergriffen werden?“ wurde von Lesser Wegfall aller die Behandlung der Geschlechtskranken erschwerenden Momente, insbesondere Wegfall der Bestimmungen bei den Krankenkassen, welche die Geschlechtskranken pekuniär schlechter stellen als andersartige Kranke, Wegfall der Anzeigepflicht, (die übrigens nur sehr beschränkt zulässig ist, Ref.), möglichst weitgehende unentgeltliche Behandlung der Geschlechtskranken, Belehrung des Publikums und der Kranken verlangt, während Kaposi eine bessere Vorbüdung der Aerzte in Syphilodologie und Einführung derselben als Prüfungsgegenstand fordert, eine Forderung, die die Konferenz in einer besonderen Resulution zu der ihrigen machte. Von den im Anschluss an die Verhandlungen gefassten Resolutionen ist von besonderer Bedeutung die auf den Antrag von Fournier beschlossene Begründung einer „Gesellschaft für gesundheitliche und sittliche Prophylaxe“ mit dem Sitz in Brüssel, deren Aufgabe es sein soll, erstens eine Vierteljahrs- schrift herauszugeben, welche zur Veröffentlichung ihrer Be¬ richte und sie interessirenden Arbeiten bestimmt ist, und zweitens Kongresse zu veranstalten. Der nächste Kongress soll 1902 in Brüssel stattfinden. Es wird ein Ausschuss er¬ nannt, der beauftragt wird, dem nächsten Kongress sowohl Satzungen wie endgültige Vorschläge für die Organisation der Gesellschaft vorzulegen. Wünschen wir den Arbeiten dieser Gesellschaft besten Erfolg. Hier wie bei der Bekämpfung des Alkoholismus wird der Erfolg davon abhängen, ob es gelingt, das Interesse der in erster Linie in Frage kommenden Kreise, speziell der männ¬ lichen und weiblichen Jugend, hierfür als für eine der wichtigsten hygienischen, sozialen und wirthschaftlichen Fragen der Ge¬ genwart zu gewinnen. Dabei wird bei der Bekämpfung der Syphilis zugleich auch zu berücksichtigen sein, dass die Syphilis in einer grossen Zahl von Fällen in Folge von Rauschzuständen erworben wird. Roth (Potsdam). • Hat die heute übliche Reglementirung der Prostitution einen nachweisbaren Einfluss auf die H&nflgkeit und die Verbreitung der venerischen Krankheiten ausgeflbt? Von Dr. A. Blaschko. (D. Vlerteljahmchr. f. öffentl. GesnndheiUpflege Bd. 32, Heft 2.) Der vorliegende Bericht behandelt die erste der auf dem Brüsseler Kongress des Vorjahres gestellten Fragen, über welche neben Blaschko Barthölömy (Paris) und Augagneur (Lyon) referirten. Verf. kommt auf Grund des aus Deutschland und den übrigen auf der Konferenz vertretenen Ländern vorliegenden und sorgfältig verarbeiteten Materials zu dem Ergebniss, dass die statistischen Daten aus den verschiedensten Staaten und Städten Europas mit und ohne Reglementirung keinen deut¬ lichen Einfluss derselben auf die Verbreitung der Geschlechts¬ krankheiten in der männlichen Bevölkerung erkennen lassen. Eine solche Einwirkung ist hier und da möglich, aber die Ver¬ änderungen in der Erkrankungsziffer, welche durch die An- und Abwesenheit der Reglementirung bedingt werden, sind fast überall nur so gering, dass sie neben den Schwan¬ kungen, welche durch andere wirksamere Faktoren bedingt werden, gar nicht oder nur sehr undeutlich zum Ausdruck ge¬ langen. Jedenfalls wird dem Verf. darin beizustimmen sein, dass durch die üblichen Reglementirungssysteme die öffent- iche Aufmerksamkeit zu ausschliesslich auf die gewerbs¬ mässige Prostitution als die Quelle der Geschlechtskrankheiten hingelenkt und Gesetzgeber, Verwaltungsbehörden und Ver¬ treter der öffentlichen Gesundheitspflege verleitet wurden, anderweitige Massregeln zur Bekämpfung der venerischen Krank¬ heiten zu vernachlässigen. Hierher gehört vor Allem auch eine häufig wiederholte und genaue Untersuchung und Behand¬ lung der gelegentlich von der Polizei aufgegriffenen Dirnen. Roth (Potsdam). Zur Frage der Zimmerdesinfektion mit Formaldehyd. Aus dem Kreiskrankenhause in Britz (Dirig. Arzt: Dr. Riese). Von Dr. M. Friedemann. (Deuttche medisin. Wochensdir. No. 50, 1899.) Aus den bakteriologischen Versuchen Verfassers, die nach Möglichkeit den in Praxis vorkommenden Verhältnissen ange¬ passt wurden, geht hervor, dass von den verschiedenen Me¬ thoden, welche für die Zimmerdesinfektion mittels Formal¬ dehyd angegeben wurden, das Verfahren unter Anwendung des Lingner’schen Glykoformalapparates die besten Dienste leistet und allen anderen Methoden ähnlicher Art vorzuziehen ist, ohne dass man es deshalb ein ideales nennen könnte. Ent¬ schiedene Vorzüge der neuen Raumdesinfektionsmethode sind Digitized by Google 204 Aerztliohe Saohverständigen-Zeitung. No. 10. einmal die Schnelligkeit des Verfahrens selbst, ferner die Un¬ schädlichkeit desselben in Bezug auf die im Zimmer befind¬ lichen Gegenstände, die höchstens einen geringen, vom Glycerin herrührenden, klebrigen Ueberzug bekommen, sonst aber keinerlei Schädigung ausgesetzt sind, und schliesslich die Einfachheit des Verfahrens. Ein Nachtheil ist ausser dem Kostenpunkt der Umstand, dass der Geruch längere Zeit im Zimmer haftet. Derselbe war noch nach zwei bis drei Tagen belästigend, trotz Scheuern des Fussbodens, trotz Ammoniak und trotz der Entfernung der Gardinen und anderen Stoffe, an denen der Geruch am intensivsten haftet. Immerhin ist das Verfahren das sicherste und praktischste, was gegenwärtig zur Verfügung steht, und verdient diese Raumdesinfektions¬ methode deshalb vielseitige Anwendung. — y. Ans Vereinen und Versammlungen. Verein der deutschen Irrenärzte. (Jahressitzung in Frankfurt a. M. am 20. und 21. April 1900). Originalbericht der Aerztlichen Sachverständigen-Zeitung. Auf der wissenschaftlichen Tagesordnung der Versamm¬ lung standen neben Vorträgen über pathologisch-anatomische und klinische Themata auch mehrere, die sich mit Fragen forensisch-psychiatrischer und allgemein-hygienischer Art be¬ schäftigten. Ueber letztere, die wohl auch ausserhalb des engen Kreises der Fachgenossen Interesse in Anspruch nehmen dürfen, soll hier berichtet werden. Zunächst erstattete Herr Prof. Dr. Lenel- Strassburg das Referat über: „Die Prognostik der Geistesstörungen in Bezug auf § 1569 des Bürgerlichen Gesetzbuches (Ehescheidung)/' § 1569 lautet: Ein Ehegatte kann auf Scheidung klagen, wenn der andere Ehegatte in Geistes¬ krankheit verfallen ist, die Krankheit während der Ehe mindestens 3 Jahre gedauert und einen solchen Grad erreicht hat, dass die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben, auch jede Aussicht auf Wiederherstellung dieser Gemeinschaft ausgeschlossen ist. Der Sinn dieser Be¬ stimmungen, so führt der Referent aus, sei auch für den Juristen keineswegs überall klar und durchsichtig, und er könne keine Garantie übernehmen, dass sich die Gerichte, insbesondere das Reichsgericht, seiner Auffassung und Aus¬ legung derselben anschliessen werden. Für die gesetzliche Zulässigkeit der Ehescheidung wegen Geisteskrankheit müssen drei bestimmte Voraussetzungen ge¬ geben sein. 1. Die Geisteskrankheit muss während der Ehe 3 Jahre bestanden haben; 2. sie muss sich so weit gesteigert haben, dass die geistige Gemeinschaft aufgehoben ist und 3. dauernd aufgehoben bleibt. Was den ersten Punkt betrifft, so definirt das Gesetz den Begriff Geisteskrankheit nicht näher; es unterscheidet aber in dem Entmündigungsparagraphen (die Ehescheidung setzt übrigens nicht die Entmündigung voraus) zwischen Geistes¬ krankheit und Geistesschwäche; es kann daher die Auslegung, was unter Geisteskrankheit zu verstehen ist, nicht dem Medi¬ ziner allein überlassen werden. Geisteskrankheit und Geistes¬ schwäche sind nach dem Gesetz zwei Formen dauernder Geistesstörung, von denen die letztere die leichtere Form dar¬ stellt. Die gesetzlichen Bezeichnungen Geisteskrankheit und Geistesschwäche haben ihre Grundlage nicht in der Psychia¬ trie, vielleicht auch nicht im täglichen Sprachgebrauch, aber das Gesetz hält an seiner einmal gewählten eigenen Termino¬ logie fest. Ein Zustand von Geistesschwäche erfüllt daher nicht die erste Bedingung der Zulässigkeit der Ehescheidung, selbst nicht, wenn die Geistesschwäche nach einiger Zeit in Geisteskrankheit übergeht. Andrerseits kann nicht verlangt werden, dass durch die Geisteskrankheit auch die geistige Ge¬ meinschaft schon drei Jahre aufgehoben ist; es ist dies erst zur Zeit der Ehescheidung nothwendig (in den Reichstagsver¬ handlungen war auch eine andere Ansicht geäussert worden). Die dreijährige Dauer der Geisteskrankheit muss ununter¬ brochen sein; eine noch so oft wiederkehrende Krankheit ist keine dauernde Krankheit. Der theoretischen Betrachtung des Juristen bieten daher auch die vielgenannten „lucida inter- valla“ keine Schwierigkeiten; entweder sind die einzelnen An¬ fälle nur Symptome einer dauernden Krankheit, oder dieselbe war dazwischen geheilt, der wiederholte Anfall stellt sich als Rückfall dar, dann war die Dauer unterbrochen, die Voraus¬ setzungen der Ehescheidung sind nicht gegeben. Ob diese Unterscheidung praktisch vom Fachmann ebenso leicht zu treffen ist, kann der Jurist nicht beurtheilen; ist sie im einzelnen Falle unmöglich, dann ist die Ehescheidung unzulässig. In der zweiten Voraussetzung liegt für Juristen und Me¬ diziner die Hauptschwierigkeit des Paragraphen. Was versteht das Gesetz unter geistiger Gemeinschaft? Wann ist dieselbe aufgehoben? Der Begriff ist nichts weniger als klar, und die Ge8etze8materialien tragen nichts zur Aufklärung bei. In ihnen kehrt immer nur die Bezeichnung „geistiger Tod" wieder, der, wie der leibliche Tod die Ehe durch Aufhebung der leib¬ lichen Gemeinschaft löst, die geistige Gemeinschaft aufheben soll. Niemand hat aber gesagt, was mit geistigem Tode ge¬ meint ist; die Bezeichnung ist auch in die beliebtesten Kom¬ mentare übergegangen, aber in dem massgebenden Gesetz selbst ist von ihr mit keiner Silbe die Rede. Nach Ansicht des Referenten kann man unter geistigem Tode nur die gänz¬ liche Verblödung verstehen. Die Anschauung, dass die geistige Gemeinschaft nur durch geistigen Tod aufgehoben wird, ist daher nicht berechtigt. Verfolgungswahn, namentlich bei feindlicher Richtung gegen den Ehegatten, hebt sicher die geistige Gemeinschaft auf und kann gleichwohl von völliger Verblödung, geistigem Tode weit entfernt seiu. Wir müssen uns also bemühen, für geistige Gemeinschaft eine schärfere Definition zu finden. Die Litteratur bietet keine nennens- werthe Unterstützung. Man hat die geistige Gemeinschaft mit dem Bewusstsein des ehelichen Bandes identifizirt; so lange der Kranke noch wisse, dass er verheirathet sei, be¬ stehe die geistige Gemeinschaft fort; eine entsprechende For- mulirung ist in der Kommission abgelehnt worden. Man hat ferner dafür die Fähigkeit verlangt, in vernunftgemässer Weise an dem ehelichen Leben und seinen Pflichten theilzu- nehmen; es giebt aber keine Geisteskrankheit, welche diese Fähigkeit bestehen lässt, während das Gesetz doch die Mög¬ lichkeit der geistigen Gemeinschaft bei gewissen Formen geistiger Störung voraussetzt. Man hat mehr oder minder rege Theilnahme an Allem, was das eheliche Leben betrifft, für nothwendig erklärt; auch solche Geisteskrankheiten giebt es nicht. Am meisten befriedigt den Referenten noch die¬ jenige Auffassung, welche die geistige Gemeinschaft durch volle Verständnislosigkeit des Kranken für das eheliche Ver¬ hältnis als erloschen betrachtet. Diese Auffassung ist aber zu absolut, da das Gesetz nur eine Krankheit fordert, welche die Gemeinschaft zwischen den individuellen Ehegatten aus- schliesst. Referent sieht in der geistigen Gemeinschaft eine im Bewusstsein und im Willen bestehende Gemeinschaft: sie setzt das Bewusstsein gemeinsamer Interessen voraus und verlangt den Willen, diese zu fördern; die geistige Gemein¬ schaft beruht auf der bewussten Uebereinstimmung der In¬ teressen. Diese kann allerdings auch sonst fehlen, bei unver¬ träglichen Ehegatten. Es ist daher nicht die Frage zu er¬ örtern, welche geistige Gemeinschaft vorher unter diesen Ehe- Digitized by LjOOQie 15. Mal 1900. Aärztliche Sachverständigen-Zeitung. 205 gatten bestanden hat, sondern welche in abstracto gefordert wird; ein idealistischer Massstab ist hierbei nicht angebracht. Da die geistige Gemeinschaft in dem übereinstimmenden Be¬ wusstsein besteht, an dem Wohl des anderen Ehegatten und der Kinder interessirt zu sein, in dem Willen, sich diesen In¬ teressen zu widmen, liegt eine geistige Gemeinschaft noch vor, sobald der Kranke, wenn auch in falscher Weise, diesen Interessen zu dienen glaubt. Die dritte Voraussetzung verlangt, dass jede Aussicht auf Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft ausgeschlossen ist; jede Aussicht, nicht jede Möglichkeit; denn es könnten therapeutische Mittel erfunden werden, welche die Heilung einer jetzt unheilbaren Krankheit ermöglichten. Jede Aussicht bedeutet jede nach dem gegenwärtigen Stand der Wissen¬ schaft begründete Aussicht. Eine auch nur vorübergehende Wiederherstellung ist Wiederherstellung und lässt die Ehe¬ scheidung daher nicht zu. Herr Direktor Dr. Kreuser• Schussenried erstattete das psychiatrische Korreferat über dieses Thema. Trotzdem nur in 0,5 Prozent der Ehescheidungen Geistes¬ krankheit des Mannes, in 1,3 Prozent Krankheit der Frau die Veranlassung war, ist die Thätigkeit des psychiatrischen Sach¬ verständigen hierbei ausserordentlich verantwortungsvoll, da eine Ehescheidung nicht wie eine etwa zu Unrecht erfolgte Entmündigung rückgängig gemacht werden kann. Um die daraus erwachsenden Folgen zu kennzeichnen, genügt es, wenn wir — als Aerzte, die in erster Linie das Wohl der Patienten im Auge behalten müssen, heben wir diesen Punkt hervor — auf den Nachtheil hinweisen, welchen die Auf¬ hebung der Ehe für einen Rekonvalescenten mit sich bringen würde, nicht sowohl durch den unmittelbaren Einfluss auf das Seelenleben als auch durch den Verlust einer Stütze im wieder bevorstehenden Daseinskämpfe. Schon hieraus erhellt, dass wir die Prognostik der Geisteskrankheiten, um ein einheit¬ liches Handeln zu erzielen, einer eingehenden Erörterung unter¬ ziehen müssen. Vortr. bat die leitenden Gesichtspunkte für die Begutach¬ tung in einer Reihe Thesen zusammengefasst. Es kann schon die Feststellung der dreijährigen Dauer der Geisteskrankheit während der Ehe Schwierigkeiten be¬ reiten. Langdauernde Prodromalerscheinungen können dem eigentlichen Ausbruch der Krankheit vorausgegangen sein, so dass es schwer sein kann, den Beginn der Krankheit zu da- tiren. Vortr. weist ferner auf die klinische Anschauung hin, welche die periodischen Geistesstörungen als Aeusserungen eines beim ersten Anfall erkennbaren, erst mit dem Tode des Individuum endigenden Krankheitsprozesses betrachtet; es ent¬ spricht jedoch nicht dem Sinne des Gesetzes, gemäss dieser Auffassung die Dauer der Geisteskrankheit auch vom ersten Anfall an zu rechnen. Es wird vom Gesetz eine ununter¬ brochene Störung gemeint. Es müssen offenkundige inter- valläre Symptome vorhanden sein. These 1: Bei Berechnung der Krankheitsdauer sind etwaige von manifesten Krankheitserscheinungen freie Intervalle als Unterbrechungen der Geisteskrankheit anzusehen. Was Art und Grad der Geistesstörung betrifft, welche die Ehescheidung gestattet, so meidet das Gesetz jede Anlehnung an die klinische Terminologie. Unter der Bezeichnung geisti¬ ger Tod kann man nur einen Zustand verstehen, bei dem keine Zeichen geistigen Lebens mehr vorhanden sind. Ein solcher Zustand ist ausserordentlich selten. Oft sind nur die ethischen und gemüthlichen Empfindungen abgestorben; dann sind aber wohl die Bedingungen des Gesetzes erfüllt; denn gerade dies sind wichtige Seiten des Seelenlebens, welche die Grundlage bilden für die eheliche Gemeinschaft. In der Hauptsache finden sich diese Defekte bei den Zuständen von Verblödung namentlich der grossen Gruppe der sog. sekun¬ dären Schwächezustände. Ob eine Paranoia die Bedingungen des Gesetzes erfüllt, muss von Fall zu Fall besonders erwogen werden; dieselbe vermag auch ohne stärkere Verblödung eine Abtödtung der Gefühle herbeizuführen, insbesondere wenn Wahnbildungen mit feindseliger Richtung gegen den Ehegatten vorherrschen. Es kann durch systematisirte Wahnideen die Gemeinschaft in concreto vielleicht aufgehoben werden, wo sie in abstracto noch bestehen könnte. Im Gegensatz zu Cramer glaubt der Vortr. nicht, dass durch die Nothwendig- keit der Unterbringung des Kranken in der Irrenanstalt die geistige Gemeinschaft im Sinne des Gesetzes aufgehoben wird. These 2: Der Grad der Krankheit wird gegeben durch pathologische Geisteszustände, vermöge deren jedes spontane Interesse des Kranken an Ehe und Familie abgestorben er¬ scheint, so dass der Kranke eine Scheidung nicht mehr als Härte empfinden kann. These 3: Weder dieser Grad, noch die Prognose einer Geisteskrankheit im Sinne des § 1569 werden durch unsere klinischen Diagnosen allein genügend zum Ausdruck gebracht; beide sind vielmehr von Fall zu Fall ausreichend zu be¬ gründen. These 4: Der erforderliche Krankheitsgrad findet sich am häufigsten bei schweren psychischen Defektzuständen, wie sie aus verschiedener Aetiologie und aus verschiedenen klinischen Krankheitsbildern entstehen können. Von besonderer Bedeu¬ tung ist dabei stets der Nachweis einer Schädigung der ethi¬ schen und gemüthlichen Seiten des Seelenlebens. — Selten kann auch eine krankhafte Umbildung der Persönlichkeit, wie sie die Paranoia darstellt, vermöge ihrer besonderen inhalt¬ lichen Störung den geforderten Grad von Geistesstörung re- präsentiren. — Bei periodischem Krankheitsverlaufe sind die intervallären Zustände für die Beurtheilung massgebend. Die Prognose der Geisteskrankheit unterliegt dem ärzt¬ lichen Spruche allein. Ihre Schwierigkeit wird bei der Ehe Scheidung zwar durch die übrigen Voraussetzungen des Ge¬ setzes gemildert, aber in hohem Grade dadurch erschwert, dass nicht eine Wiederherstellung an und für sich, sondern nur die Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft ausge¬ schlossen sein muss. Vortr. weist darauf hin, dass über¬ raschende Spätheilungen Vorkommen; viel häufiger aber sind relative Besserungen, vermöge deren das zeitweise abhanden gekommene Interesse und grössere geistige Regsamkeit sich wieder herstellen können. In allen Fällen, bei denen eine solche Möglichkeit vorliegt, ist die Ehescheidung unzulässig. These 5: Um jede Aussicht auf Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft ausgeschlossen erscheinen zu lassen, müssen die vorgenannten Defekte und Umbildungen entweder unverkennbar progressiven Charakter zeigen oder wenigstens seit längerer Zeit stationär geworden sein, so dass eine Zer¬ störung von Elementarbestandtheilen des Centralnervensystems in nicht zu kleiner Anzahl als ihre anatomische Grundlage wahrscheinlich ist. Beim Fehlen der pathologischen Anatomie sind wir bei der Abgrenzung der in diesem Sinne irreparablen Veränderungen im Wesentlichen noch auf die klinischen Er¬ fahrungen angewiesen; wir müssen bestrebt sein, solche Pro¬ zesse im Beginn zu erkennen. Vortr. erörtert im Anschluss daran, welche Defekte be- den einzelnen klinischen Krankheitsformen hierher zu rechnen sind. Irreparabel sind diejenigen Veränderungen, die, relativ selten, bei Schädeltraumen mit Substanzverlusten des Gehirns entstehen und Jahre lang fortdauern können; aber auch bei solchen traumatischen Psychosen, wo keine erkennbare Ver¬ letzung des Gehirns vorliegt, finden sich manchmal unheilbare Digitized by LjOOQie 206 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 10. Defekte. Die auf Altersatrophie beruhenden Seelenstörungen lassen eine Wiederherstellung unmöglich erscheinen; man muss sich jedoch davor hüten, alle Erkrankungen im Senium als durch Altersatrophie bedingt anzusehen. Bei der progres* siven Paralyse ist auch nach dreijährigem Bestehen der Krank¬ heit Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft noch sehr gut möglich; als dauernd müssten wir Defekte bezeichnen, die sich auch nach Ablauf des Excitationstadiums erhalten haben und über diesen Höhepunkt hinaus fortschreiten. Bei den auf Intoxikation beruhenden Psychosen (Alkoholismus etc.) müssen wir für die Prognose mehr Gewicht auf die bestehende Degeneration als auf den Grad der Vergiftung legeo. Bei der Dementia praecox der Kraepelin’schen Schule (im Wesent¬ lichen identisch mit den sekundären Seelenzuständen) muss die Prognose unabhängig von den motorischen Störungen ge¬ stellt werden, und zwar von Fall zu Fall, auf Grund der bei dem einzelnen Kranken vorhandenen Defekte. Gemüth- liche Stumpfheit und Interesselosigkeit sind als wichtigste Punkte anzusehen, jedoch ist Vorsicht bei der Beurtheilung derselben angebracht. Fälle mit ausgeprägterer Wahnbildung und schliessüchem Ausgang in Verworrenheit rechnet Vortr. zur Paranoia. Manieren und Stereotypien sind in ihrer pro¬ gnostischen Bedeutung nicht zu überschätzen. Bei der Paranoia kommt es mehr zu einer Umbildung der gesammten Persön¬ lichkeit. Typische Paranoiker sind immer als unheilbar zu erklären, aber auch hier ist eine Wiederherstellung der Ge¬ meinschaft durchaus nicht ausgeschlossen, wenn die Wahn¬ bildungen nicht gerade gegen den Ehegatten gerichtet sind, worauf schon bei der allgemeinen Betrachtung hingewiesen ist. Bei anderweitiger Wahnbildung kann die geistige Ge¬ meinschaft dauernd erhalten bleiben. Bei den schon erwähn¬ ten von anderer Seite zur Dementia praecox gerechneten Fällen tritt die krankhafte Umbildung der Persönlichkeit zu¬ rück; die sich ausbildende Verworrenheit ist definitiv. Bei Epilepsie und Hysterie kann nur die Prognose der damit ver¬ bundenen psychischen Erscheinungen in Betracht gezogen werden. Hysterische können die Ehe zur Hölle machen, ohne bei dem proteusartigen Charakter der Krankheit die Voraus¬ setzungen des Gesetzes zu bieten. Erst wenn bei diesen Krankheiten der geistige Zerfall deutlich geworden ist, nament¬ lich, wenn die ethische Seite früh betroffen wird, sind diese gegeben. Manie und Melancholie können nicht zur Eheschei¬ dung führen, wenn nicht Defekte eintreten, die ihrem Wesen selbst nicht mehr zugehören. Das Gleiche gilt von dem ma¬ nisch-depressiven (cirkulären) Irresein; dieses (wir verweisen auf die obigen Ausführungen) schliesst die Ehescheidung aus, sobald nicht in den Intervallen geistige Schwäche festzustellen ist; aber sie ist in letzterem Falle selbst dann zulässig, wenn in den exaltativen Stadien auch an die früheren Familienbezie¬ hungen angeknüpft wird. These 6: Dem entsprechend darf die Aussicht auf Wieder¬ herstellung der geistigen Gemeinschaft nicht für ausgeschlossen erklärt werden, so lange jene Defekte und Umbildungen noch vorzugsweise bestimmt sein können durch aktuelle Krank¬ heitsprozesse, wie sie sich besonders in Reiz-, Spannungs- und Hemmungserscheinungen kundgeben, oder so lange sie noch als blosse Ermüdungserscheinungen aufgefasst werden können. Zum Schluss hebt der Vortr. noch die grosse Bedeutung für die klinische Diagnostik und Prognostik hervor, die der Fragestellung bei der Ehescheidung innewohnt, da nicht nur zu entscheiden ist, ob heilbar oder unheilbar, sondern auch, ob noch Aussicht auf Besserung vorhanden ist. Vortr. hat unter dem Gesichtspunkt des § 1569 die Pa¬ tienten der Irrenanstalt Schussenried mit dreijähriger ununter¬ brochener Krankheitsdauer untersucht und gefunden, dass bei 43 Prozent die Voraussetzungen der Ehescheidung gegeben waren; bei 27 Prozent waren sie bestimmt zu verneinen, bei 30 Prozent zweifelhaft. Diskussion: Moeli-Herzberge weist auf die Schwierigkeit hin, die darin liegt, dass die Prüfung der Möglichkeit einer geistigen Gemeinschaft durch den Sachverständigen sich auf den einen Ehegatten beschränken muss. Den Begriff der gei¬ stigen Gemeinschaft fasst er weiter als die Referenten. Er verlangt nur, dass die durch Eingehung der Ehe geweckten Vorstellungen und Empfindungen einen wesentlichen Bewusst¬ seinsinhalt bilden. Hoche-StrasBburg betont, dass im Gesetze selbst dreijährige Dauer der Geisteskrankheit in continuo nicht gefordert wird. Aschaffenburg-Heidelberg hält nach wie vor an der Unheilbarkeit der Dementia praecox fest; es be¬ deutet dies jedoch nicht die Unheilbarkeit, wie sie die Vor¬ aussetzung der Ehescheidung ist, im Gegentheil wird auch er hierbei eine ungünstige Prognose nur mit äusserster Vorsicht stellen, trotz des in jedem einzelnen Falle nachweisbaren De¬ fektes, der Abstumpfung der Gefühle u. a. m. Fürstner- Strassburg warnt davor, unsicheren Boden zu betreten. Man soll sich vielmehr bemühen, dem Richter die einzelnen Fälle so zu schildern, dass er sich selbst ein Bild davon machen kann. Der Gesetzgeber hat nicht ohne Absicht die Bezeich¬ nungen der Psychiatrie vermieden. Die Hysterie wird nach der Meinung F.’s häufiger die Voraussetzungen der Eheschei¬ dung darbieten, als der Korreferent annahm. Lenel (Schluss¬ wort) bemerkt, dass die durch räumliche Trennung in Folge Anstaltsaufenthaltes bewirkte Aufhebung der geistigen Ge¬ meinschaft die Bedingungen des Gesetzes zweifellos nicht er¬ füllt. Moelis Bezeichnung der geistigen Gemeinschaft hält er für zu weit, da zu den psychischen Beziehungen auch die Ab¬ neigung gehört ; es muss genau gesagt werden, worin die psy¬ chische Beziehung bestehen muss. Kreuser (Schlusswort) schliesst sich dieser Ansicht an. Desgleichen geht man nach seiner Auffassung zu weit, wenn man die Aufhebung der geistigen Gemeinschaft durch räumliche Trennung für genü¬ gend hält, so hart auch die Folgen der gegenteiligen Mei nung mitunter für die Familie des Kranken sein mögen. Gegenüber Aschaffenburg bemerkt er, dass die Anschauung von der Unheilbarkeit der Dementia praecox in weite Kreise dringt, und sieht in dem Uebergang derselben von der Wissen¬ schaft in die Praxis eine Gefahr, gegen die auch eine durch geübte Psychiater in einzelnen Fällen gestellte bessere Pro¬ gnose nicht zu schützen vermag. Gegen Fürstner glaubt er, dass die Hysterie bei der Begutachtung doch grössere Schwierig¬ keit bereiten wird. Hieran schloss Bich der Vortrag Herrn Bonhoeffer-Breslau: „DieZusammensetzung des grossstädtischenBettler- und Vagabundenthums.“ Vortragender hat 400 Bettler untersucht in der chronolo¬ gischen Reihenfolge, wie sie dem Polizeigefängniss der Stadt Breslau zugeführt wurden. Die Untersuchung umfasst nur Individuen mit (6—60) Vorstrafen, die man als die sozial ge¬ scheiterten und gewohnheitsmässigen Parasiten der Gesellschaft betrachten darf. 120 Fragen wurden zum Teil aktenmässig, grö88tentheils aber durch direkte Untersuchung beantwortet. Der somatische Befund wurde nur soweit berücksichtigt, als ein Zusammenhang mit den psychisch-nervösen Störungen be¬ stand oder schlechte Ernährungsverhältnisse u. a. m. durch denselben bezeugt wurden. Fast 70 Prozent der Untersuchten sind gänzlich militäruntauglich gewesen, während der Durch¬ schnitt für die Provinz Schlesien 8—9 Prozent beträgt. Ebenso auffallend ist die mangelnde Fruchtbarkeit der Ehen; die Hälfte der geschlossenen Ehen ist kinderlos; auf 100 Ehen kommen 120 Kinder. Es ist diese Thatsache vom Standpunkt Digitized by Google 16. Mai 1000. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 207 der Auslese zu begrüssen als Ausdruck einer progressiven Degeneration. Die meisten sind Tagesarbeiter mit wechseln¬ dem Lohn. In der Ascendenz macht sich eine grosse Zahl degenerativer Einflüsse geltend; in 50 Prozent sind dieselben nachweisbar gewesen, trotzdem bei höherer Ascendenz nicht nachgeforscht wurde. Es ist daher die Schätzung des Ein¬ flusses der Belastung sicher zu niedrig. Etwas wird dies viel¬ leicht dadurch ausgeglichen, dass in manchen Fällen Alkoho¬ lismus als belastendes Moment notirt wurde, der möglicher¬ weise £ur Zeit der Zeugung .noch nicht bestand. Allerdings wurde Alkoholismus erst dann angenommen, wenn das Fa¬ milienleben dadurch dauernd Noth litt (durch mehrmalige Trunkenheit in der Woche etc.). Die 50 Prozent verteilen sich auf 9 Prozent eigentlicher Psychosen, 12 Prozent Epi¬ lepsie, 29 Prozent Alkoholismus. Das intellektuelle Durch¬ schnittsniveau ist ausserordentlich niedrig, auch bei Berück¬ sichtigung des in den östlichen Provinzen im Allgemeinen niedrigeren Bildungsstandes. Fragen nach Namen des Flusses bei Breslau, der Provinz, des Königreiches, von Kaiser und Papst, den Himmelsrichtungen, den Monaten wurden oft nicht beantwortet; einfache Rechenaufgaben (Ausrechnung des Wochenverdienstes nach dem Tagelohn) wurden nicht gelöst Die Diagnose des angeborenen Schwachsinnes war hierdurch ausserordentlich erschwert und musste sich im wesentlichen auf andere Momente (körperliche Anomalien etc.) stützen. 53 Prozent haben nicht das Pensum der Volksschule erledigt, unter den übrigen 47 Prozent sind noch Viele, die nur eine einklassige Dorfschule besuchten. Bei einer grossen Zahl ist das Zurückbleiben lediglich durch die Schwäche der Begabung, nicht durch andere Ursachen wie mangelhaften Schulbesuch bedingt. Mindestens 22 Prozent sind imbecill; die torpide Form der Imbeeillität überwiegt Viele haben ihre Lehrzeit nicht beendigt. Die Arbeitslosigkeit geht meist aus der In¬ dolenz hervor. Gewöhnlich leitet ein Diebstahl die Strafliste ein. Zur Stumpfheit kommen alsbald alkoholistische Bei¬ mengungen, Vergehungen gegen die Person u. a. m. Die anderen Formen der Imbeeillität sind selten; zu ihnen ge¬ hören die mehr antisozialen Elemente. 6 Prozent leiden an erworbenen Geisteskrankheiten. 87 Prozent sind gewohnheits- mässige Sohnapstrinker (für0,20-1,50Mark Schnaps täglich); Bier wird nur selten getrunken. 60 Prozent weisen die Zeichen des gewohnheitsmässigen Alkoholmissbrauches auf. Bei 63 Prozent ist der Alkoholismus auf dem Boden hereditärer An¬ lage oder angeborener Defektzustände erwachsen; nur bei einem Fünftel hat der Alkoholismus mehr selbstständige Bedeu¬ tung. Die gefährlichen Formen des Alkoholismus entstehen meist auf psychopathischer Grundlage. Nur bei 15 Prozent sind psychische Anomalien nicht nachweisbar. Die Kriminalität beginnt zumeist zwichen dem 15. und 20. Lebensjahr, ein zweiter und dritter jeweils etwas niedri¬ gerer Höhepunkt liegen zwischen dem 25. und 30. und zwischen dem 35. und 40. Jahr. Diese drei Zeiträume entsprechen dem Eintritt in das Erwerbsleben, der grössten Konkurrenz in Folge der grössten Zahl erwerbstätiger Individuen und dem sozialen Ruin durch den Alkoholismus. Die vor und nach dem 25. Lebensjahr kriminell gewordenen bilden zwei ver¬ schiedene Gruppen; in der ersten überwiegt die Herkunft aus der Stadt, in der zweiten vom Land, ohne dass wir berechtigt wären, hieraus weitere Schlüsse zu ziehen auf die verschiede¬ nen Berufsklassen. Die erste Gruppe enthält mehr Imbecille und Epileptiker, die zweite mehr Alkoholisten und eigentliche Geisteskranke; desgleichen finden sich in der ersten Gruppe mehr körperliche Anomalien. Unter 100 Ehen der ersten Gruppe sind 62 kinderlos, der zweiten 30; auf erstere kommen 80 Kinder, auf letztere 170. In der ersten Gruppe spielen sozialgefährliche Individuen eine grössere Rolle, bei der zweiten stehen die Vergehungen gegen § 361 im Vorder¬ grund. Herr Siemerling-Tübingen gab einen Ueberbück: »Ueber Entwickelung der Lehre von den geisteskranken Verbrechern * im verflossenen Jahrhundert. Das Studium des geisteskranken Verbrechers bildet einen besonderen Zweig der Psychiatrie. Anfänglich leitete man die Kriterien der Zurechnungsfähigkeit aus der Strafthat selbst ab. Mit den Fortschritten in der Erkenntniss des Wesens der Geisteskrankheiten wussten sich die Psychiater von philosophi¬ schen Spekulationen loszumachen. Man stellte einheitliche Krankheitsbilder auf; hieraus resultirte auch ein besseres Ver- ständniss für den geisteskranken Verbrecher, man studirte nicht mehr die That für sich, sondern das ganze Individuum. Es giebt keine That, die allein die Geisteskrankheit des Thäters beweist. Geisteskranke verstossen häufiger gegen die Gesetze als Gesunde; schon diese Feststellung deutete auf die nahen Beziehungen zwischen Geisteskrankheit und Verbrechen hin. Es ging daraus der Antrag hervor, die ge¬ richtsärztliche Untersuchung auf alle Verbrecher auszudehnen. Man lernte die in der Haft entstehenden Psychosen kennen, kam von der Ueberschätzung der Simulation zurück, stellte fest, dass Simulation und Geistesstörung einander nicht aussohliessen. Die Frage der Unterbringung der geistes¬ kranken Verbrecher, ob in besonderen oder den allgemeinen Irrenanstalten etc., ist noch nicht gelöst; die Unterbringung in Irrenabtheilungen im Anschluss an Strafanstalten (Bruohsal, Moabit), wenigstens während des Strafvollzugs, hält Vortr. nicht für unzweckmässig. Nach kurzer Besprechung der ver¬ minderten Zurechnungsfähigkeit wendet er sich zur Lehre Lombroso’s (1887—1890) und schildert die Aufnahme, welche dieselbe in Deutschland gefunden. Die exogenen Momente vermögen allein das Verbrechen nicht zu erklären, die unheil¬ baren endogenen Verbrecher verdienen besondere Berücksichti¬ gung. Die Psychiatrie wird sich nicht der Aufgabe entziehen können, an der Naturgeschichte des Verbrechers mitzuarbeiten, mitzuhelfen, Recht und Strafe an die geringe geistige Ent¬ wickelung anzupassen, hinzuweisen auf die prophylaktischen Massnahmen zur Verhütung der Geisteskrankheiten und Ein¬ schränkung der Verbrechen. Herr Sioli-Frankfurt a. M. erörterte die Frage: »Waruni bedürfen die grossen Städte einer intensiveren Für¬ sorge für Geisteskranke als das flache Land?* Vortr. weist zunächst auf eine Reihe von in letzter Zeit gegen die Errichtung von Stadtasylen geltend gemachten Be¬ denken und gegen die Asyle gerichteten Vorwürfen hin. Die Idee der Erbauung von Stadtasylen ist von Griesinger aus¬ gegangen; Für8tner, Sommer, Kraepelin u. A. haben in diesem Sinne gewirkt. Die Grossstädte haben eine viel grössere Zahl sofort hilfsbedürftiger Kranken als das flache Land. Ziemlich gleichmässig in allen Staaten und Provinzen (Rhein¬ provinz, Württemberg, Sachsen) beträgt die Zahl der Auf¬ nahmen in die Landesanstalten 0,3—0,4 pro mille der Ein¬ wohner. Auf dem Lande tritt nirgends ein grösseres Bedürf¬ nis hervor. In den Grossstädten — es kommt dabei weniger auf die Grösse als die soziale Gestaltung derselben an; In¬ dustriestädte mit dicht gedrängter Bevölkerung — steigt dieses Bedürfnis auf 1,5—2,0 pro mille. Wo eine auch nur provi- soriche Fürsorge für Geisteskranke eingerichtet ist, tritt diese Zahl hervor (so kommen z. B. in Nürnberg mit einer Irren¬ abtheilung im Anschluss an das allgemeine Krankenhaus auf 160 000 Einwohner 240 Aufnahmen, von denen 44 nach der Landesanstalt Erlangen überführt werden). Es ist aiö dieses übereinstimmend auftretende Bedürfnis der Gressstädte unge- Digitized by Google m Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 10. fahr 4 mal so gross als dasjenige des flachen Landes. Es fragt sich, woher kommt dieses Bedürfniss? Den Ueberschuss (*U) setzen 4 Gruppen zusammen: 1. Trinker — Deliranten und chronische Alkoholisten hälftig —; 2. hysterische und epileptische Psychosen, Degenerirte, zum Theil handelt es sich um freiwillige Aufnahmen, zum Theil werden junge Leute von ihren Eltern gebracht; 3. organische Psychosen, wie senile, arteriosclerotische, nach Apoplexien entstehende, paralytische; 4. schliesslich diejenigen akuten Psychosen, welche die Stadt vielleicht mehr erzeugt als das Land, und welche wohl zum grossen Theil als auf Erschöpfung beruhend anzusehen sind. Dem grössten Theil dieser plötzlich hilfsbedürftig gewordenen wird nur ungenügend Hilfe, wo kein Stadtasyl ist. Dieselben werden aus dem Stadtasyl bald wieder entlassen; in Frank¬ furt a. M. waren von dem Zugang des vergangenen Jahres (511) 32 bis zum Ende der ersten Woche, weitere 100 bis zum Ende des 1. Monats und nochmals 120, also im Ganzen über die Hälfte, bis zum Ende des 3. Monats wieder entlassen. Nach 4—5 Monaten sind 2 / 8 bei genügender Pflege entlassungs- fähig. Am Schluss des Jahres waren aus dem I. Quartal noch 10, aus dem II. noch 20 Kranke in der Anstalt, dabei ist die Frankfurter Anstalt kein reines Stadtasyl (viele Pensionäre etc.). Es ist daher nicht zu befürchten, dass durch zu grossen Zu¬ gang Ueberfüllung der Stadtasyle entsteht; im Allgemeinen sollen die Patienten daselbst nicht länger als 3—4 Monate bleiben; bei voraussichtlich längerer Dauer der Psychose sollen die Kranken schon früher den Landesanstalten übergeben werden. Die Ueberführung auch heilbarer Kranken ist nicht schädlich; es kann die gegenteilige Ansicht bei der Gesetz¬ mässigkeit des Ablaufs der Psychosen nur als Vorurteil be¬ trachtet werden. Das Stadtasyl soll der Stadt mindestens ebenso nahe liegen als die übrigen Krankenhäuser; in Anbe¬ tracht der Schwierigkeit des Transportes eignet sich nicht die Bahn, sondern am besten der Krankenwagen unter Aufsicht geschulten Personals zur Ueberbringung in die Anstalt. Schon kleine Asyle von 40—50 Kranken bieten die Möglichkeit der Einrichtung von 3 Abteilungen für jedes Geschlecht und der Trennung in mehrere Pavillons. Für Städte bis 100000 Ein¬ wohner und wenig darüber genügt ein Asyl für etwa 40 Kranke als Adnex des Krankenhauses. Nur in einem Stadtasyl lässt sich einstweilen die freie Aufnahme der Kranken erreichen, wie in Frankfurt von allen amtlichen Erfordernissen abge¬ sehen werden kann und die Aufnahme unter alleiniger Ver¬ antwortung des Direktors oder seines Stellvertreters erfolgt Herr Dannemann-Giessen besprach: „Die Einrichtung eines psychiatrischen Städteasyls mit Demonstra¬ tion von Plänen.“ Vortr. sieht in Uebereinstimmung mit dem Vorredner in der Einrichtung von Stadtasylen einen integrirenden Theil des Ausbaues der deutschen Irrenpflege. Der Betrieb eines Stadt- asyles wird sich wahrscheinlich auch nicht theurer stellen als derjenige der sonstigen Anstalten. Es ist bisher kein ein¬ wandfreier Typus eines Stadtasyles vorhanden, derselbe ist erst auszubilden. Vortr. hat sich daher bemüht, für die bau¬ liche Form eines Asyles eine Reihe von Plänen zu entwerfen. Er hat solche für Abtheilungen von-10 Kranken bis zu An¬ stalten mit über 100 Insassen ausgearbeitet. Auf die Einzel¬ heiten näher einzugehen, ist hier nicht der Platz; es sei nur hervorgehoben, dass überall die horizontale Trennung der Ab¬ theilungen für beide Geschlechter durchgeführt, auf Ueber- wachungsräume genügend Rücksicht genommen ist (mindestens 50—60 Prozent der Kranken eines Stadtasyls sind als über¬ wachungsbedürftig anzusehen) und maximale Ueberwachung durch möglichst geringes Pflegepersonal zu erreichen gesucht wird. Diskussion (auch über den Vortrag Sioli’s): Kreuser wünscht nicht nur für Stadtasyle, sondern auch für die Landes- an8talten freie Aufnahmen, da auch hier dringende Fälle, wenn auch seltener, Vorkommen und für ihre Unterbringung noch weniger gesorgt ist. Peretti-Grafenberg wünscht Be¬ rücksichtigung der verschieden grossen Aufnahmezahl von Männern und Frauen bei der Einrichtung der Stadtasyle. Sioli (Schlusswort) weist darauf hin, dass diese Verschieden¬ heit (in Frankfurt a. M. verhalten sich die Aufnahmen wie 5 : 3) sich dadurch wieder ausgleicht, dass die Frauen länger in der Anstalt bleiben; Alkoholisten werden entlassen, Para¬ lytiker sterben. Mit Kreuser ist er völlig einverstanden, hält dieses Ziel jedoch vorerst für nicht erreichbar. Herr Schüle-Illenau war verhindert, den angekündigten Vortrag: „Ueber Beschränkung der Heimatbsberech- tigung bei Geisteskranken“ zu halten. _ Reis-Heideiberg. Neunundzwanzigster Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin. Vom 18. bis 21. April 1900. Originalbericht der Aerztlichen Sachverständigen-Zeitung. Czerny (Heidelberg) spricht über die Behandlung inope¬ rabler Krebse. Unter Krebsen versteht er in seinem Vor¬ trage alle bösartigen Geschwülste ohne Rücksicht auf ihre Aetio- logie und inoperabel nennt er alle Geschwülste, deren völlige operative Entfernung (oaroinomatöse Drüsen, Metastasen) un¬ möglich ist. Die Exstirpation hält er auch bei inoperablen Tumoren noch für berechtigt, wenn es dadurch möglich ist, den Kranken auf Monate hinaus von Blutungen, Schmerzen und Jauohungen zu befreien. Auch leutikuläre Geschwülste soll mafi openren, wenn man dadurch den Patienten wieder Vertrauen und Hoff¬ nung geben kann. Zu den Palliativmitteln bei der Krebsbehandlung gehört auch die Gastroenterostomie und Enteroanastomose und trotz¬ dem sind beide Operationen von grösstem Nutzen. Bei Kreb¬ sen der Zunge und der Schilddrüse verhindern Unterbindungen der zuführenden Blutgefässe ein schnelles Waohsthum. Auch das Ferrum candens bringt oft Erleichterung, in seltenen Fällen sogar Heilung. Chlorzink als Paste bietet bei flachen Ulce- rationen dasselbe. Bei Carcinomen der Cervix Uteri leistet Cauterisation mit dem Glüheisen und Tamponade zur Blut¬ stillung mit darauffolgender Auswaschung der Höhle mit 5 Prozent Chlorzinklösung am meisten. In 95 Fällen hat er mit dieser Methode Jauchungen und Blutung für längere Zeit be¬ seitigt Es treten allerdings während der beiden ersten Stun¬ den stärkere Schmerzen auf, dann aber klagen die Patientinnen nicht mehr. Wenn sich nach 6—8 Tagen der Schorf abge- stossen hat, befinden sie sich sehr wohl. Weniger kann er die Anwendung des Chlorzinks in Form von Stiften zur Behandlung des Oesophaguscarcinome empfehlen, da er in einem Falle dadurch sogar einen Exitus erlebte. Es gelingt nach seiner Meinung in seltenen Fällen mit der 5prozentigen Chlorzinkgaze sogar Heilungen zu erzielen. Bei einem Gesichtscarcinom der Parotisgegend, welches 2 Mal mit Chlorzinkgaze behandelt wurde, will er nach 3 Jahren eine Heilung konstatirt haben; desgleichen bei einem Oberkiefer- carcinom, bei dem nicht Alles wegzunehmen war, nachdem er die nach der Exstirpation gebliebenen Reste geätzt und eine Drüsenmetastase exstirpirt hatte. Während Chlorzink seine hauptsächliche Anwendung bei Digitized by LjOOQie 15. Mai 1000. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. Tumoren findet, die nicht gänzlich zu exstirpiren sind, leistet i Formalin in 10 bis 80 prozentigen Lösungen besonders bei jauchenden Tumoren vorzügliche Dienste. Arsenikpasten haben das Unangenehme, dass sie Entzün¬ dungen machen, die sehr schmerzhaft sind; in alkoholischen Lösungen 1,0:150 ist dagegen Arsenik nur ein sehr oberfläch¬ liches Aetzmittel. Aus den vielen Versuchen alle möglichen Mittel parenchy¬ matös zu injiziren, hat sich keine Methode entwickelt, ebenso ist es mit den elektrolytischen Versuchen gegangen. Unter dem Einflüsse der Lehre von den Toxin- und Anti¬ toxinwirkungen hat man durch Erysipelkulturen und deren Toxine bösartige Geschwülste zu heilen versucht In den positiv verlaufenen Fällen hat es sich wohl in der Regel um Sarcome und nicht um Carcinome gehandelt. Czerny hält es durch die Statistik für bewiesen, dass der Krebs zunimmt, während die Tuberkulose zurückgeht, und zwar ist die Krebszunahme in den grösseren Städten (9,1 Pro¬ zent der Sterblichkeit) eine schnellere, wie auf dem Lande (3,6 Prozent der Sterblichkeit), (cf. das Referat auf S. 198.) Cz. hält es für sicher, dass der Krebs von aussen an uns herankommt. Dieser Umstand drängt ihn noch mehr, die Forderung nach Krebshäusern aufzustellen, welche eine Verbreitung des Krebses verhüten sollen und nach seiner Meinung durch ein genaues Studium der Krebsaetiologie dereinst auch eine rationelle Unterlage zur Krebsbehandlung abgeben könnten. v. Mangoldt (Dresden) hat durch Uebertragung von Rippenknorpel eine Kehlkopfstenose geheilt. Der betreffende Patient hat 20 Jahre vor der Operation im An¬ schluss an einen schweren Typhus, eine Stenose des Kehl¬ kopfes bekommen und war dann 18 Jahre lang mit einer Schornsteinkanüle herumgelaufen. Während dieser Zeit hatte er sehr häufige Lungenaffektionen, v. M. nahm deshalb aus der siebenten rechten Rippe ein Stück Knorpel und implantirte es dicht neben dem Kehlkopf subcutan. Damit es nicht in den Kehlkopf eingezogen werden konnte, hatte er ihm eine keilförmige Form gegeben. Weil eine granulirende Fläche im Kehlkopf zu ihrer Heilung zu lange Zeit nothwendig hat, wurde nach der Implantation vier Wochen gewartet, bis das Stück vollständig überhäutet war. Erst dann wurde die Laryngofissur ausgeführt nnd dabei festgestellt, dass auch der Ringknorpel und die Trachea in ihren oberen Theilen verengt waren. Es wurde jetzt Knorpel mit Knorpel vernäht und dann mehrere Wochen täglich intubirt. Seit Weihnachten wurde nicht mehr intubirt. Der vorgestellte Junge vermag gut zu sprechen; man fühlt bei ihm den Knorpel im Kehl¬ kopf fest eingekeilt. Beim Schlucken steigt er mit dem Kehl¬ kopf auf und ab. Es ist nöthig, den Knorpel dick zu nehmen, weil er sich sonst zu sehr nach der Seite des Perichondriums krümmt. Letztere Eigentümlichkeit hat v. M. bei einem Jungen mit Sattelnase in Folge hereditärer Lues benutzt. Von einem kleinen Schnitt aus in der Glabella hat er die Haut unter- minirt und den Knorpel von dort aus bis zur Nasenspitze vor¬ geschoben. Die Knorpelnase hatte z. Z. ihrer Demonstration für eine partielle Nasenplastik nur eine befriedigende Form, keine sehr gute; wegen ihres knorpeligen Gerüstes wird ihr aber keine lange Lebensdauer beschieden sein. v« Stubenrauch (München) hat ausgedehnte Versuche über die Veränderung des wachsenden Knochens unter dem Einfluss des Phosphors angestellt und dabei gefunden, dass je schneller ein Thier wächst, um so frühzeitiger eine Phosphorzone, d. h. eine Verdichtung des Knochens an der Epipbysenlinie auftritt. Es eröffnet dieses Resultat einen interessanten Ausblick auf die Rhachitis und man kann an¬ nehmen, dass die Phosphorzufuhr einen heilenden Einfluss auf die Osteoporose ausüben muss. Haeckel hat seiner Zeit die Angabe gemacht, dass jugend¬ liche Arbeiter, die lange Jahre in Pbosphorfabriken gearbeitet haben, im Röntgenbilde einen dichten Schatten an der Epiphysen¬ grenze von Radius und Tibia besitzen, v. S. hat die Knochen einiger Leute aus Phosphorfabriken daraufhin untersucht und in den vorgezeigten Bildern thatsächlich derartige Ver¬ änderungen gefunden. (Schluss folgt) Gerichtliche Entscheidungen. Aas dem Ober-Yerwaltungsgerieht. Unzulässige Anerdnnng zun Krankenbaus-Absnnement. Rev.-Entsch. vom 2. April 1900. Die Polizeiverwaltung zu Köln hatte den Mädchen der Halbwelt aufgegeben, mit einem städtischen Krankenhause in Köln ein Abonnement abzuschliessen, damit sie dort im Falle der Erkrankung Aufnahme und Behandlung finden sollten. Ver¬ schiedene Mädchen hatten aber kein Abonnement abgeschlossen und wurden daher auf Grund des § 861 (6) des Strafgesetz¬ buchs angeklagt. Das Schöffengericht sprach jedoch die Mäd¬ chen frei und die Strafkammer verwarf die gegen diese Ent¬ scheidung von der Staatsanwaltschaft eingelegte Berufung. Diese Entscheidung focht die Staatsanwaltschaft durch Revi¬ sion beim Kammergericht an, welches jedoch die Revision als unbegründet abwies und ausführte, dem Richter steht die Prüfung der Frage zu, ob solche Vorschrift zur Sicherung der Gesundheit erlassen sei. Der Gerichtshof nehme an, dass die fragliche Vorschrift nicht zur Sicherung der Gesundheit er¬ lassen sei. Der Polizeipräsident habe offenbar die finanziellen Interessen von Köln wahrnehmen wollen, denn wenn jene Mädchen auch nicht abonniren, müssen sie im Nothfalle auch in ein Krankenhaus aufgenommen werden und zwar erfolge die Aufnahme auf Kosten der Stadt. Es handle sich mithin darum, die Tragung der Kurkosten der Stadt zu ersparen; da dies kein polizeilicher Gesichtspunkt sei, so müsse die polizei¬ liche Anordnung als nicht rechtsgiltig angesehen werden. M. Ein Verbtt, Knochen und Fett auezukeohen. Entsch. vom 16. Dezember 1899. Abdeckereibesitzer L. zu J. betreibt dort die Abdeckerei und kocht dabei in einem Kessel, dessen Dunstrohr in's Freie führt, Fett und Knochen von Thieren aus. In Folge von Be¬ schwerden erliess die Polizei am 3. Januar 1898 eine Verfü¬ gung, durch welche dem L. das Auskochen von Fett und Knochen verboten wurde. Nachdem der Bezirksausschuss die Klage L.’s abgewiesen hatte, legte Letzterer Revision beim Oberverwaltungsgericht ein, welche aber abgewiesen wurde, indem u. A. Folgendes ausgeführt wurde: die angefochtene Verfügung ist erlassen worden, weil sich beim Auskochen des Fettes und der Knochen auf dem Grundstück des L. Gerüche verbreiteten, durch die die Gesundheit der Bewohner der um¬ liegenden Häuser gefährdet und die Leichtigkeit des Verkehrs auf der bei dem Abdeckereigrundstücke befindlichen öffent¬ lichen Strasse beeinträchtigt wird. Die Verfügung der Polizei ist dahin zu verstehen, dass dem Kläger nur ein solches Aus¬ kochen verboten worden ist, das die Gesundheit von Men¬ schen gefährdet und den öffentlichen Verkehr beeinträchtigt. Ist der Kläger im Stande, Einrichtungen zu treffen, die polizei¬ widrigen Wirkungen des Auskochens zu beseitigen, so kann er die Zurücknahme der Verfügung betreiben. Will oder kann Digitized by Google 210 Aerztliohe'Saohverständigen-Zeitung. No. 10. er das Auskochen nicht in anderer Weise als bisher vornehmen, so muss er es unterlassen, wenn das Verbot sonst gerecht¬ fertigt ist. Dies aber ist der Fall, denn ein Privilegium ver¬ mag ihn vor dem polizeilichen Einschreiten nicht zu schützen. Die Berechtigung der Polizeibehörden gegen Abdecker aus gesund- heitspolizeiliohen Gründen vorzugehen, hat Anerkennung ge¬ funden im Cirkularreskripte der Minister des Handels und der Polizei vom 4. März 1819 und in der Verfügung der Minister für Handel und der geistlichen Angelegenheiten vom 13. Juni 1855, die durch Zweifel in Folge der Bestimmung der No. 5 des Publicandums vom 29. April 1772 veranlasst worden ist Es mag mit dem Vertreter des Klägers, der sich auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Kammergerichts gestützt hat, in den vorgelegten Urkunden, z. B. der vom 27. Oktober 1670, ein noch für den Kläger geltendes Privi¬ legium zu finden und ferner anzunehmen sein, dass das jetzige Abdeckereigrundstück das beliehene Grundstück ist. Immer hat man es doch blos mit einem ganz allgemein gehaltenen Privilegium zu thun, in welchem insbesondere die Betriebsart, auf die es hier lediglich ankommt, gar nicht geregelt, dem Kläger also in keiner Weise ein Recht darauf verliehen wor¬ den ist, so primitiv und ohne Rücksicht auf die Gesundheit Anderer und auf den öffentlichen Verkehr weiter Knochen und Fett auszukochen. Der Kläger kann sich auch nicht auf § 51 der Reichsgewerbeordnung berufen, selbst wenn das Auskochen stets in der gleichen Weise stattgefunden haben sollte. Es fragt sich, ob dem Kläger durch die Anordnung der Polizei der Gewerbebetrieb ganz unmöglich gemacht wird; der Vorderrichter hat dies mit Recht verneint. Möge auch ein Theil des Betriebes nicht mehr möglich sein, an der Fort¬ setzung seines sonstigen Gewerbebetriebes bleibt Kläger un¬ behindert. Die Polizeiverordnung t des Regierungspräsidenten zu Potsdam vom ^November *893 enthält nichts, womit sich 4. September 1895 das Verlangen der Polizei in Widerspruch setzte; diese Ver¬ ordnung besagt nicht, dass der Abdecker Sehnen, Fleisch und Knochen in beliebiger Weise und unter Gefährdung der Ge¬ sundheit von Menschen auskochen dürfe. M. Aus dem Relchs-Versicherungsamt. Weigerung, eloh einer Operation zu unterziehen. Rek. Entsoh. vom 21. September 1899. Das Schiedsgericht erkannte zwar auf Grund des Gutachtens des Dr. B. an, dass L. K. invalide ist, hielt aber den Renten¬ anspruch für unbegründet, da K. sich weigerte, sich dem von der Versicherungsanstalt angebotenen Heilverfahren zu unter¬ werfen. Das Reichs-Versicberungsamt sprach jedoch dem K. die Rente zu und machte u. A. Folgendes geltend: Die von dem Arzte empfohlenen Massnahmen zur Beseitigung des um¬ fangreichen WasserbruchB bestehen darin, dass eine feine Hohlnadel durch die Haut gestossen, die Flüssigkeit durch die Nadel entleert und Jodtinktur eingespritzt wird. Dass das Durch- stossen der Hohlnadel eine wenn auch ungefährliche und nicht zehr schmerzhafte Operation darstellt, wird von Dr. B. aner¬ kannt. Zur Duldung einer Operation sind die Versicherten nicht verpflichtet. Als solche ist allerdings nicht jede für den Versicherten unbequeme oder schmerzhafte Massnahme, wie etwa eine Magenausspülung zum Zweck der ärztlichen Unter¬ suchung anzusehen, wohl aber jeder nicht ganz geringfügige und völlig ungefährliche Eingriff in den Bestand oder die Un- versehrheit des Klägers. Ob die Duldung eines solchen Ein¬ griffs von dem Versicherten verlangt werden kann, wird nicht nur von der Art dieses'Eingriffs sondern auch von den sonsti¬ gen Umständen des Falles abhängen. Diese Prüfung musste hier zu einem für den Kläger günstigen Ergebniss führen. Dass das Durchstossen der Hohlnadel nicht unerhebliche Schmerzen verursacht, darf ohne Weiteres angenommen werden, wenn dem auch kein entscheidendes Gewicht beigelegt werden soll; jedenfalls steht der Umstand, dass diese Massnahme stets ohne Betäubungsmittel ausgeführt wird, einer solchen Annahme nicht entgegen. Erwägt man ferner insbesondere, dass das Heilverfahren 14 Tage in Anspruch nimmt, ein Zeit¬ raum, in dessen Verlauf andere nicht vorauszusehende Krank¬ heitsentwickelungen den Erfolg verzögern oder gänzlich ver¬ eiteln können; dass das Heilverfahren auch selbstständige, neue Krankheitsgebilde erzeugen kann, die eine eigene Gefahr für Leben und Gesundheit darstellen; dass endlich der Kläger bei seinem Alter von 59 Jahren und dem langwierigen Leiden in seiner Widerstandskraft gegen Schmerzen und gegebenen¬ falls gegen neue Krankheitszustände immerhin schon ge¬ schwächt ist, so kann eine rechtliche Verpflichtung des Klägers, sich dem angebotenen Heilverfahren zu unterziehen, nicht an¬ erkannt werden. Die entgegengesetzte Annahme des Schieds¬ gerichts ist hiernach rechtsirrthümlich, und das angefochtene Urtheil unterliegt der Aufhebung. In der Sache selbst konnte dem Kläger bei dem Vorliegen aller gesetzlichen Erfordernisse die Rente alsbald bewilligt werden. M. Simulation (Sobmerzen In der Bruot naoh Rlppenbruoh). Rekurs-Entscheidung vom 1. Dezember 1899. Der Stallmann G. M.-B. ist mit seinem Anträge auf Ge¬ währung einer Unfallrente durch Besoheid der Berufsgenossen- schaft vom 31. August 1898 abgewiesen worden, weil der Unfall vom 25. April 1898, bei welchem p. M. angeblich einen Hufschlag gegen die rechte Brustseite erlitten hat, nach den stattgehabten ärztlichen Untersuchungen erwerbsbeschränkende Folgen nicht hinterlassen habe. Gegen diese Entscheidung legte M. Berufung ein, die aber vom Schiedsgericht abge¬ wiesen wurde, indem u. A. Folgendes ausgeführt wurde: Be¬ reits naoh dem Gutachten des Kassenarztes Dr. B. vom 19. Juli 1898, der den Kläger fünf Wochen hindurch behan¬ delt hat, weisen die inneren Brustorgane desselben Krank¬ haftes nicht auf und handelt es sich anscheinend nur um eine durch die Verletzung entstandene Knochenhautentzündung. Dieses Gutachten wird bestätigt durch dasjenige des Dr. M., Stabsarzt an der Charitd zu B., vom 5. August 1898, in welcher Anstalt der Kläger während der Zeit vom 31. Mai bis zum 11. Juni behandelt wurde. Auch nach diesem Gutachten zeigten die Lungen, das Herz und die anderen inneren Organe keinerlei abnorme Verhältnisse und ebensowenig war von Folgen eines etwaigen Rippenbruchs etwas zu fühlen. Ferner ist es auch dem Dr. W. am 22. August 1898 nicht gelungen, bei dem Kläger irgend einen, auf den Unfall bezüglichen Schaden festzustellen. Wenn nun auch der im schiedsgericht¬ lichen Verfahren um ein Obergutachten angegangene Dr. K unter dem 24. Dezember 1898 sich dahin geäussert hat, dass Rückstände des Unfalls nicht vorhanden seien, der Kläger vielmehr nur an Altersbesohwerden leide, so konnte der Ge¬ richtshof auf Grund dieses übereinstimmenden Befundes aller ärztlichen Sachverständigen ebenfalls nur die Ueberzeugung gewinnen, dass Unfallsfolgen bei dem Kläger nicht mehr vor¬ liegen. Diese Entscheidung focht M. durch Rekurs beim Reichs-Versicherungsamt an, während Geschäftsführer Z. die Zurückweisung des Rekurses beantragte. Vom Rekursgericht wurde noch ein Gutachten des Professor Dr. K. eingefordert. Dieser machte u. A. geltend, eine Betastung der verletzten Stelle rufe keine Schmerzen hervor. Dagegen wurde von M. über Schmerzen bei jeder tieferen Athmung geklagt und die¬ selbe deshalb willkürlich oberflächlich und frequenter aus¬ geübt — etwa 40—60 mal in der Minute. Den Lungen Digitized by Google 15 Mai 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 211 wohne auch im Bereich der Verletzung eine durchaus normale respiratorische Beweglichkeit inne. Bei Ablenkung der Auf¬ merksamkeit komme man sofort zur Ueberzeugung, dass M. die Athemfrequenz unwillkürlich verlangsame. Auch andere Kunstgriffe lieferten so unzweideutige Resultate, dass im Krankenhause bei M., wenn er sich unbeobachtet glaubte, 20—24 Respirationen notirt wurden, die, wenn man sich mit ihm beschäftigt, sofort zu einer Höhe von40—60hinaufschnellten. Der fragliche Unfall habe keinerlei nachweisbare Folgen hinterlassen, die als Basis für die Klagen des p. Müller ange¬ sehen werden könnten, letzterer sei vielmehr als Simulant zu betrachten. Das Reichs-Versicherungsamt unter dem Vor¬ sitz des Direktors P. wies darauf den Rekurs des Klägers zurück und machte u. A. geltend: Alle Zweifel, die im Hin¬ blick auf die Gutachten des Dr. B. in B. vom 19. Juli 1898, des Stabsarztes Dr. M. daselbst vom 5. August 1898, des Dr. W. ebendort vom 22. August 1898 und des Dr. K. ebenda vom 24. Dezember 1898 noch darüber bestehen konnten, ob der Unfall vom 25. April 1898 einen ungünstigen Einfluss auf die Erwerbsthätigkeit des Klägers ausübt, müssen durch das nach achttägiger Beobachtung des Klägers erstattete Gutachten des Professors Dr. K. in B. vom 4. August 1899 als be¬ seitigt gelten. Danach hat der Unfall keinerlei nachweisbare Folgen hinterlassen, welche die Klagen des Verletzten über stechende Schmerzen in der rechten Brustseite gerechtfertigt erscheinen lassen. M. Bücherbesprechungen und Anzeigen. Springfeld, Die Rechte und Pflichten der Gift- und Farbenhändler für Drogisten, Fabrikanten, Medi¬ zinal- und Verwaltungsbeamte. Bd. VI die Hand¬ habung der Gesundheitsgesetze in Preussen u. s. w. Her¬ ausgegeben von Springfeld und Siber. Berlin 1900. Verlag von Richard Schoetz. Der vorliegende sechste Band der vom Verf. in Gemein¬ schaft mit Regierungsrath Siber herausgegebenen Sammlung „Die Handhabung der Gesundheitsgesetze in Preussen für Be¬ hörden, Medizinalbeamte, Aerzte und Gewerbetreibende, in einzelnen Abhandlungen erläutert“, entspricht in seiner Anlage im Wesentlichen dem vorangegangenen Band V «Die Rechte und Pflichten der Drogisten und der Geheimmittelhändler“, auf den der vorliegende Band, unbeschadet seines selbst¬ ständigen Charakters, in manchen Punkten Bezug nimmt. Der Inhalt gliedert sich in vier Kapitel, von denen das erste die Zulassung zum Gewerbebetriebe — Ertheilung der Konzession und Aufhören der Konzession —, das zweite die Ausübung des Gewerbebetriebes — Anmeldung, Ankündigung, allgemeine gewerbepolizeiliche Vorschriften, Betriebsordnung, — das dritte die Straf- und Zwangsbefugnisse und das vierte die Beaufsichtigung des Gifthandels erörtert Diesem letzten Kapitel sind die Revisionsanweisungen der einzelnen preussi- schen Regierungen beigefügt. Neben den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen und Ministerial-Erlassen sowie den dazu ergangenen richterlichen Entscheidungen erhalten wir hier wie in den vorangegangenen früheren Abhandlungen des verdienten Verf. eine entwicke¬ lungsgeschichtliche Darstellung des vorliegenden Themas so¬ wie an der Hand der reichen Erfahrungen des Verf. eine kritische Beleuchtung des gegenwärtigen Zustandes. So ist ein Werk entstanden, das über alle einschlägigen Fragen auf diesem Gebiet sichern Aufschluss giebt und allen Betheiligten als zuverlässiger Rathgeber aufs Wärmste em¬ pfohlen werden kann. Roth (Potsdam). Adler, Dr. Arthur. Die Symptomatologie der Klein* hirn-Erkrankungen. Wiesbaden. S. F. Bergmann 1899. 70 Seiten. Uebersichtlich zusammengestellt, enthält diese Monographie Alles, was je an Kleinhirn-Erkrankungen in der ärztlichen Lite¬ ratur beschrieben ist. Hauptsächlich für den Spezialforscher werthvoll, wird es gelegentlich auch einmal dem Praktiker bei der Beurtheilung eines Einzelfalles von Nutzen sein. Leser, Dr. Edmund, Prof. a. d. Univ. Halle. Operations- Vademecum für den praktischen Arzt. Mit 144 Ab¬ bildungen. Berlin. S. Karger. 1900. 190 S. Wie Leser im Vorwort erklärt, wollte er ein Buch aus¬ schliesslich für die praktischen Aerzte, namentlich die auf dem Lande und in den kleinen Städten ansässigen, schaffen, nach dem sie sich vor chirurgischen Eingriffen rasch über das Wesentliche unterrichten können. So umfasst das kleine Buch die halbe spezielle chirurgische Therapie in Nuce. Die Darstellung ist klar und leicht verständlich. Wo Verf. auf umstrittene Gebiete eingeht, kann er natürlich nicht jeden gleichmässig befriedigen. Z. B. wird seiner weitgehenden Empfehlung der Schleioh’schen Cocain-Infiltration gegenüber der allgemeinen Betäubung entgegen gehalten werden können, dass jene Methode bei grösseren Eingriffen eine ganz bedeu¬ tende Schulung erfordert, die der Praktiker sich nicht immer zu erwerben Gelegenheit hat. Auffallend ist es, dass die Abbildungen zum weitaus grössten Theil, ja mit geringen Ausnahmen fast alle, aus anderen Werken entnommen sind. Das Niveau des Buches wird dadurch in gewisser Richtung herabgedrückt. Matthaei, Oberstabsarzt Dr. in Danzig. Die Schädlichkeit mässigen Alkoholgenusses. Tages- und Lebensfragen No. 25. Leipzig. Chr. G. Tienken 1900. 31 S. 0,50 M. Drei Arten von Menschen giebt es; die eine ist gesund und vernünftig — das sind die völlig Alkoholfreien, die Ent¬ haltsamen im engeren Sinne des Wortes —, die anderen bei¬ den sind unvernünftig und krank — das sind erstens die Trunksüchtigen, die starken Trinker, und zweitens die „Süch¬ tigen“, die mässigen Trinker. Das ist die Quintessenz des Schriftchens, das vor uns liegt. Wörtlich heisst es da: „Es giebt keinen anderen Gebrauch geistiger Getränke als den Missbrauch. Die „Sucht“ ist eine Art Krankheit wie die Morphiumsucht“ ... Zu den Erscheinungen auf geistigem Ge¬ biete, die die Sucht kennzeichnen, gehört folgendes Raisonne- ment: „Man dürfe nicht in das Extrem verfallen, Alkoholent¬ haltung sei ganz gut, aber zuweilen sei er in mässigen Mengen erlaubt Diese Mässigen, Süchtigen sind die schlimmsten, denn sie hindern jeden Fortschritt, hindern die armen Kranken an ihrer Genesung. Das Krankhafte des Mässigseinwollens er¬ kennt man sofort, sobald man dem Mässigen die Kraft und die Einsicht abstreitet, überhaupt mal ein Jahr mit seiner Familie enthaltsam zu sein. Dieser Versuch, der zugleich der Weg zur Genesung ist, ist ihm unmöglich“. Es ist ein Jammer, wie mit solchem einseitigen Schema- tisiren, mit solchen Schroffheiten eines selbstgerechten Uebereifers die notwendige und tief berechtigte Bewegung gegen den Missbrauch geistiger Getränke der Masse der Ge¬ bildeten, die ihre Träger sein könnten, verleidet wird. L B. Ughetti. Zwischen Aerzten und Klienten. Er¬ innerungen eines alten Arztes. Deutsch von Dr. Giovanni Galli. 2. Aufl. Wilhelm Braumüller, Wien 1900. 162 8. 8 M. Zum zweiten Male erscheint, diesmal vom Uebersetzer dem fürstlichen Kollegen Herzog Karl Theodor in Bayern gewidmet. Digitized by Google 212 Aerztliche Sach vor ständigen-Zeitung. No. 10. das liebenswürdige and weise Büchlein, dem wir schon bei seiner ersten Auflage freundliche Wünsche auf den Weg gaben. Möge es einen weiteren Leserkreis erfreuen! Tagesgeschichte. Obliegenheiten der Schulärzte in Berlin. Die Stadt Berlin hat vorläufig zehn Schulärzte für insgesammt 20 Schulen angestellt, denen folgende Pflichten zufallen: 1. die Prüfung der für den ersten Eintritt in die Schule angemeldeten Kinder auf ihre Schulfähigkeit; die Eltern bezw. Erziehungsverpfliohteten haben das Recht, der Untersuchung beizuwohnen; 2. die Prüfung der für den Nebenunterricht vorgesohlagenen Kinder auf körperliche und physische Mängel, insbesondere auch auf die etwaigen Fehler an den Sinnesorganen, erforder¬ liehen Falles unter Mitwirkung von Spezialärzten; 8. auf Ersuchen der Sohulkommission bezw. des Rektors die Prüfling eines angeblich durch Krankheit am Schulbesuch verhinderten Kindes; 4. die Abgabe eines schriftlichen, von den zuständigen Organen der Schulverwaltung erforderten Gutachtens; a) über vermuthete oder beobachtete Fälle ansteckender Krankheiten oder körperlicher Behinderungen von Schulkindern, b) über vermuthete oder beobachtete, die Gesundheit der Lehrer oder Schüler benachteiligende Einrichtungen des Schul- hauses und seiner Geräthe. 5. der Schularzt ist verpflichtet, das Schulhaus einschliess¬ lich der Schulklassen während oder ausserhalb des Unterrichts nach vorheriger Anmeldung bei dem Rektor in angemessenen Zeiträumen zu besichtigen und die von ihm beobachteten hygie¬ nischen Mängel dem Rektor mitzutheilen. 6. Die in amtlicher Eigenschaft gemachten Beobachtungen darf er nur nach Genehmigung der Schuldeputation ver¬ öffentlichen. 7. Die Schulärzte werden periodisch zu Beratungen be¬ rufen, welche von einem dazu vom Vorsitzenden der Schul¬ deputation bestimmten Mitgliede der Schuldeputation geleitet werden. 8. Der Schularzt soll in der Nähe der Schule wohnen. Er erhält für jede Schule ein Honorar von jährlich 500 M. Bei dieser Dienstordnung sind bemerkenswerte Abweichun¬ gen von dem Wiesbadener Schema zu verzeichnen. Es fallen nämlich die 14tägigen regelmässigen Besuche des Arztes in der Schule und die schulhygienischen Vorträge im Kreise der Lehrer fort. Bezüglich des letzteren Punktes erinnern wir an die von Kirchner in No. 1 dieses Jahrgangs geäusserten Be¬ denken gegen jene Vorträge. Minder erfreulich ist die erst¬ genannte Abweichung. Die Möglichkeit, unabhängig von 9 Ver¬ mutungen oder Beobachtungen“ der Lehrer (§ 4a) im Laufe der Schulzeit entstehende körperliche Mängel und Krankheiten der Schulkinder rechtzeitig festzustellen, ist damit dem Schul¬ arzt genommen — eine wesentliche Einschränkung seiner hygienischen Bedeutung. Die ihm zugewiesene Untersuchung der für den Nebenunterrieht vorgeschlagenen Kinder auf kör¬ perliche Mängel kann jene Lücke nicht ausfüllen. Leidlich be¬ friedigend ist der Honorarsatz. Der Kreisarzt und der Doktortitel. Durch das Kreisarztgesetz ist die Zulassung von Aerzten, welche auf nichtpreussischen Universitäten die Doktorwürde erworben haben, in das Belieben des Kultusministers gestellt. Derselbe hat jetzt von seinem Verfügungsrecht in überraschen¬ der, aber durchaus zu billigender Weise Gebrauch gemacht, indem er bestimmt hat, dass die bei einer nichtpreussischen Universität im Deutschen Reiche erworbene Doktorwürde der von preussischen Universitäten verliehenen gleichzuachten ist. Gerichtliche Entscheidung von prinzipieller Wichtigkeit gegen das Kurpfuscherthum. Ein Musterzeichner in Zittau annoncirte, weniger in deutschen, hauptsächlich in böhmischen Zeitungen, er heile alle Krankheiten, welche überhaupt heilbar seien, schnell und sicher auf homöopathischem Wege, — und in einer anderen Annonce: er heile in gleicher Weise auch alle diskreten Damenleiden, wie Menstruationsstörungen, Weissfluss, selbst Brustknoten, mit sicherem Erfolge durch Homöopathie. Die Zittauer Aerzte er¬ suchten die Staatsanwaltschaft um Strafverfolgung auf Grund von § 4 des Reichsgesetzes vom 25. Mai 1896, unlauteren Wettbewerb betreffend. Die Staatsanwaltschaft entsprach be¬ reitwilligst den Intentionen der Aerzte, aber die Strafkammer des Landgerichts Bautzen lehnte die Eröffnung des Haupt¬ verfahrens gegen etc. St. ab. Hiergegen wurde Beschwerde erhoben bei der Staatsanwaltschaft des Oberlandesgerichts Dresden; dieselbe erbat noch weiteres Material; nachdem dieses besorgt worden war, wurde schliesslich das Hauptverfahren gegen den Medicaster eröffnet. Am 80. März 1900 war die Verhandlung vor der Strafkammer I des Landgerichts Bautzen, woselbst der Angeklagte verurtheilt wurde: wegen Zuwider¬ handels gegen § 4 des Reichsgesetzes vom 25. Mai 1896, den unlauteren Wettbewerb betreffend, zu 400 Mark Geldstrafe, ev. 40 Tage Gefäugniss, und zur Tragung der Kosten, sowie zur Veröffentlichung des Urtheiles auf des Angeklagten Kosten, vier Wochen nach erlangter Rechtskraft. (Intern, pharm. Gen.-Anz.) Ueber Erkrankungen ln Folge Genusses verdorbener, nach* gemachter oder verfälschter Nahrungs- und Genussmittel werden auf Veranlassung des Reichskanzlers jetzt Erhebungen angestellt. Die Medizinalbehörden sind angewiesen, alle der¬ artigen Erkrankungen, namentlich soweit sie auf den Genuss von Fleisch, Wurst, Conserven, Fischen, Austern, Muscheln und Getränken zurückzuführen sind, dem Reichsgesundheitsamt mitzutheilen. Gleichzeitig sind auf demselben Wege Feststell¬ ungen über das Vorkommen gewisser ansteckender Krankheiten in Gegenden, in denen sie sonst nicht Vorkommen (besonders Pocken, Rückfallfleber, Typhus, Ruhr, Genickstarre) angeordnet. Die Untersuchung der Wehrpflichtigen. Die zur Täuschung der Sanitätsoffiziere verwendeten Mittel, welche durch den Militärbefreiungsprozess in Elberfeld bekannt geworden sind, sollen künftig bei den Untersuchungen sorg¬ fältig berücksichtigt werden. Die Vorgesetzten Behörden werden Anweisungen erlassen, wodurch die rasche Erkennung etwaiger Täuschungen ermöglicht und das sofortige Ergreifen geeigneter Massregeln bestimmt werden wird. Eine Malaria-Konferenz wird vom 25. bis 28. Juli in Liverpool unter Listers Vorsitz tagen. Nach der »Münch. Med. Woch.* wird sowohl über die zoologische Stellung der Erreger, als über die Verhütung und die gesammten klinischen Beziehungen des Wechselfiebers ver¬ handelt werden. Eine neue Lungenheilstätte ist durch den Vaterländischen Frauenverein zu Kassel begrün¬ det und im April in Oberkaufungen bei Kassel eröffnet worden. 76 Männer und 24 Frauen können darin Platz finden. Verantwortlich für den Inhalt: Dr. F. Leppmann in Berlin. — Verlag nnd Bigenthoin Ton Richard Schoete in Berlin. — Druck yon Albert Damcke, BerUn-BchOnebetg. Digitized by Google Die „Aentliehe ßaohTereiHitdlgen.Zeituii^ erschein t monatlich zweimal. Dieselbe ist za beziehen duroh den Baehnandel, die Pont (No. 35 ) oder dnreh die Verlaenbuchhandlun^ von Richard Schooti, Berlin NW, Lulaenatr. S6, zum Preise Von Hk. 6.— pro Vierteljahr. Aerztliche Alle Manuskripte, Mittheilunpen und redaktionellen Anfragen beiieoe _nr:i za senden an Dr F. Lcppmann, Berlin W., Kurfnrstenztr. No. 8. Korrekturen, Rexensions-Exemplsie, Sonderabdrilcke an die Yerlagsbarhhandluug, Inserste und Beilagen an die Annoncen.Expedition von Rudolf Moase. Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene nnd UnfaH-Heilkunde. Herausgegeben von Dr. L. Becker Dr. A. Leppmann Dr. F. Leppmann SanitKtarath, Königlicher Physikna, Vertrauensarzt 8anttXtsrath, Königlicher Phytikus, Arzt der Beobachtungsanstalt für ge ist es- rakt. Arzt, vou Berufsgonosaenaehsften und Schiedsgerichten. kranke Gefangene in MoabiUBerlin, Spezialarzt fllr Nerven, u. Geisteskranke. P ” Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstrasse 36. VI. Jahrgang 1900. _ Jfä 11 . _ Ansgegeben am 1 . Juni. . Inhalt: Originalien: Leppmann, Die Pflegschaft des Bürgerlichen Gesetz¬ buches in der Praxis. S. 213. Schulz, Die durch Ministerialerlass vom 28. Februar 1900 in Kraft getretenen Vorschriften z. Ausführ. d. Impfgesetzes. (Schluss.) S.216. Wolff, Zur traumatischen Perityphlitis. S. 218. Referate: Allgemeines. Haberda, Ueber das Vorkommen von epiduralen Blutextravasaten in verbrannten Leichen. — Reuter, Beob¬ achtungen über die Blutvertheilung in verkohlten Leichen. S. 219. Moebius, Ueber den Schwachsinn des Weibes. S. 219. Neurologieu.Psychotherapie. Raecke, Ueber Erschöpfungspsychosen. S.220. Kötly, Ein durch Operation geheilter Fall von Jackson’scber Epilepsie. S. 220. Liebmann, Die Sprachstörungen der Schulkinder. S. 221. Innere Medizin. Haenel, Nephritis bei Varicellen. S. 221. Fuchs, Ueber nervöse Leberkolik. S. 221. Vergiftungen. Friedländer, Intoxicationen mit Benzol- und Toluol- Leo npaeher, Chloroform- und Karbolsäurevergiftung. S. 222. Smith, Ueb. d. Stand klinischer Kenntniss d. Alkoholismus. S. 222. Gynäkologisches. Üussmann, Ein Fall von Coitusverletzung. S. 223. Herrmann, Schädelverletzung bei engem Becken. S. 223. Vo 11 and, Tod des Kindes durch Zerreissung d. Nabelschnur. S. 223. Bonsmann, Beckenverletzung bei künstlichen Geburten. S. 223. Augen. Bäck, Zusammenhang zwischen Skrophulose u.Trachom. S.223. Bauer, Das Trachom in der Ostschweiz. S. 223. Ohrenkrankhelten. Körner, Wirkung d. Küstenklimas, Inselklimasu. d. See¬ bäder auf Ohrenkrankheit. u. Hyperplasie d. Rachenmandel. S 224. Hygiene. Schlegtendal, Molkereien und Unterleibstyphus. S. 224. König, Chlor- u. Salpetersäure in verunr.Brunnenwässern. S.252. Fürst, Ueber einen milchfreien Butterersatz. S. 225. Aus Vereinen und Versammlungen. Neunundzwanzigster Kon¬ gress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin. (Versammlungsboricht, Schluss.) — Verein der Bahn- und Kassenärzte im Bezirk der Königl. Eisenbahn- Direktion Kattowitz. (Versammlungsbericht.) S. 225. Gerichtliche Entscheidungen: Aus dem Ober-Verwaltungsgericht: Beseitigung eines Pumpenbaums wegen Gesundheitsgefährlichkeit des Wassers. S. 229. Aus dem Reichs-Versicherungs-Amt: Erwerbsverminderung liegt nicht vor beim Verlust des Ringfingers der linken Hand. S. 230. B0cherbe8prechungen u. Anzeigen: Ricger, Die Kastration. — Nobili ng- Jaijkau, Handbuch der Prophylaxe. — Fischer Dückeimann, Die Geburtshülfe vom physiatrischen Standpunkt. S. 230. Tagesgeschichte: Das Schicksal der Versicherungs-Gesetz-Entwürfe in Deutschland und in der Schweiz. — Die Stellung des Arztes nach den abgeänderten Unfallversicherungsgesetzen. — Das Reichsseuchengesetz. — Die neue Prüfungsordnung für Aerzte. — Heilbehandlung auf Kosten der Invaliditäts - Versicherung. — Heimstättenwesen. — Ein bestrafter Simulant. — Ein eigen¬ tümlicher Schadenersatzanspruch. S. 231. Die Pflegschaft des Bürgerlichen Gesetzbuches in der Praxis. Von San.-Rath Dr. Leppmann-Berlin. Kgl. Bez.-Physikus etc. Das Bürgerliche Gesetzbuch hat schon vor seinem Inkraft¬ treten eine wahre Hochfluth von literarischen Erzeugnissen in Form von allgemeinen Kommentaren und erklärenden und kritisirenden Auslegungen einzelner Gebiete hervorgebracht und neben den Juristen sind auch die Mediziner (Aschaffeuhurg, Brasch, Bratz, Cramer, Erlenmeyer, Köster, Krafft-Ebing, Mendel, Moeli, Puppe, Schultze) nicht müssig gewesen, über das für die ärztliche Sachverständigenthätigkeit Wichtige zu berichten. Während wir vieles, was uns das neue Recht bringt, als einen Fortschritt hegrüssen konnten, sahen wir der neuge- schafifenen Pflegschaft über Geistesgebrechliche mit einigem Bangen entgegen. Sie konnte uns, wenn sie wirklich auf den engen Kreis derjenigen Geistesgestörten, die durch jenen Worthegriff im engsten Sinne gekennzeichnet sind, beschränkt wurde, gerade mit Rücksicht auf die ärztliche Fürsorge für Gemüths- und Geisteskranke grossen Nachtheil bringen. Jetzt wo die Zeit der praktischen Ausprobung begonnen hat, interessirt es gewiss zu hören: Wie hilft sich der Richter mit den Bestimmungen durch, und in welcher Weise kann und soll ihm dabei der Arzt als Sachverständiger sekundiren? Die Pflegschaft beruht, wie wir uns zunächst in Er¬ innerung rufen wollen, auf folgende Gesetzesbestimmungen: B. G. B. § 1910 Abs. 2: „Vermag ein Volljähriger, der nicht unter Vormundschaft steht, in Folge geistiger oder körper¬ licher Gebrechen einzelne seiner Angelegenheiten oder einen bestimmten Kreis seiner Angelegenheiten, insbesondere seine Vermögensangelegenheiten, nicht zu besorgen, so kann er für diese Angelegenheiten einen Pfleger erhalten. Die Pflegschaft darf nur mit Einwilligung des Ge¬ brechlichen angeordnet werden, es sei denn, dass eine Verständigung mit ihm nicht möglich ist. § 1918, 3: die Pflegschaft für Besorgung einer einzelnen Angelegenheit endet nach deren Erledigung. § 1920. Eine nach § 1910 angeordnete Pflegschaft ist von dem Vormundschaftsgerichte aufzuhehen, wenn der Pflege¬ befohlene die Authebung beantragt.“ In wie weit wurde dadurch eine neue Rechtslage ge¬ schaffen? Vor Einführung des bürgerlichen Gesetzbuches hatten wir in Preussen (§ 90 der Vormundschaftsordnung) eine bequeme Art, für einen durch geistige Erkrankung in seiner Handlungs¬ fähigkeit Beschränkten rasch, ohne jedes umständliche Ver- Digitized by Google 214 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 11. fahren einen gesetzlichen Vertreter durch das Vormundschafts¬ gericht einsetzen zu lassen. Das war die Form der „Verbei¬ ständung“, die wir früher Pflegschaft nannten, zu deren Einsetzung nur der Nachweis der Handlungsunfähigkeit nöthig war. Auch diese wurde nur für einen bestimmten Kreis von Angelegenheiten eingesetzt, und diese waren fast stets ver¬ mögensrechtlicher Natur. Eine solche rasch geschaffene Fürsorge war namentlich eine Wohlthat für den akut Erkrankten bezw. im Beginn einer geistigen Erkrankung, wo es galt das Gehirn des Erkrankten von jedem Reiz, von jeder Aufregung fern zu halten. Rein in dem Bestreben, dem durch geistige Erkrankung in seiner Handlungsfähigkeit Geminderten keine Rechte, ohne ein förmliches Verfahren, in welchem derselbe sich gegen den Eingriff in seine Rechtssphäre wehren kann, zu entziehen, drohte die Pflegschaft wie wir sie jetzt haben, die Vortheile einer solchen raschen Fürsorge für einen geistig Erkrankten, wie sie die bisherige Pflegschaft hatte, zu zer¬ stören. Dies geht nicht so aus dem Wortlaut der Bestimmungen, als aus den in den gesetzgebenden Körperschaften erörterten Motiven hervor. Danach sollte die Pflegschaft nur für die Fälle gelten, wo durch eine krankhafte Störung der Geistesthätigkeit nicht die gesammte Geschäftsfähigkeit beeinträchtigt wird, sondern nur ein „bestimmter Kreis“ von Angelegenheiten nicht be¬ sorgt werden kann. Der Begriff des „geistigen Gebrechens“ sollte also, um volksthümlich zu sprechen, nur auf leichte Geistesstörungen anwendbar sein und deshalb bedingt auch das Gesetz in der Regel eine Einwilligung des Gebrechlichen. Von einer solchen Einwilligung soll aber dann abgesehen werden, wenn „eine Verständigung mit dem Gebrech¬ lichen nicht möglich“ ist. Dieser Zusatz deutet trotz aller vielleicht aus den Motiven hervorgehenden Bedenken darauf hin, dass eine Pflegschaft auch über einen im volksthümlichen Sinne schwerer Geistes¬ kranken einzuleiten möglich ist, wenn dessen Geist völlig verwirrt ist, so dass ein Verhandeln mit ihm überhaupt aus¬ geschlossen ist. Der Richter greift dann eben, trotzdem eine solche Person in ihrer gesammten Geschäftsfähigkeit be¬ schränkt ist, nur einen bestimmten Kreis von Angelegenheiten heraus, zu deren Erledigung er dem Kranken einen gesetz¬ lichen Vertreter giebt. Durch diesen Zusatz wird aber folgerichtig dem Richter die Möglichkeit geboten, auch bei denjenigen Kranken Pfleger für bestimmte Angelegenheiten einzüsetzen, die zwar nicht durch Verstumpfung oder Verwirrung oder dauernder Tob¬ sucht und Aehnliches völlig verkehre- und verständigungs- unfähig sind, nein, bei denen eine Verständigung nach ärzt¬ lichem Ermessen desshalb ausgeschlossen ist, weil die Besprechung der eigenen Angelegenheiten, das Zureden wichtige Rechte auf Andere zu übertragen, von unabsehbarem Schaden für den Zustand des Kranken werden kann, d. h. bei den meisten akut Erkrankten bezw. häufig auch im Beginn einer schleichend sich entwickelnden Seelenstörung.*) Gerade diesen Punkt glaubte Verfasser in den Diskussionen ärztlicher Vereinigungen über das kommende Gesetz besondere hervorheben zu müssen, weil nur dadurch die Pflegschaft für die Fälle, wo wir sie am meisten brauchen, also für die frisch Erkrankten gerettet werden konnte. Damals trat mir Gramer (Göttingen) in einer der bezeich- *) cf. L epp mann, Psych. Verein in Berlin 15. 6. 99. Med. Beamten Haupt-Vers, zu Berlin 28. 9. 99. neten Versammlungen auf Grund seiner Kenntniss der juridi¬ schen Literatur entgegen und, wenn ich nicht irre, konnte er keinen geringeren als Planck, den Referenten der Kommission für das Bürgerliche Gesetzbuch, als Gewährsmann anführen. Auch Krafft-Ebing vertritt in seinem lesenswerthen Schrift- chen: „Die zweifelhaften Geisteszustände vor dem Civilriehter des Deutschen Reiches nach Einführung des Bürgerlichen Gesetz¬ buches“ den gleichen Standpunkt. Glücklicher Weise hat sich die Praxis sofort zu einer weiteren Auffassung des Begriffs der Geistes¬ gebrechlichkeit und der Gründe für die Nichtver¬ ständigung bekannt. Dies lehrt mich hier in Berlin die eigene Erfahrung und die Nachfrage an authentischer Stelle, und auch Cramer bekennt sich nach neuerlichen Besprechungen mit hervorragenden Juristen zu ihr.*) Auch im preussischen Kultusministerium scheint die weit¬ gehendste Auffassung die geltende zu sein, denn ein Erlass vom 5. März 1900 weist die Vorsteher von Privatanstalten an, den Staatsanwaltschaften selbstständig von dem Vorhandensein von Umständen Mittheilung zu machen, welche ev. eine Pfleg¬ schaft über ihre Insassen bedingen. Danach ähnelt das Verfahren bei Einleitung der Pflegschaft dem früheren sehr. Dem Vormundschaftsrichter bleibt es völlig selbst über¬ lassen, wie er sich die Ueberzeugung von der geistigen Un¬ zulänglichkeit des unter Pflegschaft zu Stellenden verschafft. Er kann Gelegenheit nehmen, die betreffende Person selbst zu beobachten, er kann Zeugen vernehmen, sich auf Anzeigen von Irrenanstaltsdirektionen über die wegen Geistesstörung erfolgte Aufnahme des in Betracht Kommenden stützen und schliesslich kann er, wie es wohl die Regel bleiben wird, die Mit¬ wirkung eines ärztlichen Sachverständigen fordern. Er ordnet dann an, dass diejenigen, von denen der Antrag auf Einleitung der Pflegschaft ausgeht, also in erster Reihe wohl die nächsten Angehörigen des Erkrankten, ein ärztliches resp. Physikatsattest beizubringen haben. Ausserdem kann aber der Geistesgebrechliche selbst den Antrag stellen und dann ebenfalls aufgefordert werden die ärztlichen Unterlagen dafür zu besorgen. Die Form eines solchen Attest es unterliegt wohlinPreussen den Bestimmungen, welche im Allgemeinen für die Atteste von Medizinalbeamten vorgeschrieben sind. Es wird also dasselbe die Angaben des Untersuchten, oder der Angehörigen des Kranken oder der sonst in dessen Umgebung weilenden Per¬ sonen, sodann die thatsächlichen Wahrnehmungen des Begut¬ achtenden enthalten. Die Schlussfolgerung wird mit Rücksicht auf den oben angeführten Gesetzesparagraphen immer in zwei Abschnitte zerfallen müssen, nämlich: a) Demnach erachte ich, dass der pp. in Folge von geistigen Gebrechen einen bestimmten Kreis seiner Angelegenheiten, namentlich seine Ver¬ mögens angelegenheiten, nicht zu besorgen vermag. b) Ich halte eine Verständigung mit ihm für mög¬ lich, bezw. für nicht möglich. Dem Zwecke des Attest es genügt es, wenn man sich einer gedrängten Kürze befleissigt. Die Schlussfolgerung zu a wird kaum besonders begründet werden brauchen, namentlich wenn man unter den „eigenen Wahrnehmungen“ das geistige Ge¬ brechen, worum es sich handelt, möglichst anschaulich und gemeinverständlich geschildert hat. Ebenso ist es mit Theil b, wenn^ eine Verständigungs¬ möglichkeit bezeugt wird. Es ist müssig, etwa schematisiren *) Gerichtl. Psychiatrie. II. Aufl. Jena 1900. Anhang S. 292. Digitized by Google 1. Juni 1900. Aerztliche Sachverst&ndigen-Zeitung. 215 zu wollen, bei welchen einzelnen Formen von Geistesstörung noch eine Verständigung für möglich erachtet wird. Ich habe schon Pflegschaftsatteste mit Verständigungsmöglichkeit, ja mit Einverständniss der Kranken bei Melancholischen, Paranoischen, Paralytikern, Epileptikern gegeben. Es genügt ja, wenn der Kranke nur ungefähr einsieht, dass es sich um eine fürsorg¬ liche Handlung für seine Person handelt. Jedenfalls ent¬ scheidet nur der Einzelfall. Der Theil b der Schlussfolgerung wird, wenn er die Ver¬ ständigungsunmöglichkeit bezeugt, nur dann keiner besonderen Begründung bedürfen, wenn aus der Schilderung des Krank¬ heitszustandes die Verständigungsmöglichkeit oder die völlige Verkehrsunfähigkeit (Starrsucht, Verwirrtheit etc.) ersichtlich ist. Besonders begründet wird aber die Unmöglich¬ keit der Verständigung aus rein ärztlichen Gründen, nämlich weil der Versuch einer Erörterung dem Zustand des Kranken schaden würde, werden müssen. Uebel dran ist man mit den Kranken, bei denen die Möglich¬ keit einer Verständigung nicht aus einem der oben angeführten Gründe ausgeschlossen werden kann und die die Einleitung der Pflegschaft nicht zugeben, also z. B. bei periodisch Manischen oder circulär Kranken, welche man nur für die Erregungszeit „kalt" stellen, d. h. von allen unsinnigen Geld Verfügungen fernhalten will. Bei diesen kann allerdings die Einleitung einer vorläufi¬ gen Vormundschaft (§ 19U6 B.-G.-B.) rasch Abhülfe schaffen, aber dazu ist ein Antrag von bestimmten Personen erforder¬ lich, zu dem sich Angehörige aus Pietätsgründen oder aus Furcht vor dem Kranken viel schwerer als zum Pflegschafts- antrage entschliessen. Ausserdem bedingt die Einleitung der vorläufigen Vormundschaft, wenn auch manche Gerichte sich zu einer mehrmonatlichen Wartezeit entschliessen werden, dann den Fortgang des Entmündigungsverfahrens, setzt also manch¬ mal ohne zwingenden Grund einen kostspieligen Apparat in Scene. Im Anschluss an obige Ausführungen möchte ich einige Muster von Pflegschaftsattesten geben, wie ich sie mir in den einzelnen Fällen aus den Bedürfnissen der Praxis heraus zu¬ sammengestellt habe. I. (Verständigung möglich.) Der Kaufmann Karl X. ersucht mich um Ausstellung eines amtsärztlichen Zeugnisses zum Ausweis beim Kgl. Amts¬ gericht zu Y., wo er die Einleitung einer Pflegschaft über sich beantragen will. Zu diesem Zwecke habe ich ihn heute in meiner Wohnung untersucht. Er giebt mir an, 55 Jahre alt und ohne nachweisbare Ur¬ sache seit drei Monaten gemüthsverstimmt zu sein. Er grübele fortwährend über seine bisherige Geschäftsführung nach und finde allerhand Verfehlungen heraus, theils schlechte Disposi¬ tionen, theils direktes Unrecht wie z. B. falsche Steuerein¬ schätzung, und wenn er sich auch immer wieder sage, dass er sich grundlose Vorwürfe mache, so ergriffe ihn alles so, dass er sich mit seiner Familie schon am Hungertuch sähe und jeden Augenblick verhaftet zu werden glaube. Auch sei er völlig schlaflos. Er wolle sich auf Rath seines Arztes frei¬ willig in eine Anstalt für Gemüthskranke begeben, vorher aber für eine gesetzliche Vertretung in seiner Geschäftsfüh¬ rung sorgen, da ihn diese besonders aufrege. Der p. X., ein kräftig gebauter Mann, zeigt eine welke Haut mit einzelnen narbenartigen Striemen wie Jemand, der rasch abgemagert ist. Er sieht in seiner Haut- und Gesichts¬ farbe grau und unfrisch aus. Seine Körperorgane erweisen sich bis auf die ersten Zeichen von Schlagader Verhärtung ge¬ sund. Sein Gesicht trägt den Stempel kummervollen Nach¬ sinnens. Seine Mienen sind gespannt, sein Wesen ist ge¬ hemmt. Seine Besorgnisse bringt er, trotzdem er, wie er meint, das Ueberflüssige derselben einsieht, mit sichtlich tiefer Ergriffenheit vor. Demnach leidet X. an Trübsinn. Ich erachte ihn in Folge dieses Geistesge¬ brechens für unfähig, einen Kreis seiner Ange¬ legenheiten, namentlich seine Vermögensangelegen¬ heiten zu besorgen. Eine Verständigung mit ihm halte ich für möglich. II. (Verständigung unmöglich aus ärztlichen Gründen.) Die Ehefrau des Kaufmanns G. ersucht mich um Aus¬ stellung eines amtsärztlichen Zeugnisses über den Geisteszu¬ stand ihres Ehemannes, da sie zwecks Fortführung von dessen kaufmännischen Geschäft eine Pflegschaft über denselben beim Kgl. Amtsgericht zu L. beantragen will. Sie giebt mir an, dass derselbe 45 Jahre alt sei und von einem in Geisteskrankheit verstorbenen Vater stamme. Er sei immer „nervös“ gewesen, habe auch bisweilen Spuren von Zucker im Urin gehabt. Nach einem Streit mit einem SoziuB sei er seit drei Tagen schlaflos. Er benehme sich sonderbar, schliesse sich in sein Zimmer ein, ordne seine Briefe, habe durchaus einen alten Revolver in Reparatur geben wollen, esse wenig und deute an, er werde nachts von Detektivs be¬ obachtet, man wolle ihn heimlich bei Seite bringen, auch die Köchin stecke mit dem Sozius, der ihn bei der Polizei als Anarchisten angeschwärzt habe, unter einer Decke. Er sei seines Lebens nicht sicher. Ich untersuchte ihn heute in seiner Wohnung. Er öffnete mir auf wiederholtes Klopfen, als ich ihm Namen und Stand nannte. Ich fand einen fettleibigen, etwas ältlich aus¬ sehenden Mann mit kongestionirtem Kopfe und belegter Zunge. Sein Gesicht trägt das Gepräge von Misstrauen und Angst, die Hände zeigen zitternde Unruhe. Er antwortete zunächst, so lange sich das Gespräch in allgemeinen Formen bewegte, höflich, formell richtig, wenn auch kurz. Als ich ihn frage, ob ihn denn etwas beunruhige, wird er heftig: „Wollen Sie mich auch noch verhöhnen“, sagt er. „Sie gehören doch auch zu der Polizei. Verlassen Sie mich doch bald, damit die Heimlichkeit ein Ende hat. Nein, wie kann sich die Be¬ hörde mit so einem Schuft wie dem Y (seinem Sozius) ver¬ binden.“ Ich versuchte ihn zu beruhigen. Er sei wohl nervös und sähe alles schlimmer, als es sei. Da wird er aber unter Weinen wüthend: „Ist das nicht schlimm genug, selbst auf dem Kloset machen die Kerle ihre Zoten über mich“. Demnach leidet der p. p. an akuter Verrücktheit. Er ist in Folge dieses Geistesgebrechens, nach meiner gutachtlichen Ueberzeugung ausser Stande, einen Kreis seiner Angelegenheiten, insbesondere seine VermögenBangelegenheiten zu besorgen. Eine Verständigung mit ihm ist aus dringenden ärztlichen Gründen deshalb nicht möglich, weil jede nähere Erörterung seiner persönlichen Verhältnisse ihn z. Z. so aufregen muss, dass dies von wesent¬ lichem Nachtheil für den Verlauf der Krankheit werden kann. HI. (Verständigung thatsächlich unmöglich). Die verw. Frau X. ersucht mich um ein amtsärztliches Zeugniss über den Geisteszustand ihrer Tochter Alma, da sie den Antrag auf Einleitung einer Pflegschaft über dieselbe beim Kgl. Amtsgericht zu Y. stellen will. Zu diesem Zwecke habe ich Alma X. in der Privat-Irrenanstalt zu Z. heute untersucht. Digitized by Google 210 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 11. Die Mutter giebt mir an, Alma sei 31 Jahre alt und immer etwas halsstarrig und menschenscheu gewesen. Sie habe sich zur Ehe nicht entschlossen können, Bei aber immer neidisch gewesen, wenn Mädchen ihrer Bekanntschaft heiratheten. Ohne völlig sichere Gelegenheitsursache, vielleicht aber im Anschluss an eine ihr zugegangene Verlobungsanzeige habe sie vor3 Wochen nachts plötzlich um Hilfe geschrieen, habe gemeint schwarze Gestalten um sich zu sehen und Schüsse zu hören, habe viel davon gesprochen sie solle zermalmt werden und sei, da sie Geräthe zertrümmerte und tobte, am andern Tage bereits nach der Anstalt zu Z. gebracht worden. Hier habe sie noch 2 Tage getobt, dann sei sie in sich versunken und wolle weder reden noch essen, so dass sie künstlich genährt werden müsse. Ich finde Alma X. angekleidet auf einem Lehnstuhl Bitzen. Sie ist eine zart gebaute magere Person, welche steif mit hochgezoge- nen Schultern und vornübergebeugtem Kopfe dasitzt. Die Augen sind halb geschlossen und blicken starr vor sich, das Gesicht hat einen finstern Ausdruck und ist in dauernder Spannung. Sie hat einen Zipfel ihres Halstuches zwischen die Zähne ge¬ klemmt und es flieset ihr Speichel aus dem Munde. Die starr gefalteten Hände fühlen sich kühl an. Sie setzt jedem Ver¬ suche ihre Körperlage zu ändern, einen spannenden Wider¬ stand entgegen. Sie antwortet auf keine Frage. Auf freund¬ liches Zureden, dass ich als Arzt käme, um zu sehen wie es ihr gehe, um ihre Qualen lindern zu helfen, reagirt sie nur durch stärkeres Zusammenkneifen der Augen und Rümpfen des Mundes. Demnach erachte ich bei Alma X. ein Geistes¬ gebrechen für vorliegend, welches mit dem Namen Starrsucht bezeichnet wird. Sie vermag in Folge dessen einen Kreis ihrer Angelegenheiten, namentlich ihre Vermögensange¬ legenheiten nicht zu besorgen. Eine Verständigung mit ihr erscheint nicht möglich. Die durch Ministerialerlass vom 28. Februar 1900 in Kraft getretenen Vorschriften zur Ausführung des Impfgesetzes. Von Dr. Matthias Schulz, Vorsteher der K. Anstalt snr Gewinnung thieriachen Impfstoffes sn Berlin. (Schluss.) II. Die Einführung der aseptischen Vorschriften in die Impfung. Von dem Streben der Aerzte, den Errungenschaften auf dem Gebiete der Bakteriologie und Chirurgie auch bei der Impfung Geltung zu verschaffen, gaben die mannigfachen Erfindungen geeigneter Instrumente, Apparate, die Versuche, eine Desinfektion der Impfstelle herbeizuführen, und diese durch Verbände zu schützen, im letzten Jahrzehnte vielfach Zeugniss. In Preussen berief der Herr Minister der Medizinal¬ angelegenheiten im Jahre 1895 eine Kommission zur Prüfung der Impfstofffrage, welche unter dem Vorsitze des um die Förderung des Impfwesens sehr verdienten Geheimen Ober- Medizinalrathes Dr. Schmidtmann tagte, und der unter an¬ derem die Aufgabe zufiel, die Ausführung der Impfung den modernen Anforderungen anzupassen. Damals war die Be¬ hauptung aufgestellt worden, dass die entzündlichen Reiz¬ erscheinungen, welche man bei den mit Thierlymphe Geimpften beobachtete, auf den Bakteriengehalt der letzteren zurück¬ zuführen seien. Die Kommission hat diese Behauptung nicht bestätigen können, auch von Kirchner, Dreyer und im Kaiserl. Gesundheitsamte angestellte Untersuchungen führten zu gleichen Ergebnissen. Auf diese Forschungen gründet sich ein von der vom Reiche einberufenen Impfkommission ge¬ fasster und vom Bundesrathe angenommener Beschluss, welcher lautet: „Es haben sich bisher keine Anhaltspunkte für die An¬ nahme eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen den in der Thierlymphe bekannten Keimen und den Reizungs- erßcheinungen ergeben, welche nach der Impfung auftreten. Trotzdem sich so seiner Zeit die Erkenntniss Bahn ge¬ brochen hatte, dass die Bakterien der Thierlymphe erysipe- latöse und phlegmonöse Entzündungen im Gefolge der Impfung nicht hervorrufen, und dass diese als accidentelle Wundkrank¬ heiten aufzufassen sind, wurde doch die Gewinnung und Herstellung des thierischen Impfstoffes mit ausgedehnten, aseptischen Vorschriften umgeben, damit nicht etwa kranheits- erregende Keime in denselben von aussen gelegentlich hinein¬ gelangten. Es ergab sich aber auch die Nothwendigkeit, die schon vorhandenen Vorschriften, welche die zu den öffent¬ lichen Impfungen dienenden Räume und den Impfling vor und nach dem Impfakte betrafen, zu ergänzen und bei diesem letzteren selbst die Vorschriften der Asepsis thunliohst voll¬ ständig einzuführen. Von der vorerwähnten Kommission sind demnach Vorschriften für die Einrichtung und den Betrieb der staatlichen Ly mph-Gewinnungsanstalten aufgestellt worden, welche mit einigen Abänderungen vom Bundesrathe ange¬ nommen wurden, aber schon zuvor den preussischen Anstalten als Richtschnur dienten. Ueber die Ausführung der Impfung an Menschen fanden in der Kommission Verhandlungen statt, deren Ergebnisse in dem Ministerialerlasse vom 31. März 1897 veröffentlicht wurden. Dieser Erlass konnte sich nur auf die öffentlichen Impfungen beziehen, erst die allgemeine, neue Regelung der Ausführung des Impfgesetzes hat es ermöglicht, die Befolgung der einschlägigen Bestimmungen auch den Privatärzten zur Pflicht zu machen. In Folgendem sollen die erlassenen AusführungsVorschriften unter Berücksichtigung des preussischen Ministerialerlasses vom 26. Februar 1900 wieder¬ gegeben werden: Es entspricht nicht dem Zwecke dieser Zeilen, eine aus¬ führliche Darlegung der Anforderungen zu bieten, welche heute an eine staatliche Lymph-Gewinnungsanstalt und auch an eine Privatimpfanstalt, deren Erzeugnisse zum Gebrauche in Deutschland zugelassen werden sollen, zu stellen sind. Es sei hier nur das Wichtigste hervorgehoben: Die Leitung ist in die Hände eines Arztes gelegt; ein Thierarzt überwacht den Gesundheitszustand der Kälber während der Entwickelung der Blattern und stellt den Schlacht¬ befund fest. Die Anstaltsräume sollen so hergestellt und mit solcher Ausstattung versehen sein, dass die peinlichste Rein¬ lichkeit, erforderlichen Falles auch Desinfektion ausführbar ist. Dem Gesundheitszustände des Wärters wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet, die bei der Impfung, der Abnahme des Impfstoffes, bei der Zubereitung der Lymphe, bei dem Abfüllen des Stoffes beschäftigten Personen, haben sich zu desinfiziren und in Preussen auch so zu kleiden wie zu einer chirurgischen Operation. Alle mit der Impffläche in Be¬ rührung kommenden Instrumente, alle Apparate, welche zur Verarbeitung, alle Gefässe, welche zur Aufnahme des Impf¬ stoffes dienen, müssen keimfrei sein. Eine Ueberwachung der Anstalten durch die Vorgesetzten Behörden findet statt. Die für die Bereitstellung von geeigneten Räumen zur öffentlichen Impfung schon früher gegebenen Vorschriften haben durch den Bundesrath keine Veränderung erfahren. In Preussen ist die Benutzung von Krankenhäusern zu diesem Zwecke verboten, Schulräume sind vor dem Termine reoht- Digitized by Google 1. Juni 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zoitung. 217 zeitig uass zu reinigen und zu lüften: Durch zweckent¬ sprechende Vorladungen soll dafür gesorgt werden, dass nur 50 Erstimpflinge oder 80 Wiederimpflinge zu einem Termin erscheinen. Die Abhaltung mehrerer Termine zu verschiedenen Zeiten an demselben Tage und in demselben Lokale ist gestattet. Die schon lange geltenden Bestimmungen über die Reini¬ gung der Kinder vor der Impfung sind nicht verändert; in Preussen haben dieselben durch die Vorschrift eine Ergänzung erfahren, dass Waschapparate für die Säuberung nicht in reinem Zustande erschienener Impflinge bereit gestellt werden sollen. Die § 13—19 der Vorschriften, welche von den Aerzten bei der Ausführung des Impfgeschäftes zu befolgen sind, müssen bestimmungsgemäs8 jedesmal dem aus den Lymphe-Gewinnungs- anstalten und dem aus Apotheken bezogenen, thierischen Impf¬ stoffe beigegeben werden, die grösste Verbreitung ist ihnen daher gewährleistet. Die Fassung des § 13 lautet: „Die Impfung ist als eine chirurgische Operation an¬ zusehen und mit voller Anwendung aller Vorsichtsmass- regeln auszuführen, welche geeignet sind, Wundinfek¬ tionskrankheiten fernzuhalten; insbesondere hat der Impf¬ arzt sorgfältig auf die Reinheit seiner Hände, der Impf¬ instrumente und der Impfstelle Bedacht zu nehmen; auch ist der Lymphevorrath durch Bedecken vor Verunreini¬ gung zu schützen.“ Preussen hat denselben durch die Bestimmung ergänzt, dass der Impf- und Privatarzt vor dem Beginne des Impfaktes seine Hände und Arme wie vor jeder chirurgischen Thätigkeit zu desinfiziren hat. Der weitere Inhalt der vorgenannten Paragraphen, welche das Bedecken der Lymphe während der Impfung vorschreiben, das Verbot von Zusätzen zu derselben enthalten, das Aufträgen mit dem Pinsel verbieten und die Verwendung steriler Instrumente anordnen, die Distanz der Schnitte, ihre Länge, die Körperstellen, an welchen die Impfung auszuführen ist, festsetzen, bedürfen keiner weiteren Erklä¬ rung. Preussen hat die Verwendung von Kreuz- und Gitter- schnitten verboten, und es erlaubt, bei der Auswahl des Armes auf welchem geimpft werden soll, die Gewohnheiten der Be¬ völkerung und die Wünsche der Angehörigen des Impflinges zu berücksichtigen. Die Anlage eines Verbandes nach der Impfung ist nicht vorgeschrieben, sondern dem Ermessen des Arztes anheim¬ gegeben. In Preussen wird dem Arzte empfohlen, die Impf¬ stelle etwa 5 Minuten hindurch nach dem Impfakte unbedeckt zu lassen, damit sich vor der Berührung durch die Kleider ein schützendes Gerinsel auf ihr gebildet habe. Die Grundsätze für die aseptische Nachbehandlung der Impflinge sind in den Verhaltungsvorschriften enthalten. Neu sind hier das Verbot, die Impfstellen anders als mit frisch ge¬ waschenen Händen zu berühren, und die Vorschrift, dieselben nur unter Benutzung eines reinen Schwammes, reiner Leine¬ wand oder Watte zu waschen. In Preussen ist die Verwen¬ dung des Schwammes nicht erlaubt Der Impfling soll von Berührungen mit Personen, welche an eiternden Geschwüren, Ausschlägen, Wundrose leiden, gehütet, auch von Gegenständen, welche solche Personen benutzt haben, ferngehalten werden. Befindet sich in dem Haushalte des Impflinges eine an solcher Krankheit leidende Person, so ist ein Arzt zu Rathe zu ziehen. Ensteht eine breite Röthe um die Blattern, so sind kalte, häufig zu wechselnde Umschläge mit abgekochtem Wasser anzuwenden. Die Wiederimpflinge, bei welchen sich Pocken entwickelt haben, sind vom 3.—12. Tage vom Turnen zu befreien und ihre Impfstellen sind auch sonst zu schützen. Endlich ist aber der Impfarzt durch die preussischen Ausführungsbestimmungen verpflichtet, mittelst Belehrung im Impftermine dahin zu wirken, dasB Reizungen der Impfstellen durch Sauberkeit, zweckmässige Kleidung und Anstrengungen des geimpften Armes thunlichst vermieden werden. 111. Die weiteren Aenderungen der alten Vorschriften. Die wichtigsten Neuerungen in den Vorschriften zur Aus¬ führung des Impfgesetzes wurden in den beiden ersten Ab¬ schnitten dieses Aufsatzes bereits ausführlicher besprochen. Die anderen Veränderungen sind so verschiedener Art, dass sie von einheitlichen Gesichtspunkten kaum betrachtet werden können. Sie beziehen sich zunächst auf Schädigungen der Gesundheit des Impflinges. Der Arzt hat sich bei den Angehörigen des Impflinges nach früheren und bestehenden Erkrankungen des letzteren zu erkundigen und muss dem Impfakte eine Besichti¬ gung des Kindes vorangehen lassen. Anderseits sind die Angehörigen durch die Verhaltungs-Vorschriften angewiesen, dem Arzte Auskunft in dem vorerwähnten Sinne zu geben. Die Grundsätze, welche für die eigentliche Befreiung der Impf¬ linge wegen Gefahr für Gesundheit und Leben schon früher bestanden, haben nur insofern eine Veränderung erfahren, als von der Impfung noch nicht drei Monate alter Kinder nicht mehr abgerathen wird. Einer Anregung aus Dresden entsprechend sind für die Angehörigen der Erst- und der Wiederimpflinge, wie bereits erwähnt, verschiedene Verhaltungsmassregeln ausgearbeitet worden. Das Verbot, Kinder aus Häusern, in welchen an¬ steckende Krankheiten herrschen, nach den Impfterminen zu bringen, ist denselben in alter Weise aufrecht erhalten. In Bezug auf die Hygiene des Kindes nach der Impfung, so weit sie nicht im zweiten Abschnitte dieser Arbeit besprochen ist, tritt eine Verschiedenheit zwischen dem BundeBrathsentwurfe, welcher, wenn möglich tägliches Baden, wenigstens aber täg¬ liche, sorgfältige Abwaschung vorschreibt und der preussischen Ausführungsbestimmung, welche das Baden nicht erwähnt, hervor. Die Behörden haben ein grosses Interesse daran, dass sie von wirklich eingetretenen oder behaupteten Impfschädigungen möglichst früh in Kenntniss gesetzt werden, da es nach längerer Zeit meist unmöglich ist, den Grad der Schädigung festzustellen und zu entscheiden, ob sie mit der Impfung wirklich zusammen¬ hängt. Deshalb sind die Angehörigen in den neuen Verhaltungs¬ vorschriften angewiesen, bei erheblicher, nach der Impfung entstehender Krankheit einen Arzt zuzuziehen, den Impfarzt aber von jeder solchen Erkrankung, welche vor der Nachschau oder bis zu 14 Tagen nach derselben eintritt, zu benachrichti¬ gen. Jeder Arzt ist verpflichtet, etwaige Störungen des Impf¬ verlaufes und jede wirkliche oder angebliche Nachkrankheit, soweit sie ihm bekannt werden, möglichst genau festzustellen und der Ortspolizeibehörde sofort anzuzeigen. Dieser fällt die Aufgabe zu, thunlichst ärztliche Behandlung herbeizuführen, in Fällen von angeblichen Impfschädigungen Ermittelungen an¬ zustellen, höheren Ortes Bericht zu erstatten und im geeigne¬ ten Falle unrichtige, in die Oeffentlichkeit gelangte Angaben richtig zu stellen. Den Standesbeamten ist die Verpflichtung auferlegt, jeden als Folge der Impfung angemeldeten Todesfall der Ortspolizeibehörde sofort anzuzeigen. Zur Sicherung der Ausführung des Impfgeschäftes sind die älteren Beschlüsse, welche die technische Vorbildung der Aerzte für das Impfgeschäft betreffen, für das deutsche Reich dahin erweitert, dass jedem Studirenden Gelegenheit gegeben werden soll, die Ausführung der Impfung in öffentlichen Impf- und Nachschauterminen praktisch zu erlernen, eine Bestimmung, welche in Preussen schon seit 1887 durchgeführt wird. Die Be¬ hörden sind angewiesen, dahin zu wirken, dass die Lehrer der Impftechnik ebenso wie die Aerzte der staatlichen Lymphe¬ gewinnungsanstalten als öffentliche Impfärzte angestellt werden. Digitized by Google 218 Aerztliehe Sachverständigen-Zoltung. No. 11. Als wünschenswerth wird es bezeichnet, dass der Impfarzt an jedem Orte seines Bezirkes öffentliche Impfungen vornimmt, und es ist empfohlen, öffentliche Impfungen während der Zeit der grossen Sommerhitze (Juli, August), zu vermeiden, eine Be¬ stimmung, welche in Preussen bereits seit 1888 besteht. Der Impfarzt erhält für die öffentlichen Impfungen seinen Gesammtbedarf an Lymphe aus den Staatsanstalten unentgelt¬ lich und portofrei und hat aufzuzeichnen — zutreffenden Falles unter Angabe der Nummer des Versandbuches der betreffenden Anstalt — von wo und wann er seine Lymphe erhalten hat. In Preussen ist hierzu ein Buch zu verwenden, welches in den Impftermin gebracht werden muss. Revisionen der öffentlichen Impftermine und auch der Impfungen der Privatärzte, soweit sie dieselben nicht als Hausärzte in Familien vornehmen, sind in ausgedehnterem Masse als zuvor in Aussicht genommen. Die von manchen Aerzten ausgeführten Scheinimpfungen haben Anlass gegeben, den Begriff der erfolgreichen Erstimpfung näher festzustellen. Deshalb hat in den Vorschriften für die Angehörigen der Erstimpflinge derSatzAufnahme gefunden: „Die erfolgreiche Impfung lässt Narben von der Grösse der Pusteln zurück, welche mindestens mehrere Jahre hindurch sichtbar bleiben.“ Zur Verhinderung von Missbräuchen ist ferner vor ge¬ schrieben, dass falls ein Impfpflichtiger auf Grund ärztlichen Zeug¬ nisses von der Impfung zweimal befreit worden ist, die fernere Befreiung nur durch den zuständigen Impfarzt erfolgen kann. Auch sollen Kinder, denen eine Impfung als erfolgreich unrecht¬ mässig bescheinigt ist, nach Lage des Falles als ungeimpft oder erfolglos geimpft betrachtet werden. Es sei noch der preussischen Spezialbestimmung Erwähnung gethan, nach welcher für die vorgeschriebene Impfung aus dem Auslande kommender Arbeiter, die Lymphe porto- und kosten¬ frei aus den Staatsanstalten zu beziehen ist. Von den Beschlüssen, welche in Bezug auf den physiologi¬ schen und pathologischen Stand der Impffrage schon 1886 vom Bundesrathe angenommen wurden, hat nur der Eine eine Ver¬ änderung erfahren: Um einen ausreichenden Impfschutz zu er¬ zielen, ist jetzt nur mindestens eine gut entwickelte Impfpocke erforderlich. Die älteren englischen Statistiken, auf Grund deren früher die gute Entwickelung von zwei Blattern gefordert wurde, sind nicht mehr als stichhaltig angesehen. Bei Wiederimpfungen genügt jetzt ein Knötchen oder Bläschen. Die so wenig be¬ liebt gewesene Autorevaccination oder Nachimpfung, bei Ent¬ stehung nur einer Blatter ist als überflüssig abgeschafft. Schliesslich sei noch erwähnt, dass die Impflistenformulare einige geringe Veränderungen erfahren haben. Zur traumatischen Perityphlitis. Von Dr. M. Woiff-Berlinchen. Der dreizehnjährige Otto H. stammt aus gesunder Fa¬ milie. Die Eltern, sowie vier lebende Geschwister Bind kräftige, derbe Landbewohner. Zwei Geschwister sind im Alter von 14 Tagen bezw. 9 Monaten an Kinderkrankheiten gestorben. (Eine ältere Schwester nur ist mit völligem Haar¬ schwund behaftet.) Otto selbst war stets schwächlich, klagte seit einigen Monden über Schmerzen in der Magengegend besonders nach dem Essen, das er seltener ausbrach. Am 9. November 1898 erbrach er mit etwas Blut mehrere Spulwürmer, fieberte und klagte über Schmerzen im Bauche. Befund am 10. Nov.: Temp. 38°; Puls kräftig; Fettpolster wenig entwickelt. Ge¬ ringe Gefässfüllung der sichtbaren Schleimhäute. Schwache Gelbfärbung der Lederhaut beider Augen. Brustorgane nor¬ mal. Leib eingezogen. Starke Schmerzen auf Druck im Epi- gastrium. Magengrenzen, Leberdämpfung normal. Milz nicht palpabel, da das Eindrücken schmerzhaft ist. Im Uebrigen die Regionen des Bauches ohne Druckschmerz, auch tiefe Palpation der Ileocoecalgegend löst keine Schmerzen aus. Auch am 11., 12. und 19. November 1898 ergiebt genaue Be- fühlung des Leibes, keine Schmerzhaftigkeit des Bauches oder speziell der rechten Bauchseite. Am 19. November 1898 wurde nur der Druck im Epigastrium unangenehm, nicht schmerzhaft empfunden. Otto ging jetzt munter täglich die gute halbe Meile zur Schule. Am 22. Dezember 1898 wurde der Otto H. in der Schule gemisshandelt. Er erhielt einen Stoss in die rechte Bauch¬ seite, so dass er „zurücktaumelte“. Er wurde dann im Ge¬ nick gefasst, emporgezogen und mehrmals mit dem Körper gegen die Schulbank gestossen. Er klagte sofort über Bauch¬ schmerzen, schleppte sich mühsam nach Hause, indem er sich mehrmals erbrach und unterwegs niedersetzte. Zu Hause legte er sich sofort ins Bett unter ständigen Klagen über seinen Bauch; es bestand starker Drang zum Stuhlgang und zum Wasserlassen. Befund am 24. Dezember: 38,6°, Puls 116, klein und schwach. Leib etwas aufgetrieben, leicht empfindlich. Berührung resp. ganz schwacher Druck in der Ileocoecalgegend intensiv schmerzhaft, geringe Dämpfung. Am 27. Dezember ist die Ileocoecalgegend sichtbar geschwollen, teigig, sehr schmerz¬ haft. Eine Dämpfung erstreckt sich von hier nach oben und verliert sich von hier bis zwei Finger breit vom rechten Rippenbogen, überschreitet aber nirgends die Medianlinie. Palpatorisch entspricht dieser Dämpfung eine diffuse Resistenz. — Unter Eisblase, Opium, Diät bildeten sich die bedrohlichen Erscheinungen zurück; der Knabe genas. Etwa im Mai 1899 klagte er wieder über stärkere Schmerzen in der rechten Bauchseite und fieberte nach Bericht, nachdem er auch in der Zwischenzeit öfters über Schmerzen geklagt und wenig ge¬ gessen hatte und „mit ihm gar nichts mehr Rechtes los war“. Nach am 23. Mai 1900 eingezogenen Erkundigungen ist Otto aber jetzt wieder völlig mobil, eingesegnet worden und soll jetzt ein Handwerk erlernen. Ich füge noch hinzu, dass die Misshandlung von dem sehr kräftigen Lehrer zugegeben wurde, als er mich aus Sorge um das Gericht aufsuchte. Es wurde aber von der Anzeige Abstand genomineu, da der Knabe genas und der Vater für seine anderen Kinder fürchtete, die noch zur Schule gingen. Gelegentlich der Magenerkraukung November 1898 war also durch viermalige Palpation festgestellt, dass die Ileocoe¬ calgegend auch bei tiefem Drucke schmerzlos war, dass also keine sogenannte „latente“ Entzündung bestand. Die Erkran¬ kung im Dezember 1898 ist als eine akute Perityphlitis, besser ausgedrückt als Peritonitis circumscripta fossae iliacae dextrae anzusprechen. Was die Frage der Aetiologie in diesem Fall anbetrifft, so ist zunächst der Stoss des kräftigen Lehrers gegen die rechte Bauchseite heranzuziehen. Dieses hat wohl zu Conti- nuitätstrennungen der Schleimhaut bezw. Wandung des Coecum geführt. Durch das fernere mehrmalige Stossen des Kindes gegen die Schulbank kam es zu erheblichen Druck¬ schwankungen im Binnenraum des BaucheB, zu Anpressungen von Koth bezw. Mikroorganismen gegen die vorher durch den Stoss geschädigte Darmwandung und so in der Folge zu einer Entzündung, zu einer wirklichen traumatischen Perityphlitis. Eine latente Perityphlitis hat vorher nicht bestanden, die Gewalteinwirkungen, das Trauma führten direkt die Erkrankung herbei. Digitized by Google 1. Juni 1900. Aerztlicho Sachverständigen-Zeitung. 219 Referate. Allgemeines. Ueber «las Vorkommen von epidnralen Blntextravasaten in verbrannten Leichen. Von Prof. Dr. Albin Haberda-Wien. Beobachtungen über die Blutvertheüung in verkohlten Leichen. Von Dr. Fritz Reuter, d. Z. Assistent am pathol. Institut zu Graz. (Friedr.-Bl. 1900, Heft 2.) Den bisherigen Beobachtungen über das nach dem Tode erfolgende Austreten von Blut zwischen Schädeldach und harte Hirnhaut unter dem Einfluss der Flammenhitze (Reuter, Strassmann) fügt Haberda eine neue hinzu. Bei einer Benzin¬ explosion wurden mehrere Arbeiter verbrannt. Bei dem einen, dessen Weichtheile die, ganz schwer Verbrannten eigene Starre angenommen hatten und dessen Kopfhaut geplatzt und zurück- gezogen war, fand sich unter dem Schädeldach, über der harten Hirnhaut, eine dicke Schicht bröcklig gewordenen, ziegelrothen Blutes, in dessen Bereich die Glastafel auffallend matt aussah; an derselben Seite war der Vorderast derArteria meningea media quer durchrissen, die Riesenden waren starr, es liessen sich aus ihnen bröcklige Blutpfröpfchen ausdrücken, während das Gefäss auf der anderen Seite kirschrothes Blut enthielt. H. ist nicht der Ansicht, dass durch eine Verletzung zu Lebzeiten die Meningea media zerrissen und das Blut aus ihr ausgetreten sei. Ein so grosser Bluterguss kann sich nicht in wenigen Sekunden aus einem ziemlich engen Gefäss heraus bilden, besonders wenn das Blut sich erst zwischen Schädel und Hirnhaut Raum schaffen muss; nun kann aber der Betreffende, da der Raum sofort von Flammen erfüllt war, nur noch ganz kurze Zeit nach der Explosion gelebt haben, dies beweist auch der geringe Kohlenoxydgehalt seines Blutes. Mag daher die Arterie vor oder nach dem Tode zerrissen sein, der Bluterguss hat sich sicher nachher gebildet. Die Erklärung für dieses Vorkommniss hat Reuter schon früher gegeben. Er hat gezeigt, dass bei starker Erhitzung die von der Hitze betroffenen Theile blutleer werden, während das Blut sich an den kühler bleibenden ansammelt. So ward es auch hier aus dem Schädelknochen herausgedrängt und sammelte sich darunter an. Reuter hat nun in sechs neuen Fällen theils seine früheren Beobachtungen bestätigt gefunden theils neue bemerkenswerte gemacht. Viermal waren die inneren Organe unversehrt, nur Haut und Weichtheile verbrannt. Immer fand sich das Gewebe der verbrannten Theile trocken und blutleer, das der nicht er¬ hitzten feucht, blutreich, selbst mit Blutaustritten durchsetzt. Bei einer anderen Verbrannten war die Haut an Hals und Brust eingerissen, aber keine Körperhöhle eröffnet. Hier waren die Halsorgane eingetrocknet, die dortigen grossen Ge- fässe leer, dafür aber die Lungen und das Gehirn auffallend blutreich. Nach diesen beiden Richtungen musste das Blut aus den wahrscheinlich durch die Schrumpfung der umliegenden Gewebe ausgepressten Halsadern verdrängt worden sein. Der sechste Verbrannte Reuters war äusserlich fast vollständig verkohlt, Brust- und Bauchhöhle waren stellenweise aufge¬ platzt, sodass der Inhalt mit den Flammen in Berührung ge¬ kommen war. Dementsprechend war das flüssige Blut haupt¬ sächlich auf die dem Hilus zunächst gelegenen Lungentheile und auf das Herz gedrängt werden, zum Theil hatte es sich durch Gefässzerreissungen in den hinteren Mittelfellraum ergossen. Wenn die Bauchhöhle uneröffnet bleibt, findet man ziem¬ lich regelmässig die Bauchorgane blutarm. Das muss nach dem Obengesagten auffallen. Es handelt sich nicht etwa um ein Austrocknungsprodukt, denn die Organe sind trotzdem feucht. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass hier eine gegen Ende des Lebens reflektorisch eintretende Reizung des grossen Eingeweidenerven verantwortlich zu machen ist. Auf die Blutarmuth der Bauchorgane wird es sich verlohnen, künftig sorgfältig zu achten. Falls sie wirklich nur bei Verbrennungen am Lebenden vorkommt, könnte sie auch für die gerichtsärztliche Praxis Bedeutung gewinnen. Ueber den physiologischen Schwachsinn des Weibes. Von P. J. Moebius. Samml. awangl. Abb. a. d. Qeb. d. Nerven- n. Geisteskranke 1900, III. Bd., H. B. Schwachsinn ist ein relativer Begriff. Im Verhältniss zum Europäer ist der Eskimo, im Verhältniss zum Erwachsenen das Kind, im Verhältniss zum Manne das Weib schwach¬ sinnig. Gehirntheile, die für das geistige Leben sehr wichtig sind (Stirn- und Schläfenwindungen), sind beim Weibe schlechter entwickelt als beim Manne. In der Reihe der Lebewesen, die man je nach der Stärke des Instinkts im Gegensatz zur Ueber- legung aufstellen kann, steht das Weib dem Thiere näher als der Mann, es steht zwischen Mann und Kind. Daher Mangel an Kritik, an Gerechtigkeit, an Interesse für das allgemeine Wohl, an Selbstbeherrschung; Verständniss und Gedächtniss künuen gut sein, die Erfindungsgabe und Urtheilsfähigkeit sind unent¬ wickelt. Die Geistesgaben, die sie hat, büsst die Frau häufiger und schneller ein als der Mann. Sie „versimpelt“ in der Ehe rasch, sie verliert schon in ziemlich frühen Jahren die Weite des Horizonts, das Verständniss für alles Neue, ihr Geistes¬ leben wird eintönig. So ist die Frau, weil sie nicht, wie der Mann, dazu ge¬ boren ist, sich in der Aussenwelt zu bethätigen, Nahrung zu beschaffen, die Familie zu vertheidigen, sondern Kinder zu gebären und zu pflegen. Je mehr ihr Geist sich ausbildet, desto untauglicher wird sie zu diesem ihrem eigentlichen Beruf. „Je besser die Schulen, desto schlechter die Wochen¬ betten, desto geringer die Milchabsonderung, um so untaug¬ licher die Weiber.“ Es ist ein schweres Unrecht gegen die Rasse, die Intelli¬ genz des Weibes heben zu helfen. Aber freilich — es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass die Civilisation die Quellen des Lebens abgräbt; je mehr die Gehirnthätigkeit überwiegt, desto unfruchtbarer wird die Menschheit. Das Strafgesetz sollte auf den Schwachsinn des Weibes Rücksicht nehmen und es nicht, wie jetzt, als Zeugin über¬ schätzen, als Angeklagte zu hart behandeln. Soweit Moebius. Seine Ausführungen sind interessant, insofern sie die Ansicht eines bedeutenden Forschers wieder¬ spiegeln. Eigentlich neue Thatsachen enthalten sie nicht. Von einer methodischen Widerlegung etwaiger Einwände ist — wie schon aus dem geringen Umfang der Schrift hervorgeht — keine Rede. Ob M. wirklich in jedem einzelnen Punkte Ana¬ loges mit Analogem, den Bauer mit der Bäuerin, den Bier¬ bankphilister mit der Kaffeeklatschbase, den verknöcherten Büreaumenschen mit der in Dienstbotensorgen und Grossreine¬ machen aufgehenden Hausfrau verglichen hat — das ist uns zweifelhaft geblieben. Am bedenklichsten ist die Art und Weise, wie er die „Frauenfrage“ streift. Was aus den vielen Frauen werden soll, die nie Mütter sein können, bleibt un- Digitized by Google Aerztliehe Sachverständigen-Zeitung. No. 11. gesagt. Und der Kern der Frauenfrage: die für die Mehrzahl aller Frauen, Mütter und Nichtmütter zusammengerechnet, heut¬ zutage bestehende soziale Zwangslage, sich dem „Departement des Aeusseren“, der Vertheidigung und Ernährung ihrer selbst und eventuell ihrer Familie dauernd oder zeitweise widmen zu müssen — dieser Hauptpunkt bleibt unberührt. Es mag sein, dass die Anregungen M/s auf dem Gebiete der Strafrechtspflege in gewissen Grenzen nützlich werden können — in Bezug auf die Emanzipationsbewegung wird sicherlich die Theorie vom physiologischen Schwachsinn wenig praktische Erfolge haben, nur ein Schlagwort mehr wird ge¬ wonnen sein, das die verständigen Elemente unter den um ihre soziale Existenz ringenden Frauen ins Lager der Extremen treiben hilft. Psychiatrie und Neurologie. Ueber Erschöpfungspsychosen. Von Dr. Raecke, Ass. a. d. Stadt. Irrenanstalt Frankfurt a. M. (Zischrift f. Psycb. Bd. 57 H. 1.) Wenn man nur diejenigen Fälle betrachtet, in denen bei bisher anscheinend rüstigem Gehirn äussere schwächende Mo¬ mente, wie grosse Blutverluste, acute Krankheiten, Mangel, Strapazen — insbesondere Wochenbett und Stillgeschäft —, zu Geistesstörungen führen, so ist man berechtigt, von be¬ stimmten Erschöpfungspsychosen zu reden. Auf Grund von 18 Fällen entwirft Verfasser ein Bild von dem Verlaufe dieser Krankheiten. Bei einer Reihe von „Erschöpften* dauern die Vorläufer, gemütliche Reizbarkeit und Leistungsunfähigkeit, nur Stunden oder wenige Tage. Dann entwickelt sich stürmisch ein Ge¬ misch von Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen meist schreckhafter Art. Der Kranke wird verwirrt und äusserlieh sehr erregt, er springt, tanzt, gestikulirt und schwatzt, wobei manchmal ein Kleben an einzelnen Vorstellungen (Perseve¬ ration) hervortritt. In rascher Folge wird aus der Ideeenflucht völlige Zusammenhangslosigkeit, bis endlich die ganze Summe der sprachlichen Aeusserungen nur aus ewigen Wiederholungen derselben Wendung, desselben Wortes besteht und äussere Reize gar keinen Eindruck mehr machen. In diesem Stadium kommen auch allerlei ruckweise Bewegungen und selbst Zuckungen vor, die durchaus den Eindruck des Unwillkürlichen machen. Dieser Zustand ist dann gefährlich: Tod durch Ver¬ letzungen, Herzschwäche, Lungenentzündungen kann eintreten. Meist aber bessert sich die Krankheit wieder, die Erregung wird von Ruhepausen unterbrochen, die häufiger und länger werden. Ein gereiztes misstrauisches Wesen, das durch die zunächst noch bestehende Unsicherheit der Kranken betreffs ihrer Umgebung und ihrer eignen Person erklärt wird, hält gewöhnlich noch eine ganze Zeit an. Einsichtsloses Fortdrängen ist dann nicht selten. Die Erinnerung an die Zeit der Krank¬ heit bleibt lückenhaft, wenn auch Einzelheiten oft später ins Gedächtniss zurückgebracht werden können. Dies Krankheitsbild braucht zu seinem Bestehen und Abklingen selten mehr als einen Monat. Unverkennbar mit dem vorigen verwandt ist das Krank¬ heitsbild bei einer zweiten Gruppe von Fällen, nur dass hier die Entwicklung und der Verlauf langsamer und weniger stürmisch sind. Meist, wie es scheint, nach lange einwirken¬ den Schädlichkeiten geht Schlaf und Appetit verloren, die Leistungsfähigkeit schwindet, allgemeine Beeinträchtigungs¬ vorstellungen und Nervenschmerzen quälen den Kranken wochen¬ lang, bis endlich eine Fülle einfacher Gehörs- und Gesichtstäu¬ schungen (Läuten, Brausen, Schiessen, Farbenerscheinungen) auf ihn einstürmen und ihm gleichzeitig seine Umgebung auf seltsame Weise ganz verändert erscheint. Zunehmende Ver¬ worrenheit und Angst führen ihn nicht selten zu Gewalttaten gegen sich und Andere. Dann verfällt er in einen Hemmungs¬ zustand, oft auch mit dem Hintergrund ängstlicher Spannung. Selten sind Zwischenzeiten mit heiterer, gelegentlich verliebter Erregung. Die Aufhellung vollzieht sich ähnlich wie bei der ersten Gruppe, nur langsamer. Hier pflegte die Anstaltsbehandlung 3—7 Monate zu dauern, und ganz gesund waren die Leute selbst bei der Entlassung meist noch nicht. Es ist sogar wohl möglich, dass bei der Mehrzahl aller Erschöpfungspsychosen ein leichter Grad von Schwachsinn zurüokbleibt. Ein durch Operation geheilter Fall von Jackson’scher Epilepsie. Aus der II. mediz. Klinik d. kgl. ung. Univ. Budapest. Von Ass. Dr. Ladislaus von Kdtly. (Mittbell, aus d. Gren»gebieten d. Media, a. Chir. 5. Bd., 4. a. 5. H. 1900.) Die Mittheilung des vorliegenden Falles von glücklich ope- rirter Jackson’scher Epilepsie rechtfertigt sich schon deshalb, weil die Zahl der längere Zeit nach der Trepanation beob¬ achteten Fälle nicht gerade gross ist. Der Erfolg des chirur¬ gischen Eingriffes war ein vollkommener, insofern die bis da¬ hin häufig auftretenden tonisch-klonischen Krämpfe im rechten Arm und der rechten Gesichtshälfte, die grossen Schmerzen im Arm und die bestehende Parese nach zwei Monaten fast ganz geschwunden waren. Der Operationsbefund ergab Fol¬ gendes: Die Pia mater war im Umfange von 2—3 cm über dem Gyrus paracentralis narbenartig verdickt und trübe, ausserdem 6—7 cm breit und 1 cm lang mit dem Cortical- theil des Gyrus zusammengewachsen. An dieser Stelle waren stecknadelkopfgrosse, aus früheren Blutungen herstammende Punkte. Aus einem kam nach einem Einstich serumartige Flüssigkeit heraus; zwischen denselben war die Gehirnsubstanz theils narbig, theils safranfarbig. Die veränderte Gehirnsub¬ stanz wurde etwa 5—6 mm tief ausgeschält. Ihre mikro¬ skopische Untersuchung ergab, dass es sich um eine Ence- phalomalacia punctiform. rubra handelte: Die Pia mater war sehr verdünnt, zellenarm und mit dem Cortex verwachsen. In den Schichten der kleinen Pyramidalzellen waren kleine steckuadelkopfgrosse, mit nicht färbbaren, abgestorbenen Ge- webselementen und stellenweise mit gut sichtbaren rothen Blutkörperchen gefüllte Erweichungsherde vorhanden; auch fand sich amorphes Blutpigment vor. Es ist möglich, dass dieser Befund veranlasst wurde durch die traumatischen Ein¬ wirkungen, die den Kopf des Patienten nach seinen Angaben häufig im Berufe trafen. Der Kranke war Müller, musste als solcher viel durch eine niedere Thür aus- und eingehen, und schlug öfters den Kopf an den Thürstock an. Sonstige An¬ haltspunkte für die Aetiologie des Leidens ergab die Ana¬ mnese nicht. Die der Arbeit beigegebene Litteraturübersicht zeigt, dass die Erfolge der operativ behandelten Jackson’schen Epilepsie keineswegs sehr glänzende sind. 23 Fällen vollkom¬ mener Heilung, von denen aber mit Rücksicht auf die kurze Beobachtungszeit nur 3 als bestimmt geheilt betrachtet werden dürfen, stehen 11 Fälle gegenüber, in denen nur eine Besserung eintrat, in 28 Fällen blieb der Zustand unverändert und 4 en¬ deten tötlich. Immerhin ist der operative Eingriff bei ver¬ zweifelten Fällen von Jackson’scher Epilepsie berechtigt, zumal in Anbetracht der Fortschritte der chirurgischen Technik für die Zukunft noch bessere Erfolge zu erwarten sind. —y- e 1. Juni 1900. Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. 221 Die Sprachstörungen der Schulkinder. Von Dr. Alb. Liebmann-Berlin. (Die Xntliche Praxis Mo. 6—7, 1900.) Der vorliegende Beitrag zur Schulhygiene giebteine gedrängte Darstellung der Pathologie und Therapie der Sprachstörungen der Schulkinder. Die in Betracht kommenden Störungen sind: Stummheit, Stammeln, Poltern, Agrammatismus und Stottern. Mit Rücksicht auf die Bedeutung, die der Besitz einer korrekten Sprache für das spätere Leben hat, wird sich die Schulhygiene in Zukunft weit mehr noch, als bisher, mit diesem Kapitel zu befassen haben. Die Sprachheilkunde hat in den letzten Jahren so bedeutsame Fortschritte gemacht, dass auch Er- spriessliches auf diesem Gebiete geleistet werden kann. Möchte sich nur das Interesse der Aerzte diesem wichtigen Gegenstände etwas mehr zuwenden. Die Einrichtung der Schulärzte, die sich immer mehr einbürgert, wird sicherlich dazu beitragen, dass dieser Wunsch mehr und mehr in Er¬ füllung geht. Auf den Inhalt der lesenswerthen Arbeit näher einzugehen, müssen wir uns leider an dieser Stelle versagen. —y- Innere Medizin. Nephritis bei Yaricellen. Von Dr. Hans Haenel, Assistenzarzt am Stadtkrankenhause zu Dresden-Friedrichstadt (Centr. Bl. f. Inn. Med. 1900, No. 19.) Folgender Fall ereignete sich während einer Windpooken- epidemie. Ein einjähriges Kind, das Keuchhusten überstanden hatte, bekam plötzlich hohes Fieber. Am zweiten Tage war im Harn reichlich Eiweiss und das Vorhandensein von hyalinen und gekörnten Cylindern nachweisbar. Hautschwellungen traten nicht auf. Am achten Tage fiel das Fieber, am zehnten, zu weloher Zeit das Eiweiss verschwunden war, begann unter Anstieg der Temperatur eine sehr geringfügige Bläschenbildung auf der Haut, die wie Windpocken verlief. Man ist in letzter Zeit darauf aufmerksam geworden, dass Eiweissharn bei Windpocken garnicht so selten, und Nieren¬ entzündung mindestens gelegentlich vorkommt. Die letztere pflegt milde zu verlaufen. Ganz ungewöhnlich ist es aber, dass die Nierenentzündung gewissermassen den Vorläufer der Windpocken bildet. Nur ganz schwere Fälle von Windpocken sollen überhaupt Vorläufererscheinungen haben. H. hält es daher für wahrscheinlicher, dass hier die Nierenentzündung gewissermassen als Ersatz der Hauterscheinungen eingetreten ist, dass es sich also — ebenso wie es einen Scharlach ohne Ausschlag giebt — uinVaricellae sine exanthemate, um Wind¬ pocken ohne Ausschlag gehandelt hat. Dass hier nicht etwa ein zufälliges Zusammentreffen vor¬ lag, wurde kurz nach der Genesung des ersten Kindes durch zwei weitere Beobachtungen bestätigt. Ein anderes Kind erkrankte nach Ablauf von schweren Windpocken an fieber¬ hafter Nierenentzündung mit bluthaltigem Harn, ein drittes liess einige Zeit nach dem Eintrocknen der Bläschen Eiweiss im Ham nachweisen, ohne dass jedoch Fieber vorhanden war. Ueber nervöse Leberkolik. Von Dr. Theodor Fuchs-Wien. (Wiener med. Presse No. 14, 1900.) Die nervöse Leberkolik ist zwar eine seltene Affektion, doch tritt sie häufig genug auf, um eine Warnung vor Ver¬ wechselung mit Cholelithiasis gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Dieser diagnostische Irrthum liegt durchaus nahe; die nervöse Leberkolik gleicht der Steinkolik wie ein Ei dem an¬ deren. Ein Fall, wie der von Verf. beschriebene, in welchem auf Grund der unzutreffenden Diagnose „Cholelithiasis“ ver¬ geblich operativ eingegriffen wurde, dürfte nicht vereinzelt dastehen. Bei der Unterscheidung der beiden in Rede stehen¬ den Zustände wird der Umstand, dass sich die nervöse Leber¬ kolik oft mit Symptomen von Hysterie und Neurasthenie, mit Neuralgien anderer Theile, vergesellschaftet, ja direkt in solche übergeht, noch den besten Anhaltspunkt bieten. —y. Vergiftungen. Znr Klinik der Intoxicationen mit Benzol- und Toluol- Derivaten mit besonderer Berücksichtigung des sog. Anilismus. Von Dr. A. Friedländer, Ass. d. städt. Irrenanstalt. Frankfurta. M. (Nearol. Centr. 1900, No. 4 n. 7.) Ueber die eigenartigen Vergiftungen, die bei den mit den Abkömmlingen des Benzols und Tolnols beschäftigten Arbeitern, also in einem ungemein wichtigen Fabrikationszweige, Vor¬ kommen, werden fast alljährlich neue interessante Beobach¬ tungen gemacht. Neuerdings tritt hierbei immer mehr das Bestreben hervor, die einzelnen in Frage kommenden Stoffe ihrer Wirkung nach von einander zu scheiden, während früher alles in den grossen Topf „Anilismus“ geworfen wurde. Wir erinnern an die Beobachtungen von Frank und Beyer (Jahrg. 1897, S. 303), Senn (1897, S. 367), Leichtenstern (1898, S.495) und Bachfeld (1899, S. 345). Das gleiche kritische Streben liegt der Veröffentlichung Friedländers zu Grunde, die nur ein Vorläufer weiterer klinischer und experimenteller Arbeiten auf diesem Gebiete sein soll. Fall I. Es handelt sich um einen erblich und persönlich belasteten Mann: der Vater war starker Trinker und starb an Nervenfieber, er selbst hat als Kind Nervenfieber gehabt und früher sehr viel getrunken. Seit zwei Jahren ist er ziemlich mässig. Er ist ein jähzorniger, gewaltthätiger Mensch. Diesem Manne spritzt im Anilinraum, wo er arbeitet, etwas reines Anilin in den Mund (kaum ein Mund voll). Er schluckt einen Theil davon herunter, arbeitet aber vorschriftswidrig weiter, ohne sich zu melden. Nach einigen Stunden wird er unwohl und taumelt, erst färben sich Lippen und Ohren hellblau, dann das ganze Gesicht tiefblau, später schwärzlich. Gleichzeitig wird er verwirrt und allmählich tobsüchtig erregt, bald ängst¬ lich bald kindisch heiter. Die Tiefe der Bewusstseinstrübung wechselt, aber auch als er sich beruhigt hat, ist sein Bewusst¬ sein dämmerhaft, wie beim Alkohol rausch. Die Athmung ist nur etwas beschleunigt; andere wesentliche Störungen bestehen nicht. In der Nacht schläft er ruhig, am nächsten Tage sieht er noch bläulich blass aus und zeigt eine erhebliche Einsichts¬ losigkeit bezüglich seines Zustandes, aber keine tiefere Störung. Der Vorgänge vom vorhergegangenen Tage erinnert er sich summarisch. Am dritten Tage besteht nur noch Herzschwäche, vom vierten ab arbeitet er wieder ohne Störung. Die dunkle Hautfärbung ist Verf. geneigt, nicht blos auf eine Sauerstoffberaubung des Blutes, sondern auch auf in dem¬ selben kreisendes Anilinschwarz zurückzuführen. Fall II. Das Bi-Nitro-Toluol verursacht bei dem mit ihm beschäftigten Arbeitern oft leichte Vergiftungen (Uebelsein, Magenbeschwerden, Kopfschmerz, Schwäche, eventuell Bewusst¬ losigkeit), die sich nicht selten erst 8, 10 oder mehr Stunden nach dem Verlassen des betr. Raumes geltend machen. Wenn nur geringe oder selbst gar keine Vergiftungszeichen bestehen, so wird manchmal noch am folgenden Tage eine schwere Ver¬ giftung ausgelöst, wenn die Arbeiter geringe Mengen Alkohol (ein Glas Schnaps, 2—3 Glas leichtes Bier) zu sich nehmen. Digitized by Google 222 Aerztliche Saohverständigen-Zeitung. No. 11. Der hier beschriebene derartige Fall hatte ein gericht¬ liches Nachspiel. Ein früher gesunder, fleissiger Arbeiter trank tags nachdem er Nachtschicht gehabt hatte, ein paar Glas Bier. Er verliess, keineswegs betrunken aussehend, die Schenke, irrte stundenlang umher, ging dann in die benach- barte Stadt, stieg zu der Mansarde empor, wo seine frühere Geliebte wohnte, und legte sich vor der Thür mit brennender Cigarre auf einen Strohsack. Dieser fing an zu brennen, er schlief trotz einer Brandwunde am Arm weiter und erwachte erst, als die Hausbewohner ihn umstanden und anriefen. Jetzt sprang er zum Fenster — aus dem dritten Stock — heraus! Er sah völlig verwirrt aus. Unverletzt, aber bewusstlos blieb er liegen. Als er am folgenden Tage zu sich kam, war vom Ver¬ lassen des Wirthshauseß ab alles in seiner Erinnerung aus¬ gelöscht. Wegen fahrlässiger Brandstiftung angeklagt, wurde er aufGrunddes§51 gemäss ärztlichem Gutachten freigesprochen. Fall III. Ein nüchterner, sehr achtbarer Arbeiter athmete bei einer Kesselausbesserung To 1 ui di n dämpfe ein und bekam Toluidinspritzer auf Brust und Hände. Er wechselte die Klei¬ dung nicht. Nach zwei Stunden fand man ihn scheinbar schla¬ fend. Geweckt, taumelte er und gebärdete sich wie ein Tob¬ süchtiger. Er hatte hochgradige Athemnoth und unregelmässigen Puls, Blausucht, Delirien und Krämpfe. Der Urin war dunkel¬ braun, aber frei von Eiweiss, Zucker und Blut. Erst am fol¬ genden Tage kam der Mann zu sich, war aber noch benommen. Am dritten Tage war er völlig klar, hatte keine Erinnerung an seinen Krankheitszustand. Jetzt setzten starke Harnbeschwerden ein: Heftiger Harnzwang bestand, der Urin enthielt viel Eiweiss und war sehr spärlich, die Körperwärme herabgesetzt. Nach 3 Wochen war die Heilung vollständig. Fall IV. Ein Arbeiter imBinitrobenzol-Raum vernach¬ lässigte die vorgeschriebenen Schutzmassregeln. Darauf stellte sich Blausucht, Kopfschmerz und Hitzegefühl ein. Für 2 Tage wurde der Kranke bewusstlos. Die Milz schwoll an, Blutfarb¬ stoff ging in den Harn über. Wiederum war Heilung in drei Wochen erzielt. Vorläufig schliesst Verf. an seine Mittheilungen folgende Leitsätze an: Die Abkömmlinge des Benzols und Toluols sind giftig. Sie wirken auf das Centralnervensystem und die Kreislaufs¬ organe. Reine Blutgifte sind sie nicht. Früherer Alkohol¬ missbrauch verstärkt die Anlage zur Vergiftung. Versteckte Vergiftungen können durch hinzutretende Schädlichkeiten (Alko¬ hol) offenbar werden, die daher unbedingt zu vermeiden sind. Besonders gefährlich ist die Beschäftigung mit diesen Stoffen nicht, wenn bestimmte Vorsichtsmassregeln gebraucht werden: Ausgiebige Lüftung der Arbeitsräume, Dichtigkeit der Gefässe, bei eintretenden Verunreinigungen der Arbeiter mit den Giften sofort Bad bezw. Kleidungs Wechsel. Bei Eintritt einer Ver¬ giftung ist sofort ein warmes Bad zu geben, frische Luft zu¬ zuführen, jedes alkoholische Getränk zu vermeiden, dafür aber Kaffee zu verabfolgen. Chloroform- und Karbolsfiurevergiftung. Von Med.-Rath Dr. Leonpacher-Trautenau. (Friedreichs Blätter. 1900. No. 2.) 1. Ein kräftiger Strafgefangener in mittleren Jahren trank 20 gr Chloroform, das er mit Olivenöl vermischt zum Einreiben bekommen hatte (wahrscheinlich nicht aus Lebensüberdruss, sondern aus Naschhaftigkeit). Bald darauf wurde er sehr ver¬ gnügt, fing an zu singen und zu johlen, wurde aber immer verwirrter und verlor schliesslich das Bewusstsein. Dann traten erst Muskelkrämpfe, nachher allgemeine Erschlaffung mit Auf¬ hebung der Pupillenreflexe, Schwäche und Verlangsamung des Pulses ein. Die Halsblutadern schwollen an, das Gesicht wurde bläulich, die Augäpfel wichen nach aussen ab. Würgbewegungen und Erstickungsanfälle traten mehrmals auf. Zwei Stunden lang musste die Zunge hervorgezogen werden, weil sonst sofort die Athmung Stillstand. Immer kühler wurden die Gliedmassen, immer welker die Haut. Angeblich wurde durch die Zusammen- ziehung der Kiefermuskeln und durch die Würgbewegungen eine Magenspülung verhindert. Kampfer wurde subcutan, Rici- nusöl mit etwas Crotonöl durch Klystier verabfolgt. Die Reaktion der rechten Pupille war es, die zuerst wieder¬ kehrte. Bald darauf trat Erbrechen und Stuhlgang ein, nach und nach kehrte das Bewustsein wieder. Kopfschmerzen, Brennen im Halse und unter dem Brustbein, wozu sich noch ein rechtsseitiger Luftröhrenkatarrh gesellte, waren die einzi¬ gen Folgezustände der Vergiftung. Eine schwerere Schädigung der Magenschleimhaut war wahrscheinlich durch die Oelbeimischung verhindert worden. 2. Einem Kinde von l 3 / 4 Jahren wurden in verbrecherischer Absicht etwa zwei Kaffeelöffel einer dreiprozentigen Karbol¬ säurelösung eingegeben. Alsbald brach es zusammen und er¬ blasste. Dann erst fing es an zu jammern. Eine halbe Stunde später fing es an zu brechen und verfiel hierbei immer mehr, bis es in einen schlafsüchtigen Zustand gerieth. Es starb etwa sechs Stunden nach der Vergiftung trotz ärztlicher Massnahmen unter Herzschwäche und Muskelkrämpfen. Die Leiche hatte keinen Fäulnissgeruch, aber auch keinen deutlichen Geruch nach Karbolsäure. Von der im Erbrochenen noch nachweisbar gewesenen Karbolsäure war im Magen- und Darminhalt nichts mehr vorhanden, dagegen in dem abge¬ schabten Belage der Mundschleimhaut. Die sichtbaren Aetz- wirkungen waren gering, nur eine Drüsenschwellung in der Zunge, eine leichte Aetzung des Gaumensegels und Kehldeckels, starke Füllung der Darmgefässe und Schwellung der Peyer- schen Haufen bestand, ln der Pförtnergegend des Magens sah man einzelne punktförmige Blutungen, die Gekrösdrüsen waren geschwellt. Auf der Leberoberfläche fanden sich milchig getrübte Stellen, innerhalb derselben und auf dem Durchschnitt gelbe Flecke. Die Nieren waren vergrössert und blutreich. Durch die grosse Verdünnung der Säure waren die sonst so bezeichnenden Aetzungsvorgänge fast ganz hintangehalten worden. Im Darm und Magen fand sich kein Phenol mehr, weil es theils durch Erbrechen beseitigt, theils verflüchtigt, theils endlich in chemische Verbindung mit den Gewebs- substanzen eingegangen war. Bei der Sektion hätte eigentlich nur der Nachweis von Karbolsäure im Mundbelage die Todes¬ ursache festzustellen erlaubt. Freilich war ja zu Lebzeiten der Karbolgeruch aus dem Munde ärztlich festgestellt, und auch das Erbrochene hatte Karbol enthalten. Ueber den heutigen Stand unserer klintacheu Keimtniss des Alkoholismus. Von Dr. A. Smith-Schloss Marbach a. Bodonsee. (Der AlkoholismuB, 1. Heft, 1900.) Der als Kämpe gegen den Alkoholismus in weiteren Kreisen bekannt gewordene Autor giebt in dieser Arbeit, welche einem zu Paris im Aufträge des VII. internationalen Kongresses gegen den Missbrauch geistiger Getränke gehal¬ tenen Referate entspricht, ein ausführliches Bild vom heutigen Stande unserer klinischen Kenntniss des Alkoholismus. Er erörtert zunächst die physiologische Wirkung des Alkohols auf den menschlichen Organismus und bespricht alsdann die objektiv nachweisbaren krankhaften Veränderungen und sub¬ jektiven Störungen, die der gewohnheitsmässige Genuss von Alko¬ hol im Gefolge hat. Den Schluss der Arbeit bilden einige thera¬ peutische Bemerkungen und die Aufforderung zur Bekämpfung Digitized by Google 1. Juni 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 223 des Alkoholunfuges, der unseren heutigen Nationen die unbe¬ rechenbarste Ginbusse an körperlicher und geistiger Kraft, an Menschengesundheit und Menschenleben kostet —y. Gynäkologie. Ein Fall von Coitusverletzung. Von Dr. Ernst Guss mann-Stuttgart. (Württemb. medizin. Correspondenzbl. No. 12, 1900.) Verf. bereichert die Casuistik der Coitusverletzungen um einen weiteren Pall, in welchem es während der Brautnacht in Folge zu ungestümen Vorgehens zu einem Einriss ins Hymen kam, der sich in einer Länge von ungefähr l 1 / 2 cm in das Gewebe der Scheide fortsetzte. Die Verletzung führte zu einer länger dauernden, erheblichen Blutung, die erst nach Anlegung von zwei tiefgreifenden Seidenähten stand. -y. Schädelverletznng bei engem Becken. Von Dr. Herrmann-Breslau. (Allgem. medizin. Central-Ztg. No. 14, 1900.) Bei einer 30jährigen VIII para musste wegen Hinter- sclieitelbeineinstellung bei engem Becken gewendet und ex- trahirt werden. Das leicht [asphyktisch geborene Kind trug eine tiefe trichterförmige Impression des rechten Scheitelbeines davon, die aber ohne weitere schädlichen Folgen blieb. Verf. erörtert bei Gelegenheit dieser Mittheilung die Frage, woher es kommt, dass bei ganz gleichen Relationen zwischen Kopf und Becken das eine Mal eine tödtlich verlaufende Fissur oder Fraktur, das andere Mal nur eine Impression mit gutem Aus¬ gange für das Kind entsteht. Die Annahme einer verschiedenen Biegsamkeit der Knochen genügt nicht zur Erklärung dieser auffallenden Thatsache; Verf. glaubt den äusseren Druck, dessen man bei jeder schweren Entwickelung des nachfolgen¬ den Kopfes bei engem Becken benöthigt, dafür verantwortlich machen zu müssen. Wirkt der äussere Druck in einer falschen Richtung, d. h. mehr nach unten, bei der liegenden Frau in einem sehr spitzen Winkel zur Horizontalen, so wird er den in seiner Basis im Beckeneingang stehenden Kopf in der Richtung vom Scheitel zur Basis zusammendrücken, die Quer¬ durchmesser also vergrössern und einer Abflachung des Scheitelbeines direkt entgegenarbeiten. Man braucht also zur Ueberwindung des Beckeneinganges eine viel zu grosse Kraft, deren Resultat eine tödtlich verlaufende Fissur sein kann. Wirkt der Druck von aussen daeegen richtig, d. h. wird der Kopf in der Richtung der Beckeneingangsachse steil nach hinten gedrückt, so muss die Kraft mehr am vorderen Scheitel¬ bein angreifen, die Querdurchmesser werden also kleiner, die Abflachung des Scheitelbeines wird begünstigt. Man braucht also eine geringere Kraft zur Extraktion und hat dann auch eine geringere und weniger gefährliche Verletzung zu ge¬ wärtigen, statt einer Fissur oder Fraktur eine mehr oder weniger ausgesprochene Impression. -y Tod des Kindes durch Zerreissang von Gefüssen der velamentös inserirenden Nabelschnur. Von Gottfried Volland. (Diss. Inaug. Marburg 1900.) Verf. bringt einen hierher gehörigen Fall aus der Mar- burger Klinik, einen zweiteu wo ein vas aberrans einer in- sertio marginalis gerissen war und aus der Literatur 13 be¬ zügliche Fälle. Er führt die verschiedenen Erklärungen für die Abnormität an und betont die Schwierigkeit der Diagnose, die meist erst durch Beseitigung der Nachgeburt gestellt wird. Schwarze. Znr Kasuistik der Beckenverletzungen bei künstlichen Geburten. Von Felix Bonsmann. Dizz. inaug. Würzburg 1899. % Im Anschluss an einen Fall von künstlicher Frühgeburt bei rachitisch platten Becken, bei dem nach Wendung und Extraktion eine Symphysenruptur eintrat, bespricht Verf. die Beckenverletzungen bei Entbindungen, unter denen er die Symphysenverletzuugen als die häufigsten bezeichnet. Er hält sich dabei hauptsächlich an die Arbeit von Braun-Fernwald ohne Neues zu bringen. Schwarze. Augen. Ueber den Zusammenhang zwischen Skrophulose und Trachom. Von Dr. Bäck-Gleiwitz. (M. M. W. 1900, No. 8.) Das Trachom tritt häufig in Verbindung mit den sogenannten skrophulösen Augenerkrankungen auf und hat ausserdem mit denselben eine gewisse klinische Aehnlichkeit. Das genügt, um zu vermuthen, dass beide Krankheitsarten auf ein gleiches ursächliches Moment zurückzuführen sind. Zwischen dem Pannus scrophulosus und dem Pannus trachomatosus besteht oft eine solche Aehnlichkeit, dass sie besonders anfangs kaum zu unterscheiden sind. Die Körnchen- oder Follikelbildung in den Bindehäuten ist nicht durchaus kennzeichnend für das Trachom, oder, wie Verfasser sich schöner ausdrückt, nichts trachomotypisches. Das „Bild der Körnchenbildung“ kann durch sehr verschiedene Bakterienwirkungen hervorgerufen werden. Nach Herrn Bäcks eigenen Untersuchungen kommt das Trachom fast immer bei Leuten vor, welche einen skrophulösen Habitus aufweisen. Wie nun nach Axenfeld die skrophulösen Augenkrankheiten nicht durch eine einheitliche Spaltpilzart her¬ vorgerufen werden, ebenso wird nach Bäck das Trachom nicht durch eine einheitliche Art von Spaltpilzen hervorgerufen, sondern alle möglichen Bakterien, die überhaupt eine Bindehautentzündung erzeugen, können bei den Menschen, die dazu veranlagt sind, d. h. bei den skrophulös veranlagten überhaupt, die Ent¬ stehung des Trachoms bewirken. Und weiter verkündet Herr Dr. Bäck: Er selber habe ver¬ sucht, sich mit Trachom zu inficiren wie, verschweigt er — und es sei ihm nie gelungen. Leichten Herzens folgert er: „Wer nicht dazu disponirt ist, bekommt kein Trachom, trotz Infektion. Und wer dazu disponirt ist, bekommt es, wenn er sich auch noch so sehr davor zu schützen sucht.“ Ausgerottet kann das Trachom weder durch den Kupferstift noch durch die Isolirung, sondern nur durch eine Besserung der sozialen Verhältnisse werden. Mit diesen prophetischen Worten schliesst Herr Dr. Bäck seine Arbeit, deren reicher Inhalt auf etwas mehr als eine Folioseite zusammengedrängt ist. Ihre kritische Würdigung überlassen wir getrost unsern Lesern. Das Trachom in der Ostschweiz. Von Dr. C. Bauer, erstem Assistenten der Univorsitäts-Augenklinik in Zürich. (Korr.-Bl. f. Schweizer Aerzte 1900. No. 9.) Die Schweiz gehört nicht zu den Ländern, in denen das Trachom heimisch ist. Sehr wenige Fälle sind in Bern und Basel, erheblich mehr nur in dem an Italien grenzenden Kanton Tessin beobachtet. Ueber die Ostschweiz fehlten bis jetzt Aufstellungen. Digitized by {jOOQie 224 Aerztliche Sachverständigen- Zeitung. No. 11. Die Züricher Klinik, deren Kranke sich vorzugsweise aus der Ostschweiz, d. h. aus einem durchschnittlich 400 m über dem Meere belegenen Qebiet rekrutiren, hatte unter etwa 9000 Patienten 1862 bis 1880 zwanzig Trachomatöse. Hier¬ von waren 12 Ausländer. Von den 8 Schweizern waren 2 sicher im Auslande angesteckt, über die Uebrigen fehlen genauere Nachrichten. Etwa 56000 Krankengeschichten fallen auf die Zeit von 1881 bis 1899 incl. In dieser Zeit wurde 133 mal Trachom beobachtet, nämlich 117 mal bei Ausländern (davon 93 Italiener), und nur 16 mal bei Schweizern, von denen sich wieder 8 die Ansteckung im Auslande geholt hatten. Eine genaue Prüfung der übrigen 8 Krankengeschichten ergab, dass in zwei Fällen die Diagnose nicht ganz feststand, in zwei anderen die Kranken mit Italienern viel zu thun hatten. Das Trachom ist also in der Ostschweiz sehr selten (höchstens 0,15 %o aller Augenkranken). Klinisch scheint es meist ziem¬ lich gutartig zu verlaufen. Die Ansteckungsgefahr, die von den Italienern droht, wird dadurch sehr verringert, dass Jene sich meist von der übrigen Bevölkerung abseits zu halten pflegen. Ohren. Weitere Beiträge zur Kenntniss der Wirkung des Küsten- klimas, des Inselklinias und der Seebäder auf Ohren- krankheiten und auf die Hyperplasie der Rachenmandel. Von Prof. 0. Körner-Rostock. (ZeiUcbr. f. Ohrenheilk., XXXVI. Band, 3. Heft.) Auf Grund von Untersuchungen in Gross-Müritz an der Ostsee im Jahre 1898 und 1899 kommt Körner zu dem inter¬ essanten zahlenmässigen Beweis der allerdings schon früher bekannten Thatsache, dass die Rachenmandelhyperplasie an unserer Küste häufiger ist als im Binnenlande. Weiter kommt er zu dem für den ärztlichen Praktiker recht wichtigen Schluss, dass die Beschwerden einer grossen Anzahl der von ihm unter¬ suchten Kinder, die mit der Diagnose ,,allgemeine Schwäche, Atrophie, Skrophulose, Anämie oder Chlorose 4 * in das See- Hospiz zu Müritz geschickt worden waren, lediglich auf die Hyperplasie der Rachenmandel zurückzuführen waren. Solche Kinder gehören nicht in die Seehospize, wo sie anderen, be¬ dürftigeren den Platz wegnehmen; ihnen ist durch Entfernung der Mandel viel besser, schneller und billiger zu helfen. Die Kinder mit Rachenmandel nahmen durchschnittlich weniger an Gewicht zu als die ohne Rachenmandel. — Ueber- raschend ist die Thatsache, dass die offenen Seebäder bei Kin¬ dern mit trockenen Trommelfellperforationen trotz Unterlassung jedes besonderen Schutzes kein Wiederauftreten der Ohren¬ eiterung herbeiführten. Aus seinen Untersuchungen an 298 Kindern in Helgoland hat Körner keine allgemeinen Schlussfolgerungen gezogen. Richard Müller. Hygiene. Die Bedeutung der Molkereien für die Verbreitung des Unterleibstyphus. Von Dr. Schlegtendal. Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege. Bd. 32. Heft 2. Nach einer Besprechung der Bedeutung der Milch als Vermittler der Verbreitung ansteckender Krankheiten, speziell des Unterleibstyphus, in Bezug auf die einzelne Milchbezugs¬ quelle, erfahren die Sammelmolkereien, die die Milch ver¬ schiedener Ställe und Lieferanten benutzen, und deren Be¬ deutung für die Verbreitung desUnterleibstyphus eine eingehende Besprechung. Dass diese Gefahren hier in Folgeder grösseren Ausbreitung des Kundenkreises von vornherein grössere sein müssen, liegt auf der Hand. Es kommt hinzu, dass die ersten derartigen Fälle in der Regel nur zu leichteren Erkrankungen zu führen pflegen, die aber im weiteren Verlauf nicht selten zu ausge¬ dehnten und mitunter auch bösartigeren Haus- und Ortsohafts- epidemien Anlass geben. Als Beweis hierfür findet eine Reihe solcher Epidemien aus der Literatur Erwähnung. Im An¬ schluss hieran giebt der Verfasser eine Besprechung zweier ausgebreiteter Typhusepidemien aus dem Regierungsbezirk Aachen, die im letzten Jahrzehnt zur Beobachtung kamen und die gleichfalls auf den Kundenkreis der betreffenden Sammel¬ molkereien sich beschränkten. Die zweite dieser Epidemien war dadurch bemerkenswert, dass erstens auf der einen Seite alle Ortschaften der Bürger¬ meisterei, die sich an der Molkereigenossenschaft betheiligt hatten, mit nur einer Ausnahme von der Seuche ergriffen wurden, und dass auf der anderen Seite, wiederum nur mit einer Ausnahme, die Ortschaften, in denen keine Genossen¬ schafter wohnten, davon frei blieben und zweitens, dass in den befallenen Ortschaften der ersteren Art die Erkrankungs¬ fälle ausnahmslos bei den Molkereilieferanten auftraten. Mit den vom Verfasser beobachteten Fällen sind es im Ganzen 27 grössere oder kleinere Typhusepidemien, die der Verfasser mit fast absoluter Sicherheit auf eine Molkerei als Ausgangs- oder vielmehr Ausstreuungspunkt zurückführt. Ueberwiegend waren dies solche Sammelmolkereien, welche die Milch zur Butterbereitung verarbeiten und die Magermilch den Lieferanten zurückgeben, während die Milchmeiereien, welche die Milch abgeben, besonderen Werth darauf legen müssen, gute und einwandsfreie Milch zu liefern und desshalb häufig den Betrieb so geregelt haben, dass die eingelieferte Milch vor der Weitergabe einem Sterilisirungsverfahren unter¬ worfen wird. Der Charakter der Epidemien war meist ein leichter, was sich daraus erklärt, dass, wenn die infizirte Milch nur eines Lieferanten in die Molkerei gelangt, die Typhuskeime in dem Meer des mit eingelieferten Milchquantums so vertheilt werden, dass die Menge, wie sie nachher bei dem einzelnen Mager¬ milchtrinker zum Genuss gelangt, nicht sehr beträchtlich sein kann. Wiederholt konnte auch festgestellt werden, dass in den Häusern, in denen die Milch regelmässig abgekocht wurde, oder wo die Magermilch ausschliesslich zur Verfütterung an das Vieh benutzt wurde, keine Typhuserkrankungen auftraten, wohl aber in Häusern, wo nachweislich die Magermilch roh genossen wurde. Bei der Besprechung der vorbeugenden Massnahmen wird auf die Schwierigkeit hingewiesen, die sich einer Verhütung der Infektion im Hause des Lieferanten oder des Abnehmers entgegenstellen. Ein sicherer Erfolg ist nur zu erwarten, wenn die gesundheitspolizeilichen Massnahmen in der Molkerei selber getroffen werden. Zum Schluss seiner beachtenswerten Ausführungen stellt der Verfasser folgende Forderung: Weil nachgewiesenermassen zahlreiche Typhusepidemien durch Molkereien verursacht worden sind, weil ferner die Zahl der Molkereien noch in steter Zunahme begriffen ist und da¬ mit die Gefahr für das öffentliche Wohl entsprechend wächst und weil die jedesmalige Pasteurisirung der ganzen Milch in der Molkerei ebenso gut andere Menschen- und Viehseuchen verhindert, wie den Typhus, so ist es notwendig, die baldigste Einführung dieses Verfahrens ins Auge zu fassen und seine obligatorische Durchführung, sobald als möglich, im ganzen Reiche zu verfügen. Roth (Potsdam.) Digitized by Google 1. Juni 1900, Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 225 Beziehungen zwischen dem Chlor- und Salpetersäure¬ gehalt in verunreinigten Brunnenwässern bewohnter Ortschaften. Von J. König in Münster in W. (Zeitschrift f. Unters, d. Nahrangs- and Genassmittel, April 1900.) Zwischen dem Chlor- und Salpetersäuregehalt verun¬ reinigter Brunnenwässer in bewohnten Ortschaften besteht durchweg eine Beziehung, die sich leicht dadurch erklären lässt, dass die in den Boden dringenden häuslichen Abgänge neben Stickstoff auch gleichzeitig viel Kochsalz zu enthalten pflegen. Da der Stickstoff, soweit er noch nicht in Form von Ammoniak vorhanden ist, erst in Ammoniak und weiter in Salpetersäure übergeführt, letztere aber in Form von Nitraten, ebensowenig wie Chlor in Form von Chloriden, vom Boden absorbirt wird, so erhöht sich, falls eine Verunreinigung von Brunnen-, (d. h. Grund-) Wasser durch solche Abgänge vor¬ liegt, der Gehalt derartig verunreinigter Brunnenwässer gleich¬ zeitig an Chlor und Salpetersäure. Verf. führt einige Bei¬ spiele zum Belege für diese noch nicht genug gewürdigte Er¬ scheinung an. Auch der Gehalt an Schwefelsäure pflegt mit der Zunahme an Salpetersäure und Chlor, wenn auch nicht stets in genauem, gleichem Verhältnisse, so doch im Allge¬ meinen regelmässig anzusteigen. Der Gehalt an organischen, durch Kaliumpermanganat oxydirbaren Stoffen dagegen zeigt grössere Unregelmässigkeiten und kann in einem verunreinigten, an Nitraten, Chloriden und Sulfaten reichen Brunnenwasser mitunter gering sein. Auch die Anzahl der Bakterien steht durchaus nicht immer in einem Verhältnis zu dem Grade der Verunreinigung eines Brunnenwassers durch die ange¬ führten Salze. Ein einseitig hoher Gehalt des Brunnen¬ wassers an einem der Salze lässt selbstverständlich keinen Rückschluss auf eine Verunreinigung des Wassers durch häus¬ liche Abgänge zu; denn nicht selten sind die Boden- und Ge- birgsschichten, welche das Regenwasser durchfliesst, reich an löslichen Sulfaten oder Chloriden, und kann auch ein natür¬ liches, nicht verunreinigtes Grundwasser reich an beiden oder an einem der beiden Salze sein. Selbst an Salpetersäure kann ein Grundwasser mitunter einseitig reich sein, ohne dass dieses in menschlichen Abgängen seine Ursache hat. Wenn aber ein Brunnenwasser neben einem verhältnissmässig hohen Gehalt an Salpetersäure gleichzeitig einen hohen Gehalt an Chlor und auch an Schwefelsäure aufweist, so kann man nach Verf. mit fast an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit schliessen, dass der Brunnen Zuflüsse aus entweder mit menschlichen oder thierischen Abgängen verunreinigtem Boden erhält, einerlei ob die Verunreinigung des Bodens aus neuerer oder früherer Zeit herrührt. Dass bei Beurtheilung dieser Frage die örtlichen Verhältnisse berücksichtigt werden müssen, liegt auf der Hand. Denn was für das eine Grundwasser noch natürlich ist und keine Verunreinigung des Bodens an¬ zeigt, das kann in anderen Fällen schon eine Verunreinigung bedeuten. -y. Ueber einen milchfreien Butterersatz. Von San.-Rath Dr. L. Fürst-Berlin. (Die ärztliche Praxis No. 5, 1900.) In jüngster Zeit kommt unter der Bezeichnung „Sana“ ein Speisefett in den Handel, das, wie es scheint, nicht nur in national-ökonomischer, sondern auch in hygienischer Hinsicht Interesse verdient. Verf. kommt nach seinen bisherigen Be¬ obachtungen und Erfahrungen über den Werth des Produktes zu folgendem Urtheil: 1. Der nach Liebreich-Michaelis her¬ gestellte milchfreie Butterersatz (Sana) ist ein schmackhaftes, unschädliches und bekömmliches Ersatzmittel für eine nicht zweifellos bakterienfreie Naturbutter. 2. Sana wird von Kindern und Erwachsenen sowohl roh, als auch in den üblichen Bereitungen gern genommen und gut vertragen. 3. Sana eignet sich als billiger Ersatz der Naturbutter unbedenklich zur Volks- und Massenernährung. Im Anschluss an dieses Urtheil fordert F., dass der zur Margarine verwendeten Milch seitens der Gesundheitspolizei vollste Beachtung geschenkt wird. —y. Aus Vereinen und Versammlungen. Neunundzwanzigster Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin. (Schluss.) Franz König (Berlin). Wandlung in der chirurgi¬ schen Technik der Gelenkoperationen. K. spricht nur über die letzten zehn Jahre und legt dar, in wie weit wir während dieser Zeit weiter gekommen sind. Die letzte Wand¬ lung auf diesem Gebiete, die allzu verbreitete Anwendung von Stützapparaten nach dem Modell von Tutor etc., hat er nicht mitgemacht, weil er die Ansicht vertritt, dass diese in vielen Fällen angewendet werden, in denen sich operativ mehr erzielen lässt. Der Fortschritt in der Sicherheit der Operation erhellt am besten aus den guten Resultaten, welche heutzutage die Re¬ sektion, die Patellarnaht, die Gelenkeröffnung zur Fremdkörper¬ extraktion und wegen Derangement des Gelenkes bei schweren Verletzungen geben. Bezüglich der Technik ist es von grösster Wichtigkeit, ohne Handgebrauch und mit Blutleere zu operiren. Dadurch unterstützen wir unser Sehen und die Asepsis. Den grossen Vortheil, welchen die Röntgenphotographie für die Fremdkörper-Diagnose in den Gelenken versprach, hat sie nicht gebracht. Häufig glaubte er auf Grund deB Röntgen¬ bildes einen Fremdkörper annehmen zu müssen, wo keiner war, und umgekehrt. Am Kniegelenk z. B. findet häufig eine Täuschung statt durch Verknöcherungen im Semimembranosus und durch Verkalkungen im Ligament, patellae. In der Mehrzahl der Fälle von schwerer Gelenkeiterung ist man von der alten Drainagemethode zurückgekommen. Heute pflegt man alle schweren Eitergelenke, besonders solche mit hohem Fieber, durch grosse Schnitte von der Aussen- und Innenseite zu eröffnen. An und für sich erleidet die Mobilität dadurch keine Einbusse. Es giebt eine Infektion der Gelenke durch Gonococcen, welche die Synovialmucosa befällt. Wenn man da incidirt, sieht die Mucosa aus wie Speck, im Gelenke selbst befindet sich gar keine Flüssigkeit. Das sind die eigentlichen neuralgi¬ schen Gelenke und die, welche ohne Operation fast regelmässig der Verödung unterliegen. Bei diesen wirkt aber gerade das Aufschneiden verblüffend, indem der Schmerz fast im Moment aufhört. Eine Anzahl von diesen Gelenken wird sogar noch mobil, eine Anzahl dagegen steif, namentlich solche bei denen schon der Knorpel zerstört ist. Wenn die seitlichen Schnitte bei schweren Eitergelenken nicht zum Ziele führen, dann ist die quere Eröffnung des Ge¬ lenkes mit Durchtrennung des Ligament, patellae noch immer möglich. König führt einen Patienten vor, bei dem etappenmässig nach den geschilderten Methoden operirt wurde, zuerst Drainage, dann seitliche Schnitte, dann quere Eröffnung des Gelenkes ausgeführt wurden. Derselbe bietet jetzt ein gutes funktionelles Resultat. Die schweren Fälle von Arthritis deformans machen dem Chirurgen oft grosse Sorgen, besonders bei schweren Hüft- Digitized by Google 226 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 11. gelenkerkrankungen. Es ist zuweilen die Schwierigkeit der Diagnose bei diesem Leiden betont worden. K. sagt, es giebt gar keine typischere Erkrankung. Ihre frühesten Formen treten in den vierziger und fünfziger Jahren auf, der Schenkelkopf bewegt sich dann in zweifelhaften Bahnen und die Rotation des Oberschenkels hört auf. Kopf und Hals wachsen nach aussen. Dazu kommen unerträgliche Schmerzen. In solchen Fällen kann man nur durch Resektion des Kopfes einen Er¬ folg erzielen. In der Diskussion erwähnt Franke, er habe schon früher darauf hingewiesen, dass man auch schwere Eiter¬ gelenke unter Umständen durch einfache Punktion und Aus¬ spülung mit antiseptischen Flüssigkeiten zur Ausheilung brin¬ gen könne. Auf diesem Wege habe er ein vereitertes Schulter¬ gelenk, welches die Metastase eines Karbunkels gewesen, zur Ausheilung gebracht. Schede sagt, dass das, was Franke erwähnt, bis zu einem gewissen Grade die Regel sei. Wenn man z. B. ein vereiter¬ tes Kniegelenk mit einem dicken Troicart punktire und mit Kochsalzlösung ausspüle, während man es leise bewegt, er¬ ziele man fast immer Heilung. König erklärt, dass auch er Eitergelenke oft punktire und auch damit gute Erfolge erzielt habe, sein Vorschlag zur breiten Eröffnung der Eitergelenke von der Aussen- und Innenseite beziehe sich nur auf die schweren Eitergelenke, besonders mit Fieber, welche der Punktionstherapie nicht mehr zugänglich seien. v. Eiseisberg (Kiel) stellt eine Fingerplastik vor. Nach dem Verfahren Nicoladonis, welcher einen verloren gegange¬ nen Daumen durch die grosse Zehe derselben Seite ersetzte, hat er den verloren gegangenen Zeigefinger durch die zweite Zehe ersetzt Er hat zu diesem Zwecke die zweite Zehe etwas central- wärts von der Articulatio metacarpophalangealis frei gelegt und dann zuerst die Flexorensehnen vernäht. Später wurden die Extensorensehnen vernäht. Die Heilung ist reaktionslos er¬ folgt, das kosmetische Resultat ist ein gutes. Seit der Ope¬ ration sind erst 2 Monate vergangen, so dass die Beweglich¬ keit für später noch eine bessere zu werden verspricht, wie sie jetzt ist, da gegenwärtig nur eine Beugung und Streckung im Metacarpophalangealgelenke stattfindet. Bunge (Königsberg) demonstrirt einige Patienten, an denen Unterschenkel-Amputationen nach der Bier’schen Methode (Verschluss der Markhöhle des Amputationsstumpfes durch osteoplastische Deckung) ausgeführt worden sind. Alle Patienten hatten sehr gute tragfähige Stümpfe, auf die sie sich direkt in ihren Prothesen stützen konnten. In der Diskussion erwähnt Nötzel auf Grund seiner Erfahrungen in der v. Eiselsbergschen Klinik, dass die Patienten in der Regel nach 3 Wochen gehen konnten. Die Methode ist auch bei nicht ganz aseptischen Fällen und bei Arterioscle- ro8e ausführbar. Sie wurde ferner mit Erfolg bei Oberschenkel¬ amputationen geübt. Das Loos der Amputierten wird durch diese Methode nicht unwesentlich gebessert und ermöglicht die Be¬ nutzung ganz einfacher Prothesen. Reichel (Chemnitz) demonstriert die von einem Falle von Chondromatose des Kniegelenks bei der Resektion er¬ haltenen Gelenkflächen, die von zahlreichen knorpligen Ex- crescenzen bedeckt sind und dem Patienten hochgradige Schmerzen bereitet hatten. Bessel - Hagen (Charlottenburg). Ein Beitrag zur Splenectomie. Die Zulässigkeit der Milzexstirpation ist jetzt unbestritten, seitdem ihre Ausführbarkeit durch das Thierexperiment und die Erfahrungen beim Menschen erwiesen ist Es hat sich sogar gezeigt, dass das Fehlen der Milz selbst beim Auftreten der Infektionskrankheiten keinen Schaden bringt. Es betrug noch im Jahre 1884 die Mortalität bei Milzexstirpationen 34 Pro¬ zent, während sie in den letzten 6 Jahren auf 18 Prozent heruntergegangen ist. Indikationen zur Milzexstirpation sind: schwere Milzver¬ letzungen, bösartige Geschwülste, grosse Wandermilzen und Milzeiterungen. Bei Malaria und idiopathischen Milzhyper- trophieen sind Exstirpationen nicht selten gemacht worden. Bessel-Hagen meint, man sei aber auch bei anderen Erkrankungen sofort zur Milzexstirpation berechtigt, wenn Kachexie eintrete. Wegen hypertrophischer Malariamilz wur¬ den nach seiner Zusammenstellung 84 Fälle operirt, davon starben 13. Von diesen kommen 10 auf einen englischen Operateur allein, während die übrigen zusammen nur 10 Pro¬ zent Mortalität hatten. Wegen idiopathischer Milzhypertrophie sind im Ganzen 13 operirt und davon ist 1 gestorben also =- 7 Prozent Mor¬ talität. Da die Lebercirrhose eine Folge des Milztumors ist, kann eine frühzeitige Operation des Milztumors das wichtige Organ vor Verderben schützen. Unter 15 Fällen von Milztumor hatte er selbst 3 Todesfälle. B.-H. stellt dann eine Frau vor, welche als Kind in einer Malariagegend gewohnt hatte. Sie besass einen dicken Leib und bei einem Milztumor Zeichen für Störungen in den Unter¬ leibsorganen. Bei der Laparotomie zeigten sich alle Venen im Ligamen¬ tum gastrocolicum stark geschwollen, und die Leberoberfläche granulirt. Der herausbeförderte Milztumor wog 2050 g. Der Verlauf war ein günstiger. Am zweiten Tage nach der Operation entwickelte sich eine Aether-Pneumonie. Einige Tage danach verschwand das Caput medusae auf der Bauch¬ haut und ebenso die Albuminurie. Zuerst hatte sich auch eine Verminderung der rothen und eine Vermehrung der weissen Blutkörperchen eingestellt, Verhältnisse die sich aber bald ausglichen. Brentano (Berlin) stellt einen geheilten Fall von Pankreasnekrose vor. Er hatte zuerst einen intraperitonealen Abcess angenommen und nach einer Probepunktion die 9. linke Rippe resecirt. Es entleerte sich dann nach der Incision eine grosse Menge Eiter, welcher mit nekrotischen Gewebs-Fetzen gemischt war. Die Wundhöhle wurde mit Jodoformgaze drai- nirt. B. glaubte, einen subphrenischen Abscess eröffnet zu haben und erstaunte, als sich am 16. Tage ein grösseres rekro- tisches Gewebsstück entleerte, welches sich als Pankreas er¬ kennen liess. Im Sekret der Wunde gelang es ferner, Pan¬ kreasfermente nachzuweisen. Patientin verliess dann gegen ärztlichen Rath das Krankenhaus. Es traten aber später bei ihr wieder Koliken und ileusartige Symptome auf, die sie ins Krankenhaus zurückführten. Es hatte sich links wieder eine Dämpfung entwickelt und konnte wieder operativ eine grössere Eiteransammlung beseitigt werden. Der Urin enthielt damals, nach der 1. Operation, 6 Prozent Zucker, jetzt nach der 2. 2 V 2 Prozent, Polyurie und Fettstühle bestanden nicht. Ob eine Fettnekrose im Netze bestanden hat, lässt sich nichts mit Be¬ stimmtheit sagen. Der Fall ist insofern ein Unikum, als fast das ganze Pankreas nekrotisch geworden ist. Wahrscheinlich hat ursprüng¬ lich ein Magengeschwür Vorgelegen, welches perforirt ist und dann die Nekrose hervorrief. Die Operation bei Pankreasnekrose kann nur dann von Erfolg sein, wenn das akute Stadium überstanden ist. Gluck (Berlin) stellt einen geheilten Radiusdefekt mit Klumphand vor, bei dem er eine Längsspaltung der Digitized by Google 1. Juni 1900. Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. 227 Ulna nach dem Bardenheuerschen Verfahren ausgeführt hatte. Die Flexoren hatten durchschnitten werden müssen, weil es nur dadurch gelang, die hochgradige Beugekontraktur zu lösen. Angerer (München). Ueber Operationen wegen Unterleibskontusionen. A. hat in den letzten 4 Jahren 9 mal eine Darmperforation nach Kontusion des Bauches er¬ lebt, von denen nur 2 geheilt wurden. Prognostisch am wich¬ tigsten ist die Zeit, welche zwischen der Verletzung und der Operation vergangen ist. Bei Schuss- und Stichwunden ergiebt sich ein sofortiger operativer Eingriff von selbst. Anders ist es bei subkutanen Verletzungen, welche die Nieren, die Leber etc. betroffen haben und die sehr komplizirt und gefahrvoll werden, wenn sie mit einer Darmruptur einhergehen. Es ist hier einer¬ seits die Diagnose sehr schwierig, andererseits eine Spontan¬ heilung ohne Operation nicht ausgeschlossen. Die objektiven und vor Allem die subjektiven Symptome können sehr leicht täuschen und wechseln in wenigen Stunden. Durch die un¬ mittelbar nach der Verletzung merkwürdig kraftvoll sich zei¬ genden Lebensäusserungen werden wir leicht irre geführt. Die Erfahrung hat uns gezeigt, dass ein Stoss gegen oder mit einem stumpfen Gegenstände, Deichselstoss, Hufschlag erfahrungsgemäss sehr gefährlich ist, wenn er senkrecht ge¬ troffen hat. Es tritt dadurch oft eine Ruptur der Darmwand auf, indem eine gefüllte Darmschlinge gegen die Wirbelsäule gepresst wird, ohne dass sich der Inhalt so schnell im Darm vertheilen kann. Der Shok an sich trägt zur Diagnose nicht bei. Hält er aber stundenlang an, dann handelt es sich nach Angerers Erfahrungen nicht mehr um wirklichen Shok, wir haben es dann mit dem Anzeichen für eine Verletzung innerer Organe und Austritt von Koth in die Bauchhöhle zu thun. Auch der Puls ist wenig massgebend. Oft ist er unmittelbar nach der Verletzung sehr beschleunigt, dann wird er wieder langsamer und mit dem Einsetzen der Peritonitis wird er wieder schneller. Zunahme der Pulsfrequenz und hohe Körper¬ temperatur kann man als Zeichen septischer Peritonitis an- sehen. Zu achten ist ferner auf die Zahl der Respirationen und die Art der Einathmung. Erbrechen tritt oft früh und anhaltend auf; erbricht der Kranke häufiger, wie ein- und zweimal, dann muss man eine innere Verletzung annehmen. Schmerzen können zu Anfang ganz fehlen, sind sie aber vor¬ handen und nehmen sie zu, dann ist der Austritt vom Darm¬ inhalt wahrscheinlich. Von einer Morphiuminjektion zur Linderung der Schmerzen ist dringend abzurathen, weil sie das Bild verschleiert. Ein frühzeitiges Verschwinden der Leberdämpfung tritt nur auf, wenn die rupturirte Darmschlinge nahe an der Leber liegt; das Vorhandensein der Leber¬ dämpfung spricht nicht gegen eine Darmruptur. Ebensowenig ist Meteorismus während der ersten sechs Stunden immer vorhanden, weil er erst nach Erschlaffung der fast stets zu¬ erst auftretenden Darmkontraktur sich einstellt. In Folge der Darmkontraktion kann sogar an der Perforationsstelle die Schleimhaut ausgestülpt werden und so ein Verschluss stattfinden, wie es Trendelenburg in einem Falle neun Stunden lang beobachtet hat. Sogar bei Querabriss des Darmes kann durch die starke Muskelkontraktion der Austritt einer grösseren Kothmenge verhindert werden, bis nach Lösung der Kontraktion durch Einsetzen der Peritaltik der Erguss in die Bauchhöhle er¬ folgt. Blutige Stühle sprechen für einen Schleimhautriss im Darm ohne Perforation. Angerer räth in allen zweifelhaften Fällen zur Laparo¬ tomie, da die Statistik zeigt, dass von 162 Fällen subkutaner Darmruptur nur elf gerettet wurden und von diesen einige noch später Fisteln bekamen. Shok gilt ihm nicht als Kontra¬ indikation zur Operation, weil die shokartigen Symptome oft schon ein Zeichen der beginnenden Peritonitis sind und eine Aethernarkose auch im Shok dem Patienten keine Gefahr bringt. Verlegt man sich dagegen auf das Abwarten, bis deutliche peritonitische Symptome da sind, dann kommt man meist mit der Operation zu spät. Die Mehrzahl der Verletzten stirbt am zweiten und dritten Tage. Man muss den Laparotomieschnitt von vornherein gross anlegen, damit man Netz und Querkolon nach oben schlagen kann und so die Gedärme wirklich übersieht. Reichliche Kochsalzinfusionen sind stets nöthig. Auch zur Reinigung der Därme benutzt man grosse Quantitäten steriler warmer Kochsalzlösung. Man soll die Därme abspülen und nicht zu¬ viel betupfen. Ist bereits Peritonitis eingetreten, dann muss man die Därme zur gründlichen Reinigung eventriren. Längsrisse, wenn sie eine grössere Ausdehnung haben, vereinigt man besser in querer Richtung, weil nicht selten eine Darmverengerung bei Längsnähten eingetreten ist. Ist der Darm quer durchrissen oder muss eine Resektion vor¬ genommen werden, so empfiehlt sich die Anwendung des Murphyknopfes. Im letzteren Falle muss man die Bauchwunde offen halten. In der Diskussion bemerkt Rehn (Frankfurt), dass er einmal neun Stunden nach der Verletzung operirte, bei einem Falle, bei dem Alles für eine Perforation sprach und nichts fand, als eine tetanische Kontraktion des Darmes. Stolper (Breslau) beobachtete einmal bei einem Kranken, der hoch herabgefallen war, einen überaus schnell auftretenden Meteoris¬ mus, ohne dass eine Darmruptur stattgefunden hatte. Hahn (Berlin) warnt auf Grund seiner grossen Erfahrungen, bei Darmruptur durch Kontusion nur die Oeffnung im Darm zu verscliliessen, weil oft zur Zeit der Operation noch nicht zu ersehen ist, wie weit sich die Schädigung des Darmes er¬ streckt hat. Er selbst macht in der Regel eine typische Darm¬ resektion, indem er die ganze blutig imhibirte Darmpartie wegnimmt. Petersen (Heidelberg): Ueber Darmverschlingung nach Gastroenterostomie. P. verfügt über drei eigenartige Fälle von Darmver¬ schlingung nach Gastroenterostomia retrocolica. In zwei Fällen war die Dünndarmschlinge mit der vorderen, in einem Falle mit der hinteren Magenwand vereinigt. In allen drei Fällen war der nach rechts gelagerte abführende Schenkel hinter den zuführenden nach links hindurchgeschlüpft durch den Ring, welcher gebildet wurde vom Magen, der hinteren Bauchwaud und dem zuführenden Darmschenkel. Zweimal war fast der ganze Dünndarm der durchgetretenen Schlinge gefolgt. Da¬ durch hatte eine starke Torsion und Zerrung des Mesenteris- mus stattgefunden, welche zur Thrombose von Mesenterial¬ venen und zu einem Darminfarct führte. Petersen nimmt auf Grund seiner Leichen versuche an, dass in dem Augenblick, in dem die beiden Hälften des Murphy¬ knopfes zusammengefügt werden, der Operateur die vorher zur Frontalachse des Magens gelagerte Anastomosenschlinge derart verdreht, dass der abführende Schenkel statt nach rechts, mehr oder weniger nach hinten gelagert wird. Um eine derartige Darmverschlingung zu verhüten, muss man den abführenden Schenkel exakt lagern und den zuführen¬ den Schenkel möglichst kurz gestalten. lloiTa (Würzburg) stellt drei Patientinnen vor, bei denen ein hochgradiger Schiefhals durch Extirpation des Sternocleidoma8toideus mit sehr gutem Resultate geheilt wurde. Hoffa betont mit Recht, dass man bei hochgradigem Schiefhals oft mit der einfachen Durchschneidung nicht aus¬ komme, besonders, wenn es sich um Patienten handele, die Digitized by Google 228 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 11. ßich einer regulären Nachbehandlung entziehen, welche bei dieser Methode nicht erforderlich ist. Bunge (Königsberg). Zur Pathologie und Therapie der verschiedenen Formen der Qangraen an den un¬ teren Extremitäten. B. hat bei der Gangraen verschiedenster Ursache die Blut¬ gefässe mikroskopisch untersucht und bei allen Formen Ver¬ dickungen der Intima mit reichlicher Neubildung von elastischen Fasern gefunden. Zum Theil waren die Sklerosen so hoch¬ gradig, dass man von einer Stenosirung und einem Verschluss der Gefaase sprechen konnte. Da die sklerotischen Plaques sich mit Vorliebe an den Abzweigungsstellen der GefäsBe ent¬ wickeln, wird auch der Kollateralkreislauf behindert, so dass sich häufig an diesen Stellen Thromben entwickeln. Die Therapie kann in den meisten Fällen nur eine chirurgische sein. Schwie¬ rig ist dabei, den richtigen Zeitpunkt zur Operation zu finden. Es empfiehlt sich nicht, bei einem aufsteigenden Prozesse im Interesse einer guten Demarkation zu lange zu warten. Nur dem Jod wird auch in den Fällen, bei denen Syphilis ausgeschlossen ist, eine günstige Wirkung zugeschrieben, so dass der schon geschwundene Puls sich wieder hergestellt hat. Kölliker (Leipzig) demonstrirt zwei von ihm operativ ent¬ fernte Amputationsneurome, welche den Trägern hochgra¬ dige Schmerzen bereitet hatten. Bei beiden sind die Gründe ihrer Schmerzhaftigkeit verständlich. Das eine war innig mit der Arteria brachialis verwachsen, so dass mit jedem Puls¬ schlag eine Zerrung an dem Neurom Btattfand, während an dem anderen ein starkes Muskelbündel inserirte, so dass bei Kontraktion des entsprechenden Muskels durch diesen eine Dehnung am Nerven stattfand. Rubinstein (Berlin). Ueber die Form der Knochen¬ brüche durch direkte Gewalt. R. hat durch zahlreiche Röntgenphotographien von Frak¬ turen durch direkte Gewalt nachweisen können, dass auch dieser Bruchform eine typische Gestalt zukommt. Er fand regel¬ mässig aus dem verletzten Knochen ein dreieckiges Stück herausgesprengt. Er zeigt derartige Bilder vor dem unteren Radiusende, dem Metatarsus der grosse Zehe und deren Basal¬ phalanx. Die Brüche kommen in diesen Fällen meist so zu Stande, dass das betreffende Glied sich auf einer festen Unter¬ lage befand, während die LaBt darauf fiel oder darüber hin¬ wegging. Die Kenntniss dieser regulären Bruchform war ihm schon einmal in seiner ärztlichen Sachverständigenthätigkeit von Nutzen, indem einem Pferdebahnschaflfuer, der sich beim Her¬ aushebeln eines Pferdebahnwagens beide Füsse verletzt hatte, die Rente entzogen werden sollte, weil keine Fraktur nachzu¬ weisen war. Die Röntgenplatte zeigte aber R., dass aus der Basalphalanx der grossen Zehe ein dreieckiges Knochenstück herausgesprengt war, woraus er auf Grund seiner Erfahrun¬ gen schliessen musste, dass thatsächlich eine schwere direkte Gewalteinwirkung stattgefunden hatte. Wohlgemuth (Berlin). Zur Pathologie und Therapie der Frakturen des Tuberculum maius humeri. W. glaubt, dass viele Fälle dauernder Funktionsbehinde¬ rung am Oberarm, die nach Frakturen im oberen Humerus¬ abschnitt, nach Luxation und nicht selten sogar nach ein¬ facher Contusion der Schulter Zurückbleiben, durch eine Frak¬ tur des Tuberkulum maius uud eine heteroplastische Anheilung derselben begründet sind. Die Diagnose dieser Verletzung in Vivo iBt bisher nur iu vereinzelten Fällen gestellt, obwohl sie ganz bestimmt viel häufiger vorkommt, wie bisher angenom¬ men wurde. Nur durch das Röntgeuverfahren ist eine sichere, früh¬ zeitige Diagnose möglich, die sehr wichtig ist, um eine gute funktionelle Heilung zu erzielen. Er demonstrirt dann Rönt¬ genbilder von zwei diesbezüglichen Patienten. In beiden Fällen ist das Tuberkulum maius zu weit nach oben und aussen angeheilt. Er empfiehlt den Verband so anzulegen, dass der Arm in Abduktion und AuBsenrotation fixirt wird, weil der Schaft so am meisten dem nach oben und aussen gezoge¬ nen Tuberkulum maius entgegen ged rückt wird. Stabei (Berlin). Verein der Bahn- und Kassenärzte im Bezirk der König¬ lichen Eisenbahn-Direktion Kattowitz. Am 13. Mai d. J. hielt der genannte Verein in Leobschütz seine zweite General-Versammlung ab. Nach Begrüssung der anwesenden Bahn- und Kassenärzte theilte der Vorsitzende, Sanitätsrath Dr. Rinke mit, dass der Dezernent der Königlichen Eisenbahn-Direktion, welcher an der Versammlung Theil zu nehmen beabsichtigte, leider verhindert war, derselben beizuwohnen. Gegen das verlesene Protokoll über die letzte General- Versammlung fand sich nichts zu erinnern. Sodann machte der Vorsitzende folgende Mittheilungen. Freie Eisenbahnfahrt wird, wie bereits bekannt, den Bahn- und Kassenärzten des Bezirks für eine General-Versammlung und eine Vorstands¬ sitzung im Jahre gewährt. — Von den 63 im Bezirk thätigen Bahn- und Kassenärzten gehören 59 dem Verein an. — Gut¬ achten, von den Bahn- und Kassenärzten behufs Uebernahme des Heilverfahrens bezw. Aufnahme in die Heilstätten ausge¬ stellt, werden von jetzt ab mit 5 Mark von der Pensionskasse für die Arbeiter der preussischen Staatsbahnen bezahlt. — Die Hirschwald’sche Buchhandlung giebt die in Berlin gehaltenen Vorlesungen zur Bekämpfung der Tuberkulose in einem Bande zum Preise von je 1 Mark heraus. Der Verein beschliesst, auf Kosten der Vereinskasse 60 Exemplare anzuschaflfen. — Der bei dem Vorstande der Eisenbahn-Betriebs-Krankenkasse vom Verein gestellte Antrag auf Honorirung der ärztlichen Hilfe in dringenden geburtshilflichen oder chirurgischen Fällen wurde abschlägig beschieden. Diese Angelegenheit soll daher auf die Tagesordnung des am 23. bis 25. Juni d. J. in Baden-Baden stattfindenden Bahnärztetages gesetzt werden, für welchen Sanitätsrath Dr. Kober-Leobschütz und Dr. Patrzek-Königs- hütte als Delegirte gewählt wurden. Der Kassenbericht lautete: Bestand am 1. April 1899: 99,93 Mark, Einnahme 175,08 Mark, zusammen: 275,01 Mark; Ausgabe 29,39Mark, daher Bestand am 1. Aprill900: 245,62Mark, wovon 134,08 Mark in der Sparkasse angelegt sind. Nach er¬ folgter Prüfung der Rechnungslegung durch die Dr. Dr. Janusch und Glatschke wurde auf deren Antrag dem Kassenführer Dr. Koziol die Entlastung ertheilt. — Der Entwurf zu den Satzungen des Verbandes deutscher Bahnärzte wurde ange¬ nommen. — Hierauf referirte Dr. Tracinski in längeren Aus¬ führungen über die Vorlesungen, welche über die zur Bekämpfung der Tuberkulose zu treffenden Einrichtungen in diesem Jahre in Berlin gehalten wurden und an welchen er Theil genommen hatte. Der erschöpfende Bericht bot manches Interessante und Neue, worauf hier einzugehen es zu weit führen würde. — Der von der Königlichen Eisenbahn-Direktion zur Berathung gestellte Punkt der Tagesordnung: „Wird es für erwünscht erachtet, den Bahnärzten durch die Eisenbahnverwaltung Verband¬ material für diejenigen Verbände zu überweisen, welche vom Bahnarzt sowohl bei erstmaligen wie auch späteren Konsul¬ tationen in der Sprechstunde angelegt werden müssen", wurde in der Weise erledigt, dass beschlossen wurde, der Direktion diese Einrichtung zu empfehlen mit dem Vermerk, dass das Verband¬ material in einer den Anforderungen der Aseptik Rechnung tragen- Digitized by Google 1. Juni 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 229 den Verpackungsart geliefert werde. — Bei dem folgenden Be- rathungsgegenstande: „Sollen Familienangehörige von Bahnan¬ gestellten auch dann, wenn sie selbst Mitglieder einer anderen Krankenkasse sind, vom Bahnarzt bezw. Kassenarzt auf Kosten der Eisenbahn-Betriebs-Krankenkasse behandelt werden?“ ging die Ansicht der Versammlung übereinstimmend dahin, dass der Bahn- oder Bahnkassenarzt nicht verpflichtet ist, derartige Per¬ sonen zu behandeln. Als nächster Versammlungsort wurde Slawentzitz bestimmt. Nach der Sitzung fand ein gemeinschaftliches Mahl statt, worauf ein Ausflug nach dem Stadtwäldchen unternommen wurde, um dessen Gelingen Herr Sanitätsrath Dr. Kober in der entgegenkommendsten und liebenswürdigsten Weise bemüht war. Dafür sei ihm auch hier bestens gedankt. Gerichtliche Entscheidungen. Ans dem Ober-Yerwaltnngsgericht. Beseitigung eines Pumpenbaums wegen Gesundheitsgefährlichkeit des Wassers. Entsch. vom 15. Dez. 1899. Die Polizeidirektion zu St. forderte durch Verfügung vom 27. Mai 1899 den Eigenthümer N. auf, aus dem auf seinem Grundstücke befindlichen Brunnen wegen der Gesundheitsge¬ fährlichkeit des Wassers den Pumpenbaum herauszunehmen und den Brunnen sicher zu überdecken. Die Klage gegen diese Verfügung ist durch Urtheil des Bezirksausschusses ab¬ gewiesen worden. Zur Begründung der rechtzeitig von N. eingelegten Berufung macht der Kläger geltend: Die Polizei¬ direktion sei zu einem solchen, gegen Art. 9 der Verfassung verstossenden Eingriffe in das Privateigenthum nicht befugt. Eine unmittelbar bevorstehende Gefahr sei auch nicht vor¬ handen. Vernünftige Menschen würden durch die am Brunnen angebrachte Warnungstafel „Kein Trinkwasser“ hinreichend geschützt. Alle Teiche mit gesundheitsschädlichem Wasser könnten doch nicht zugeschüttet werden. Hätte die Polizei¬ direktion Anschliessen des Pumpenschwengels angeordnet, so würde sich der Kläger, wie er bemerkt, wohl nicht beschwert gefühlt haben, durch eine derartige Anordnung habe die Poli¬ zeidirektion bei anderen Brunnen die Gefahr zu beseitigen geglaubt, während noch andere Brunnen trotz der Gesund¬ heitsschädlichkeit des Wassers von keiner polizeilichen Ver¬ fügung betroffen worden seien. Dabei komme in Betracht, dass das Haus des Klägers nicht von sogenannten kleinen Leuten bewohnt werde. Die Polizeidirektion behandele die einzelnen Interessenten verschieden, indem sie durchaus in¬ konsequent und willkürlich vorgehe. Die ungleiche Behand¬ lung gesundheitsgefährlicher Brunnen in der Stadt und die abweichende Behandlung der ebenso gesundheitsgefährlichen Brunnen in den Vorstädten zeige, dass die Polizeidirektion in der Benutzbarkeit der Pumpen keine drohende Gefahr für die Gesundheit erblicken könne. Das Wasser aus dem Brunnen des Klägers werde zum Waschen — jedoch nicht zum Spülen von Koch- und Essgeschirr, — zum Scheuern, Begiessen, Sprengen u. s. w. benutzt. Deshalb und im Hinblick auf die Feuersicherheit habe der Kläger ein erhebliches Interesse an der Erhaltung des Brunnens. Die Polizeidirektion beantragte Zurückweisung der Berufung, indem sie vorstehende Aus¬ führungen bestreitet und hervorhebt, dass alle Pumpen der inneren Stadt mit gesundheitsgefährlichem Wasser gleich- mässig behandelt worden seien und für die Vorstädte dasselbe beabsichtigt werde, dass nur einstweilen mit Rücksicht auf diesen Prozess von der Durchführung Abstand genommen worden sei. Das Oberverwaltungsgericht bestätigte die Vor¬ entscheidung und machte u. A. Folgendes geltend: Irrig ist zunächst die Ansicht des Klägers, dass ihm die Polizeibehörde die Benutzung des auf seinem Grundstücke befindlichen Brunnens überhaupt nicht untersagen dürfe, weil darin ein unzulässiger Eingriff in sein Privateigenthum liege. Jeder Eigenthümer eines Grundstücks muss dafür sorgen, dass sich sein Grundstück nicht in einem für Leben oder Gesundheit gefährlichen Zustande befinde. Massregeln der Polizeibehörden, welche den Grundstückseigentümer hierzu anhalten, verletzen daher nicht das Privateigentum und fallen auch nicht unter den Begriff von Beschränkungen des Eigentums im Sinne des Art. 9 der Verfassung. Mit zu den aus ihrem Wesen folgenden Obliegenheiten der Polizei gehört es, einen Schaden zu verhüten, der dem Publikum oder einzelnen Mitgliedern des Publikums aus der Verwendung gesundheitsgefährlichen Wassers droht. In dem Vorhandensein eines Brunnens mit gesundheitsgefährlichem Wasser liegt die Gefahr, dass durch dessen Genuss Leben oder Gesundheit geschädigt werde. Durch das Verlangen, dass ein solcher Brunnen beseitigt werde, überschreitet daher die Polizeibehörde keineswegs die Grenzen der ihr gegen den Grundstückseigentümer zustehen¬ den Befugnisse. Die Gefahr braucht nicht, wie der Kläger meint, unmittelbar bevorstehen; denn diese Voraussetzung be¬ steht nur beim Einschreiten gegen einen unbeteiligten Dritten, der nicht — wie der Grundstückseigentümer — an sich schon verpflichtet ist, der Gefahr vorzubeugen. Die Gesund¬ heitsgefährlichkeit des Wassers erkennt der Kläger N. an. Er meint aber, dass die Aufschrift „Kein Trinkwasser“ hinreichend gegen den Genuss des Wassers schütze und dass ihm nur allenfalls noch hätte aufgegeben werden können, die Pumpe durch Anschliessen des Schwengels für Unbefugte unnutzbar zu machen. Allerdings hat sich die Polizeidirektion nach der Verfügung vom 3. September 1896 früher damit begnügt, die Anbringung der Aufschrift „Kein Trinkwasser“ zu verlangen. Sie ist aber nach ihrer Gegenerklärung durch Erfahrungen bei anderen Brunnen mit gesundheitsgefährlichem Wasser zu der Ueberzeugung gekommen, dass dessen Genuss nur durch gänzliche Beseitigung des Brunnens wirksam verhindert wer¬ den könne. Dies sind Erwägungen der Zweckmässigkeit, auf die sich die Nachprüfung des Verwaltungsrichters nicht zu erstrecken hat. Dass die Polizeibehörde anderweit gewonnene Erfahrungen auch dem Kläger gegenüber verwerthen darf, kann nicht dem mindesten Zweifel unterliegen. Uebrigens leuchtet ein, dass die Polizei obige Warnung für keine ge¬ nügende Gewähr gegen den Genuss des Wassers — besonders bei Kindern und auch sonst mit Rücksicht auf die Sorglosig¬ keit vieler Menschen — erachten und auch Bedenken haben kann, diese Gewähr in der Anordnung der Anschliessung des Schwengels zu erblicken; denn eine Kontrole darüber, dass dessen Anschliessung nur aufgehoben wird, um das Wasser zu unschädlichen Zwecken zu verwenden, ist kaum möglich. Unzutreffend ist es, wenn der Kläger ausführt, dass die Poli¬ zeibehörde nicht auch auf die Unvernunft und Sorglosigkeit mancher Menschen Rücksicht nehmen dürfe. Wenn auch nicht alles gesundheitsgefährliche Wasser in Teichen u. s. w. be¬ seitigt werden kann, so haben doch Brunnen regelmässig die Bestimmung, das Wasser zum menschlichen Genüsse zu liefern, und liegt daher gerade in der gesundheitsgefährlichen Be¬ schaffenheit des Brunnenwassers eine besondere Gefahr. Bei der anerkannt gesundheitsgefährlichen Beschaffenheit des Wassers im Brunnen des Klägers ermangelt daher die polizei¬ liche Verfügung, wonach der Brunnen unbenutzbar gemacht werden soll, keineswegs der erforderlichen thatsächlichen Voraussetzungen und ist nicht daran zu zweifeln, dass die Verfügung auf objektiven polizeilichen Gesichtspunkten beruht. Nun behauptet freilich der Kläger, dass die Polizeidirektion Digitized by Google 230 Äerztliehe Sachverständigen-Zeitung. No. 11. ungleichmäßig verfahre und willkürlich gegen einzelne Grund¬ stückseigentümer vorgehe. Allein, auch wenn die Polizei¬ direktion anderen Grundstückseigentümern trotz gleicher Be¬ schaffenheit des Brunnenwassers keine ähnliche Auflage ge¬ macht haben sollte, würde nicht angenommen werden können, dass die an den Kläger erlassene Verfügung auf anderen als objektiven polizeilichen Beweggründen beruhe. Denn diese ergeben sich hier ohne Weiteres aus der Natur der Sache. Aus der Unterlassung einer allseitigen konsequenten Durch¬ führung des gegen den Kläger eingeschlagenen Verfahrens würde daher noch nicht auf einen Mangel sachlicher Gründe geschlossen werden können. Vielmehr würde in Frage kommen, ob die Polizeidirektion etwa gegen Andere eine un¬ berechtigte Nachsicht geübt hätte. Uebrigens bemerkt ja die Polizeidirektion, dass sie nur einstweilen mit Rücksicht auf diesen Rechtsstreit von der weiteren Durchführung Abstand genommen habe; ob mit Recht, ist hier nicht zu entscheiden. Weder verstösst hiernach die angefochtene polizeiliche Ver¬ fügung gegen das geltende Recht, noch entbehrt sie der er¬ forderlichen thatsächlichen Voraussetzungen. Daher musste die auf Abweisung der Klage lautende Vorentscheidung be¬ stätigt werden. M. Aus dem Reichs-Yersicherungsamt. Erwerbsfähigkeit ist beim Fehlen des Nagelgiiedes des linken Daumens in nennenswerthem Masse nicht beschränkt. Rek.-Entsch. v. 31. 5. 99. Am 9. Januar 1895 erlitt auf der Braunkohlengrube Viktoria bei Hötensleben der Fördermann und Maurer Karl B. eine Zertrümmerung des 2. Gliedes des linken Daumeus. Dem Verletzten wurde auf Grund des ärztlichen Gutachtens eine Rente von 10 pCt. zugebilligt, welche durch Bescheid vom 23. September 1898 eingestellt worden ist. Die hiergegen er¬ hobenen Rechtsmittel der Berufung und des Rekurses hatten keinen Erfolg. Gründe: Das R.-V.-A. hat bereits vielfach, insbesondere in den unter Ziffer 1581 (Amtliche Nachrichten des R.-V.-A. 1897 Seite 266) zusammengestellten Rekursentscheidungen, ausge¬ führt, dass nicht jede Verletzung seiner körperlichen Unver¬ sehrtheit dem Versicherten einen Anspruch auf Unfallrente giebt, und dies selbst dann nicht, wenn ihm in Folge der Verletzung gewisse Unbequemlichkeiten bei der Verrichtung seiner Arbeiten erwachsen. Auf eine Rente hat nur Anspruch, wer in seiner Erwerbsfähigkeit in einem solchen Grade beein¬ trächtigt ist, dass die Beeinträchtigung im wirtschaftlichen Leben als ein messbarer Schaden in Betracht kommt; dies kann aber bei einer Beschränkung der Erwerbsfähigkeit um weniger als 10 pCt. der Regel nach nicht zugegeben werden. Um eine solche Schmälerung der Erwerbsfähigkeit handelt es sich im vorliegenden Falle. Nach dem Gutachten des Dr. Z. und Dr. H. in A. vom 17. September 1898 bestehen die Folgen des Unfalls vom 9. Januar 1895 nur noch im Fehlen des Endgliedes des linken Daumens. Es liegt kein Anlass vor, den Vorinstanzen entgegenzu¬ treten, wenn sie angenommen habeh, dass die Erwerbs- fähigkeit des Klägers hierdurch nicht mehr in nennens¬ werthem Masse beschränkt wird. (Kompass, 1899. No. 20.) Bücherbesprechungen und Anzeigen. Rieger, Dr. Conrad, Prof. d. Psychiatrie, Würzburg. Die Kastration in rechtlicher, sozialer und vitaler Hinsicht betrachtet. Jena, Gustav Fischer 1900. 113 S., 3 M. Das an einen in dieser Zeitschrift veröffentlichten Aufsatz R.’s anknüpfende Werk hat zum eigentlichen Gegenstand den Beweis, dass die Kastration an und für sich nicht geeignet ist, die seelischen und — abgesehen von der Zeugungsfähig¬ keit — die körperlichen Eigenschaften des Menschen zu ver¬ schlechtern. Das Beweismaterial ist aus der Geschichte, den Erfahrungen der Thierzüchter und der medizinischen Litteratur mühevoll zusammengetragen. Die bei aller Gründlichkeit sehr anregend und temperamentvoll — bisweilen etwas gar zu sehr an den Stil Johannes Scherrs erinnernd — geschriebene Arbeit enthält übrigens neben dem Hauptthema noch sonst allerlei Lesenswerthes: u. A. eine scharfe Abrechnung mit der durch Moebius neuerdings wieder aufs Tapet gebrachten Gall’schen Schädellehre, mit Poehls Spermintheorie und Freud’s Lehre von den geschlechtlichen Grundlagen der Neurosen. Nobiling-Jankau, Handbuch der Prophylaxe Abt. I, T.2. Die Prophylaxe in der Geburtshilfe von Dr. 0. Schaeffer, Priv.-Doz. Heidelberg. München bei Seitz & Schauer. Das Thema zerfällt in die Prophylaxe 1. während der Schwangerschaft, 2. während der Geburt, 3. im Wochenbett. Auch bei dieser Arbeit ist es dem Verfasser sehr glück¬ lich gelungen, in grösster Vollständigkeit das ganze Gebiet der Geburtshilfe vom prophylaktischen Standpunkt in kurzen prägnanten Sätzen durchzugehen. Dass dies vielfach nur an¬ deutungsweise geschieht, ist von vornherein klar, wenn mail bedenkt, dass die ganze Lehre vom pathologischen Becken und den verschiedenen Indikationen für die geburthilflicben Operationen in das Gebiet der Prophylaxe fällt und dass in der Prophylaxe der Schwangerschaft diejenige bei Abort, bei den Lageveränderungen, bei Placenta praevia, bei Tumoren im Becken und bei Extrauteringravidität abgehandelt wird. Schwarze. Fischer Dückelmann, Dr. Anna. Die Geburtshülfe vom physiatrischen Standpunkt. Strassburg b. Bermühler. Preis M. 0,75. Die Schrift ist nicht „für Aerzte und Gebildete“ geschrieben, sondern hasserfüllt gegen Aerzte und männliche Geburtshelfer zu Gunsten der weiblichen und der physiatrischen Heilmethode. Die Krankengeschichten dienen zur weiteren Verhetzung des Publikums. Schwarze. 1. Leitfaden zur Arbeiter-Versicherung des Deut¬ schen Reiches, neu zusammengestellt für die Welt-Aus¬ stellung in Paris, 1900, im amtlichen Aufträge bearbeitet von Dr. Zacher, Kaiserl. Geheim. Regierungsrath und stän¬ digem Mitglied des Reichs-Versicherungsamts. 2. Die Leistungen der Arb eit er Versicherung des Deut¬ schen Reiches, Merkblatt, für die Weltausstellung zu Paris im amtlichen Aufträge bearbeitet von Dr. jur. G. A. Klein, Kaiserl. Regierungsrath und ständigem Mitglied des Reichs- V ersicherungsamts. 3. Die Heilbehandlung der gegen Unfall und Inva¬ lidität versicherten Arbeiter in Deutschland. Im amtlichen Aufträge für die Weltausstellung zu Paris bear¬ beitet von Bielefeldt, Kaiserlichem Geheimem Regierungs¬ rath und ständigem Mitglied des Reichs-Versicherungsamts — Berlin, 1900, A. Asher & Cie. — Von diesen 3 Schriften giebt die erste eine kurze Ueber- sicht über die gesetzlichen Einrichtungen der deutschen Arbeiter¬ versicherung, während die beiden letzteren die Leistungen derselben sowohl in Bezug auf die Heilbehandlung als auf die Entschädigungen der Arbeiter nach Unfällen und^Invalidität aufführen. Die Leistungen dieses grossartigen deutschen Kultur- Digitized by Google 1. Juni 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 231 werks, welches allen Völkern der Welt zum Vorbilde dient, sind in höchst anschaulichen Tabellen und graphischen Dar¬ stellungen vorgefuhrt. Das Titelblatt der beiden letzterwähnten Schriften ziert ein Bild, welches die Gesammtentschädigungen von 1885—1899 = 2,4 Milliarden Mark darslellt in einem Obe¬ lisken aus 961 Tausend Kilogramm gemünztem Golde, der eine Grundfläche von 7,4 Quadratmeter und eine Höhe von 14,9 Meter hat. B. Tagesgeschichte. Das Schicksal der Yersicherungs-Gesetz-Entwurfe in Deutschland und in der Schweiz. Der deutsche Reichstag hat mit erfreulicher Einmüthig- keit, die sich zum grossen Theil selbst auf die äusserste Linke erstreckte, die ihm vorliegenden neuen Unfall-Gesetze (Land- und Porst-Wirthschaft, Bau- und See-Unfallversicherung, Unfall-Fürsorge für Gefangene) angenommen. In der Schweiz dagegen ist der Entwurf eines Kranken-, Unfall- und Militär- Versicherungs-Gesetzes kläglich gescheitert. Trotzdem der schweizerische Bundesrath ihn fast einstimmig angenommen hatte und er Angehörige aller Parteien zu seinen Vertheidigern zählte, hat die Volks-Abstimmung seine Ablehnung mit er¬ drückender Mehrheit ergeben. Die Stellung des Arztes nach den abgeänderten Unfall¬ versicherungsgesetzen. Die hohe Bedeutung, welche auf den Gang des Heilver¬ fahrens dem behandelnden Arzte und auf Feststellen des Grades der gestörten Unversehrtheit und der darauf zurück- führbaren Erwerbsunfähigkeit den medizinischen Sachverstän¬ digen beizulegen ist, führte dabin, in den dem Reichstage zu¬ gegangenen Unfallversicherungsvorlagen die Stellung derselben gesetzlich im weiteren Umfange zu regeln, als dies in den heut geltenden Gesetzen geschehen ist. In Folge dessen wurde dem § 57 des Gew.-Unf. Vers.-G. eine Bestimmung ein¬ gefügt, nach welcher das mit der Festsetzung der Entschädi¬ gung betraute Genossenschaftsorgan verpflichtet ist: „in jedem Falle vor Feststellung der Entschädigung den behandelnden Arzt zu hören und, wenn der behandelnde Arzt zu der Be¬ rufsgenossenschaft in einem Vertragsverhältnisse steht, auf Antrag einen anderen Arzt statt seiner zu hören“. Dieselbe fehlte in der Vorlage. Sie wurde erst in der zweiten Lesung der 21. Reichstagskommission in Folge einer Ver¬ schmelzung der Anträge 89 und 110 angenommen und zwar auf Grund der Erwägung, dass es gelingen werde, mittels ihrer sowohl erheuchelten Krankheitserscheinungen seitens der Entschädigungsberechtigten mehr vorzubeugen, wie solches bisher der Fall ist, aber auch zu einer den thatsächlichen Verhältnissen Rechnung tragenden, alle in Betracht kommenden Umstände richtig würdigenden Schadloshaltung des Betriebsverletzten zu gelangen und da¬ mit den Anlass zur Unzufriedenheit in den Kreisen der ße- theiligten und zur Einlegung von Rechtsmitteln zu beseitigen. Der Reichstag billigte in seiner Sitzung am 8. Mai d. J. in dieser Fassung die Beschlüsse der Kommission, indem auch er der Ueberzeugung Ausdruck gab, dass das Urtheil des be¬ handelnden Arztes ein befangenes sein könne, wenn dieser in der Stellung eines Vertrauensarztes der Berufsgenossenschaft, mithin in einem beschränkten Abhängigkeitsverhältnisse zu dieser sich befindet, weshalb es dem Rechte und der Billig¬ keit mehr entspräche, einen völlig unabhängigen und vor¬ urteilsfreien Arzt ausser ihm zu hören, sobald der Betriebs¬ verletzte solches beantragend zu erkennen gebe, dass er ihm nicht ungetheiltes Vertrauen entgegen bringe. Der gleiche Grundsatz wurde dann auch in § 62 des Landw. Unf.-Vers.-Ges. eingefügt. Gleichsam in Ergänzung dieses Grundsatzes wurde dem Entwürfe des sogenannten Mantelgesetzes als § 7a eingefügt: „Das Schiedsgericht wählt bei Beginn eines jeden Geschäfts¬ jahres in seiner ersten Spruchsitzung, in der Regel nach An¬ hörung der für den betreffenden Bezirk oder Bundesstaat zu¬ ständigen Aerztevertretung, aus der Zahl der am Sitze des Schiedsgerichts wohnenden approbirten Aerzte diejenigen aus, welche als Sachverständige bei den Verhandlungen vor dem Schiedsgerichte in der Regel nach Bedarf zuzuziehen sind. Den zugezogenen Sachverständigen ist zur Abgabe ihres Gut¬ achtens Einsicht in die Akten des Schiedsgerichts und der Berufsgenossenschaft zu gewähren. Die Namen der gewählten Aerzte sind öffentlich bekannt zu machen", und damit eine Einrichtung verallgemeinert, welche in Bayern auf. Grund landesgesetzlicher Anordnungen bereits längst in Geltung stehend, sich als zweckdienlich bewährt hat. Sie beruht (Ber. S. 10) auf der, auch in der Kommission von 1897 (vergl. Ber. S. 107, 113, 132) bereits erörterten Erwägung ob, eventuell auf welchem Wege Gewähr dafür zu schaffen sei, dass bei den Schiedsgerichten die ärztliche Beurtheilung der Streitfälle in ausgiebigem Masse und mit voller Sachkunde zur Geltung komme und wie es dem Verletzten möglich gemacht werden solle, gegenüber einem von der Berufsgenossenschaft vorge¬ legten oder einem sonstwie ergangenen ärztlichen Zeugnisse seinerseits eine Begutachtung herbeizuführen. Die Kommission von 1897 war in ihren Forderungen etwas weiter gegangen, indem sie als § 50b des Gew.-Unf.-Vers.-G. vorschlug: „Wird von der Genossenschaft ein ärztliches Gutachten vorgelegt, so ist auf Antrag des Entschädigungsberechtigten und auf Kosten der Genossenschaft ein weiteres Gutachten und zwar von dem¬ jenigen Arzte einzuholen, den der Entschädigungsberechtigte aus der Zahl der vom Schiedsgericht gewählten Aerzte be¬ stimmt.“ Angesichts des in § 57 Gew.-Unf.-Vers.-G. vor¬ stehend eingefügten Zusatzes wurde eine hierauf abzielende Rechtsregel als entbehrlich erachtet. Bei dieser Gelegenheit wurde zwar hervorgehoben, dass dem Erfordernisse, dem überden Entschädigungsanspruch erkennenden Gerichte auf dem ärzt¬ lichen Gebiete tüchtige Hilfskräfte zur Seite zu stellen, die dasselbe jederzeit ohne irgendwelche Weitläufigkeit ausgiebig zu Rathe zu ziehen vermöge, nur dadurch genügt werden könne, wenn ein ärztlicher Gutachter regelmässig den Ver¬ handlungen beiwohne, in denen er meist den Verletzten vor sich habe und Rede wie Gegenrede höre; allein diese regel¬ mässige Betheiligung des ärztlichen Elementes an den Spruch- sitzungen erschien als zu weitgehend und praktisch undurch¬ führbar. Hervorgehoben wurde dabei missbilligend, dass sich in weitem Umfange die Uebung eingeschlichen habe, in den ärztlichen Gutachten den Grad der Erwerbsfähigkeit festzu¬ stellen, in Sonderheit darüber ein Urtheil abzugeben, inwie¬ weit die zurückgebliebenen Krankheitserscheinungen, in Sonder¬ heit Verstümmelungen, dem Verletzten ermöglichen, auf einem anderen Arbeitsfelde seine geminderte Arbeitskraft nutzbrin¬ gender zu verwerthen, betonend, dass zur richtigen Beurthei¬ lung dessen doch die genaue Kenntniss der Hantirungen des vorgeschlagenen neuen Berufsfaches gehöre. In Folge dessen wurde vorgeschlagen, in jedem Falle, wo das ärztliche Gut¬ achten eine derarte Bestimmung trifft, gleichsam als Gegen¬ gutachter einen in dem betreffenden Berufszweige technisch wissenschaftlich vorgebildeten, praktisch geübten Fachgenossen dem Arzte gegenüberzustellen. Schliesslich kam eine Einigung dahin zu Stande, dass in jedem Einzelfalle den Rechtsstreit¬ parteien und dem Urtheilsgerichte überlassen werden müsse, nach freier Beurtheilung der ärztlichen Anschauung sich an- zuschliessen oder gegen dieselbe, erforderlichenfalls nach An¬ hören sachkundiger Personen, eine anderweite Feststellung au Digitized by Google 232 Aerztllche Sachverständigen-Zeitung. No. 11. treffen, weshalb es entbehrlich sei, über die Rechtsregel des § 7a hinauszugehen und dem in Aussicht genommenen § 8a die Zustimmung zu ertheilen. Kreisgerichtsrath Dr. Hilse-Berlin. Das Reichsseuchengesetz. In der Kommission hat der Gesetzentwurf einige nicht unvorteilhafte Aenderungen erfahren. Die Desinfektion soll in denjenigen Fällen, in denen sie auf polizeiliche Anordnung geschieht, auf Staatskosten erfolgen, und für etwa dabei un¬ brauchbar gemachte oder beschädigte Gegenstände soll aus öffentlichen Mitteln auf Antrag des Familienvorstandes eine Entschädigung gezahlt werden. Ferner sollen diejenigen Per¬ sonen, welche der Seuchengefahr wegen abgesondert und am Verkehr mit der Aussenwelt verhindert werden, ein Recht auf Entschädigung für das ihnen entgehende Arbeitsverdienst haben. Die neue Prüfungsordnung für Aerzte, welche für das gesammte Deutsche Reich demnächst veröffent¬ licht werden soll, wird, wie verlautet, eine wesentliche Ver¬ längerung der Studienzeit fordern. Auf das eigentliche Studium werden zehn Halbjahre kommen und ein „praktisches Jahr“ wird sich anschliessen. Die Regierung ist der Ansicht, dass der von den Realgymnasien her zu befürchtende Andrang zum ärztlichen Studium durch diese Erschwerung desselben aus¬ geglichen werden wird. In einer gemeinsamen Promotionsordnung der deutschen Universitätsstaaten soll festgesetzt werden, dass die Promo¬ tion erst nach Beendigung der Staatsprüfung erfolgen darf, und dass eine mündliche Prüfung vor einem dreigliederigen Professoren-Ausschuss stattzufinden hat. Heilbehandlung auf Kosten der Invaliditäts-Versicherung. Die Versicherungsanstalten machen von der ihnen zu¬ stehenden Befugniss, die Heilbehandlung erkrankter Versiche¬ rungspflichtigerzu übernehmen, immer ausgiebigeren Gebrauch. 1899 betrug die Zahl der auf Kosten der Versicherungsanstalten Behandelten bereits 20039 Personen mit einem Kostenauf¬ wand von vier Millionen Mark (1898: 13758 Personen 2,8 Millio¬ nen Mark, 1897:10483 Personen zwei Millionen Mark). Unter den Behandelten befanden sich 6032 Männer und 1666 Frauen, die an Lungentuberkulose litten. Leider scheinen bei den Tuberkulösen weniger Dauererfolge erzielt zu werden, als bei den anderen Kranken. Heimstättenwesen. Auf Veranlassung des preussischen Ministers der Medizi¬ nalangelegenbeiten hat die erweiterte wissenschaftliche Depu¬ tation für das Medizinalwesen in ihrer letzten Sitzung die Frage: In welcher Richtung ist die schon bestehende Bewegung für die Gründung von Heimstätten für Genesende zu fördern? einer eingehenden Erörterung unterzogen und sich auf die folgenden Leitsätze geeinigt: „1. Heimstätten für Genesende siud geeignet, die Rekon- valescenz abzukürzen, somit früheren Wiedereintritt in die Erwerbsarbeit zu ermöglichen und die Leistungsfähigkeit der Hospitäler durch Entlastung zu erhöhen. 2. Zur Aufnahme in Genesungshäuser sind nur solche Rekonvalescenten geeignet, die einer besonderen ärztlichen Behandlung nicht mehr be¬ dürfen. 3. Genesungshäuser sind, für die Geschlechter ge¬ trennt, in ländlichen Gegenden, ausserhalb der Städte in einer für den Verkehr günstigen Lage zu errichten. 4. Einrichtung, Verpflegung und Wartung können einfacher und billiger ge¬ staltet werden als in Krankenhäusern. 5. Der Arzt der An¬ stalt soll leicht zu erreichen sein, braucht aber bei kleinen und mittelgrossen Anstalten nicht in der Anstalt zu wohnen. 6. Die Pfleglinge der Anstalt sollen sich viel im Freien be¬ wegen, Gelegenheit zu Unterhaltungsspielen, aber auch zu leichteren Arbeiten haben. 7. Die fernere Errichtung solcher Heimstätten ist von den kommunalen Verbänden, den Organen der Kranken-, Unfall- und Altersversicherung und von der Wohlthätigkeit zu erwarten. Die Behörden können anregend, fördernd, rathend dafür wirken und für ihre Hospitalkranken eigene Genesungshäuser errichten.“ (D. Arbeiter Ztg.) Eilt bestrafter Simulant. Ein Kohlenzieher R. auf einem Dampfer meldete am 29. März 1899, er habe sich beim Kohlenschaufeln stark an¬ gestrengt und dabei die Wahrnehmung gemacht, dass ihm in der Leistengegend eine Geschwulst heraustrete. Der Schiffs¬ arzt stellte einen Leistenbruch fest. Im August beantragte der Mann Unfallrente. Es wurde nunmehr festgestellt, dass entgegen der bestimmten Angabe des Mannes der Leistenbruch schon 1897 vorhanden gewesen war. Der vermeintliche Un¬ fallkranke war nämlich wegen des Bruches damals schon mit Pension aus der Kriegsmarine unter Angabe des Grundes ent¬ lassen worden. Die erstattete Anzeige hatte zur Folge, dass R. wegen versuchten Betruges zu einer GefängnisBstrafe von einem Monat verurtheilt wurde. Ein eigenthümlicher Schadenersatzanspruch. Der Beklagte ist ein praktischer Arzt, der in seiner Woh¬ nung eine in der Regel sehr stark besuchte Sprechstunde ab¬ hält. Kläger gehörte zu denjenigen seiner Patienten, welche sich zum Zwecke der Konsultation des Oefteren in dieser Sprechstunde einzufinden pflegten. Bei einer solchen Gelegen¬ heit hatte Kläger nun eines Tages in dem sehr besetzten Vorzimmer des Beklagten ziemlich lange warten müssen, uud da ihn ein Bedürfnis anwandelte, so suchte er zu dessen Be¬ friedigung den zur Wohnung des beklagten Arztes gehörigen Abort auf. Der Zugang zu diesem war jedoch ungenügend erleuchtet und hierdurch kam der mit der Oertlichkeit nur wenig vertraute Kläger zu Falle. Die Verletzungen, die er bei diesem Anlasse sich zuzog, stellen für ihn nach verschie¬ denen Richtungen hin (Kurkosten, zeitweilig ganz aufgehobene oder doch geminderte Arbeitsfähigkeit u. dergl.) einen Ver¬ mögensschaden dar, für welchen er im Prozesse von dem Be¬ klagten Ersatz verlangt. Die erste Instanz hatte allerdings den Arzt, der eine aussergewohnlich ausgedehnte Sprech¬ stundenpraxis betreibt, für verpflichtet erachtet, während der Sprechstunden den freien Verkehr des dieselben besuchenden Publikums auf seinem Abort zu gestatten und demgemäss von Einbruch der Dunkelheit an den Zugang zu demselben zu be¬ leuchten. In Uebereinstimmung mit dem Berufungsgerichte jedoch hat das Reichsgericht (Erkenntniss des III. Civüsenats vom 23. Februar 1900) diese Rechtsauffassung als irrthümlich verworfen. Schon sanitäre Gründe sprechen — so führt es aus — gegen die Duldung eines solchen freien Verkehrs. Wenn auch im Einzelfalle der Beklagte genöthigt war, den bei ihm Vorsprechenden die Benützung seines Abortes zu ge¬ statten, und dieselbe auch thatsächlich mehrfach geduldet hat, so führt dies noch nicht dahin, ihn zur Beleuchtung des Zu¬ ganges zu verpflichten und haftbar zu machen, falls in Folge unterbliebener und mangelhafter Beleuchtung ein Besucher des Abortes sich eine Verletzung zuzieht. Es kommt hinzu, dass im Vorzimmer selbst sich stets ein Bediensteter des Be¬ klagten aufhielt, an den sich Kläger mit dem Ersuchen hätte wenden können, für Beleuchtung dieser Oertlichkeit Sorge zu tragen. (Münch, med. Wochenschrift.) Verantwortlich für den Inhalt: Dr. F. Leppmann in Berlin. — Verlag and Bigenthum von Richard Schoets in Berlin. — Druck von Albert Damcke, Berlin-ScbOneberg. Digitized by uiuiie, oonia-ocovoeuer^. Google Die „Aentliehe SechTentKudlgeii.Zeitung“ erscheint monstlieh zweimal. Dieselbe ist zu beziehen durch den Buohnsnde), die Post (No. 35) oder durch die Verlagsbuchhandlung von Biehard Schoctz, Berlin NW., Luisenstr. 86, zum Preise Tun Mk. 5 . — pro Vierteljahr. Aerztliche Alle Manuskripte, Mittheilnngen und redaktionellen Anfragen beiieoe jun zu senden an Dr. F. Leppmann, Berlin W., Kurfürstenstr. No. 8. Korrekturen, Rozensions-Gzcmplare, SonderabdrQcke an die Verlagsbuchhandlung, Inserate und Beilagen an die Aanoncen-Expedltion von Rudolf Moase. Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und UnfaU-Heilknnde. Herausgegeben von Dr. L. Becker Dr. A. Leppmann Dr. F. Leppmann Sanitütarath, Königlicher Physikns, Vertrauensarzt 8anltltsrath, Königlicher Physlkus, Arzt der Beobachtungsanstalt für geiatee- prakt. Arzt. ▼on Berufsgenossensehaften und Schiedsgerichten. kranke Gefangene in Moabit-Berlin, Spezialarzt für Nerven- u. Geisteskranke. Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstrasse 36. VL Jahrgang 1900. M12. Ansgegeben am 15. Juni. Inhalt: Originalien: Becker, Gelenkrheumatismus nach Trauma. S. 233. Peltesohn, Lebensversicherung und Ohr. S. 236. Referate: Allgemeines. Lewin, Die Vergiftungen in Betrieben und das Unfallversicherungsgesefz. S. 238. Chirurgie. Vulpius, Zur Kasuistik der Sehnenzerreissungen. S. 239. Flesch. Doppelseitige Ruptur der Quadricepssehne. S. 240. Pagenstecher, Muskel- und ßehnenrisse im Biceps. S. 240. Kornfeld, Rente in zwei Fällen v. Zerreissung d. Biceps. S. 240. Petzold, Ueber traumatische Knochen-Neubildungen. S. 241. Scholder, Der Arthromotor. S. 241. Innere Medizin. Seitz, Darmbakterien und Darmbakteriengifte im Ge¬ hirn. S. 241. Seltner, Bin Beitrag zur Kenntniss der scharlachähnlichen Influenza-Exantheme. S. 242. Scheele, Glasbläsermund und seine Komplikationen. S. 242. Bärri, Fremdkörper in der Lunge. S. 242. Cohn, Ueber subkutane Milzruptur. S. 242. Neurologie. Klink, Dämmerzustand mit Amnesie nach leichter Hirn¬ erschütterung. S. 243. Maröchal, Un cas de növrite traumatique. S. 243. Sieczkowska, Un cas de növrite traumatique chez un hömo- phiiique. S. 243. Beyer, Professionelle Parese im Peronealgebiet. S. 244. Hof mann, Isolierte Lähmung des nervus suprascapularis. S. 244. Bräuninger, Seltener Fall von Radialislähmung. S. 244. Vogt, Zur Indication der Beschäftigungstherapie. S. 244. Vergiftungen. Brauer, Bncephalopathia saturnina. S. 245. Scholze, Ein Fall von Chlor-Akne. S. 245. Augen. Brandenburg, Zündhütchen-Verletzungen des Auges. S.245. Muthmann, Fin Fall von Raupenhaar-Ophthalmie. S. 245. Hygiene. Grahn, Staatliche Einrichtungen zur Förderung des Baues öffentlicher Wasserversorgungs-Anlagen. S. 246. Aus Vereinen und Versammlungen. XXV. Wanderversammlung der südwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte. (Versammlungsbericht.) S. 246. Gerichtliche Entscheidungen : AusdemReichs-Versicherungs-Amt: Alterserscheinungen oder Unfallfolgen? — Traumatische Hysterie. — Tuberkulöse Kniegelenksentzündung und Unfall. — Dem Schieds¬ gericht darf, wenn gegen ein von der Berufsgenossenschaft ein¬ gefordertes Gutachten eines ihrer Vertrauensärzte Bedenken ob¬ walten, das Recht nicht versagt werden, einen anderen Ver¬ trauensarzt der Berufsgenossenschaft zu hören und dessen Gut¬ achten der Entscheidung zu Grunde zu legen. S. 248. GebOhrenwesen : Verjährung des Arztlohnes. S. 250. B0cherbe8prechungen u. Anzeigen: Gumprecht, Die Technik der spe¬ ziellen Therapie. — Busse, Das Sektionsprotokoll. S. 251. Tagesgeschichte: Das Fleischbeschangesetz. — Der § 15 der Geschäfts¬ ordnung für die ärztlichen Ehrengerichte. — Ausstellung eines unrichtigen ärztlichen Zeugnisses. — Preisausschreiben. — Be¬ kanntmachung. S. 251. Gelenkrheumatismus nach Trauma. Von San.-Rath Dr. L. Becker. Die Begutachtung Unfallverletzter stellt der medizinischen Wissenschaft immer neue Fragen, deren Beantwortung sie von dem Arzt als dem allein kompetenten Sachverständigen ver¬ langt Während die Beurtheilung der rein örtlichen Folgen der Verletzung eines Körpertheils verhältnissmässig geringe Schwierigkeiten bereitet, so ändert sich dies Verhältniss als¬ bald, sowie ausser den örtlichen Folgen Allgemein-Krankheiten in Frage kommen, welche wegen ihres Vorhandenseins oder ihres Auftretens bei Unfallverletzten für die Beurtheilung zu berücksichtigen sind. — Als solche Allgemein-Krankheiten kommen für den Aus¬ gang von Verletzungen in Betracht alle Wundinfektionskrank¬ heiten, tuberkulöse Erkrankungen, Delirium, Diabetes, Leukä¬ mie, Syphilis, Krankheiten des Nervensystems und des Gefäss- systems, Neubildungen, Vergiftungen, Blitzschlag, Hitzschlag, Typhus abdominalis, Milz, Gelbfieber, Skorbut und Malaria. Ausser diesen Krankheiten, deren Beziehungen für die Unfall¬ versicherung in den bekannten Lehrbüchern der Unfallheil¬ kunde bereits besprochen sind, hat das Verhältniss des Ge¬ lenkrheumatismus zu Trauma erst neuerdings die Auf¬ merksamkeit der Beobachter hervorgerufen. — Vor Erörterung unseres Themas mag es mir aber ge¬ stattet sein, besonders darauf hinzuweisen, dass, um Unklar¬ heiten zu vermeiden, es mir nothwendig scheint, zunächst nur das Verhältniss des typischen polyartikulären Gelenkrheuma¬ tismus, der Polyarthritis rheumatica in streng klinischem Sinne, in den Kreis unserer Betrachtungen zu ziehen und alle sonstigen als „rheumatisch“ oder „rheumatoid“ bezeichnten Affektionen, deren klinische Kennzeichnung meist unsicher ist, aus unserer Betrachtung auszuscheiden. — Und ebenso möchte ich an dieser Stelle nur auf diejenigen Fälle eingehen, in welchen typische Polyarthritis rheumatica nach der Ver¬ letzung eines Gelenks durch stumpfe Gewalt (Kontusionen Distorsionen, Luxationen) beobachtet sind, und möchte alle diejenigen Fälle ausser Betracht lassen, in welchen ander¬ weitige Verletzungen eines Gelenks, insbesondere solche mit äusseren Verwundungen, beim Unfall stattgehabt haben, weil diese Fälle in ihren Einzelheiten komplizirtere Verhältnisse schaffen. — Nur unter dieser Beschränkung können wir zu¬ nächst einige feste Anhaltspunkte gewinnen für das Gebiet der Beurtheilung einschlägiger Fälle, welche, wie wir weiter sehen werden, schon mit dieser Einschränkung dem Gutachter mancherlei recht schwierige Fragen zur Beantwortung vor¬ legen. — In der Litteratur finden wir zunächst von Carl Müller aus dem Knappschaftslazareth zu Königshütte (Monatsschr. f. Digitized by Google 234 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 12. Unfall 1899, No. 8) zwei Fälle veröffentlicht: In dem ersten Falle erlitt ein Arbeiter K., 37 Jahre alt, am 23. Dezember 1898 durch einen Fall eine Luxation des 1. Oberarms, und erkrankte, noch wegen dieser Verletzung in mediko* mecha¬ nischer Behandlung, am 15. April 1899, also beinahe vier Monate nach dem Unfall, mit Fieber und heftigen Schmerzen in der 1. Schulter, im 1. Knie und Hüftgelenk ohne Schwel¬ lungen dieser Gelenke. Diese Gelenkschmerzen sowie das Fieber schwanden auf Darreichung von Salol bis zum 20. Juli 1899. — In dem zweiten Falle erlitt ein 57 jähriger Pferde¬ führer K. am 1. März 1899 durch Schlag von einem Pferde eine Kontusion des linken Knies mit Schwellung des Gelenks. Nachdem diese bis zum 21. März 1899 völlig geschwunden, erkrankte Pat. am 27. März 1899 an akut auftretender Arthri¬ tis im linken Knie, rechten Knie, beiden Handgelenken und beiden Schultergelenken. Das gleichzeitig aufgetretene Fieber lässt bald auf den Gebrauch von Natr. salicyl nach, aber es entwickelt sich eine chronische Arthritis in fast allen betrof¬ fenen Gelenken. — Beide Fälle sind für unser Thema nicht sehr beweiskräftig, der erste wegen der langen, zwischen Unfall und Erkrankung liegenden Zeit; und der zweite wegen des immerhin zweifelhaften Charakters der Erkrankung. — Ferner hat Thiem (Monatsschr. f. Unfallheilk. 1898, No. 10, S. 388) von einem Fall kurze Mittheilung gemacht, in welchem einer 24 jährigen Frauensperson 10 Tage nach einem Sturz auf beide Kniee, der eine Subluxation der Schienbeine nach hinten zur Folge hatte, nach einander ent¬ zündliche Anschwellungen beider Sprunggelenke, des rechten Hüft- und Schultergelenks bekam, die man nicht anders als Gelenkrheumatismus deuten konnte. — Derselbe Autor macht an derselben Stelle Mittheilung von 2 Fällen von rheumatischer Gelenkerkrankung durch Trauma, welche von Dr. Piltz inVienen¬ burg berichtet werden. Bei diesen Fällen handelt es sich aber nicht um direkte Verletzungen einesGelenks, sondern um äussere Verletzungen anderer Theile. — Viertens hat Seitz in der Monatsschr. f. Unfallheilkunde 1899, No. 11, einen Artikel veröffentlicht „Traumatischer Ge¬ lenkrheumatismus“, in welchem er berichtet, dass er bei der Durchsicht des Materials des Lazareths „Neu-Ulm“ unter 771 Krankengeschichten von Gelenkrheumatismen nicht weniger als 38 Fälle fand, in welchen „nach Trauma allge¬ meiner oder monartikulärer Gelenkrheumatismus auftrat.“ Seitz führt diese 38 Fälle einzeln auf in sehr kurz ge¬ fassten Krankengeschichten. Wenn auch mehrere dieser Fälle, so alle diejenigen, in welchen das verletzte Gelenk allein erkrankte, für unser oben näher umgrenztes Thema nicht zu verwerthen sind, (Fälle 4, 11, 19, 20, 22, 25, 35 und 37) und wenn auch manche dieser Fälle nach ihrer kurzen Kranken¬ geschichte mehr den Eindruck machen, als ob ein zur Ent¬ wickelung kommender Gelenkrheumatismus eben nur gelegent¬ lich einer militärischen (Turn-) Uebung zuerst bemerkt worden ist, — und wenn endlich auch einzelne Fälle in Bezug auf den ursächlichen Zusammenhang (Fall 17 nach 14 tägiger Be¬ handlung an Wundlaufen) sowie in Bezug auf ihre Diagnose (Verlauf von drei Tagen) anzuzweifeln sind (Fall 4), so bleiben doch immer in der hier gegebenen Aufzählung eine Anzahl von Fällen, in welchen das Auftreten von Polyarthritis rheu- matica nach Verletzung eines Gelenks durch stumpfe Gewalt unzweifelhaft dargethan ist. Endlich veröffentlicht Schulze-Berge (Monatsschr. f. Unfallheilk. 1999, No. 12) aus dem evangel. Krankenhause Oberhausen zwei sehr gut beobachtete Fälle: In dem ersten Falle stellten sich bei einem 27 jährigen Bergmann nach einem Unfall, wobei eine Zerrung beider Hüftgelenke stattge¬ funden, vier Tage später unter Fiebererscheinungen nicht nur Schwellungen der Hüftgelenke, sondern auch mehrerer anderer Gelenke an Armen und Beinen ein mit dem vollkommenen Bilde eines akuten Gelenkrheumatismus, welcher erst nach zehn Tagen unter der Behandlung von Natr. salicyl sich besserte. — Im zweiten Falle berichtet Schulze von einem 28 Jahre alten Arbeiter, welcher am 30. August 1899 durch Ausgleiten eine Distorsion beider Füsse im Bereich der Fuss- wurzeln erlitten; während die Schwellung unter Bettruhe und Umschlägen allmählich zuriickging, trat 14 Tage nach dem Unfall Schwellung und Schmerzhaftigkeit beider Kniegelenke ein, acht Tage später Schwellung und Schmerzhaftigkeit des rechten Hüftgelenks; die erkrankten Gelenke kamen erst langsam wieder zum normalen Zustand. Zu diesen in der Litteratur vorfindlichen Fällen bin ich nun in der Lage, zwei Fälle aus meiner Gutachter- Thätigkeit vorzuführen, welche für die Begutachtung ganz besonders interessante Gesichtspunkte darboten. Ich will sie hier zunächst nach meinen Aufzeichnungen mittheilen: I. Die Portiersfrau M. M., 59 Jahre alt, giebt an, dass sie schon seit 10 Jahren, an Erkrankungen an Gelenkrheuma¬ tismus gelitten habe, und zwar sind bei diesen Erkrankungen alle Gelenke der Glieder betroffen gewesen, besonders aber beide Fussgelenke. Die Krankheit hat seit ihrem Beginn mehrmals Rückfälle gemacht, die letzte anfallsweise Erkran¬ kung vor dem Unfall hat sie von Mai bis Juli 1897 durch¬ gemacht. Von Juli 1897 bis Mai 1899 hat sie nur leichtere Schmerzen in dem Arm und dem Knie und auch in den Füssen gehabt. — Ausser an Rheumatismus leide sie auch seit 4 bis 5 Jahren an Herzklopfen. — Am 13. Mai 1899 war sie nun beim Herausgehen aus der Thür mit dem linken Fuss um¬ geknickt; sie bekam gleich heftige Schmerzen im Fuss und derselbe schwoll an, sodass sie ihre Arbeit aufgeben und ihre Füsse mit Eis kühlen musste. Sie ist dann von Herrn S.-R. Dr. S. behandelt worden, zuerst mit Umschlägen, dann mit Watteein Wickelungen; danach wurde es mit dem linken Fuss allmählich besser, sodass sie am 26. Juli 1899 wieder ihren Dienst als Portiersfrau beginnen konnte; und diesen hat sie auch versehen bis zum 16. September 1899. — Acht Tage nun, nachdem sie sich die Verstauchung des linken Fusses zugezogen hatte, traten auch Schmerzen, zuerst im rechten und dann im linken Kniegelenk auf, auch im rechten Fuss und auch in beiden Schultergelenken. Auf die ihr verordnete Medizin Hessen nach etwa 14 Tagen die Schmerzen in den Knien und im rechten Fusse und in den Schulter¬ gelenken und auch im Hnken Fusse nach, so dass sie, wie erwähnt, am 26. Juli 1899 ihre Arbeit wieder aufnehmen konnte. Am 16. September 1899 musste sie aber ihre Arbeit wieder niederlegen, weil wieder in beiden Füssen und in beiden Schultern Schmerzen auftraten; sie hat sich dann wieder in Behandlung gegeben bei Herrn Dr. L. und ist noch dort; sie hat seitdem noch nicht wieder zu arbeiten anfangen können, weil sie noch immer Schmerzen in beiden Füssen und zwar im rechten mehr als im s. Z. verletzten linken (wie sie aus- drückHch sagt) habe, und in den Hüften und in den Schultern. Sie glaubt nun, dass ihr ganzer jetziger Krankheitszustand auf den erwähnten Unfall zu schieben sei, und zwar ist sie der Ansicht, dass der Gelenkrheumatismus „wohl vieUeicht auch ohne den Unfall wiedergekommen wäre, aber nicht so wie jetzt“. Bei der Untersuchung zeigt sich die p. M. als eine ausser- gewöhnlich korpulente Frau mit keuchender Athmung. Es be¬ steht ein Herzfehler, kenntlich an sehr beschleunigter Herz¬ aktion mit blasenden Geräuschen, und an Vergrösserung der Herzdämpfung. — Die Befühlung beider Schultergelenke is schmerzhaft, an der rechten Hand sind die Finger gelenke Digitized by Google 15. Juni 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 235 leicht geschwollen und schmerzhaft. — Die Bewegung in den Hüftgelenken verursacht ihr ebenfalls Schmerzen. Beide Kniegelenke zeigen verschwommene Umrisse, ihre Bewe¬ gungen sind schmerzhaft, und die aufgelegte Hand kann in beiden Gelenken bei der Bewegung laute knirschende Ge¬ räusche wahrnehmen. Ebenso ist das rechte Fussgelenk ge¬ schwollen und schwer beweglich und man hört hier ebenfalls Geräusche bei der Bewegung. — Das linke Fussgelenk, also das allein beim Unfall betroffene, zeigt keinerlei Anschwellung, ist gut beweglich, nicht schmerzhaft und lässt keine Geräusche bei Bewegungen wahrnehmen. Danach leidet die p. M. an chronischem, öfters rückfälligem Gelenkrheumatismus. — Es fragt sich nun aber, ob der jetzige Zustand mit dem Unfall vom 13. Mai 1899 in einem ursäch¬ lichen Zusammenhänge steht. Ich führte nun in meinem Gutachten Folgendes aus: Es ist eine noch offene wissenschaftliche Frage, ob bei einer Person, welche an chronischem Gelenkrheumatismus leidet, dieses Leiden durch die äussere (traumatische) Ver¬ letzung eines Gelenkes „wiederangefacht“ werden kann. Immerhin ist die Möglichkeit eines solchen Zusammen¬ hanges zuzugeben. — Es fragt sich aber, ob hier in unse¬ rem Falle die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Zu¬ sammenhang spricht. Und das ist meines Erachtens besonders wegen des Verlaufes der Krankheitserscheinungen nicht der Fall. Nach dem Bericht des Herrn Dr. S. sind andere als das verstauchte linke Fussgelenk erst am 22. oder 23. Mai 1899 befallen (also erst 10 Tage nach dem Unfall). Diese Zeit würde schon gegen einen Zusammenhang sprechen. — Ferner ergiebt sich aus dem oben ausführlicher angegebe¬ nen Krankheitsverlauf, dass derjenige Rückfall des Gelenk¬ rheumatismus, welcher am 23. Mai 1899 einsetzte, am 26. Juli 1899 wieder abgelaufen war, sodass die p. M. ihre Arbeit als Portiersfrau an diesem Tage wieder übernehmen konnte. Es ist also anzunehmen, dass am 26. Juli nicht nur die Verstau¬ chung des linken Fussgelenkes abgelaufen war, sondern auch die möglicherweise durch die Fussverstauchung verursachte Wiederanfachung des Gelenkrheumatismus, sodass sich also die Wirkung des Unfalls zu jener Zeit erschöpft hatte. Wenn dann die p. M. neuerdings ohne irgendwelche er¬ weisliche Ursache an einem Anfall (Recidiv) ihres Gelenk¬ rheumatismus erkrankt, so glaube ich, dass man zu der An¬ nahme berechtigt ist, dass für diesen Rückfall ihrer seit zehn Jahren bestehenden Krankheit der Unfall bezw. die über¬ standene Verstauchung des linken Fussgelenkes keine Rolle mehr gespielt hat. — Und dieser Schluss scheint mir umsomehr berechtigt, als gerade das beim Unfall verletzte linke Fussgelenk das am wenigsten bei der jetzigen Erkrankung betheiligte Gelenk ist. — Gerade dieser letztere Umstand — dass eben das beim Unfall verletzte linke Fussgelenk jetzt das am wenigsten affizirte Gelenk ist — scheint mir entscheidend für die Ver¬ neinung des ursächlichen Zusammenhanges in unserem Falle zu sein. Läge das Gegentheil vor, wäre das beim Unfall ver¬ letzte linke Fussgelenk das am schwersten befallene Gelenk, dann wäre der Schluss berechtigt, dass es durch die Unfall¬ verletzung zu einer intensiveren Lokalisation des Krankheits¬ prozesses in dem getroffenen Gelenk gekommen sei; dies ist aber eben hier gerade nicht der Fall. Nach Alledem musste ich in Uebereinstimmung mit dem Vorgutachter mein Gutachten ebenfalls dahin abgeben, dass der am 13. Mai 1899 erlittene Unfall, seit dem 26. Juli 1899 keine Folgen mehr hinterlassen hatte, welche die p. M. iu ihrer Erwerbsfähigkeit schädigten, und dass die rheumatische Erkrankung, an welcher die Untersuchte seit dem 16. Sep¬ tember 1899 wieder leidet, mit dem Unfälle vom 13. Mai 1899 in keinem ursächlichen Zusammenhänge steht, also weder durch denselben entstanden, noch auch durch denselben ver¬ schlimmert worden ist. II. Der Putzer H. H., 40 Jahre alt, welcher seiner eigenen Angabe nach im Jahre 1887 und 1894 eine Erkankung an Gelenk-Rheumatismus durchgemacht hatte, erlitt am 12. De¬ zember 1898 eine Distorsion des rechten Schultergelenks, welche im gewöhnlichen, durch etwaige rheumatische Erkran¬ kung nicht komplizirten Verlauf zu einer Beweglichkeitsstörung des rechten Armes im Schultergelenk führte, wofür er seit Mai 1899 eine Unfallrente von 40 Prozent bezog. — Im August 1899 stellte er bei der BerufBgenossenschaft den Antrag auf Erhöhung seiner Rente, weil sein Leiden sich verschlimmert habe; seit Anfang Juli 1899 sei die rechte Schulter schmerzhafter ge¬ worden, so dass er sie garnicht bewegen konnte und auch in der linken Schulter sei Schmerz und Anschwellung aufgetreten. Nach 5wöchentlicher Behandlung sei der frühere Zustand wieder eingetreten; die linke Schulter sei nicht mehr schmerzhaft; aber die Beweglichkeitsstörung in der verletzten rechten Schulter sei geblieben. — Die Untersuchung ergab denn auch das Bestehen dieser Beweglichkeitsstörung mit Ab¬ fall der Muskulatur der rechten Schulter und des rechten Arms. — Es fragte sich nun bei der Begutachtung, ob die Ver¬ schlimmerung des örtlichen, durch den Unfall verursachten Leidens der rechten Schulter in irgend welche Beziehung zu dem Unfall gebracht werden konnte. — Ich führte in meinem Gutachten aus, dass an und für sich ein Rückfall des Gelenkrheumatismus bei dem Untersuchten in keinem ursäch¬ lichen Zusammenhang mit der Unfallverletzung stände. Wenn aber, wie es hier der Fall gewesen, nach dem Gutachten des behandelnden Arztes, Dr. J., dieser Rückfall sich besonders in dem verletzten rechten Schultergelenk lokalisirt hat, doch in diesem Umstande der ursächliche Zusammenhang mit dem Unfall gegeben sei; denn in diesem Falle sei die Unfallver¬ letzung und der sich daran knüpfende Zustand des verletzten Gelenks wohl als eine wesentlich mitwirkende Ursache der Gesammterkrankung anzusehen, welche allein durch ihre Lo¬ kalisation im affizirten rechten Schultergelenk die zeitige völlige Arbeitsunfähigkeit bedingte. — Wenn dann dieser Rückfall des Gelenk-Rheumatismus wieder abgeklungen war, wie es Ende August 1899 geschehen, dann ist auch, wie das der gegenwärtige Zustand beweist, die durch den Gelenk-Rheu¬ matismus gefolgte Verschlimmerung des örtlichen Leidens wieder vorbei. Auf Grund dieser Erwägungen gab ich mein Gutachten dahin ab, dass nach dem Attest des behandelnden Arztes, Herrn Dr. J., anzunehmen ist, dass in Folge des Unfalls vom 12. Dezember 1898 bei H. von Anfang Juli bis Ende August 1899 eine Verschlimmerung eingetreten war, dass diese Ver¬ schlimmerung aber wieder Ende August 1899 vorübergegangen war, und seitdem und auch gegenwärtig die Einbusse an Er¬ werbsfähigkeit wiederum auf 40 Prozent der früheren Erwerbs¬ fähigkeit zu bemessen ist. Man ersieht schon aus der angeführten Kasuistik, zu welch’ einer Fülle von Fragen, die dem begutachtenden Arzte vorgelegt werden können, das Auftreten von Gelenk-Rheuma¬ tismus bei Unfallverletzten Veranlassung geben kann. Die Frage, ob ein akuter Gelenk-Rheumatismus durch eine Verletzung eines Gelenks entstehen kann, wird nicht völlig von der Hand zu weisen sein, wenn man sich auf den neuer¬ dings vielfach von hervorragenden Pathologen vertretenen Standpunkt stellt, dass der akute Gelenk-Rheumatismus durch eine Infektion mit „weniger virulenten“ Eiterkokken verursacht Digitized by Google 236 Aerztliehe Sachverständigen-Zeitung. No. 12. werde. R. Stern (Heber traumatische Entstehung innerer Krankheiten, 2. Heft, 1900) spricht sich darüber folgender- massen aus: „Allerdings ist ein Theil der bakteriologischen Untersuchungen, auf die sich diese Annahme stützt, von frag¬ lichem Werth. Aber auch diejenigen, welche den akuten Ge¬ lenk-Rheumatismus für eine besondere, durch einen noch un¬ bekannten spezifischen Erreger verursachte Infektionskrankheit halten, müssen zugeben, dass die Abgrenzung gegenüber man¬ chen Fällen von Polyarthritis, die durch pyogene Kokken her¬ vorgerufen werden, ziemlich schwierig ist.“ — Von französi¬ schen Autoren wird die Möglichkeit der traumatischen Ent¬ stehung des akuten Gelenk-Rheumatismus schon seit Jahren vertreten. Und unter den deutschen Autoren gewinnt in den letzten Jahren die Annahme immer mehr Boden, dass es sich beim akuten Gelenk-Rheumatismus um eine Infektionskrank¬ heit handelt, um eine Art leichter Pyämie, verursacht durch weniger virulente pyogene Kokken. Wenn man aber auf diesem Standpunkt steht, dann liegt auch die Möglichkeit auf der Hand, dass das Auftreten eines akuten Gelenk-Rheumatismus durch ein Trauma, besonders ein solches, welches ein Gelenk durch Kontusion, Distorsion oder Luxation trifft, veranlasst werden kann. Die Analogie mit Osteomyelitis ist gegeben. — Bei der Begutachtung Unfallverletzter wird es dann Sache der gerichtlich-medizinischen Beweisführung sein, aus den Einzel¬ heiten des Falles, aus dem Verlaufe desselben und aus den Nebenumständen sich den Beweis für oder wider im vorliegen¬ den Falle zu konstruiren. — Während man in den Fällen, in welchen es sich um eine fragliche Entstehung eines akuten Gelenk - Rheumatismus nach einem Gelenktrauma handelt, immerhin bei dem betroffenen Individuum noch eine gewisse Prädisposition zur Erkrankung voraussetzen muss, so ist diese Prädisposition bei allen den Unfallverletzten, welche bereits einmal einen akuten Gelenk-Rheumatismus in ihrer Vergangen¬ heit gehabt haben, ohne Weiteres anzunehmen. Fälle, in wel¬ chen bei Rheumatikern durch ein Gelenktrauma ausser dem verletzten Gelenk auch noch andere Gelenke erkranken, und es also zu einem Recidiv der Krankheit durch den Unfall kommt, sind daher leicht zu beurtheilen. Hier handelt es sich um die Verschlimmerung eines schon in der Anlage bestehenden Leidens,— eine solche Verschlimmerung ist aber nach der Rechtsprechung des Reichs-Versicherungsamts der Entstehung eines neuen Leidens für die Versicherungspflicht gleichwerthig. Aber auch noch weitere Fragen treten uns beim Vor¬ kommen von akutem Gelenk-Rheumatismus bei Unfallverletzten entgegen. So werden sich Unfallverletzte, welche durch ein Gelenktrauma ein Recidiv bekommen, leicht in die Idee hin¬ einleben, dass nunmehr ihre ganze rheumatische Erkrankung von jetzt ab mehr oder weniger als Folge des Unfalls anzu¬ sehen ist. Dem muss doch meines Erachtens ärztlicherseits durchaus widersprochen werden; vielmehr muss angenommen werden, dass sich die Wirkung des Traumas mit der Zeit er¬ schöpft, abklingt, und dass nach dem Aufhören der Wirkung des Traumas in Bezug auf den rheumatischen Krankheits¬ zustand bei dem Individuum wiederum die früheren Verhält¬ nisse eingetreten sind; und wenn, wie es in meinem oben be¬ richteten Fall I vorlag, späterhin ein Recidiv der Krankheit einsetzte, bei welchem sogar das beim Unfall verletzte Gelenk frei blieb, so hat man durchaus Recht, wenn man die Wir¬ kung des Unfalls auf den Verlauf der Krankheit für erloschen erklärt. Anders stellt sich wieder die Frage des ursächlichen Zu¬ sammenhanges, wenn bei einem an typisch recidivirenden Ge¬ lenkrheumatismus leidenden Menschen die Recidive sich vorwiegend in dem durch den Unfall verletzten Ge¬ lenk lokalisiren, wie es in meinem oben berichteten Fall II stattfand; hier muss meines Erachtens aus der Lokalisation des rheumatischen Prozesses in dem betroffenen Gelenk auf den ursächlichen Zusammenhang geschlossen werden. Ein wichtiges Moment bei der Beurtheilung dieser Fälle bietet endlich auch noch die Zeitfolge zwischen Gelenk¬ trauma und sich anschliessendem polyartikulären Rheumatismus. Je kürzer diese Zeit, desto wahrscheinlicher scheint mir der Kausalnexus, je länger, desto unwahrscheinlicher. Lebensversicherung und Ohr. Von Dr. Felix Peitesohn. Unter den Fragen, welche unsere Lebensversicherungs¬ anstalten den zu Versichernden vorlegen, befinden sich ge¬ wöhnlich auch solche über den Zustand des Ohrs und der Hör¬ fähigkeit. Der betreffende Antragsteller giebt dann, selbstver¬ ständlich nach bestem Wissen, darüber Auskunft, ob er jemals Ohrensohmerzen oder Ohrenlaufen gehabt hat und ob er schwer¬ hörig ist oder sich eines guten Gehörs erfreut. Nun weiss aber jeder einigermassen beschäftigte Ohren¬ arzt, wie wenig genau die meisten Menschen über die Schärfe ihres Gehörs unterrichtet sind, und wie unbestimmt für gewöhn¬ lich die Angaben der Patienten und ihrer Umgebung über etwa vorangegangene Affektionen der Ohren lauten. Unter den 6—800 ohrenkranken Kindern, die ich im Laufe eines Jahres in Dr. Neumann’s Kinderpoliklinik zu sehen Gelegenheit habe, wissen die Mütter in den seltensten Fällen sich auf vorangegangene Erkrankungen des Gehörorgans ihrer Kinder zu besinnen, obgleich doch nach Lage der Dinge nur wenige Jahre darüber vergangen sein können. Um wie viel weniger wird also ein Erwachsener über Krankheiten seines Ohrs in seiner Jugendzeit zu berichten wissen. Eine Schwerhörigkeit auf beiden Seiten, die aber die Möglichkeit gewährt, noch Flüstersprache in einer Entfernung von 2—3 Meter deutlich zu verstehen, wird für gewöhnlich gar nicht als eine solche empfunden und deswegen auch nicht beim Examen erwähnt. Ebensowenig fühlen sich die meisten Menschen belästigt, wenn sie auf einer Seite geflüsterte Worte nur noch in 1 Meter Entfernung deutlich verstehen, dafür aber volle Hörschärfe auf dem andern besitzen. In einem solchen Falle dürfte der Antragsteller auch nicht von selbst angeben, dass sein Hörvermögen herabgemindert sei. Hat der Betreffende dagegen in der Behandlung eines Ohrenarztes gestanden, so wird er nach der üblichen PraxiB aufgefordert, ein Attest über den Charakter der damals behan¬ delten Krankheit zu bringen. Doch verbürgt dieses, wie es scheint, allgemein übliche Verfahren keinerlei Sicherheit für die Gesellschaft, da über den augenblicklichen Zustand des Gehörorgans darin Nichts gesagt zu werden braucht. Um also zu einer Gewissheit über den wahren Zustand des Gehörorgans des Antragstellers zu gelangen, müsste der Vertrauensarzt zu Ohrtrichter und Spiegel greifen, um sich ein genaues Bild von dem Zustande der Trommelfelle zu verschaffen und eine Gehörprüfung jedes einzelnen Ohres vornehmen, um sich über die Hörschärfe des zu Versichernden zu orientiren. Der grösste Theil unserer Aerzte, also auch der Vertrauens¬ ärzte, ist aber gar nicht im Stande, sich ein Urtheil über die Erkrankungen des Gehörorgans durch eigene Anschauung und Prüfung zu verschaffen. Selbst die Geübteren unter ihnen, werden nur unsicheren Aufschluss darüber zu geben im Stande sein, ob z. B. im Gehörgang vorhandene flüssige Massen von schlechtem Geruch aus dem Mittelohr stammen und das Produkt einer chronischen Eiterung sind oder ob sie nur von der Reizung und Entzündung der Gehörgangshaut herrühren, Digitized by Google 15. Juni 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 237 die vielleicht dem Eindringen von schmutzigem Badewasser, dem Eingiessen von ranzigem Oel und dem zufälligen Vor¬ handensein von Pilzen ihr Dasein verdankt. Eher dürfte sich der Vertrauensarzt noch ein sicheres Urtbeil über die Hörfähigkeit des zu Untersuchenden bilden. Allein auch hierbei sind bei einem Ungeübten grosse Irrthümer möglich, denn wenn auch das Postulat der technischen Vor¬ bildung dabei fortfällt, so erfordert eine Hörprüfung lege artis eine eingehende Kenntniss der Methoden, ein Verständnis für den Hörwerth der bei der Prüfung verwandten Worte, eine Schulung in der absolut gleichmässigen Stärke der Flüster¬ stimme und Einiges mehr. Wie wenig Verständnis und Sachkenntniss aber auch selbst für diesen verhältnismässig einfachen Theil der Untersuchung bei den Aerzten, selbst bei den beamteten, vorhanden ist, geht aus dem hochinteressanten Artikel Kör ne rV) hervor, in dem er über das von ihm eingeholte Gutachten des Rechtslehrers Professor L. Oppenheim „Ueber fahrlässige Behandlung und fahrlässige Begutachtung von Ohrenkranken“ berichtet und sich für die Nöthwendigkeit eines Examens in der Ohrenheil¬ kunde ausspricht. In diesem Artikel wird unter Anderem aktenmässig das traurige Schicksal eines Unfallverletzten ge¬ schildert, der nicht zu seinem guten Rechte kommen kann, weil die ihn begutachtenden Aerzte, darunter ein kgl. Kreis- physikus, nicht einmal mit den Elementen der Ohruntersuchung vertraut sind. Hierher gehören auch in gewissem Sinne die scheinbar so sonderbaren Differenzen bei der Statistik von Schwer¬ hörigkeit in der Schule: Als das preussische Kultusministe¬ rium eine Erhebung über die Schwerhörigkeit in den Schulen an¬ ordnete, und die bezüglichen Aufnahmen von Lehrern ohne Zu¬ ziehung von Ohrenärzten gemacht wurden, ergab sich nur in 2,1 Prozent Schwerhörigkeit, während die Untersuchungen von Bezold, Weil u. A. in ca. 26 Prozent Hörstörungen fest¬ stellen. Aus welchen Gründen hat nun aber eine Lebensversicherungs¬ gesellschaft bezw. ein zu Versichernder ein Interesse daran, dass bei der Aufnahme eine sachgemässe Feststellung des Zustandes seines Gehörorgans stattfinde? Der Gesellschaft muss daran gelegen sein, dass nicht eine etwaige Erkrankung des Ohres übersehen wird, die zu einer Verkürzung der Lebensdauer des Antragstellers führen kann. Dem Antragsteller wird es darum zu thun sein, dass er nicht etwa abgewiesen oder zur Zahlung einer erhöhten Prämie angehalten wird, wo es sich garnicht um Erkrankungen handelt, die zu einem frühzeitigen Lebensende des Betreffenden Veranlassung geben können. Die bisher gütigen Normen für die definitive bezw. zeit¬ liche Zurückweisung eines Antragstellers haben nun aber durch die grossen Fortschritte, welche die Ohrenheilkunde nament¬ lich nach der therapeutischen Seite im letzten Dezennium gemacht hat, einen erheblichen Stoss erfahren. Es erscheint daher wichtig, über diese eingetretenen Veränderungen in den Anschauungen der Ohrenheilkunde zu berichten und die sich daraus für die Lebensversicherung ergebenden Konsequenzen festzustellen. Von den Ohrleiden, die zu einer erheblichen Verkürzung der Lebensdauer eines Menschen führen können, galt bisher die chronische Eiterung des Mittelohres als das bedenk¬ lichste und veranlasste stets eine definitive Zurückweisung des Antragstellers. Eine solche chronische Eiterung des Mittel¬ ohres kann in der That durch Uebergreifen auf die harte oder weiche Hirnhaut zu Entzündungen derselben führen, *) Zeitschr. f. Ohrenheilk. Bd. XXXV. kann Abscesse des Gehirns hervorrufen, durch Ver¬ stopfungen der grossen Blutleiter des Gehirnes zu allgemeiner Pyaemie Veranlassung geben und damit einen frühzeitigen Tod herbeiführen. Ist neben der Eiterung eine Fistel des Warzenfortsatzes vorhanden oder ist in Folge der Eiterung eine einseitige Gesichtslähmung eingetreten, so wird die Gefahr einer Verkürzung der Lebensdauer noch erhöht. Dieselbe grosse Gefahr ist ferner vorhanden, wenn etwa Exostosen des äusseren Gehörganges existiren, welche den Abfluss des Eiters nach aussen erschweren. Fand man also stinkenden Eiter im Gehörgange und sah man nach Entfernung desselben eine oder mehrere Per¬ forationen des Trommelfelles, erschien die Schleimhaut der Paukenhöhle geröthet, geschwollen oder mit Eiter bedeckt, waren daneben vielleicht noch Polypen vorhanden, die bis in den Gehörgang hineinragten, so wurde der Antragsteller mit seinem Anträge auf Lebensversicherung unweigerlich abge¬ wiesen. Heutzutage wäre eine solche definitive Zurückweisung unberechtigt und eine ungerechte Härte gegen den zu Ver¬ sichernden. Man ist jetzt in nicht zu ungünstigen Fäüen sehr wohl imstande, durch die sogenannte Radikaloperation eine radikale Heilung der chronischen Ohreneiterung zu Wege zu bringen. Das Wesentliche der genannten Operation besteht darin, die eiternde Paukenhöhle, den darüber gelegenen Kuppel¬ raum und die dahinter und seitlich gelegene Höhle im Warzen¬ fortsatz zu einem gemeinschaftlichen Raume zu vereinigen und die Oberfläche desselben zur Epidermisirung zu bringen. Giebt man also im Falle einer chronischen Paukenhöhlen¬ eiterung mit Betheiligung der Nebenhöhlen dem Antragsteller den Rath — anstatt wie früher, ihn abzuweisen, sich einer solchen Operation zu unterziehen, und ist das gewünschte Resultat der Operation, worüber bisweilen nur ein Jahr zu ver¬ gehen braucht, eingetreten, so wird ein solcher geheilter Pa¬ tient ganz ohne Bedenken von jeder Lebensversicherungs¬ gesellschaft aufgenommen werden können. Fernerhin unterscheidet und kennt die moderne Ohren¬ heilkunde sehr genau eine gewisse Form der chronischen Ohren¬ eiterung, in welcher einzig und allein die Schleimhaut des Mittelohres erkrankt sein kann. Dabei findet sich meist eine mehr oder minder grosse Perforation des Trommelfelles vor, die in dem unteren Theil des Trommelfelles, sehr günstig für den Abfluss der abgesonderten Eitermengen gelegen ist. Die Nebenhöhlen des Ohres sowie die Gehörknöchelchen sind dabei ganz intakt geblieben. In diesen besonderen Fäüen, die das kundige Auge des Ohrenarztes häufig als solche sofort zu erkennen im Stande ist, genügt eine vorsichtige Spülung der Trommelhöhle mit desinfizirenden Lösungen (Aqua Chlori: Aq. destill. 4,0) oder eine Formalinlösung (1:1000) etc., um in überraschend kurzer Zeit die bisweilen seit vielen Jahren eiternde Paukenhöhle zur Heüung zu bringen. Die Schleimhaut des Mittelohres schwillt ab, verliert ihre hochrothe Farbe und wird knochengelb, die Eiterung versiegt vollkommen, kurzum man sieht durch die Perforation auf die nunmehr normal aussehende Paukenhöhle. In früheren Zeiten pflegte man sich bei einem solchen therapeutischen Erfolge zu beruhigen. Heutzutage jedoch kann man sehr wohl daran denken, auch noch die im Trommelfell vorhandene Perforation zum narbigen Verschluss zu bringen. Nach dem Vorgänge des russischen Arztes Okuneff kann man unter vorsichtiger Anwendung von Trichloressigsäure den Epidermisüberzug des Randes an alten Perforationen zum Schmel¬ zen bringen. Unter dem Reize dieser Aetzungen, die in Zwischen¬ räumen von 8 bis 14 Tagen vorgenommen werden sollen, können sich dicke, feste Narben bilden. Durch die Bildung Digitized by Google 238 Aerztliohe Sachverst&ndigen-Zeitung. No. 12. solcher fester Narben werden diejenigen Gefahren erfolgreich beseitigt, die sonst bei Durchlöcherungen des Trommelfelles vorhanden sind, nämlich Eindringen von reizenden Substanzen, Flüssigkeiten ins Mittelohr vom Gehör gange aus und leichtere Infektion des Mittelohres von der Tube aus in Folge der ver¬ änderten Luftdruckverhältnisse im Mittelohr. Hat sich also eine feste grosse Narbe gebildet, so steht der Aufnahme des Betreffenden in die Lebensversicherung zu den üblichen Be¬ dingungen sicher Nichts im Wege. 1 ) Hat sich jedoch unter Anwendung von Trichloressigsäure gar keine oder nur eine sehr dünne, kleine Narbe gebildet, so würde der von seiner Eiterung geheilte Patient mit einer erhöhten Prämie aufgenommen werden können. Kleine, dünne Narben können nämlich beim Schnauben, bei Backpfeifen, Kuss aufs Ohr, Detonation in der Nähe des Ohres leicht zer- reissen, und bleibende Perforationen bieten, wie oben gesagt, ja immer eine gewisse Gefahr für das Mittelohr. Die chroni¬ schen Eiterungen des Ohres würden also unter den soeben auseinander gesetzten Bedingungen aus der Reihe derjenigen Krankheiten ausscheiden, die bisher immer zur definitiven Zurückweisung des zu Versichernden geführt haben. Es bleiben also nur noch übrig alle bösartigen Ge¬ schwülste des Mittelohres, des äusseren Gehörganges und der Ohrmuschel. Hierher gehört auch der Lupus der Ohrmuschel und des äusseren Gehörganges, nicht wegen einer unmittelbaren Ge¬ fahr für das Leben, sondern weil erfahrungsgemäss Lupuskranke nur eine beschränkte Lebensdauer haben. Ich würde ferner zur unbedingten Abweisung rathen, sobald ein Antrag¬ steller an dem sogen. Meniöre’schen Symptomenkomplex leidet oder gelitten hat und man sicher die Möglichkeit aus- schliessen kann, dass diese Symptome von einer Erkrankung des Mittelohres herrühren. Obgleich die Aetiologie dieser Krank¬ heit nicht klar ist, so hat man sie doch mit Tabes,Leukae- mie, Syphilis, Gicht und Rheumatismus in Verbindung gebracht, also mit Krankheiten, die Grund genug zu einer Ab¬ kürzung der Lebensdauer geben. Die letztere kann aber auch ein frühzeitiges Ende finden, wenn der Betreffende in einer Attaque, wie das häufig ist, plötzlich hinstürzt und sich lebensgefährlich verletzt. Damit wäre die Reihe derjenigen Krankheiten geschlossen, die zu einer unbedingten Abweisung des Antragstellers führen müssen. Zu einer Aufnahme mit erhöhter Prämie muss man rathen, wenn es sich um eine geheilte Eiterung des Mittelohres handelt mit persistenter Perforation oder kleiner, dünner, leicht zerreisslicher Narbe. Als unbedenklich bei der Aufnahme können gelten: Alle Missbildungen der Ohrmuschel und des äusseren Gehör¬ ganges mit Einschluss der angeborenen Atresie desselben, ferner alle akuten Entzündungen, sowie die Furunkeln des äusseren Gehörganges. Hierher gehören ferner die Exostosen und Verengerungen des äusseren Gehörganges, wenn keine Eiterung besteht und alle auf Sklerose des Mittelohres oder Lokalisation im Labyrinth zu beziehenden Hörstörungen. Auch die akute Entzündung des Mittelohres kann als vollkommen unbedenklich gelten. Nur wird man selbst nach vollkommener Restitution des Gehörs, Wiederkehr aller Kontouren des Trommelfelles und absoluter Schmerzfreiheit noch einige Monate verstreichen lassen müssen, da die ! ) Vergl. Peltesohn. Ueber eine neue, einfache Methode, persistente Perforationen des Trommesfelles zum Verschluss zu bringen. Berlin. Klin. Wochenschr. 1899. No. 16. neuesten Erfahrungen 1 ) lehren, dass namentlich bei einer auf Invasion von Pneumococcen beruhenden Entzündung des Mittelohres noch längereZeit nach vollkommenerHeilung des Mittelohres Abscesse im Warzenfortsatz und an der Dura mater auftreten können. Wir waren in dem Obigen bemüht, auseinander zu setzen, welche neuen Grundsätze in der Beurtheilung von Ohrenkrank¬ heiten bei der Aufnahme in eine Lebensversicherung zu gelten haben und hoffen, dass die Versicherungsgesellschaften, ihre Vertrauensärzte und die zu versichernden Personen sich die¬ selben zu eigen machen und danach handeln werden. Referate. Allgemeines. Die Vergiftungen in Betrieben und das Unfall- versichernngsgesetz. Von Prof. Dr. L. Löwin. (Deutsche Med. Wochenschr. 1900, No. 20.) Der Verf. macht in geistvoller Weise darauf aufmerksam, welche Schwierigkeiten sich darbieten die Vergiftungen bezw. die dadurch verursachten Erkrankungen unter die Wirksamkeit des Unfallversicherungsgesetzes zu bringen. Er erinnert an die Auffassung des Reichsgerichts (Entsch. des Reichs¬ gerichts in Civilsachen, Bd. XXI, S. 77, Urtheil v. 6. Juli 1888): „Unter „Unfall bei dem Betriebe“ im Sinne des Unfallver¬ sicherungsgesetzes ist schon nach dem Wortsinne ein mit dem Betriebe in Zusammenhang stehendes „zeitlich bestimmtes Ereigniss“ zu verstehen, welches in seinen möglicherweise erst allmählich hervortretenden Folgen den Tod oder die Körperverletzung des Versicherten verursacht hat. Keine Be¬ stimmung des Gesetzes lässt erkennen, dass das Wort „Un¬ fall“ in einem weiteren Sinne aufzufassen, insbesondere auch eine Reihe nicht auf bestimmte Ereignisse zurück¬ zuführender Einwirkungen, welche in ihrem Zu¬ sammentreffen allmählich zum Tode oder zur Körper¬ verletzung führen, als Unfall im Sinne des Gesetzes anzusehen ist.“ — Verf. meint, dass es doch zu bedenken sei, dass es gewisse Begriffe giebt, deren Definition sich mit Sicher¬ heit nur dann geben lässt, wenn die Induktion das wesentliche Material dafür liefert; und die Elemente für diese Induktion könne nur das praktische Leben liefern d. h. die unendliche Fülle von möglichen Ereignissen, die sich aus der Wechsel¬ wirkung zwischen dem Menschen und den toten Objekten er¬ gebe. — L. macht nun darauf aufmerksam, dass das Reichs- versicherungsamtbei seiner Rechtsprechung in der Auffassun g eines Unfalles von dem „Plötzlichen“ in der Zeitausdehnung mehrfach abgesehen hat, und dass es auch einen Unfall an¬ erkannt hat, wenn die Dauer eines „zeitlich bestimmten Er¬ eignisses“ eine ganz beträchtliche war und von der Plötzlich¬ keit weit ablag. Es wurde ein Betriebsunfall anerkannt, wenn der betreffende Vorgang in einer oder mehreren Stunden oder sogar in einer Arbeitsschicht von circa sechs Stunden aus einer zusammenhängenden Reihe von gleichartigen oder un¬ gleichartigen schädigenden Einwirkungen bestand. — Nun giebt es aber in den „Giftbetrieben“ chronische Vergiftungen, und der Verf. will in seinen Schriften (Untersuchungen über die kumulative Wirkung der Gifte. Deutsche Med. Wochenschr. 1899, No. 43) den Nachweis geführt haben, „dass der Prozess der chronischen Vergiftung sich aus einzelnen Unfällen zu¬ sammensetzt, von denen jeder sich in den Rahmen des Un- *) Leutert. Baktoriolog. — Klinische Studien über Kompli¬ kationen akuter und chronischer Eiterungen. Arch. f. Ohrenheilk, 47. Bd. S. 54. Digitized by LjOOQie 15. Juni 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 239 fallversicherungsgesetzes einfügt.“ „Die landläufige Auf¬ fassung sieht in dem Zustandekommen des Endresultates die Folge einer kontinuirlichen Einwirkung des Giftes, während ich dieselbe von gehäuften Unfällen ableite, von denen jeder einzelne eine erhöhte Disposition für eine energischere Ein¬ wirkung eines zweiten und folgenden schafft.“ Das Kriterium des Unfalles könne wissenschaftlich weder der terminalen Einwirkung beispielsweise eines Gases beim Einathmen, noch ihren Vorgängern bestritten werden. — Zum Beweise, dass die Schwierigkeit der Bestimmung der Zeit, welche für einen Betriebsunfall erfordert wird, zu Widersprüchen in der Rechtsprechung führen, erwähnt Verf. einzelne Rekurs-Entscheidungen des Reichs - Versicherungs¬ amtes, welche man jedoch wohl auch anders auffassen kann, als es seitens des Verfassers geschieht. Schliesslich erwähnt L. die Entscheidungen des Reichs- Versicherungsamtes über Seeunfälle, und dass die oberste In¬ stanz in Unfallversicherungssachen es ausgesprochen hat, dass der Kreis der entschädigungspflichtigen Betriebsunfälle bei der Zwangslage, in welcher sich die Schiffsbesatzung während der Fahrt befinde, für die Seeunfallversicherung möglichst weit zu ziehen sei. L. hält diese Ausnahmestellung der Seeunfälle für durchaus berechtigt, verlangt eine ebensolche Ausnahme¬ stellung aber auch für die „Giftbetriebe“. „Der Ausnahmestellung, welche die Gifte unter den gewerblichen Schädlichkeiten einnehmen, müsse auch entweder eine weitere Auslegungsmöglichkeit der bestehenden Gesetze oder eine besondere ge¬ setzliche Berücksichtigung entsprechen.“ B. Chirurgie. Zur Kasuistik der Sehnenzerreissungen. Von Dr. Oskar Vulpius-Heidelberg. (Münch. Med.-Woch. 1900. No. 17.) Sieben Fälle, von denen vier ein besonderes Interesse be¬ anspruchen. Zweimal war die lange Sehne des zweiköpfigen Armbeugers zerrissen. Das Bild dieser Verletzung ist sehr bezeichnend. Wenn der Arm schlaff herunterhängt, sieht man oberhalb des Muskelbauchs des Biceps eine Stelle, die am anderen Arm fehlt; wenn dagegen der Arm aktiv kräftig ge¬ beugt wird, nimmt der Muskel eine eigentümlich gewundene, wurmförmige Gestalt an. Seltsamer Weise ist bei dem eineu dieser Verletzten, einem alten Manne, der Riss ohne bekannte Ursache und mit geringen Beschwerden entstanden und hat keine dauernde Störung in der Bewegungsfähigkeit hinterlassen. Der breite Rückenmuskel (latissimus dorsi), zerriss bei einem 32jährigen Manne in dem Augenblick, wo er gleich¬ zeitig passiv gedehnt und aktiv kräftig zusammengezogen wurde. Der Betreffende wollte nämlich eine Turnübung am Barren machen, bei der er sich mit vorgestreckten Armen aufstützen und gleichzeitig hochschwingen musste. In diesem Augenblick verspürte er einen Krach, als ob das Hemd zerreisse und dann einen mässigen Schmerz. Verfasser sah ihn drei Wochen später und stellte fest, dass beim Versuche, den Muskel zusammen¬ zuziehen, ein weit nach hinten rückender, kugeliger Wulst sich bildete, und die hintere Wand der Achselhöhle eine auffallende Lücke zeigte. Am meisten Nachdruck legt Verfasser auf folgenden Fall von beiderseitiger Abreissung der Strecksehne des Oberschenkels: Ein alter Fuhrmann, der gewohnt war, bis vor einigen Jahren täglich seine 10 bis 20 Stunden neben dem Lastwagen ein¬ herzuschreiten, hat vor fünf Jahren bei einem Fehltritt auf einer kleinen Treppe ein Krachen im Kniegelenk verspürt, und ist danach zusammengebrochen. Nach einigen Wochen konnte er wieder anfangen zu gehen und brachte es so weit, dass er etwa sechs Stunden am Tage wieder laufen und auch schwere Kisten heben konnte, wenn er auch etwas hinkte. 1897, als er wieder einmal einen langen Marsch hinter sich hatte, stürzte er bei ruhigem Gehen auf ebenem Boden plötzlich zusammen. Diesmal schwoll das linke Kniegelenk an. Der kurz nachher zu Rathe gezogene Verfasser fand an dem abgemagerten, rechten Bein die Kniescheibe mit ihrem oberen Rand auf¬ fallend vorstehend, über ihr eine tiefe Furche, auf deren Grunde man den Oberschenkelknochen durchfühlen konnte. Die Streck¬ ung des Unterschenkels gelang bis zu 150 Grad; hierbei sprangen beiderseits dicke Fascienstränge mächtig vor, während man den abgerissenen, unteren Rand des Streckmuskels drei Finger breit über der Kniescheibe fühlte. Wurde das Kniegelenk gebeugt, so sah man durch die Haut die Umrisse der Roll¬ hügel und der dazwischen liegenden Grube und die Kniescheibe rückte tief nach unten. Das linke Kniegelenk war stark ge¬ schwollen; auch hier konnte man fühlen, dass dicht an der Kniescheibe der Streckmuskel abgerissen war, doch wich er bei gestreckter Stellung nur einen Centimeter weit, bei gebeugter drei Centimeter weit, zurück. Aktive Streckung war unmöglich. Links wurde ein blutiger Eingriff vorgenommen, der in der Annäherung der Strecksehne an die Knochenhaut der Knie¬ scheibe bestand. Der Erfolg war gut, der Verletzte trug nur kurze Zeit einen Gypsverband und dann einen Schienenhülsen¬ apparat, bald konnte er ohne jeden Apparat wieder gehen und seine Berufsgeschäfte erledigen. Die Erklärung dafür, dass ohne jede Gewalt-Einwirkung die schwere Verletzung beiderseits entstehen konnte, ist in einer fettigen Entartung der Sehne gegeben, die sich schon bei der Operation durch die gelbe Verfärbung derselben offen¬ barte und nachträglich durch mikroskopische Untersuchung eines ausgeschnittenen Stückchens bestätigt wurde. Vielleicht ist an dieser krankhaften Veränderung die kolossale Arbeits¬ leistung schuld, die der Mann so viele Jahre seinen Beinen zugemuthet hat. Zu erkennen sind solche Verletzungen bei den sehr be¬ zeichnenden sicht-und fühlbaren Veränderungen, die sie schaffen, leicht. Was für Folgen sie haben, das hängt von der Aus¬ dehnung des Risses ab. Wenn der sogenannte Reserve-Streck¬ apparat, — die sehnigen Stränge, die von den seitlichen An- theilen des Streckmuskels zur Kniescheibe und zur Kapsel des Kniegelenks ziehen —, nicht mit verletzt ist, dann kann der Unfall verhältnissmässig geringe Folgen haben. Anders, wenn die seitlichen Theile der Kapsel mit durchgerissen sind, dann kann nur ein, mit Gummibändern, die einen künstlichen Streck¬ muskel bilden, versehener Schienenhülsenapparat oder besser noch die blutige Naht der zerrissenen Sehne helfen. Die Er¬ folge der letzteren, die mit Catgut, Känguruhsehnen oder Silber¬ draht ausgeführt wird, sind recht günstig, wenn auch freilich weder die Streckung noch die Beugung immer ganz vollkom¬ men wird. Es ist auffallend, dass auch im vorliegenden Falle, trotz der Gewebsentartung der Dauererfolg so gut war. Immer¬ hin ist die Gefahr eines Wiedereinrisses noch keineswegs überwunden. Gewissermassen als Anhang wird ein Fall beschrieben, in dem das untere Ende der Kniestrecksehne, das Kniesoheiben¬ band, allerdings mit einem Stück vom Unterschenkelknochen, abgerissen war. Es handelte sich um eine 51 jährige Frau, die im Zimmer hingefallen war. Der Befund bot keine Be¬ sonderheiten. Als es auf andere Weise nicht gelang, eine Besserung zu erzielen, wurde die Stelle der Verletzung opera¬ tiv freigelegt und es fand sich, dass das obere Ende des Schien¬ beins durch eine ganz weiche Geschwulst von innen her aus- Digitized by Google 240 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 12. gefüllt war. Nach Auslöffelung der Qeschwulstmassen, die sich als ein Riesenzellsarcom vom Knochenmark aus erwiesen, stellte sich überraschender Weise ohne Knochennaht die Be¬ wegungsfähigkeit des Beins in fast normaler Weise wieder her. Doppelseitige Rnptur der Qnadricepssehne. Von Dr. Julius Flesch-Wiener. (Alls. Wien. med. Ztg. 1900 No. 8.) Ein 64 jähriger Mann giebt an, vor fünf Jahren durch einen Fall eine Verletzung am linken Bein erlitten zu haben, bei der die Kniescheibe hoch nach oben gerutscht sei und sich ein mächtiger Bluterguss unter der Haut gebildet habe. Damals wurde er mit Kälte und Ruhelage behandelt. Zur Zeit fühlt man die Kniescheibe an richtiger Stelle und nur das Kniescheibenband verdickt, doch kann der Mann das linke Knie aktiv nur bis 150° strecken und ist ohne Stock beim Gehen unsicher. Neuerdings ist er auf der Strasse ausgeglitten und kam mit gespreiztem und im Kniegelenk gebeugtem rechtem Bein zu Falle. Ohne Schmerzen konnte er mit seinem Stock noch ein Stück gehen. Die Untersuchung ergab, dass oberhalb der sehr beweglichen Kniescheibe rechts die tastende Hand des Untersuchers in eine Grube gerieth, auf deren Grunde der Knochen unmittelbar unter der Haut zu fühlen war. Die Grube war theilweise mit Flüssigkeit (Blut) ausgefüllt, darüber fühlte man den wulstig verdickten, etwas schmerzhaften Mus¬ kel. Also war jetzt der Strecker des rechten Beins, diesmal oberhalb der Kniescheibe, zerrissen. Die Heilung erfolgte unter Ruhigstellung des Beins und Anlegung von Heftpflasterstreifen, durch welche die Rissenden einander möglichst genähert wurden, in einigen Wochen so¬ weit, dass die RisBstelle durch eine Muskelschwiele ausge¬ füllt und die aktive Streckung des Beins bereits eben mög¬ lich war. Verf. ist geneigt, die leichte Zerreissbarkeit der Muskeln bezw. Sehnen in diesem Falle auf eine ungewöhnliche Härte und Festigkeit der sehr massiven Knochen zurückzuführen die sonst zu brechen pflegen, ehe die Muskeln und Sehnen zerreissen. lieber Muskel- und Sehnenrisse im Biceps. Von Oberarzt Dr. Ernst Pagenstecher-Wiesbadon. Münch. Med. Woch. 1900. No. 17. Die Arbeit betrifft nur die praktisch recht wichtigen Ein- und Abrisse des langen Biceps-Kopfes. Dieselben sind scharf gekennzeichnet: Während normaler Weise der Wulst des Bi¬ ceps von dem des Delta-Muskels nur durch eine seichte Furche getrennt ist, entsteht nach Abreissung des langen Kopfes bei jeder Beugung eine tiefe Grube unter dem Delta-Muskel, unter¬ halb deren ein Muskelwulst vorspringt. Bei erschlafftem Arm kann man durch massirende Bewegungen die Muskelmasse so weit nach oben schieben, dass der Arm wieder das Aussehen des gesunden hat. Dies gelingt aber, wenn die Verletzung einige Zeit her ist, nicht mehr. Da der Muskel einschrumpft, tritt auch der Kontraktionswulst dann weniger hervor. Immer¬ hin ist noch nach Jahren die Grube zwischen den beiden Mus¬ keln deutlich erkennbar. Seltener als diese Erscheinung tritt eine andere bemer¬ kenswerte Folge der Abreissung ein. Da nämlich die Sehne des langen Kopfes durch das Schultergelenk über den Kopf des Oberarmknochens hinwegzieht, und auf diese Weise die Festigkeit des Gelenks verstärkt, kann durch den Ausfall die¬ ser Sehnenspannung das Gelenk gelockert, subluxirt, werden. Der Oberarmkopf legt sich dann nicht mehr so genau der Pfanne an, er rückt etwas nach oben, dicht unter das Schulter¬ dach. Die Folge davon ist, dass einerseits unpassende Kno¬ chenflächen aufeinander zu schleifen kommen, andererseits die Hebung des Oberarmes eine vorzeitige Hemmung durch das Anstossen des Knochens an die Schulterhöhe erfährt. Eine schleichende chronische Entzündung kann die Folge davon sein. Das soeben geschilderte Verhalten beobachtete Verf. bei einem 67jährigen Manne, welcher dadurch einen Unfall erlitt, dass ein von ihm am Stricke geführtes Kalb plötzlich sehr heftig anzog. In diesem Augenblick fühlte er einen höchst heftigen Schmerz und der Arm fiel kraftlos herab. In der Folgezeit traten die Erscheinungen einer schmerzhaften Hemmung im Schultergelenk so in den Vordergrund, dass in mehreren Kliniken nur eine chronische Gelenkentzündung, wie sie bei alten Leuten häufig vorkommt, angenommen wurde. Verfasser machte eine Rönt¬ genaufnahme und fand den Kopf des Oberarmes in der vor¬ hin beschriebenen Weise aufwärts gerückt. Die Erklärung für das ganze Krankheitsbild bot sich ihm erst, als er die Kenn¬ zeichen des alten Bicepsrisses entdeckte. [Es ist ganz bemerkenswert, dass hier, wie in dem genau beschriebenen Vulpius’schen Falle von Zerreissung der Ober¬ schenkelsehne, die Verletzung im Greisenalter erfolgte.] Bei oberflächlichem Zusehen könnte gelegentlich ein Muskelriss mit einem einfachen Bluterguss oder einer Muskel¬ hernie verwechselt werden. Dies ist aber leicht zu vermeiden. Ein Bluterguss bildet eine Vorwölbung, die sich bei erschlaff¬ tem Muskel ebenso wie bei angespanntem anfühlt, und neben der der normale Umriss des Muskels fühlbar ist. Als Muskel¬ hernie bezeichnet man bekanntlich das Sichvordrängen von Muskelmasse durch einen Riss in der bindegewebigen Hülle des Muskels. Sie bildet einen richtigen umschriebenen Wulst, über dem bei Zusammenziehung des Muskels keineswegs eine Grube entsteht. Uebrigens glaubt Verfasser nicht, dass beim Biceps, der keine sehr straff gespannte Fascie hat, Hernien bisher beobachtet worden sind. Was die Behandlung betrifft, so erfordern mässige Ein¬ risse kaum einen Eingriff, da sie auffallend wenig Bewegungs¬ störungen veranlassen. Bei völligem Abreissen der Sehne wird man die Muskelnaht vorschlagen, worauf allerdings nach des Verfassers Erfahrungen die Kranken selten eingehen. Rente in zwei Fällen von Zerreissung des Biceps. Von San.-Rath Dr. Kornfeld-Grottkau. (Mod. f. Unf. 1899, No, 11.) Der erste Fall betrifft einen Landmann, dem von früher her schon die rechte Hand fehlt. Er behauptet, durch einen sinnreich ersonnenen Apparat, den er trägt, zwei Drittel der früheren Arbeitsfähigkeit wiedergewonnen zu haben. Nun hat er neuerdings noch eine Quetschung des linken Oberarmes erlitten, die nicht näher beschrieben wird. Seitdem, so be¬ hauptet er, schläft ihm bei anstrengender Arbeit der linke Arm ein, soda8s er Pausen machen muss. Unmittelbar nach der Verletzung soll nach Aussage des erstbehandelnden Arztes im unteren Theil des Biceps die Muskelbinde eingerissen und ein kartoffelgrosser Wulst Muskelgewebe herausgetreten sein, gleichzeitig aber sei B jedenfalls* Muskelgewebe zerrissen, Blut ausgetreten und eine Reizung kleiner Nervenzweige er¬ folgt. Gegenwärtig fühlt sich der linke Biceps am Uebergang in seine Sehne narbenähnlich hart an. Es lässt sich ein kleiner wurstartiger Strang nach innen von der Sehne ab¬ grenzen, der mit dieser abwärts zieht. Druck an dieser Stelle ist schmerzhaft. Nach der Beschreibung hat es sich aller Wahrscheinlich¬ keit nach hier nicht um eine Muskelhernie, wie sie der erste Arzt annahm, sondern um eine reine Muskelzerreissung ge¬ handelt. Verfasser berührt übrigens diese Frage garnicht. Digitized by Google 15. Juni 1900. Aerztliche Sachverst&ndigen-Zeitung. 241 Die Rentenberechnung ist etwas verwickelt. Bekanntlich entschädigen die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften nicht nach dem tatsächlichen, sondern nach dem durchschnitt¬ lichen Arbeitsverdienst. Nun müsste man aber im vorliegen¬ den Falle, d. h. beim Fehlen der rechten Hand annehmen, dass der Untersuchte bereits vor dem Unfall — nach der ständigen Rechtsprechung des R. V. A. — höchstens 40 Prozent, und wenn man es selbst für glaubwürdig hält, dass er besser als Andere verstanden hat, den Verlust der Hand auszu¬ gleichen, jedenfalls nicht mehr als 60 Prozent der Durch¬ schnittserwerbsfähigkeit hatte. Von diesen 60 Prozent dürfte er ein Viertel durch die Bicepszerreissung eingebüsst haben. Es ist ihm also eine Rente von 75 Prozent zuzuerkennen. Das Schiedsgericht entschied demgemäss. Viel schwerer war die Verletzung im zweiten Falle. Hier war der betr. Arbeiter mit dem rechten Arm in die Welle einer Dreschmaschine gerathen. Der zuerst zugezogene Arzt hatte eine partielle Muskelzerreissung und Fehlen des Pulses am rechten Vorderarm gefunden. Wie weit die Bewegung der einzelnen Muskelgruppen gestört war und die Hautempfin- duug fehlte, ist aus dem recht summarischen Bericht nicht zu ersehen. Es ist nur beiläufig bemerkt, dass die Rückwärts¬ beugung der Haut aktiv unmöglich war, aber durch Elektrizität wieder hergestellt wurde, und dass das Gefühl am rechten Daumen fehlte. Der Verletzte konnte den Arm ein Vierteljahr garnicht brauchen und erst nach einem Jahre wieder etwas arbeiten. Während er dem ersten Arzte über Kriebeln und Taubsein in dem Arm geklagt hatte, spricht er jetzt, acht Jahre nach dem Unfall, nur noch von Kraftlosigkeit des Armes beim Heben aber nicht beim Zufassen, und davon, dass ihm bei festem Beugen im Ellbogengelenk der Arm einschläft und herabsinkt. Die Oberarmmuskulatur ist sehr schlaff, man sieht und fühlt den Biceps in zwei Theile, einen oberen und einen unteren getheilt, die durch einen zwei Querfinger breiten Zwischenraum getrennt sind. Der Oberarm ist im allgemeinen 2 cm, an einer Stelle 4 cm dünner als der der andern Seite, die Beugung ist unbehindert, doch zieht sich dabei nur der obere Theil des Biceps zusammen. Die Rente ist von 65 all¬ mählich auf 30 Prozent herabgesetzt worden. Es ist zu bedauern, dass dieser vielseitig interessante Fall, bei dem anscheinend eine Muskel-, Nerven- und Gefäss- verletzung mit auffallend günstigem Ausgange vorhanden war, nicht noch eingehender geschildert wird. Ueber traumatische Knochen-Neubildungen im Muscnlus qnadriceps femoris und Muscnlus temporalis. Von Johannes Petzold. (I.-D., Leipzig 1899.) Verf. beginnt mit einer Uebersicht der bisher beobachteten seltenen Knochenbildungen im Streckmuskel des Knies. In dem neuen Fall, den er mittheilt, handelte es sich um einen Primaner, der sich beim Bockspringen heftig an die Vorder¬ fläche des linken Oberschenkels gestossen hatte. Nach ge¬ ringen anfänglichen Beschwerden verlor er allmählich die Beugefähigkeit des Beins. Zwei Monate nach der Verletzung wurde im unteren Theil des grossen Streckmuskels eine wenig verschiebliche, knochenharte Masse gefühlt, in der man einen Auswuchs des Oberschenkelknochens vermuthete. Bei der Operation fand sich aber, dass es sich um eine Kuochen-Neu- bildung im Muskel selbst handelte, die denselben schwammig durchsetzte und von entzündlich infiltrirten Bindegewebsmassen umgeben war. Einzig dastehend in der Literatur ist der folgende Fall, bei dem die Knochenbildung an ganz ungewöhnlicher Stelle vor sich gegangen war. Ein junger Arbeiter glitt aus und fiel mit der linken Schläfe an eine Ziegelkante. Die anfänglich vorhandene Schramme heilte rasch. Acht Tage nach dem Unfall hatte der Verletzte mit einem Mal Schmerzen in der Schläfengegend und bekam die Zähne nicht mehr auseinander. Nach weiteren drei Wochen ergab die Untersuchung eine über bohnengrosse, knochenharte, anscheinend über dem Knochen verschiebliche Geschwulst im Schläfenmuskel. Sie war mit den Muskelfasern innig verbunden und sass der Knochenhaut auf. Leider ist grade bei diesem Fall das Präparat verloren gegangen und konnte nicht mikroskopisch untersucht werden. Die Muskelknochen bilden sich entweder durch oft wieder¬ holte massige Reize (Exerzir- und Reitknochen) oder nach einmaligen stärkeren Verletzungen. Da ihre Entstehung ver- hältnissmässig selten ist, muss man eine gewisse Veranlagung annehmen. Der Vorgang bei der Knochenbildung wird vom Verf. so auf gefasst, dass in der Folge der Verletzung der Muskel sich entzündet und aus dem hierbei entstehenden Bindegewebe theils mit, theils ohne vermittelnde Knorpelbil¬ dung echte Knochensubstanz hervorgeht. Der Arthromotor. Von Dr. Sch old er- Lausanne. (Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte No. 6, 1900.) Die bis jetzt für die mediko-mechanische Behandlung konstruirten Apparate sind fast durchwegs aktive, rein gym¬ nastische Apparate, bei deren Benutzung der Uebende die physiologische Bewegung mit voller Amplitude, die jeweilen in dem betreffenden Gelenke möglich ist, selber auszu führen hat. Verf. stellte sich die Aufgabe, eine Maschine zu kombi- niren, die für jedes Gelenk der Extremitäten sowohl aktiv als passiv verwendet werden kann, ferner es ermöglicht, dass die einzelne Bewegung in schonendster Weise für die Gelenke durch eine besondere Vorrichtung von der schwächsten in die stärkste, d. h. ausgiebigste Bewegung ganz allmählich übergeführt werden kann, dass die Bewegung in zu graduirender Weise, d. h. in kürzerem oder schnellerem Tempo ausgeführt werden kann, dass sowohl die aktiven als die Pendelbewegungen in jedem gewünschten Sektor limi- tirt, d. h. jede Phase einer aktiven Normalbewegung einzeln ausgeführt werden kann und überdies, dass die Abnahme des Widerstandes in jedem Moment zu bewerkstelligen ist. Allen diesen Anforderungen entspricht der „Arthromotor“ genannte Apparat. In Bezug auf die Einzelheiten der Konstruktion muss auf das Original verwiesen werden, dem zum leichteren Verständniss eine Tafel mit zwölf Abbildungen beigegeben ist. Innere Medizin. —y- Darmbakterien und Darmbakteriengifte im Gehirn. Von Dr. Johannes Seitz-Zürich. (Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte No. 4—5, 1900.) Verf. theilt eine Reihe von sehr interessant verlaufenen Krankheitsfällen, zum Theil unter Beifügung der wesentlich¬ sten Ergebnisse der Obduktion, mit, aus denen er die An¬ nahme herleitet, dass Bakteriengifte und Bakterien vom Ver- dauungstraktus aus Eingang ins Blut finden und bis zum Ge¬ hirn Vordringen können. Der Tod erfolgt in solchen Fällen, nachdem mehr oder weniger heftige Darmerscheinungen vor¬ ausgegangen sind, unter schweren Gehirnsymptomen, die an das Bild der Meningitis denken lassen. Im Gegensatz hierzu ergiebt die Sektion keine der Meningitis und Encephalitis ent¬ sprechenden pathologischen Veränderungen. Wenn sich auch nur mühevoll und oft höchst spärlich Bakterien der Staphylo-, Streptokokken- und Koligruppe nachweisen lassen, so ist die Ursache der Vorgänge doch nach Verf.’s Ansicht nur in einer Digitized by ^ooQie 242 Aerztliche ßachverständigen-Zeitung. No. 12. Wirkung der giftigen Stofifwechselprodukte der Bakterien zu suchen. —y. Ein Beitrag znr Kenntniss der scharlachähnlichen Influenza-Exantheme. Von Dr. Bruno Sellner-Brünn. (Prager med. Wochenschr. No. 50, 1899.) So leicht bei einem typischen Exanthem und regelrechter Angina die Diagnose »Scharlach“ zu stellen ist, so schwer kann in manchen Fällen die richtige Beurtheilung des Krank¬ heitsfalles sein. Es kommen in differentialdiagnostischer Be¬ ziehung zunächst jene Exantheme in Betracht, die toxischer Natur sind und von Magen-Darmerkrankungen ausgehen, fer¬ ner medikamentöse Exantheme, insbesondere Ausschläge nach Verabfolgung von Chinin, Diphtherieheilserum und anderen Mitteln. Auch im Verlaufe verschiedener Infektionskrankheiten können scharlachähnliche Exantheme auftreten, so beim aku¬ ten Gelenkrheumatismus, der Sepsis und, worauf Verf. des Näheren eingeht, der Influenza. Letztere Krankheit bildet eine reiche Auswahl verschiedener Formen von Hautaffektionen; so wurden beobachtet: morbillöse und scarlatinöse Exantheme, Urticaria, Herpes zoster, Erythema nodosum und Miliaria. Verf. theilt mehrere Fälle mit, bei denen ein scarlatinöses Exanthem konstatirt werden konnte, wo es sich aber unzwei¬ felhaft nur um Influenza handelte. Uebrigens muss daran er¬ innert werden, dass gelegentlich auch eine starke Schweiss- sekretion ein Exanthem erzeugen kann, dass zu diagnostischen Irrthümern Veranlassung giebt. —y. Ueber Glasblfisermund und seine Komplikationen. Von Geh. San..-Rath Dr. Scheele-Wiesbaden. (Berl. Kl. Wochenschr. 1900. No. 10 u. 11.) Der Glasbläser setzt bei der Ausübung seines Gewerbes seinen Mund einem sehr hohen Innendruck aus. So entsteht bei einer Anzahl dieser Arbeiter, und zwar bei einem nicht sehr grossen Prozentsatz, eine Reihe eigenthümlicher Ver¬ änderungen. Wenn nämlich die Backen immer wieder gewaltsam auf¬ geblasen werden — was geschickte Arbeiter zu vermeiden scheinen — so weichen die Bündel der Wangeumuskulatur auseinander, die Wange fühlt sich etwa so an wie ein Herz¬ ohr, bei dem ganz dünne Wandstellen mit einem kräftigen Balkenwerk abwechseln. Wird nun der Mund aufgeblasen, so treten die Backen ballonartig vor, ausserdem aber wird in manchen Fällen Luft in den Ohrspeicheldrüsengang einge¬ trieben. Man sieht dann schon äusserlich einen Wulst quer durch die Wangengegend ziehen, der sich anfühlt, wie ein Luft¬ kissen und bei Druck knistert. Betrachtet man, während auf den Wulst gedrückt wird, das Innere der Wange, so sieht man schaumige Flüssigkeit aus der Mündung des Stenonschen Ganges vorquellen. Aehnliches hat schon Hyrtl bei Trompetern festgestellt. Den Glasbläsern eigen ist ferner eine Veränderung der Mundschleimhaut in Form weisslicher Flecke, innerhalb deren die Schleimhaut trübe, gefurcht, »wie gekocht“ aussieht. Diese »plaques opalines“ dürfen nicht mit der Leukoplakia syphilitica verwechselt werden, auch von Tabakgenuss rühren sie bei diesen Arbeitern nicht her, da dieselben tagsüber keine Cigarre oder Tabakspfeife in den Mund nehmen können und deshalb schwache Raucher Bind. Etwas weit geht Verfasser, wenn er Ohrkrankheiten, die er bei Glasbläsern gesehen hat — zweimal chronische Mittel¬ ohrkatarrhe, einmal eine Labyrintherkrankung — auch als gewerblichen Ursprungs anzusehen geneigt ist. Er meint, die starken Luftdruckschwankungen in der Mundhöhle könnten sich nach dem Ohr hin fortpflanzen und dies schädigen. Einer der von S. untersuchten Glasbläser hatte Krampf¬ anfälle, die in rascher Folge einige Tage hintereinander, weder vor- noch nachher auftraten, aber nicht ärztlich beobachtet wurden. Eine besondere Glasbläserkrankheit soll endlich noch die in Frankreich als »main en crochet“ (Hakenhand) bezeichnet© Verunstaltung der Finger sein. Verfasser hat sie zweimal gesehen. Die Knochenenden an den ersten Fingergelenken sind verdickt, wie bei einer Gelenkentzündung, dabei aber schmerzlos, der vierte und fünfte Finger stehen in Beuge¬ kontraktur. Angeblich rührt diese Veränderung vom Halten der Glaspfeife her und findet sich hauptsächlich bei älteren Arbeitern. Fremdkörper der Lunge und dessen Diagnosenstellung mittelst Röntgen’scher Strahlen. Von Dr. E. Bärri-Jonen. (Correspondensbl. f. Schweizer Aerate No. 7, 1900.) Ein Mann verschluckte angeblich am 8. Dezember 1898 eine 5 cm lange, mit kleinhaselnussgrossem Kopf versehene Nadel. Mehrere Röntgen-Aufnahmen, wenige Tage nach dem Vorfall ausgeführt, ergaben kein Resultat; auch genaue Unter¬ suchungen des gesammten Intestiualtraktus gaben über den Sitz der Nadel keinen Aufschluss. Es wurde vermuthet, dass dieselbe entweder schon abgegangen sei oder sich an irgend einer Stelle des Darmtraktus befinde, wo die Dicke der Weich¬ heile, z. B. der Leber, ihren radiographischen Nachweis sehr erschwere, resp. unmöglich mache. Nach Verlauf von einigen Wochen wurde Verf. von dem Kranken konsultirt, der über massigen Hustenreiz, mit etwas blutigem Auswurf, sowie über einen dumpfen Schmerz unter dem mittleren Drittel des Brustbeines klagte. Die Wahrscheinlichkeitsdiagnose wurde auf Anwesenheit der Nadel in der Luftröhre gestellt. Die physi¬ kalische Untersuchung der Lungen ergab nirgendwo eine Dämpfung; über dem Sternum, sowie den 1. o. r. Lungen- parthien schnurrendes Inspirium und kleinblasiges Rasseln. Nunmehr vorgenommene Röntgen-Aufnahmen ergaben, dass die Nadel, mit dem Kopf nach unten, in schräger Richtung von rechts oben nach links unten direkt hinter dem Sternum im unteren Ende der Luftröhre sass. Acht Tage später zeigte sich die Nadel schon weiter nach unten gerückt, eine Rippe tiefer und etwa 4 cm mehr nach links; offenbar befand sich die Nadel jetzt im linken Bronchus. Da Husten und Schmerzen, verbunden mit lästigem Auswurf, den Kranken stark plagten, wurde operative Entfernung der Nadel ange- rathen. Mittelst Tracheotomia inferior wurde die Nadel zu extrahiren versucht, jedoch ohne Erfolg. Die Spitze konnte wohl gefasst werden, doch zeigte sich, dass der Knopf im Bronchus festgewachsen war. Eine sich rasch entwickelnde Pneumonie führte den Tod herbei. Der Fall zeigt, wie ein relativ grosser und gefährlicher Körper sich in der Trachea, resp. im Bronchus befinden kann, ohne, besonders im Anfang, grosse Athmungsbeschwerden zu verursachen. Wohl nur so lässt es sich erklären, dass nicht gleich von Anfang an die Vermuthung auftauchte, dass der Fremdkörper sich in der Trachea befinde. —y. Ueber subkutane Milzruptur. Von Dr. Th. Cohn, Ass. am städt. Krankenhauso zu Barmen. (Münch, med. Wochenschr. No. 18, 1900.) Zwei Fälle von sehr verschiedenem Verlauf werden be¬ schrieben. Der erste betrifft einen Kellner, der auf einem Wiener Stuhl stehend, mit diesem zusammenbrach und auf die Lehne mit der linken Bauchseite aufschlug. Unter heftigen Schmerzen wurde er allmählich immer schwächer und erbrach einmal. Etwa 9 Stunden nach der Verletzung wurde er in Digitized by Google 5- Jxmi 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 243 lem selir elenden Zustande eingeliefert. Der alsbald vor- Bauchschnitt entleerte etwa 3 Liter Blut aus der 3ien Bauchhöhle. Die Milz zeigte tiefe Einrisse, sie war fast Lnzlich. aus ihren Verbindungen getrennt, und einzelne Stücke areu geradezu abgerissen. Nach sorgfältiger Blutstillung die Milz herausgenommen, die Bauchhöhle geschlossen, ixter Anwendung von Kochsalz-Infusionen und Herz-Anregungs- litteln wurde das Leben noch bis zum übernächsten Tage er- valten, danach folgte ein plötzlicher Tod. I>er zweite Kranke, ein 17jähr. Junge, war am 16. August \uTch einen Wurf mit einer Maurerkelle an der linken Seite getroffen worden. Er soll einige Zeit ohnmächtig gewesen sein, erholte sich dann wieder und konnte herumlaufen, hatte aber andauernd Schmerzen, die von der linken Seite einer¬ seits in den Arm, andererseits in das Bein ausstrahlten, und wurde zunehmend blässer. Erst am 22. August wurde er ins 'Krankenhaus gebracht, wo alsbald ausser einer Druckempfindlich¬ keit in der Milzgegend ein freier Bluterguss im Bauche fest- gestellt werden konnte. Es bestand ziemlich hohes Fieber. Verf. führte die Laparatomie aus. Er fand an der stark ver- grösserten Milz einen Querriss und mehrere kleine Risse und Zertrümmerungsherde. Die Milzkapsel war an der gewölbten Seite in grosser Ausdehnung abgehoben. Die Milz wurde nach den Regeln der Kunst entfernt. Der Verletzte genas und er¬ holte sich derartig, dass er im November bereits wieder blühend aussah. Dieser Fall hat einige Besonderheiten. Zunächst fragt man sich, warum es so lange gedauert hat, bis die Krankheit den bedrohlichen Grad erreichte. Der Verf. antwortet darauf, dass, nach der Ablösung der Milzkapsel zu urtheilen, zuerst ein Bluterguss unter diese und erst nach einer Reihe von Tagen eine Zerreisöung der Kapsel, wodurch dem Blute Zu¬ tritt zur Bauchhöhle gegeben wurde, eintrat. Auffallend ist ferner die Vergrösserung der Milz, diese kann nur eine Folge der Verletzung oder der danach entstandenen Blutatmuth ge¬ wesen sein, zumal der Verletzte vorher ganz gesund gewesen ist und die mikroskopische Untersuchung nur Blutreichthum als Ursache der Vergrösserung ergab. Aufgefallen war in diesem Falle endlich, dass von der fünften Rippe ab über den unteren Theilen des Brustkorbs eine Dämpfung mit Aufhebung des Athemgeräusches bestand. Diese Erscheinung war mit Recht nicht auf einen Erguss in die Brusthöhle, sondern auf eine Empordrängung des Zwerchfells durch zum Theil geron¬ nenes Blut zurückgeführt worden. Neurologie. Dämmerzustand mit Amnesie nach leichter Hirn¬ erschütterung. Von Dr. W. Klink, Assistent am Heüiggeisthospital Franfurt a. M. (Neurol. Centr. 1900, No. 6.) Das Seitenstück zu einer 1897 von Näcke mitgetheilten Selbstbeobachtung. Eine 40 jährige, früher gesunde, nicht nervöse Kranken¬ pflegerin fällt beim Fensterputzenaus ca. U /2 Meter Höhe rück¬ lings auf den Boden des Zimmers. Unmittelbar nachher sieht sie blass aus, hat sonst und ausser einer Schwäche in den Beinen keine Erscheinungen körperlichen Uebelbefindens und macht seelisch den Eindruck einer Gesunden. Sie erzählt den Hergang des Sturzes und äussert nur geringe Be¬ schwerden. Während der nächsten zwanzig Minuten nach der Untersuchung ist sie im Bett anscheinend bei vollem Be¬ wusstsein. Plötzlich, als ihr eine Eisblase auf den Kopf gelegt wird, fragt sie ganz erstaunt, was das bedeute und wie sie ins Bett gekommen sei? Nach einigem Besinnen erinnert sie sioh, vom Fenster gefallen zu sein — alles Folgende ist in ihrer Er¬ innerung ausgelöscht. Von der Untersuchung durch den Arzt weise sie nichts. Es gelingt auf keine Weise, ihr all das wieder ins Gedächtniss zurückzurufen. Genesung erfolgt nach drei Tagen, während deren Kopf¬ schmerz und Brechreiz besteht. Doch wird die Gedächtnis¬ lücke nicht beseitigt. Nach Ausschluss anderer denkbarer Ursachen der Amnesie kommt Verfasser zu dem Ergehniss, dass die leichte Gehirn¬ erschütterung Schuld daran haben müsse. Un cas de n6vrite traumatique. Von Dr. Mar6chal. (Presse med. Beige. 1900, No. 11.) Ein Arbeiter wurde vor zehn Monaten von einer schweren Balkonthür umgeworfen und stiess mit dem rechten Ellbogen heftig an eine Mauer. Er arbeitete trotz lebhaften Schmerzes im Ellbogen noch 4 Tage. Die Ellbogengegend war geschwollen und blutig verfärbt. Nach jenen 4 Tagen wurde der Arm kraftlos. Trotz ärztlicher Behandlung (Einreibungen) wurde es immer schlimmer. In der Hand traten Schmerzen, in der Daumenmuskulatur Faserzuckungen ein. So schleppte er sich durch eine Reihe von Monaten hin. Vor einem Monat unter¬ suchte Verf. ihn und fand einen ausschliesslich auf den Daumenhallen beschränkten Muskelschwund ohne Entartungsreaktion. Während es doch am Nächsten lag, anzu¬ nehmen, dass der Ellenuerv am Ellbogen gequetscht sei, waren grade die hauptsächlich von jenem versorgten Muskeln unver¬ sehrt. Dagegen konnte der Daumen nur mühsam gebeugt, fast gar nicht der Hand genähert oder den andern Fingern gegen¬ übergestellt werden, woraus sich eine grosse Erschwerung des Gebrauchs aller Werkzeuge naturgemäss ergab. Objektive Empfindungsstörungen fehlten. Es bestand also eine trauma¬ tische Nervenentzündung. Behandlung mit dem elektrischen Dauerstrom brachte im Laufe eines Monats eine an Heilung grenzende Besserung. Wie ist die eigenartige Begrenzung der Lähmung zu er¬ klären? Der kurze Daumenbeuger wird zum Theil, der Ad¬ duktor vollkommen vom Ellennerven versorgt. Verf. nimmt nun an, dass die für diese Muskeln bestimmten Fasern im Nerven an der Stelle, wo er beim Ellbogen vorbei geht (Musi¬ kantenknochen) oberflächlich liegen und leichter als der übrige Antheil des Nerven verletzt werden können. Woher aber die Lähmung des Gegenüberstellers, der doch vom mittleren Arm¬ nerven versorgt wird, rührt, bleibt auffälligerweise unerklärt. Un cas de növrite traumatique chez un hämophiliqne. Par Milo. H616ne Sieczkowska. (l.-D. Genf 1899.) Der Fall stellt ein lehrreiches und eigenartiges Beispiel von Nervenentzündung nach einem Unfall dar. Ein nicht belasteter Junge, der sich seit dem neunten Lebensjahr als Bluter gezeigt hat, wird zwischen einer Thür und der Wand mit dem rechten Vorderarm eingeklemmt. Es besteht kein Knochenbruch, keine Wunde, keine Lähmung, nur eine mächtige Blutunterlaufung. Acht Tage nachher schwillt die Hand und wird steif. In weniger als zwei Monaten ent¬ wickelt sie sioh zur Klauenhand. Wieder einen Monat später bilden sich ohne erkennbare Ursachen Blasen an den Rüoken- flächen der Finger, hier wird an den Endgliedern die Haut brandig. All dies geschieht ohne Beeinträchtigung des All¬ gemeinzustandes. Der Vorderarm ist abgemagert, Supination und Pronation der Hand fehlen ganz, ihre Streckung und die des Vorderarms Digitized by Google 244 Aerztliohe Sachverständigen- Zeitung. No. 12. 8i nd erschwert, die Kraft der ganzen oberen Gliedmassen ist merklich verringert, das Hautgefühl angeblich ungestört. Die in Klauenstellung befindliche Hand ist gegen den Vorderarm, dieser gegen den Oberarm gebeugt, sämmtliche Finger vom II. bis zum V. sind in Beugestellung versteift. Im Verlauf der Behandlung heilen die brandigen Stellen gut aus, die Beweglichkeit bessert sich, sodass der Kranke naoh einigen Monaten entlassen wird. Doch kommt er sehr bald wieder, und zwar mit über den ganzen Körper verbreiteten Blutflecken. Der kranke Arm ist kalt und bläulich. Die von da ab angewandten constanten elektrischen Ströme bessern die Beweglichkeit wesentlich. Die Mitbetheiligung des Zeige- und Mittelfingers an der Beugekontraktur beweist, dass in diesem Falle nicht blos, wie bei der reinen Klauenhand, der Ellennerv, sondern auch der Medianus gelähmt ist. Das erklärt auch den Verlust der Dreh¬ bewegungen der Hand. Die Erhaltung des Hautgefühls kommt selbst bei völliger Nervendurchtrennung vor (rückläufige Fasern). Am wichtigsten sind die Ernährungsstörungen. Soweit sie die Haut betreffen (Blasen, Geschwüre, Brand) sollen sie nach Meinung Einiger nur den durch Verletzungen entstandenen Nervenentzündungen sein. Die Frage, wie weit die Bluterkrankheit bei Entstehung der Nervenentzündung mitgewirkt hat, bleibt unentschieden. Ein Fall von professioneller Parese im Peronealgebiet. Von Dr. Boy er-Erlangen. (Münch, med. Wochenschrift 1900 No. 21.) Der jetzt 28 jährige Kranke ist schon früher von einer Lähmung befallen worden. Mit 18 Jahren nämlioh wurde ihm das Heben des rechten Arms über die Wagerechte un¬ möglich, und es stellte sich Muskelschwund der betreffenden Schulter-Oberarmgegend ein. Wahrscheinlich handelte es sich damals um eine Drucklähmung des Armnervengeflechts, viel¬ leicht durch das Tragen schwerer Lasten auf der Schulter er¬ worben. Die Lähmung ging völlig zurück. K. ist jetzt Drechsler, er stand an der Drechselbank meist auf dem linken Bein und setzte mit dem rechten die Kurbel in Bewegung. Seit einem Jahre nun fällt ihm das Heben der beiden Fussspitzen und die Streckung der Zehen schwer, das linke Bein war besonders stark betheiligt. Dabei war zeitweise ein Gefühl von Taubsein auf dem Fussrücken vorhanden, schmerzhafte Muskelkrämpfe stellten sich ein. Die Untersuchung ergab bei dem sonst gesunden Manne, dass die aktive Hebung der Fussspitze, die Hebung des seitlichen so¬ wohl als des inneren Fussrandes und die Streckung der Zehen links gar nicht, rechts nur mit Anstrengung und kraftlos aus¬ führbar war. Die Streckmuskulatur war beiderseits abgemagert, links wieder mehr als rechts, der Gang war „tappend“. Der Kniesehnenreflex erfolgte nur in geringem Masse. Entartungs¬ reaktion gab nur der lange Strecker der linken Grosszehe, verringerte elektrische Erregbarkeit liess sich bei folgenden Muskeln — in absteigender Reihe geordnet — nachweisen: Langer Grosszehenstrecker links, kurzer Zehenstrecker links, dieselben rechts, langer Zehenstrecker links, derselbe rechts, langer und kurzer Wadenbeinmuskel, vorderer Schienbein¬ muskel links, dieselben rechts. Die Behandlung, (Wärme, Salz¬ bäder, Elektrizität) brachte bald wesentliche Besserung. Es handelt sich um eine doppelseitige Entzündung der Wadenbeinnerven in Folge Ueberanstrengung. DieSchien- beinnerven sind in geringem Grade, ohne Funktionsschädi¬ gung, mit angegriffen. Verf. bringt zum Schlüsse eine Auf¬ zählung ähnlicher Fälle von Nervenlähmung auf dem Boden gewerblicher Ueberanstrengung (Peroneuslähmung bei Rüben- verziehern und Kartoffelarbeitern u. 8. w.). Eine eingehende Erörterung des Ueberanstrengungsvorgangs in diesem beson¬ derem Falle vermissen wir. Ein Fall isolirter Lähmung des nervus suprascapularis. Von Dr. M. Hofmann, Oberarzt d. med. Univ.-Kl. z. Halle a. S. (D. M. W. 1900. No. 16). Ein Knecht fiel von einem hochbeladenen Erntewagen rücklings herab. Er schlug mit dem Kopfe, Nacken und linker Schulter auf, wobei er ein Knacken im linken Schulter¬ blatt verspürte. Drei Wochen lang hatte er nur einen mässi- gen Sohmerz in den gequetschten Theilen, dann erst begann er eine Schwäche beim Heben des linken Armes zu merken. Die Untersuchung ergab einen ähnlichen Befund, wie in dem kürzlich von uns referirten Falle von Wolff, besonders was den Schwund und die Lähmung des Untergrätenmuskels be¬ trifft (den WolfFsehen Fall hat H. in seinem Litteraturverzeich- niss übersehen). Nicht so ausgeprägt wie dort waren die Störungen beim Heben des linken Armes. Neben der Lähmung bestand im Bereiche des gelähmten Muskels eine Herabsetzung der Tastempfindung, die sich aber nach kurzer Behandlung mit dem faradischen Strom wieder verlor. Ueber einen seltenen Fall von Radialislähmnng, geheilt durch Freilegung und Dehnung des Nerven. Von Dr. Hans Bräuninger-Mannheim. Ein löjähriger Junge hatte sich den rechten Oberarm schwer in einem Transmissionsriemen verletzt. Der chirurgische Hals des Oberarmknochens war angeblich gebrochen, (wahr¬ scheinlich war der Oberarm doch verrenkt!) die Weichtheile stark gequetscht. Die Einrichtung gelang. Erst etwa in der vierten Woche begannen sich die Zeichen einer Lähmung des Speichennerveil zu zeigen. Der Streckmuskel des Ellbogen¬ gelenks, hauptsächlich sein langer Kopf, blieb leistungsfähig, dagegen war am Vorderarm die Lähmung typisch, die faradische Erregbarkeit aufgehoben, galvanisch EntartungBreaktion zu erzielen. Eine Knochenwucherung oder Bruchstelle war am Oberarm weder zu fühlen noch durch das Röntgenverfahren nachznweisen. Bei diesem Befunde konnte man die späte Lähmung durch den Druck neugebildeter Knochenmassen nicht erklären, sondern musste an eine Nervenentzündung oder mit höherer Wahrschein¬ lichkeit an die Druckwirkung der narbigschrumpfenden zer¬ quetschten Weichtheile denken. Da durch andere Behandlungsweisen keine Besserung zu erzielen war, wurde der Nerv an der Beugeseite des Ober¬ arms zwischen dem inneren und dem langen Kopfe des Triceps freigelegt. Er fand sich thatsächlich durch Narbengewebe bis hinab zur Umschlagstelle fest eingeschlossen und musste, um ganz befreit zu werden, noch auf der Streckseite durch einen neuen Schnitt aufgesucht werden. Mässige Dehnung des Nerven wurde angeschlossen. Darauf besserte sich der Zustand zu¬ sehends, und in absehbarer Zeit ist völlige Heilung zu erwarten. Zur Indikation der Beschäftigungstherapie bei funk¬ tioneilen Nervenkranken. Von Dr. Oskar Vogt-Berlin. (Wiener klinische Rundschau No. 2, 1900.) Seitdem Moebius die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf die Beschäftigungstherapie gelenkt hat, haben sich nur relativ wenige Autoren zu diesem Thema geäussert. Die Ausführungen Verf.’s dürften deshalb besonderem Interesse, zumal unter den Lesern dieser Zeitschrift, begegnen. Leider müssen wir uns an dieser Stelle damit begnügen, die Schlussfolgerungen wieder¬ zugeben, die Verf. aus seinen Erfahrungen und Beobachtungen zieht. Sie lauten: 1. Die Arbeit als Heilmittel kann nur in Digitized by Google 15. Juni 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 245 Betracht kommen, wo Ablenkung der Aufmerksamkeit von der eigenen Person, eine gesunde Befriedigung des Thätigkeits- triebes und die Beseitigung depressiver Gefühle zu erstreben sind und durch die gegenwärtige Bethätigung des Kranken nicht erreicht werden. 2. Arbeit ist nur insoweit indizirt, als sie einen gegenwärtigen Erschöpfungszustand berücksichtigt und zu der Hervorrufung eines solchen nicht tendirt. 3. Bei der Akinesia algera und der Hypochondrie hat die Beschäfti¬ gungstherapie nur untergeordneten Nutzen geleistet. Die No¬ sophobie erfordert wegen der Flüchtigkeit ihrer Symptome keine Arbeitskur. Für Neurastheniker, die zu hypochondrischen Grübeleien neigen und vor Allem für solche Kranke, die im Anschluss an eine Neurasthenie ein psychisch bedingtes Fort¬ bestehen der Symptome zeigen, ist die Beschäftigungstherapie ein sehr wichtiges Heilmoment. Gegen Zwangsvorstellungen kommt die Arbeitskur nur sekundär in Betracht. In Fällen schwerer Hysterie kann die Arbeit einer der hauptsächlichsten Heilfaktoren werden. Für viele Psychopathen kann die Arbeit von grossem Segen sein. — y. Vergiftungen. Ueber einen Fall von Encepbalopatliia satnrnina. Aus dem Bürgerhospital in Stuttgart. Von Ass. Dr. Fr. Brauer. (Wttrtt. med. Correspondensbl. No. 8, 1900.) Vergiftungsdelirien sind, abgesehen von den alkoholisti- schen, morphinistischen und kokainistischen, verhältnissmässig selten. Speziell die psychischen Erscheinungen nach Bleiver¬ giftung treten meist nicht in Form von „Delirien“ auf. Der vom Verf. mitgetheilte Fall von Encephalopathia saturnina, in welchem dieses wohl zutraf, verdient daher einiges Interesse. Es handelte sich um einen 32jährigen Mann, der eine Reihe von Symptomen darbot, welche die Diagnose „Bleivergiftung“ genügend sicher stellten: anamnestisch Schwindel, Kopf¬ schmerzen, Koliken, in Bezug auf den Status praesens Blei¬ saum, kahnförmige Einziehung, starke Spannung und Druck¬ empfindlichkeit des Leibes, Tremor saturninus. Neben diesen Erscheinungen trat ein hallucinatorisches Delirium auf, ver¬ bunden mit Verfolgungsideen. Vorherrschend waren die Hal- lucinationen des Gehörs, doch waren auch die des Gesichtes zahlreich. Von Seiten des Nervus opticus waren keine Stö¬ rungen nachweisbar, dagegen konnte mit Wahrscheinlichkeit eine Vagusaffektion angenommen werden (beständig hohe Puls¬ frequenz, Vaguslähmung?), die wegen des gleichzeitigen Be¬ stehens der anderweitigen cerebralen Erscheinungen (psychische Störungen, Tremor saturninus) wohl als eine cerebrale Affek¬ tion zu deuten ist. Von Interesse ist noch die Thatsache, dass die Pulsfrequenz bei Eintritt von Koliken vermindert wurde, eine Erscheinung, die darauf zurückzuführen ist, dass durch die Reizung der sensiblen Darmnerven, des Nervus splanchnicus, auf reflektorischem Wege eine herzhemmende Wirkung auf den Vagus zu Stande kommt. —y. Ein Fall von Chlor-Akne. Von Ober-Stabsarzt Dr. Sc holze-Mainz. (D. Mllit.-Aerate-Ztechr. 1900, No. 6.) Der beschriebene Fall entspricht dem von Herxheimer kürzlich veröffentlichten. Es handelt sich um einen Arbeiter, der in einem Raume beschäftigt war, in welchem Chlorkalium elektrolytisch zersetzt wurde. Nach 14 Tagen bildete sich bei ihm ein Hautausschlag, der ihn weiter nicht beunruhigte. Im nächsten Jahre zum Militärdienst eingezogen, fiel er anfangs nur durch eine mässige Aknebildung, auffallend braune Hautfarbe und Luftröhrenkatarrh auf. Erst im Frühjahr des nächsten Jahres, als es warm wurde und er bei den Uebungen häufig in Schweiss gerieth, artete der Ausschlag dermassen aus, dass längere Lazarethbehandlungen nothwendig wurden. Die Körperhaut sah dunkelgraubraun aus, theils in Folge dun¬ kel gefärbter, unzähliger Narben, theils durch eine unendliche Menge schwarzer, die Ausführungsgänge der Talgdrüsen ver¬ stopfender Pfröpfchen (Mitesser). Daneben fanden sich massen¬ haft gewöhnliche Aknepusteln, viele entzündliche harte Knoten, Beulen und Abscesse. Die Behandlung blieb im Grossen und Ganzen erfolglos, der Mann musste als dienstunbrauchbar schliesslich entlassen werden. [Im Anschluss hieran soll erwähnt werden, dass Re non und Latron in der Soctete med. des höp. am 6. April 1900 genau die gleiche Beobachtung mitgetheilt haben, die sie an zwei Arbeitern gemacht haben. Bei dem einen sind die Ver¬ fasser geneigt, auch eine bestehende Tuberkulose auf die Chlor¬ wirkung zurückzuführen. Ref.] Augen. Ein Beitrag zu den Zündhütchen-Verletzungen des Auges« Von Dr. G. Brandenburg. (Sammlang zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Augenheilkunde, heraus- gegeben von Vossius. 1900. III. Band, Heft 4.) • Ein 11 jähriger Knabe klopfte eine Teschingpatrone mit einem Stein auf, wobei diese explodirte und ihm etwas in das rechte Auge flog. Die 4 Stunden später vorgenommene Unter¬ suchung ergab eine Wunde in der Mitte des freien Randes des oberen Lides und dieser entsprechend eine Wunde oben aussen in der Hornhaut und der Regenbogenhaut, ferner eine Blutung in der vorderen Kammer und im Glaskörper. Es wurde angenommen, dass eiu Kupfersplitter in das Innere des Auges eingedrungen sei, merkwürdiger Weise fand sich jedoch am dritten Tage in der Lidwunde ein kleines Kupferstückchen, das mit der Pinzette extrahirt wurde. Die Diagnose eines intraokularen Fremdkörpers wurde damit wieder unsicher. Der Zustand des verletzten Auges wurde inzwischen immer schlechter, die Linse trübte sich und die Entzündungserschei¬ nungen nahmen bedeutend zu. Am 14. Tage wurde das Auge wegen drohender sympathischer Enzündung des linken Auges enukleirt und in ihm fand sich unten aussen in Eiter einge¬ hüllt ein dreieckiges, scharfes Kupferstückchen. Der Fall lehrt, dass bei Zündhütchen-Verletzungen auch einmal zwei Splitter in das Auge gelangen und die von beiden verursachten Wun¬ den zu einer grösseren Wunde zusammenfliessen können. Groenouw. Ein Fall von Ranpenhaar-Ophthalmie (ophthalmia nodosa, Sämisch). Von Arthur Muthmann-Elberfeld. (I. D. Bonn 1899.) Einem landwirtschaftlichen Arbeiter wurde mutwilliger Weise eine Hand voll Heu ins Gesicht geworfen, bei dem sich angeblich eine schwarze behaarte Raupe befand. Wegen Brennens an dem oberen Lide des getroffenen rechten Auges rieb der Mann das Auge mit der Hand. Gleich darauf em¬ pfand er aber in diesem selbst heftige Schmerzen. Erst mehrere Monate später ging er zum Arzte, der eine Entzün¬ dung der Hornhaut und Regenbogenhaut mit Knötchenbildung in beiden feststellte. Die Sehfähigkeit war schwer beein¬ trächtigt. Nach der Vorgeschichte war nichts anderes anzu¬ nehmen, als dass die Krankheit durch Raupenhaare verur¬ sacht war. Trotz aller angewandten Mittel verschlimmerte sich der Zustand, bis der Leiter der Klinik, Prof. Eversbusch Digitized by ^ooQie 246 Aerztliche Sachverständigen'Zeitung. No. 12. sich entschloss, das Kammerwasser durch Einschnitt abfliessen zu lassen. Von da ab trat eine Besserung ein, die zu rela¬ tiver Heilung führte. Aus den allgemeinen Bemerkungen über den Fall ist her¬ vorzuheben, dass die Raupenhaar-Entzündung wahrscheinlich gefördert, vielleicht erst ermöglicht wird, dadurch dass das Auge gerieben wird, wodurch die Haare geradezu hinein¬ gepresst werden. Von den äusseren Hüllen wandert ein Theil der Haare mit der Zeit in tiefere Schichten. Noch unent¬ schieden ist es, ob die Haarstücke rein mechanisch, oder durch einen, in ihrem Innern enthaltenen Saft, chemisch ent¬ zündungserregend wirken. Bei der Behandlung dieser Entzündungen ist es wichtig, dass der Arzt gefragt wird, ehe die Härchen in die tieferen Schichten gewandert sind. Frühzeitig herbeigerufen, wird er Härchen, die er etwa noch von aussen erreichen kann, durch Spülung oder mit der Pincette entfernen, ohne jedoch ein Eindringen in das Gewebe selbst zu versuchen. Um eine Wanderung der Haare zu verhüten, wird er mit denen, ihm zu Gebote stehenden Mitteln, das Spiel der Lider, der Pu¬ pillen und des Ciliarmuskels aufzuheben suchen. Für die von manchen Seiten empfohlene Herausschneidung von Stücken der Regenbogenhaut hat Eversbusch wenig Sympathie. Die Punktion der vorderen Kammer scheint empfehlenswerth. Hygiene. Staatliche Einrichtungen zur Förderung des Baues öffent¬ licher Wasserversorgungs-Anlagen in Württemberg, Bayern, Baden und Elsass-Lothringen. Von Gr ahn. (Deutsche Vierteljahrsscbrift für öffentl. Gesundheitspflege. Bd. 32. Heft 2.) In Deutschland wurde die erste grössere städtische Wasserversorgung in Hamburg für Staatsrechnung von dem Civil-Ingenieur W. Lindley sen. im Jahre 1848 erbaut. Auch der Neubau des zweiten grösseren städtischen Wasserwerkes in Deutschland, desjenigen von Berlin, wurde einige Jahre später gleichfalls vom Staat eingeleitet, indem dem damaligen Polizeipräsidium von Berlin die Ermächtigung ertheilt wurde, mit einem englischen Konsortium einen Vertrag abzuschliessen, nach welchem dieses für 25 Jahre das Wasser für öffentliche Zwecke unentgeltlich abzugeben hatte und dagegen während der gleichen Zeit das ausschliessliche Recht erhielt, gegen Zahlung den Einwohnern der Stadt auf Verlangen Wasser zu liefern, ein Vertrag, der schon acht Jahre vor seinem Ablauf seitens der Stadt aufgehoben werden musste, weil die Zu¬ stände der Wasserversorgung unerträgliche geworden waren. Die späteren derartigen Anlagen sind fast ausschliesslich gleich Anfangs für städtische Rechnung erbaut und von den Städten in eigener Regie betrieben. Ausnahmsweise wurde Bau und Betrieb solcher Anlagen während einer beschränkten Zahl von Jahren oder bis zur Erzielung eines bestimmten Reingewinnes Unternehmern oder Gesellschaften übertragen, deren Verträge jedoch meist schon vor ihrem Ablauf wieder aufgehoben wurden. Bezüglich der Wasserversorgung besteht zwischen Nord- und Süddeutschland ein wesentlicher Unterschied darin, dass im Süden Deutschlands die Entwickelung von öffentlichen Wasserversorgungsanlagen in den kleineren Städten und den ländlichen Gemeinden, und zwar bis zu solchen von 100 Ein¬ wohnern und weniger, schneller und in grösserem Umfange, als im Norden Deutschlands stattgefunden hat. Es erklärt sich dies aus der Verschiedenheit der geognostischen und hydro¬ logischen Verhältnisse. Da der Grundwasserstand der nord¬ deutschen Tiefebene es vielfach gestattet, für die verschiede¬ nen Ansprüche der dortigen Orte innerhalb derselben oder in deren nächster Nähe das genügende Wasserquantum aus Flachbrunnen mit leiohter Mühe durch Handpumpen zu ent¬ nehmen, war das Bedürfnis nach einer einheitlichen Ver¬ sorgung des ganzen Ortes hier kein so dringendes, als in den vielfach gebirgigen und grundwasserarmen Gegenden des Südens. Dieses allgemein empfundene Bedürfniss naoh öffentlichen Wasserversorgungsanlagen, zusammen mit dem Mangel eines richtigen Verständnisses und opferbereiten Interesses zur Ver¬ besserung solcher Einrichtungen hat in den vorgenannten südlichsten Staaten Deutschlands dazu geführt, dass zur För¬ derung des Baues derselben in jedem dieser Staaten eigen¬ artig geschaffene staatliche Einrichtungen in den letzten Jahr¬ zehnten ins Leben gerufen sind. Die Organisationen gleichen sich in Württemberg und Bayern darin, dass in jedem dieser Staaten eine besondere, dem Ministerium unterstellte tech¬ nische Centralstelle unter Leitung eines Staatstechnikers, der einem besonderen Bauamt vorsteht, geschaffen ist, von der alle Arbeiten für öffentliche Wasserversorgungsanlagen ausgehen, während in Baden und Elsass-Lothringen diese Arbeiten bereits vorhandenen technischen Dienststellen übertragen wurden, deren Thätigkeit sich, organisch in Ab¬ theilungen getrennt, über den ganzen Staat verbreitet, wenn sie auch mit ihren anderen Arbeiten zusammen einer ge¬ meinschaftlichen Oberleitung, in Baden der Oberdirektion der Wasser- und Strassenverwaltung, in Elsass-Lothringen dem Chef des Meliorationswesens unterstellt sind. Dabei blieb das Selbstbestimmungsrecht der Gemeinden in diesen Staaten un¬ beeinflusst. Die Zahl der Orte, welche in den vier genannten Staaten während der letzten Jahrzehnte eine Förderung des Baues öffentlicher Wasserversorgungsanlagen durch staatliche Ein¬ richtungen erfahren haben, beträgt fast 2000 mit annähernd zwei Millionen Einwohnern, und es sind dafür ca. 70 Millionen Mark oder durchschnittlich 35 Mark für jeden mit Wasser ver¬ sorgten Einwohner verausgabt worden. Angesichts dieser grossartigen Entwickelung der Wasser¬ versorgung in den genannten Staaten drängt sich der Wunsch auf, dass auch in anderen deutschen Staaten ähnliche Ein¬ richtungen geschaffen werden möchten. Was speziell Preussen betrifft, so möchte Ref. nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, dass neuerdings durch den Erlass der Minister der Medizinal- Angelegenheiten und des Innern vom 24. August 1899 der besonders wichtigen hygienischen Seite der Frage erhöhte Aufmerksamkeit zugewandt ist, insofern verlangt wird, dass bei allen derartigen Anlagen der zuständige Medizinalbeamte die hygienische Beschaffenheit der Entnahmestelle zu begut¬ achten und eine dauernde sanitätspolizeiliche Ueberwachung auszuüben hat. Dass auch der Betrieb der Wasserversorgungs¬ anlagen von hygienischen Rücksichten geleitet sein muss, dass namentlich bei der Reinigung und Erneuerung der Filter, so¬ wie bei allen Arbeiten am Wasserwerk den Forderungen strengster Reinlichkeit genügt sein muss, ist eine weitere hygienische Forderung. Roth (Potsdam). Aus Vereinen und Versammlungen. Auf der XXY. Wanderversammlung der södwestdeutschen Neu¬ rologen und Irrenärzte, am 26. und 27. Mai zu Baden-Baden, kamen neben spezialistischen Themen auch einige von allge¬ meinerem Interesse, vor allem aber auch einzelne, die die forensische Medizin berühren, zum Vortrag. Digitized by LjOOQie 15. Juni 1900. Aerztliohe Sachverständige n-Zeitung. 247 Herr Erb-Heidelberg und Herr Fürstner-Strassburg er¬ statteten Bericht über die Leistungen der Versammlung auf dem Gebiet der Neurologie und Psychiatrie im letzten Viertel¬ jahrhundert. Von 395 Vorträgen waren 348 neurologisch und nur 47 psychiatrisch. Die erste Sitzung war Vorträgen allgemeineren Inhalts gewidmet. Wichtig ist besonders der Vortrag von Kräpelin- Heidelberg: Ueber Merkfähigkeit. Das Problem des Gedächtnisses fragt einmal nach dem, was einer von früher gewonnenen Vorstellungen noch weiss, und dann auch danach, was einer sioh frisch merken kann. Letztere Funktion, die Merkfähigkeit, wurde an einem Appa¬ rat untersucht, der Gruppen von 4 bis 12 Ziffern oder Buch¬ staben, Zeichen, kleine Bilder auf kurze Zeit (0,017 Sekunden) exponirte. Die Versuchsperson musste sofort oder nach Ab¬ lauf einer gewissen Zeit angeben, was sie sich davon gemerkt habe. Die Eindrücke hatten ihre grösste Deutlichkeit nicht sofort, sondern erst 8 bis 15 Sekunden nach der Exposition; die grösste Deutlichkeit hält dann einige Zeit an, bis sie wieder nachlässt. Es kommt aber auch darauf an, ob das Gemerkte richtig ist. Die Kurve, welche die Zahl der richtigen Fälle veranschaulicht, erreicht ihren Gipfel etwas früher und sinkt wieder eher als die erste Kurve, welche nur die Menge des überhaupt Gemerkten darstellt. Eine grosse Rolle spielen schon bei diesen einfachen Versuchen die Erinnerungsfälschun¬ gen. Besonders die Nachwirkung der früheren Versuche bildet eine Fehlerquelle hierfür. Manche Personen haben eine Vor¬ liebe für besondere Buchstaben. Ferner schwankt die sub¬ jektive Sicherheit. Einige Zeit nach der Exposition wächst das Sicherheitsgefühl, dann sinkt es wieder. Durchweg jedoch ist es unzuverlässig, oft geradezu trügerisch. Manchmal waren 30, ja 50 Prozent der als sicher angegebenen Wahrnehmun¬ gen beträchtlich falsch. Die praktische Bedeutung dieses Be¬ fundes ist ausserordentlich, wenn man bedenkt, eine wie grosse Rolle bei den Zeugenaussagen vor Gericht alltäglich die Er¬ innerung spielt. Es eröffnet sich hier der Ausblick auf ein weites Gebiet experimenteller Forschung mit juristischem Hintergrund. Dabei ist zu beachten, dass die Merkfähigkeits¬ veränderungen unter dem Alkoholeinfluss besonders gross sind. Die richtigen Einprägungen nehmen um 15 Prozent ab, die Fehler um 72 Prozent zu. Es treten sehr viele Erinnerungs¬ fälschungen auf. Bei verschiedenen Geistesstörungen, der polyneuritischen Psychose, der senilen Demenz, finden sich wieder andersartige Störungen der Merkfähigkeit. Laquer-Frankfurt: Ueber die ärztliche Bedeutung der Hilfsschulen für schwach befähigte Kinder. In Frankfurt besteht eine sechsklassige Hilfsschule, in die Kinder aufgenommen werden, welche, ohne an den Sinnes¬ organen zu leiden, nach zweijährigem regelmässigen Besuch der untersten Klasse das Ziel nicht erreichten. 1 j 2 Prozent aller Kinder wurde zugeführt, von denen nicht die Hälfte zur Aufnahme kam. Häufig fanden sich körperliche Komplikatio¬ nen, doch war die Bedeutung der adenoiden Vegetationen äusserst gering. Einzelne Schüler wurden an Idiotenanstalten abgegeben. Schwierig ist das Fortkommen der Entlassenen; Mädchen helfen sich noch am ehesten durch, freilich manche als puellae publicae. Zur Erleichterung des Weiterkommens schwachsinniger Burschen würde es sich empfehlen, Prämien auszusetzen für Handwerksmeister, bei denen solche Zöglinge erfolgreich in die Lehre gingen. In Braunschweig bewährte sich die Ablieferung von Schülerlisten an die Militärersatz¬ behörden. Moralischschwachsinnige sind verderblich für die anderen Hilfsschulzöglinge; man muss daran denken, vor allem auf Grund der Bestimmungen des B. G. B., Zwangs¬ erziehungsanstalten für diese Kategorie zu errichten. Zur Feststellung der intellektuellen Bildungsunfähigkeit bedürfen wir angesichts der mangelhaften Untersuchungsmethoden noch der Beihilfe der Lehrer. Schulärzte sind allgemein anzu¬ stellen. Für mittlere und grössere Städte empfiehlt sich auch durchweg die Einrichtung von Hilfsschulen mit Tages¬ internat. Erb-Heidelberg: Ueber Frühdiagnose der Tabes. Es finden sich öfter zweifelhafte Fälle, die in der Anam¬ nese Lues aufweisen, zur Zeit über subjektive Beschwerden, lanzinirende Schmerzen und dergl. klagen, objektiv aber wenig Symptome darbieten. Ein Fall der Art hatte seit sieben Jahren lanzinirende Schmerzen in Arm und Bein, Müdigkeit, dann Besserung auf Grund einer Aachener Kur; objektiv nur re¬ flektorische Starre der einen Pupille. Ein anderer hatte vor 24 Jahren Lues, vor acht Jahren periodischen Kopfschmerz, der durch Quecksilber geheilt wurde. Seit zwei Jahren lan¬ zinirende Schmerzen und Paraesthesieen in den Fingern. Ob¬ jektiv nur Miosis und beiderseitige Pupillenstarre, bei gut er¬ haltenen Patellarreflexen, ohne Romberg. Besonders schwierig zu beurtheilen sind die Fälle mit gastrischen Symptomen. Vortr. glaubt, dass in derartigen Fällen unentwickelte Formen der Tabes zu erblicken sind, und legt besonderen Werth auf den Nachweis von Lues in der Anamnese. Hoffmann-Heidelberg: Ueber Thomsen’sche Krank¬ heit. Vortr. bespricht zunächst eingehend einen Fall vonThom- sen, der mit Muskelatrophie kombinirt war. Die Litteratur enthält eine Reihe derartiger Fälle. Es kann sich dabei han¬ deln 1. um eine zufällige Atrophie in Folge von Neuritis, Po¬ liomyelitis u. dergl., stationär, und 2. um eine thatsächlich progressive Muskelatrophie (9 Fälle). Die Entartungsreaktion ist bei bestehender myotonischer Reaktion schwer festzustellen. Ueber den Sitz der Krankheit und die Abhängigkeitsbeziehun¬ gen zwischen Thomsen und Atrophie sind noch keine sicheren Angaben zu machen. Kreuser-Schussenried: Spätgenesungen bei Geistes¬ kranken. Unter Spätgenesungen sind solche Heilungen zu ver¬ stehen, die nach dreijähriger Dauer der Geisteskrankheit ein- treteu. Die Zahl der in der Litteratur erwähnten Fälle ist nicht gross. Ein einzelner Fall findet sich verzeichnet, der noch nach 21 jähriger Dauer der Krankheit zur Genesung kam. Meist handelt es sich um Störungen mit akutem Anfang, vor¬ zugsweise in depressiver Färbung. Die günstige Wendung tritt besonders im klimakterischen Alter ein. Vortr. glaubt, dass es sich bei der Spätgenesung nicht um etwas Acciden- telles handelt, sondern dass sie im Wesen der Krankheit be¬ gründet liegt. Aschaffenburg-Heidelberg: Das Recht chirurgischer Eingriffe bei Geisteskranken. § 223 Str.-G.-B. bedroht auch den Arzt, der ohne Zu¬ stimmung des Patienten einen ärztlichen Eingriff vornimmt, wegen Körperverletzung. Nach dem Wortlaut des Gesetzes wäre es sogar besonders straffällig, bei einem Selbstmörder Wiederbelebungsversuche anzustellen, da in einem solchen Fall es ersichtlich ist, dass der Eingriff gegen den Willen des Selbstmörders, der ja aus dem Leben gehen will, geschieht. Ferner fehlt bisher die Möglichkeit, zu operiren und dergl. in nothwendigen Fällen, wenn die Familie des Kranken sich da¬ gegen sträubt. Diese Lücke in der Gesetzgebung auszufüllen, schlägt Vortragender folgende Bestimmungen vor: 1. Aerztliche Eingriffe sind, abgesehen von den Fällen der Fahrlässigkeit und absichtlicher Schädigung, nicht als Körper¬ verletzungen zu betrachten. Digitized by LjOOQie 248 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 12. 2. Die Einwilligung des Kranken ist vorher einzuholen. Sie darf aber als gegeben betrachtet werden, wenn der Auf¬ schub des Eingriffes mit Gefahr für Leib und Leben des Kran¬ ken oder Verletzten verbunden ist und eine Einwilligung un¬ möglich erscheint. 3. Bei Geisteskranken und Kindern sind die gesetzlichen Vertreter zur Ertheilung der Genehmigung befugt; beim Fehlen eines gesetzlichen Vertreters oder bei Weigerung, die Zu¬ stimmung zu geben, entscheidet, abgesehen von Nothfallen, der Vormundschaftsrichter. Weygandt-Würzburg. Gerichtliche Entscheidungen. Ans dem Reichs-Yersicherungsamt. Alteraerscheinunoen oder Unfallfolgen? Rek.-Entscheidung vom 5. Januar 1900. Georg R. zu St. erlitt am 11. August 1898 eine kleine Wunde an der Stirn und Stauchung der rechten Schulter und des Halses. Die Berufsgenossenschaft lehnte durch Bescheid vom 9. März 1899 eine Rente für R. ab, da nach Ablauf der 13. Woche Folgen des Unfalls nicht mehr vorhanden seien. R. erhob dagegen Berufung. Das Schiedsgericht gewann aber aus dem Gutachten des Dr. Sch. die Ueberzeugung, dass R. zwar an verschiedenen Uebeln, wie auch an Altersschwäche — er ist 64 Jahre alt — leide, dass aber dies alles mit dem Unfall nicht Zusammenhänge. Gegen diese Entscheidung legte R. Rekurs beim Reichs-Versicherungsamt ein. Er behauptete, dass er bis zum Unfall vom 11. August 1898 stets vollständig arbeitsfähig gewesen sei und sich bei jener Gelegenheit nicht nur die rechte Schulter verletzt, sondern auch innere Verletzun¬ gen zugezogen habe. Die Berufsgenossenschaft beantragte durch ihren Geschäftsführer Z. die Zurückweisung des Rekur¬ ses. Das Reichs-Versicherungsamt forderte noch ein Obergut¬ achten des Medizinalraths Dr. B.-Sch. ein, welcher ausfübrte, es sei anzunehmen, dass R. mit seiner rechten Körperseite auf das Pflaster gefallen sei, welches er offenbar mit seiner rech¬ ten Schulter zuerst berührte. R. leide an hochgradiger Alters¬ schwäche mit Entartung der Gafässwände, Muskelschwäche, mangelhafter allgemeiner Ernährung, Herzmuskelentartung, Lungenemphysem und chronischem Bronchialkatarrh sowie an einer Fettgeschwulst und einer geringen besonderen Schwäche des rechten Armes. Es lassen sich aber diese Befunde mit keiner Sicherheit oder auch nur Wahrscheinlichkeit auf den erlittenen Unfall zurüekführen. Die Behauptung, dass die Fett¬ geschwulst durch den Fall verschlimmert resp. vergrössert worden sei, sei aus medizinischen Gründen unhaltbar. R. sei zwar völlig erwerbsunfähig, doch bedingen Folgen des Be¬ triebsunfalls vom 11. August 1898 diese Arbeitsunfähigkeit nicht nachweisbar. Das Reichs-Versicherungsamt unter dem Vorsitz des Direk¬ tors P. wies sodann den Rekurs als unbegründet ab, indem der Gerichtshof durch die ärztlichen Gutachten zur Ueberzeu¬ gung gelangt war, dass der Unfall keine nachtheiligen Folgen hinterlassen habe und die Beeinträchtigung der Erwerbsfähig¬ keit des Klägers auf andere, durch den Unfall nicht beein¬ flusste Leiden zurückzuführen sei. M. Traumatische Hysterie. Rek.-Entsch. vom 10. April 1900. Der Metzgergeselle L. will zu Anfang November 1897, als er bei Metzgermeister F. zu Sch. H. in Arbeit stand, im städti¬ schen Schlachthause daselbst bei der Arbeit dadurch einen Unfall erlitten haben, dass er beim Abnehmen eines Rinder¬ viertels von l 1 / 3 Centner Schwere plötzlich in der rechten Hüfte einen stechenden Schmerz verspürte, der es ihm un¬ möglich machte, das Fleisch weiter zu tragen. L. arbeitete zwar noch einige Tage weiter, klagte aber während dieser Zeit bei dem Arbeitgeber öfters über Schmerzen im Rücken und Fuss, die er darauf zurückführte, dass er sich im Schlacht¬ hause überhoben habe, trat dann bei Metzger Sch. am 16. No¬ vember in Arbeit und verblieb dort bis Anfang Dezember, zu welcher Zeit er in das städtische Krankenhaus wegen Schmer¬ zen im rechten Bein und in der Hüfte aufgenommen wurde; auch bei diesem Arbeitgeber hat L. öfters über Schmerzen im Kreuz geklagt und dabei erwähnt, es sei ihm im Schlachthause etwas passirt. Im Krankenhause verblieb L. 7 Wochen, bei seiner Entlassung waren die erwähnten Schmerzen noch nicht verschwunden. Die Fleischerei - Berufsgenossenschaft lehnte die Gewährung einer von L. beantragten Unfallrente ab, da weder erwiesen, noch genügend wahrscheinlich gemacht sei, dass das Leiden des L. auf die Betriebsthätigkeit zurückzu¬ führen sei. Das Schiedsgericht verurtheilte jedoch die Berafs- genossenschaft znr Rentenzahlung und machte geltend: Riohtig ist, dass L. bezüglich der Zeit des ihm zugestossenen Unfalls verschiedene Angaben gemacht hat. Es muss aber berück¬ sichtigt werden, dass die Aussagen mehrere Monate nach dem Unfall gemacht worden waren. Auf der anderen Seite hat L. seinen beiden Arbeitgebern gegenüber von dem Unfall unter Kundgabe von Beschwerden Mittheilung gemacht und es ist ferner ein Zeuge vorhanden, der bei dem Unfall anwesend war. Auch wird in einem ärztlichen Gutachten ein ursäch¬ licher Zusammenhang des bei L. bestehenden rechtseitigen Hüftleidens mit dem angegebenen Betriebsunfall mit Wahr¬ scheinlichkeit angenommen. Gegen diese Entscheidung legte die Berufsgenossenschaft Rekurs beim Reichs-Versicherungsamt ein, welches noch ein von Dr. A. erstattetes Gutachten der Klinik in H. einforderte. In diesem Gutachten wurde u. A. ausgeführt: Beim Fort¬ nehmen eines schweren Stückes Fleisch von einem Haken, welches auf den Boden zu fallen drohte, griff L. heftig zu, rutschte aus, doch ohne zu fallen, und verzerrte sich das Bein im Kreuze. Sein scheues Wesen und der schnelle Wechsel der Gesichtsfarbe lasse ihn als sehr nervös veranlagten Men¬ schen erkennen. Von einer objektiv nachweisbaren Verände¬ rung oder Verletzung sei am ganzen Körper nichts nachzu¬ weisen. Nur das Kreuzbein und Steissbein seien druckempfind¬ lich. Der Gang sei ungeschickt mit starkem Schonen des rechten Beines. Eine Photographie mit Röntgenstrahlen habe auch nichts Krankhaftes ergeben. Es handle sich um eine Hemiparese und Hemianästhesie der unteren Körperhälfte. Der vom Schiedsgericht gehörte Gutachter habe angenommen, dass L. an traumatischer Ischias leide. Das Bestehen einer reinen Ischias könne aber ausgeschlossen werden, da sich die Schmerzen und die Sensibilitätsstörungen viel weiter verbreiten als das Gebiet des Nervus ischiaticus reiche. Es fehle aber das charakteristische Ischiasphänomen, das bei langem Be¬ stehen einer Ischias häufige Erloschensein des Achillessehnen¬ reflexes und jede Muskelabmagerung des kranken Beins. Die Ausdehnung der Sensibilitätsstörung lasse den Gedanken an eine Erkrankung des Rückenmarks aufkommen, etwa an eine Myelitis traumatica. Für diese Annahme fehlen aber auch Anhaltspunkte. Die hochgradige Sensibilitätsstörung neben der leichten Parese, die strenge Halbseitigkeit, das Fehlen jeder Reflexveränderung, das Vorhandensein der Bauchreflexe, das Fehlen jeder Störung seitens der Blase und des Mast¬ darms sprechen gegen dieselbe. Der ganze Befund weise auf die Annahme hin, dass keine organische, d. h. durch irgend welche krankhaften, körperlichen Veränderungen verursachte Erkrankung vorliege, sondern dass es sich um eine funktio- Digitized by Google 15. Juni 1900. Aerztliche Sachverst&ndigen-Zeitung. 249 nelle, d. h. auf dem Boden krankhafter Vorstellungen, auf dem Boden von eingebildeten Krankheitserscheinungen ent¬ standene Störung des Nervensystems handle. Hierfür spreche das ganze Wesen des L., die Unsicherheit seiner Angaben, die ihm hei der Sensibilitätsprüfung und beim Gang auf den Zehen nachgewiesenen Täuschungen, die Art der Sensibilitäts¬ störung, die Anspannung der Antagonisten bei der Prüfung der Beweglichkeit des Beines. Ferner spreche der Umstand dafür, dass der ganze Symptomenkomplex zu keinem der in Betracht kommenden organischen Erkrankungen stimme, wäh¬ rend er ganz das Bild einer funktionellen Erkrankung, der Hysterie, zeichne. Es sei anzunehmen, dass in der ersten Zeit Schmerzen in dem Gebiete des Nervus ischiadicus be¬ standen haben, vielleicht auch zeitweise noch bestehen, dass aber später in Folge des Beginnes des Rentenanspruchsver¬ fahrens bei dem ohnedies nervösen L. sich durch krankhafte Vorstellungen und Einbildungen die Hysterie ausgebildet habe. Ein Zusammenhang mit dem Unfälle sei jedenfalls anzunehmen; die Erkrankung sei als traumatische Hysterie aufzufassen und die Erwerbsbeschränkung auf ca. 40 Prozent zu bemessen. Das Reichs-Versicherungsamt schloss sich diesem Obergut¬ achten an und wies den Rekurs der Berufsgenossenschaft als unbegründet ab, indem der Gerichtshof mit dem Obergutachter annahm, dass L. an traumatischer Hysterie leide. Es wurde noch ausgeführt, wenn der Obergutachter von Täuschung rede, so meine er damit, dass der Kläger sich selbst täusche. M. Tuberkulöse Kniegelenksentzündung und Unfall. Rek.-Entech. vom 30. März 1900. 0. B. will im Mai 1897 einen Unfall erlitten haben, als er für den Fleischermeister K. in B. einen Ochsen nach dem Schlachthofe brachte; der Ochse sei wild geworden, B. will bei dieser Gelegenheit gefallen sein und sich das linke Knie verletzt haben. Im Juli 1897 wurde B. im Allerheiligen-Hos¬ pital an einer linksseitigen Kniegelenksentzündung behandelt; nach mehrmaliger Operation soll B. mit einem steifen linken Bein entlassen worden sein. Fleischermeister K. erklärte, ihm sei von einem Unfall nichts bekannt, bei ihm sei B. nie krank gewesen, erst 16 Tage nach seinem Abgang habe sich B. krank gemeldet. Verschiedene Zeugen bekundeten aber, dass der Ochse thatsächlich mit B. durchgegangen sei, auch sei B. dabei zur Erde gefallen. Dr. K. erklärte, das verletzte Knie¬ gelenk sei steif und unbeweglich. Sanitätsrath Dr. R. vom Allerheiligen-Hospitale bekundete Ende 1897, es handle sich bei B. um eine tuberkulöse Kniegelenksentzündung; erst nach seiner Entlassung habe B. von einem Unfall gesprochen. Ein solches Leiden könne von selbst entstehen, könne aber auch durch eine Verletzung hervorgerufen werden. Die Berufs¬ genossenschaft lehnte darauf jede Rentenzahlung ab, da das tuberkulöse Leiden nicht auf einen Unfall zurückzuführen sei. Auf die Berufung des Verletzten wurde Dr. R. abermals gut¬ achtlich gehört. Letzterer führte u. A. aus, es sei bekannt, dass Leute, die völlig gesund erscheinen, bei vorhandener Disposition in Folge von Verletzung eine Entzündung be¬ kommen, die sich nach und nach zu einer tuberkulösen Er¬ krankung herausbilde. Es würde das Leiden des B. mit einer Verletzung, die eine schwere sein müsste, in ursächlichen Zu¬ sammenhang gebracht werden können, wenn B. bald nach dem angeblichen Unfall eine Arbeitsbehinderung erfahren hätte. B. habe aber^noch drei Wochen nach dem behaupteten Unfälle weiter gearbeitet; es sei kein Anhalt gegeben, dass B. nach der Verletzung irgend welche nennenswerten Be¬ schwerden gehabt und die Arbeit deshalb habe aussetzen müssen. Dies wäre aber die notwendige Folge gewesen, wenn das Leiden des Klägers durch eine Verletzung beim Unfall entstanden wäre. Es sei daher anzunehmen, dass sich die Kniegelenksentzündung des Klägers ohne eine Verletzung gebildet und nicht auf einen Unfall ursächlich zurückzuführeu sei. Das Schiedsgericht zu B. schloss sich der Auffassung des Sachverständigen an und wies die Berufung als unbe¬ gründet ab. Das Reichs-Versicherungsamt hingegen hat nach weiterer Beweiserhebung den Unfall und auch den ursäch¬ lichen Zusammenhang des Leidens mit dem Unfall für wahr¬ scheinlich gemacht erachtet und daher die Berufsgenossen¬ schaft zur Entschädigung verurteilt. M. Dem Schiedsgericht darf, wenn gegen ein von der Berufsgenosaenschaft eingeforderte« Gutachten eines ihrer Vertrauensärzte Bedenken obwalten, das Recht nicht versagt werden, einen anderen Vertrauensarzt der Be- rufagenossensobaft zu hären und dessen Gutachten der Entscheidung zu Grunde zu legen. Rek.-Entsch. vom 7. Februar 1900. H. K. zu C. bezog seit dem 15. September 1897 auf Grund des Bescheides der Fuhrwerks - Berufsgenosseuschaft vom 20. Oktober 1897 in Folge einer am 15. Juni 1897 durch Be¬ triebsunfall erlittenen Quetschung der Brust und des Rückens die Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit. Durch Bescheid der Genossenschaft vom 27. Juni 1899 ist die Rente vom Zu¬ stellungstage ab auf 66 2 /s Prozent der Vollrente heiakör^ötzt worden, weil in den Verhältnissen des Reniimouipfängers, die für die Feststellung der massgebend gewesen sind, nach dem ^hrtaehten des Dr. Kn. vom 6. Juni 1899 eine dementsprechende Aenderung eingetreten sei. Auf die Be¬ rufung des Klägers änderte das Schiedsgericht den Bescheid der Berufsgenossenschaft ab und machte geltend, nach dem im schiedsgerichtlichen Verfahren eingeholten Obergutachten des Dr. Kö. vom 23. August 1899 ist in dem Zustande des Klägers eine wesentliche Besserung nicht eingetreten. Wie früher, so sieht derselbe auch jetzt noch abgemagert, matt und hinfällig aus und geht gebückt wie ein alter Mann. Der Be¬ fund auf den Lungen ergiebt Bronchialkatarrh, Rasseln, Dämpfung und bei Athmung starken Hustenreiz. In dieser Verfassung ist der Verletzte nach Ansicht des Dr. Kö. nicht im Stande eine wesentliche Erwerbsfähigkeit zu entwickeln und ist völlig arbeitsunfähig, da er selbst leichte Botengänge kaum machen kann. Der Gerichtshof hat sich diesem Gut¬ achten angeschlossen und die Genossenschaft zur Weiter¬ zahlung der bisherigen Rente verurtheilt. Gegen diese Ent¬ scheidung legte die Genossenschaft durch ihren Geschäfts¬ führer Z. Rekurs beim Reichs-Versicherungsamt ein und über¬ reichte ein von Dr. Kn. unter dem 4. Oktober 1899 erstattetes Gutachten, hält die Herabsetzung der Rente auf 66 2 / 3 Prozent der Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit für gerechtfertigt. Der Kläger beantragte die Zurückweisung des Rekurses und machte geltend, allerdings werde er vom Fuhrherrn G. zu B. als Stallwächter beschäftigt, seine Arbeit besteht aber nur darin, Nachts die von den Ständen ausbrechenden Pferde wieder anzukoppeln und des Morgens die Verkeilung des Futters zu überwachen; im Uebrigen sei ihm des Nachts Ge¬ legenheit zur Bettruhe im Stall gegeben und er erhalte von G. wöchentlich 6 M., davon müsse er, wenn er bei ungünsti¬ ger Witterung seine Wohnung nicht verlassen könne, was öfters vorkomme, die Kosten eines Stellvertreters mit 75 Pf. bis 1 M. für jede Nacht bezahlen, so dass ihm öfters nur drei bis vier Mark für jede Woche übrig blieben; in Folge des Luftmangels sei er ausser Stande, bei rauhem, nasskaltem Wetter im Freien zu arbeiten. In einem weiteren Schrift¬ sätze vom 1. Februar 1900 hat der Kläger noch angezeigt, dass er seit drei Wochen wieder schwer leidend und bett- Digitized by Google 250 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 12. lägerig sei. Von der Genossenschaft wurde noch ausgeführt, das Schiedsgericht sei nicht berechtigt gewesen, gegenüber dem Gut¬ achten des Dr. Kn. den Dr. Kö., der ebenfalls ihr Vertrauensarzt sei, als Obergutachter zu behandeln. Die Genossenschaft sei übrigens bereit, dem Kläger statt der Rente von 66 2 /3 Prozent eine Rente von 75 Prozent zu gewähren. Das Reichs-Ver¬ sicherungsamt änderte auch die Vorentscheidung ab und machte u. A. Folgendes geltend: Das Verfahren in Unfallversicherungs¬ sachen wird von dem Grundsätze beherrscht, dass nach freier richterlicher Ueberzeugung zu verhandeln, Beweis zu erheben und zu entscheiden ist. Das Schiedsgericht ist daher in der Auswahl der Sachverständigen nicht beschränkt. Ihm darf demnach auch, wenn gegen das von der Berufsgenossenschaft eingeforderte Gutachten eines ihrer Vertrauensärzte Bedenken obwalten, das Recht nicht versagt werden, einen anderen Vertrauensarzt der Berufsgenossenschaft zu hören und ge¬ gebenenfalls dessen Gutachten der Entscheidung zu Grunde zu legen. In der Sache selbst hat das Rekursgericht im Hin¬ blick auf den von den Aerzten festgestellten objektiven Be¬ fund in Verbindung mit den eigenen Angaben des Klägers über seine thatsächliche Arbeitsleistung die Ueberzeugung ge¬ wonnen, dass in den Verhältnissen, welche Für die Festsetzung der Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit massgebend gewesen sind, eine wesentliche Veränderung insofern eingetreten ist, 4 *r Allgemeinbefinden des Klägers sich gebessert hat. Der Kläger mW« qeit dem 1. Juli 1899 wieder für fähig er¬ achtet werden, einen twi «eines früheren Lohnes durch leichte Arbeit, wenn auch mit UmerWoiwngen und bei rauher, nasskalter Witterung nicht im Freien, zu verdienen. Den Grad der vom Kläger wiedergewonnenen Erwerbsfähig¬ keit hat das Reichs-Versicherungsamt nach freiem Ermessen auf 25 Prozent geschätzt und daher — dem Anerbieten des Vertreters der Berufsgenossenschaft im Termin vor dem Reichs-Versicherungsamt entsprechend — dem Kläger eine Rente von 75 Prozent für die Zeit vom 1 . Juli 1899 ab zu¬ erkannt. M. Gebührenwesen. Verjährung des Arztlohnes. Das mit dem 1. Januar d. J. in Kraft getretene Bürger¬ liche Gesetzbuch ist auch einflussvoll auf den durch die Ver¬ kehrssitte ausgebildeten Brauch der Aerzte in Beitreibung ihrer Forderungen auf Arztlohn. Denn während bisher nach allen innerhalb des Reichsgebietes geltenden Landesgesetzen für derartige Ansprüche eine vierjährige Verjährungsfrist aner¬ kannt wurde, verjähren auf Grund dessen § 196 in 2 Jahren die Ansprüche der Aerzte, insbesondere auch der Wundärzte, Geburtshelfer, Zahnärzte und Thierärzte, sowie der Hebammen für ihre Dienstleistungen, mit Einschluss der Auslagen. Es beginnt nach § 198 die Verjährung mit der Entstehung des Anspruches, d. h. zufolge § 201 mit dem Schlüsse des Jahres, in welchem der massgebende Zeitpunkt eintritt. Mit Rücksicht auf die Gepflogenheit, erst nach Beginn eines neuen Jahres die Rechnungen für das abgelaufene auszuschreiben und dem Zahlungspflichtigen zuzustellen, ist innerhalb der rechtskundi¬ gen Kreise die Streitfrage entbrannt, auf welche Zeit zurück¬ gerechnet der Arzt jetzt noch Honorarforderungen rechtlich geltend machen, d. h. durch Klage verfolgen kann. Bei dem Austausche der einander wiederstreitenden Rechtsanschauun¬ gen wurde auch die Ansicht vertreten, es müsse für die Ueber- gangszeit eine mildere Praxis geübt und könne deshalb die Rechtsregel nicht unbedingt auf diejenigen Ansprüche rück¬ wirkend erkannt werden, deren Beitreibung nach dem damals geltenden Rechte bis zum Ablauf des Jahres 1899 zweifellos noch nicht zu erfolgen brauchte. Bei der so ausserordentlich erheblichen praktischen Tragweite dieser Streitfrage für die ärztlichen Kreise erscheint ein näheres Eingehen auf dieselben geboten. Verkennen lässt sich nicht, dass bei strenger Auslegung der Rechtsregel des § 196 ein nicht unerheblicher Betrag rück¬ ständiger Arztlohnforderungen in Folge Zeitablaufes dergestalt untergegangen bezw. in der Beitreibung erschwert sein würde, dass seitens des Forderungsberechtigten bei Erheben der Klage von vornherein der Einrede der Verjährung begegnet werden müsste. Es lässt sich auch nicht bezweifeln, dass auf Grund der gemachten Erfahrungen, wonach vielfach die der ärzt¬ lichen Hilfe Bedürfenden während der Krankheit grosse Ver¬ sprechungen machen aber nach bestandener Gefahr die er¬ hobenen Ansprüche, oftmals sogar unter Verletzung der Regeln des Anstandes und der Billigkeit auf das denkbar niedrigste Mass herabzudrücken suchen, in nicht seltenen Fällen von der Einrede der Verjährung Gebrauch gemacht und dadurch der Arzt um seinen wohlverdienten Anspruch gebracht werden wird. Allein dem ungeachtet lässt der klare, bestimmte und unzweideutig gefasste Wortlaut der Rechtsregel keine andere Auslegung sprachgebräuchlich zu, als dass nach dem 1. Ja¬ nuar d. J. nach dem gesetzgeberischen Willen für Ansprüche der Aerzte eine auf 2 Jahre abgekürzte Verjährungsfrist an¬ statt der bisherigen vierjährigen rechtens sein soll. Bestätigt wird diese Rechtsüberzeugung noch dadurch, dass zufolge Art. 55 des Einf.-G. z. B. G. B. die privatrechtlichen Vor¬ schriften der Landesgesetze ausser Kraft treten, soweit nicht in dem B. G. B. oder in diesem Gesetze ein Anderes bestimmt ist, aber auch Art. 89 des Preuss. Ausf.-G. z. B. G. B. unter 9, 12, 14, 16, 17, 18, 19, 21, 25 die in den preussischen Landes- theilen seither in Geltung gestandenen Gesetze wegen Ein¬ führung kürzerer Verjährungsfristen mit dem 31. Dezember 1899 ausdrücklich aufhebt. Rechtsunbedenklich werden des¬ halb die Arztansprüche hinfort durch § 196 B. G. B. getroffen. Für sie gilt sonach die zweijährige Verjährungsfrist, so dass bis zum 31. Dezember d. J. blos noch die im Verlaufe des Jahres 1898 enstandenen Ansprüche rechtlich verfolgt werden können. Es entsteht aber der Anspruch mit demjenigen Zeit¬ punkte, wann die Handlung geleistet wurde, als deren Gegen¬ leistung die Vergütung begehrt wird. Nur bei einer lang¬ andauernden Krankheit würde erst mit Behebung derselben, also dem Tage, an welchem zum letzten Male die ärztliche Hilfe in Anspruch genommen bezw. geleistet wurde, das Ent¬ stehen des Anspruchs auf Vergütung Zusammentreffen, so dass durch letzteren in das Jahr 1898 fallenden auch die in das Jahr 1897 zurückreichende ärztliche Hilfsleistung getroffen wird. Während auf Grund dieser hervorgehobeneu Erwägungs¬ gründe man sich dafür entscheiden muss, dass alle vor dem 31. Dezember 1897 entstandenen Arztansprüche in Folge Zeit¬ ablaufes uneinklagbar geworden seien, so ist doch auch den Gegnern dieser Auffassung darin beizustimmen, dass Für die Uebergangszeit eine entgegenkommende Behandlung derartiger Klagen sich deshalb empfehle, weil sonst in gewisser Hin¬ sicht eine rückwirkende Kraft der Bestimmung beiwohnen würde. Mit Unkenntniss gehörig verkündeter Gesetze soll sich zwar Niemand entschuldigen und aus solcher Rechte für sich ableiten dürfen, weil es die Pflicht jedes Staatsbürgers ist, sich genügende Kenntniss der ihm wissenswerthen zu ver¬ schaffen. Allein man soll doch auch nicht den Erscheinungen des täglichen Lebens und der ausgebildeten Verkehrssitte die ihnen gebührende Berücksichtigung gänzlich versagen. In Folge dessen wird man mit der Thatsache zu rechnen haben, Digitized by Google 15. Juni 1900. Aerztliohe Sachverständig en-Zeitung. 251 dass es bisher als im Widerspruche zu dem Anstandsgefühle der Aerzte stehend erachtet wurde, früher rückständiges Arzt¬ lohn einzuklagen als dessen fernere Stundung wegen des nahe¬ liegenden Ablaufes der Veijährungsfrist dazu mahnte. Und deshalb wäre es umsomehr unbillig, hier streng zu urtheilen, als in der Rechtswissenschaft Streit darüber herrscht, ob Aus¬ gang 1899 bereits die Wirkungen der Fristabkürzungen sich äussern konnten. Um nun die Stellungnahme der in jedem Einzelfalle in Betracht kommenden Urtheilsgerichte zu dieser Frage auf die einfachste und wohlfeilste Art kennen zu ler¬ nen, empfiehlt es sich zur Geltendmachung der Ansprüche aus 1896 und 1897 das Mahnverfahren zu wählen. Den Vor¬ schriften des § 688 Z.-Pr.-Ord. entsprechend, wird unbeküm¬ mert um die Höhe des Streitwertheg ein dem Anwaltszwange nicht unterliegender Antrag an das für den Beklagten zu¬ ständige Amtsgericht eingereicht und um den Erlass eines Zahlungsbefehles im Mahnverfahren gebeten. Der Richter hat zufolge §§ 691, 692 Z.-Pr.-Ord. entweder den Erlass desselben unter Darlegen der ihn bestimmenden Erwägungsgründe ab¬ zulehnen oder die Zustellung des Befehles an den Schuldner zu bewirken, binnen einer vom Tage der Zustellung laufenden Frist von einer Woche bei Vermeidung sofortiger Zwangsvoll¬ streckung den Schuldner zu befriedigen oder bei dem Gericht Widerspruch zu erheben. Hierdurch wird die Verjährung unter¬ brochen, weil auf Grund § 695 Z.-Pr.-Ord. die Wirkungen der Rechtshängigkeit bestehen bleiben. Der Zahlungsbefehl behält aber auch seine Kraft, wenn auf die bewirkte Ladung zur mündlichen Verhandlung bezw. Erhebung der Klage die richterliche Entscheidung entsprechend ausfällt. Es bleibt jedoch für den Gläubiger noch zu beachten, dass die Vollstreckbarkeit desselben nachgesucht werden muss und es sich empfiehlt, den darauf abzielenden Antrag am letzten Tage der einwöchentlichen Frist einzureichen, weil bis zu dessen Eingang zufolge § 699 Z.-Pr.-Ord. selbst ein verspäteter Wider- ßpruch des Schuldners zu berücksichtigen ist. Kreisgerichtsrath Dr. B. Hilse. Bücherbesprechungen und Anzeigen. Gumprecht, Dr. F., Professor in Jena, Die Technik der speziellen Therapie. Ein Handbuch für die Praxis. Mit 182 Abb. im Text. II. Aufl. Jena, Gustav Fischer. 1900. 343 S. Pr. 7 M. Die Behandlung innerer Krankheiten erfordert heut zu Tage eine Menge Massnahmen, die mit mechanischen Ein¬ griffen verbunden sind und eine besondere Technik erfordern. Diese dem Praktiker vertraut zu machen, ist der Zweck des vorliegenden Werkes, das innerhalb zweier Jahre nun schon in zweiter vermehrter Auflage erscheint. Wirklich, einen besseren Rathgeber als diesen kann der Arzt sich nicht wün¬ schen. Hier vereinigt sich ruhige Kritik und tiefe Sachkennt¬ nis mit Anschaulichkeit und praktischem Sinn, der Stoff ist übersichtlich — nach Organsystemen — geordnet, das Buch liest sich angenehm. Jedes Kapitel enthält einen kurzen ge¬ schichtlichen Ueberblick, den ja der reine Praktiker entbehren kann, den aber sicherlich ein grosser Theil der Leser als an¬ genehm anregendes Element nicht missen möchte. Dann folgt die Besprechung der Indikationen des einzelnen Eingriffs, die seiner Ausführung, etwa möglicher Zwischenfälle, endlich des zu erwartenden Erfolges. Das Buch gehört nicht zu denen, welchen von der Kritik nur mit kühlem Wohlwollen ein paar konventionelle Anerken¬ nungsworte mit auf den Weg gegeben werden, sondern es verdient die wärmste Empfehlung und wird sich sicherlich immer mehr in weitesten ärztlichen Kreisen einbürgern. Busse, Dr. Otto, Privatdozent für Pathologie und pathologische Anatomie, Greifswald. Das Sektionsprotokoll. Berlin, Richard Schoetz. 1900. 114 S. mit 4 Abbild, im Text und 1 Tafel. Preis: M. 4,—. Der Herausgeber des Buches hat den Zweck verfolgt, ein ausschliesslich für die Praxis, bestimmtes Buch zu schaffen. Jeder, der häufiger Gelegenheit hat, Leichen zu obduziren, wird die Erfahrung gemacht haben, dass es schwierig ist, nach dem preussißchen Regulativ für das Verfahren der Gerichts¬ ärzte bei den gerichtlichen Untersuchungen menschlicher Lei¬ chen einen genauen und korrekten Sektionsbericht zu liefern, der jeder Kritik des Obergutachters standhalten kann. Den Hauptvorzug des Buches erblicke ioh nun darin, dass „Alles das, was bei der Sektion zu beachten ist, in Gestalt von Fragen eingekleidet ist, die so abgefasst sind, dass sie in ihrem Wortlaut, wo irgend angängig, schon die normale Be¬ schaffenheit des Organes einschlies&en. Werden diese in den Fragen enthaltenen Wendungen einfaoh in bejahender Form dem Protokoll ein verleibt, so ist der normale Befund notirt“. Eine weitere Hilfe bei der Abfassung des Sektionsprotokolles giebt der Verfasser dem Obduzenten durch die übersichtlich klaren Hinweise, gewissermassen ein kurzer Abriss der spezi¬ ellen Pathologie eines jeden Organes, was an krankhaften Veränderungen bei demselben, sowie was diflferentialdmjr»^^ tisch in Betracht kommen kann. An derjlflj^^^ ^ uc * le8 > das vollkommen im Sinne d^j^zi^^^chen Sektionstechnik gehalten ist Sezirenden fast zur Unmöglich- fctrfir geffiacmt, irgend welche pathologischen Verhältnisse zu übersehen. Wir können das Buch, von dessen hoher praktischer Brauchbarkeit wir überzeugt sind, nur empfehlen. Den grössten Nutzen wird ja der sachverständige Gerichtsarzt vom Ge¬ brauche des Buches haben, dessen Sektionsprotokoll in manchen Fällen heutzutage nicht nur vom Obergutachter, sondern auch von der Allgemeinheit der Aerzte, ja sogar — exempla docent — vom Laienpublikum kritisirt wird; aber auch der Assistenzarzt am Krankenhause, der zuweilen in die Lage kommt, einen wissenschaftlich korrekten Sektionsbericht zu liefern, Aerzte, die sich auf das Physikatsexamen vorbe¬ reiten wollen, der Militärarzt und nicht zuletzt der Student in klinischen Semestern, für den das Buch ein wirkliches Schulbuch und ein guter Wegweiser ist, werden es mit grossem Nutzen gebrauchen. Dr. Koch-Greifswald. Tagesgeschichte. Das Fleischbeschaugesetz ist vom Reichstag in dritter Lesung angenommen worden, Es hat die ,, Kompromissform“ erhalten, welche, den Wünschen gewisser politischer Parteien folgend, von den gesundheits¬ polizeilichen Forderungen des Entwurfes ein Stück abgetrennt hat, während andererseits vom rein hygienischen Standpunkt aus zu billigende Vorschriften neu eingefügt worden sind. Ein bedeutender Fortschritt auf dem Gebiete des Gesundheits¬ wesens ist das Gesetz auch in dieser Form. Im ganzen deutschen Reich wird künftig die Schlachtvieh- und Fleisch¬ beschau durchgeführt werden, mit alleiniger Ausnahme der Hausschlachtungen, deren Aufsichtslosigkeit freilich nicht un¬ bedenklich ist. Das Verbot der Einfuhr von solchem Fleisch aus dem Auslande, das vermöge seiner Zubereitung und Ver¬ packung keine Untersuchung in gesundheitlicher Beziehung zulässt, ist ein zweischneidiges Schwert So bedenklich Würste und zerkleinert gemengtes Fleisch, insbesondere auchFleisch- stücke in luftdicht verschlossenen Büchsen, sind, weil sie auf unkontrolirbare Weise als Krankheitsträger wirken können. Digitized by Google 252 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 12. so würde doch eine aus dem Einfuhrverbot erwachsende Ver¬ teuerung der Fleischnahrung für den kleinen Mann das grössere Uebel auch in gesundheitlicher Beziehung sein. Wir hoffen, dass die in dieser Richtung von einem Theil des Reichstags geäusserten Befürchtungen sioh nicht verwirk¬ lichen werden. Der § 15 der Geschäftsordnung für die ärztlichen Ehren¬ gerichte. Der Widerspruch gegen den bezeichneten Paragraphen (s. No. 9 d. Ztschr.) hat dazu geführt, dass die Vorsitzenden einer Anzahl von Ehrengerichten auf ihre Vereidigung zu verzichten beabsichtigten, solange diese Bestimmung nicht aufgehoben wäre. Die „Berl. Aerzte-Korr.“ hat nun mitgetheilt, dass in der Sitzung der Brandenburger Aerztekammer von Seiten des Regierungsvertreters die Aufhebung des Paragraphen in Aussicht gestellt worden sei. Dieser Auffassung tritt die „Nordd. Allg. Ztg." anscheinend officiös entgegen. Die Anzeige¬ pflicht soll nach ihr für schwerere Bestrafungen aufrecht er¬ halten bleiben, die Mittheilung an den Staatsanwalt soll indessen dem öffentlichen Ankläger zufallen, während die Vorsitzenden nur zur Anzeige an die Vorsitzenden sämmtlicher übriger Kammern verpflichtet sein sollen. Wegen e j nes unrichtigen ärztlichen Zeugnisses ist, wie die Blätter mente», 2 März er. vom Landgerichte Thom der praktische Arzt Stanislaus Tr m*. zwei Monaten Gefangniss verurtheilt worden. Ein Lehrer hatte einer Schülerin mehrere wuchtige Hiebe über die rechte Schulter versetzt. Die Mutter wollte die Verletzung von Dr. J. bescheinigen lassen, dieser wies sie aber ab, da die Sache zu unbedeutend sei. Die Frau ging dann mit dem Kinde zum Angeklagten und dieser bescheinigte, dass das Mädchen bedeutende Haut¬ verletzungen habe, deren Heilung 4 bis 5 Wochen beanspruchen und welche noch nach Jahren Spuren zurücklassen würden. Zur Untersuchung und Abfassung des Attestes brauchte der Angeklagte zwei Stunden; er liess sich 9 Mark Honorar zahlen. Auf Grund des Attestes zeigte der Vater des Mädchens den Lehrer beim Staatsanwalt an. Dieser liess das Mädchen durch Dr. K. untersuchen und dabei stellte es sich heraus, dass das Attest des Angeklagten Uebertreibungen und Unwahrheiten enthielt. Thatsächlich soll das Mädchen schon nach einigen Tagen wieder hergestelt gewesen sein. — Die gegen das Urtheil seitens des Angeklagten beim Reichsgericht eingelegte Revision wurde als unbegründet verworfen. Preisausschreiben. In der vorjährigen Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege hat Herr Prof. Dr. Heim- Erlangen einen Vortrag gehalten über das Bedürfniss grösserer Sauberkeit im Kleinvertrieb von Nahrungs¬ mitteln. Um die Aufmerksamkeit weitester Kreise auf diese in hohem Grade wichtige Frage zu lenken, wünscht der Ausschuss des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege auf dem Wege des Preisausschreibens eine grössere Zahl von Aufsätzen über diesen Gegenstand zu erhalten, welche sich zur Aufnahme in die Unterhaltungs-Tagespresse oder auch zur Aufnahme als Lesestück in deutsche Volksschullesebücher eignen. Diese Aufsätze sollen 1. kurz sein (2—3 Druckseiten zu je oa. 400 Worten), 2. für Volksschullesebücher dem Fassungsvermögen von Schulkindern im Lebensalter von 9—14 Jahren angepasst sein und 3. auf die verschiedenen in dem Vortrag von Prof. Heim berührten Punkte sich beziehen. Es sollen Preise von 50 bis 100 M. für den einzelnen Auf¬ satz, im Gesammtbetrag von 2000 M., vergeben werden. Das Preisrichteramt werden ausüben die Herren Dr. Erwin v. Esmarch, Professor der Hygiene in Göttingen, Dr. Ludwig Heim, Professor der Hygiene in Erlangen, Dr. E. Lent, Geh. Sanitätsrath in Köln, Dr. Matthias, Geh. Regierungsrath und Vortragender Rath im kgl. preussischen Kultusministerium in Berlin und Dr. A. Spiess, Geh. Sanitätsrath und Stadtarzt in Frankfurt a. M. Die von den Preisrichtern eines Preises würdig erkannten Aufsätze werden Eigenthum des Vereins, welcher die preis¬ gekrönten Aufsätze in Druck veröffentlichen und den Heraus¬ gebern von Unterhaltungs-Tageblättern und von Schullese- büchern zum Abdruck kostenfrei zur Verfügung stellet) wird. Die Aufsätze sind bis zum 1. Oktober 1900 an den stän¬ digen Sekretär des Vereins Geh. Sanitätsrath Dr. Spiess in Frankfurt a. M. kostenfrei einzusenden, von welchem Abdrücke des Vortrages von Prof. Heim nebst der sich daran schliessenden Diskussion in einem oder mehreren Exemplaren auf Ansuchen kostenfrei bezogen werden können. Der Name des Verfassers eines einzusendenden Aufsatzes ist in einem mit einem Kenn¬ wort versehenen verschlossenen Briefumschlag der mit dem gleichen Kennwort versehenen Handschrift beizufügen. Bekanntmachung. Im Ansctüuooo «ml meine Bekanntmachung vom 20. März d. J. bringe ich hierdurch zur Kenntniss der betheiligten Kreise, dass Privatpersonen thierischen Impfstoff zu Pocken¬ impfungen durch die Aerzte, welcher in der hiesigen König¬ lichen Anstalt hergestellt wurde, in den Apotheken nachstehend verzeichneter Apothekenbesitzer erhalten können: Henke, W., Charlottenstr. 54. Dr. Laux, C., Prenzlaueratr. 45a. L. Beutler, O., Markusstr. 1. M. Kessler, SÖ.,Köpenickerstr. 144. Dr. Baetcke, S., Prinzenstr. 102. . R .. Dr. Callies, NW., Alt Moabit 18. “ Pulst, NW., Luisenstr. 19. Schering, N., Chausseestr. 19. E. J. Fischer, N., Kastanien Allee 2. Paul Reimer, S., Blücherstr. 53 sowie bei Rothe, Spandauerstr. 36 und bei Schluckebier Tauenzienstr. 1 in Charlottenburg. Ausserdem ist aber in zahlreichen anderen Apotheken anderwärts bezogener Impfstoff zu haben. Die erforderlichen Formulare zu Impflisten und Impfscheinen sind durch die Reichsdruckerei, Oranien- strasse 90/91 nur nach schriftlicher Bestellung und vorheriger Einsendung des Geldbetrages mittelst Postanweisung zu be¬ ziehen; eventuell wird der Geldbetrag durch Postnachnahme eingezogen. Einsendung von Postmarken ist unzulässig. Die Verlagsbuchhandlung von Eugen Grosser, Wilhelm¬ strasse 121, hat den Verlag der Formulare eingestellt. Da¬ gegen sind solche unter Anderem bei Karl Kühn & Söhne C. Breitestr. 25/26 und durch das Medizinische Waaren- haus, N. Friedrichstr. 108, zu haben, auch von der Hofbuch¬ druckerei von Trowitzsch & Sohn in Frankfurt a./Oder zu beziehen. Berlin, den 29. Mai 1900. Königl. Sanitätskommission. In Vertretung, gez. Friedheim. Verantwortlich für den Inhalt: Dr. F. Leppmann in Berlin. — Verla* und Eigenthum von Richard Bchoets in Berlin. — Druck von Albert Damoke, Berlin-BchÖneberg. Digitized by v. joogle Die „A entliehe ßechvertlludlgen-Zeltnnff“ erscheint monatlich zweimal. Dieselbe ist an beziehen durch den Buehhandel, die *»o»t (Ho. Sö) oder durch die Verlagsbuchhandlung ron Rtohard Schootx, Berlin NW., Luisen «tr. 80, tum Preise ▼on Mk. 6.— pro Vierteljahr. Aerztlich© Alle Manuskripte, Mitthellungen und redaktionellen Anfragen belleoe san au senden an Dr F. Leppmann, Berlin W., Knrfbratenstr. Ho. 8. Korrekturen, Rezenalons-Exemplare, Sonderabdrflcke an die Verlagsbuchhandlung, Inserate und Beilegen an die Annoncenexpedition von Rudolf Moase. Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und Unfall-Heilkunde. Herausgegeben von Dr. L. Becker Dr. A. Leppmann Dr. F. Leppmann Sanitütsrath, Königlicher Physikus, Vertrauensarat SanltKtsrath, Königlicher Physika», Arat der Reobachtung«anatalt für ge lates- prakt. Arat. von Berufsgenoasenschaften und Schiedsgerichten. kranke Gefangene in Moabit-Berlin, Spezialarzt fllr Nerven, u. Ueisteskranko. Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstrasse 36. VI. Jahrgang 1900. J\s. 13 . Ansgegeben am 1. Juli. Inhalt: Originalien: Maröchaux, Gelenktrauma und akuter Gelenkrheuma¬ tismus. 8. 253. Mayer, Peliosis rheumatica und Trauma. 8. 256. Wolff, Mittelbarer Zusammenhang zwischen Augenverletzung und tätlicher Hirnhautentzündung. 8. 257. Referate: Allgemeines. Ziehen, Zuverlässigkeit verletzter Personen nach schweren Schädelverletzungen. 8. 258. Wach holz, Zur Kasuistik der Selbstmorde durch Schuss. 8 . 258. Chirurgie. Machol, Geschwülste im Anschluss von Verletzungen. S. 259. Perthes, Ueber ,Druckstauung*. S. 260. Tillmann. Schädigungen des M. cucullaris u. ihre Diagnose. 8.261. Reichenbach,UngewöhnlicheDislokationb. Fracturacruris.8.261. Innere Medizin. Partos, Die Erkältung als Krankheitsursache. S. 262. Ilg, Ein Fall von Blutschwitzen. S. 262. Menge, Ueber Urinbefunde nach Nierenpalpation. S. 262. Neurologie, v. Bechterew, Ueber den Scapulo-Humeralreflex. S. 262. Haenel, Ueber den Scapulo-Humeralreflex. S. 263. Fuchs, Behandlung konträrer Sexuaiempflndung. S. 263. Vergiftungen. Seydol, Psychose nach Bleiintoxikation. S. 263. Beythien, Ueber die Gesundheitschädlichkeit bleihaltiger Gc- brauchsgegonstände, insbesondere der Trillerpfeifen. 8. 263. Frommer u. Paneck, Die Intoxikation bei Gebrauch der Jodo- form-Glycerin-Emulsion. 8 . 264. Hygiene. Meyor, Zur Ausführung der Trichinenschau. S. 264. Rubner, Russbildner in unseren Wohnräumen. S. 264. Bornträger, Zusatz schwefligsaurer Salze zum Fleisch. S. 264. Szalärdi, Der Stand des Findelwesens in Ungarn. S. 265. Marcuse, Bäder und Bade wesen im Mittelalter. S. 265. Aus Vereinen und Versammlungen. Berliner Medizinische Gesell¬ schaft. — Berliner Verein für innere Medizin. — Freie Vereinigung der Chirurgen Berlins. — Gesellschaft der Aerzte in Wien. —Wiener medizinischer Klub. —Wissen¬ schaftlicher Verein der Militärärzte der Garnison Wien. — Medizinische Sektion der Schlesischen Gesell¬ schaft für vaterländische Kultur. — Nürnberger medi¬ zinische Gesellschaft und Poliklinik. — Medizinisch¬ naturwissenschaftliche Gesellschaft zu Jena. S. 266. Gerichtliche Entscheidungen: Aus dem Reichs-Versicherungs-Amt: Obergutachten, betr. Kreuzbeinbruch und Quetschung des grossen Hüftnerven durch Unfall — Ischias traumatica — mit trophischen Störungon der Wadenmuskulatur. — 25 Prozent für ein Auge. — Einfacher Schmied kein Qualitätsarbeiter. Grad der Erwerbsver¬ minderung bei Verlust eines Auges. S. 268. Aus dem Kammergericht: Aerzte dürfen auch die freigegebenen Arzneien verkaufen. S. 272. BQcherbesprechungen u. Anzeigen: Dürck, Atlas und Grundriss der speziellen pathologischen Histologie. — Dommer, Vorsichtsmass- rogoln beim Selbstkathetorismus zur Verthoilung an Blasonkranke von Seite das Arztes. -Fuchs, Die Prophylaxe in d.Psychiatrie.S.273. Tagesgeschichte: Das Reichsseuchengesetz. — Die bevorstehende Ab¬ änderung des Kranken-Versicherungsgesetzes.— Die Berechtigung zum ärztlichen Studium. — Nochmals der Fall Zehnder. — Die Wiederbeschäftigung von Unfallverletzten im Bezirke der Sektion n der Knappschafts-Berufsgenossonschaft (Bochum). — Trinkerheil¬ anstalt. — Kreuzotterbiss. — Tages - Ordnung der XVII. Haupt¬ versammlung des Preussischen Medizinalbeamten-Vereins. S. 273. Gelenktrauma und akuter Gelenkrheumatismus. Von Dr. Marächaux- Magdeburg. Vertraaensarat der ElbBChifffahrts-BerargRenossenschaft. Mit grossem Interesse habe ich den Aufsatz von San.- Rath Dr. L. Becker über „Gelenkrheumatismus nach Trauma“ in No. 12 der „Aerztlichen Sachverständigen Zeitung“ x vom 15. Juni 1900 gelesen. Zum ersten Male werden in dieser Abhandlung nicht nur kasuistische Beiträge zu der Frage nach der Möglichkeit der traumatischen Entstehung des akuten Gelenkrheumatismus geliefert, sondern die Frage wird auch einer kritischen Beleuchtung sowohl an sich wie an etwaigen Schlussfolgerungen unterworfen. Als mir diese Abhandlung zu Gesicht kam, hatte ich nahezu die nachstehende Arbeit, welche das gleiche Thema behandelt, beendet. Um nun Wiederholungen zu vermeiden, lasse ich die Kritik über die bisher veröffentlichten einschlägigen Fälle fort, zumal sie sich im Wesentlichen mit derjenigen von Becker deckte. Ferner lasse ich die Einschränkungen fort, welche namentlich sich auf die Art des Gelenktraumas (keine offene Wunde etc.) und auf die Art des akuten Gelenkrheumatismus (kein monartiku¬ lärer etc.) beziehen, da sie mit denjenigen Becker’s überein¬ stimmten. Schliesslich überheht mich die Arbeit Becke r’s» über die Pathogenese des akuten Gelenkrheumatismus und die Wechselbeziehungen dieser mit dem Trauma Erörterungen an¬ zustellen. Ich beginne deshalb gleich mit der Schilderung einzelner Fälle und lasse diesen einige kritische Bemerkungen folgen. Bemerken will ich zuvor nur noch, dass ich absicht¬ lich die Ueberschrift: „Gelenktrauma und akuter Gelenk¬ rheumatismus“ gewählt habe, um die Frage mehr abzugrenzen. I. Der Deckmann K., 55 Jahr alt, war am 24. November 1897 damit beschäftigt, Erde mittelst Kipplowrys von der Grube in den Kahn auf Schienengleis zu befördern. Als er mit zwei beladenen Lowrys abwärts nach dem Kahn fuhr, hatte er sich auf die hintere Lowry gestellt, welche plötzlich aussetzte und umschlug. Beim Seitwärtsabspringen fiel K. hin und schlug auf die rechte Hand auf. Er zog sich da¬ durch eine Verstauchung des rechten Handgelenks mit Bänder- zerreissung und Bluterguss in das Gelenk zu. Diese Unfall¬ folgen waren nach dem Attest des behandelnden Arztes am 31. Dezember 1897 gänzlich beseitigt. Anfang Januar 1898 erkrankte K. an heftigem und hart¬ näckigem Gelenkrheumatismus; und zwar waren beide Knie¬ gelenke schmerzhaft geschwollen, während das rechte Hand: j gelenk, das Ellbogen- und Schultergelenk gänzlich/dftTloftiWIbf! schont blieben. Der behandelnde Arzt spragh^ den^ Gelenk¬ rheumatismus als die mittelbare Folge deSjtJntijlls Mann, welcher an einem Orte mit sehr feuchtem Untergründe Digitized by Google 254 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 13. lebte und zu rheumatischen Erkrankungen disponirt war, durch den Unfall gezwungen worden sei, sich wochenlang zu Hause aufzuhalten und sich den ungünstigen tellurischen Verhält¬ nissen nicht nur, wie sonst, des Nachts, sondern auch tagsüber auszusetzen. Er schätzte die Erwerbseinbusse auf 100 Prozent. Um einen mittelbaren Zusammenhang zwischen dem Un¬ fall und dem rheumatischen Leiden des Mannes als wahr¬ scheinlich hinstellen zu können, hätte m. E. der Gelenkrheu¬ matismus an dem beschädigten Gelenk einsetzen, zum Mindesten aber letzteres in Mitleidenschaft ziehen müssen. Wäre dann in letzterem Falle in Folge des Rheumatismus eine funktio¬ nelle Störung in dem beschädigten Handgelenk zurückge¬ blieben, so wäre ein mittelbarer Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Gelenkrheumatismus anzunehmen gewesen. Ich führte in meinem Gutachten aus, dass K. auch ohne Hinzutritt der Unfallverletzung diesen schädlichen Einflüssen zur Zeit der Schifffahrtspausen (im Winter) ausgesetzt ist, dass er durch seine Handbeschädigung gar nicht dauernd an seine Wohnung gefesselt war, dass er vielmehr tagsüber ganz nach Belieben sich im Freien ergehen konnte, so lange er wollte, und die hygienisch besser beschaffenen Distrikte aufsuchen konnte ebenso, wie während der Arbeitszeit. Da ausserdem das vom Unfall betroffene rechte Handgelenk nicht vom Ge¬ lenkrheumatismus befallen, vielmehr vollständig normal beweg¬ lich, schmerzfrei und nicht verdickt war, so kam ich zu dem Schluss, dass die Erkrankung des Mannes an Gelenkrheuma¬ tismus weder in direktem noch indirektem ursächlichem Zu¬ sammenhänge mit dem Unfall stehe und dass an dem rechten Handgelenk von Unfallfolgen, welche die Erwerbsfähigkeit des Mannes beeinträchtigen könnten, nicht mehr die Rede sei. Berufsgenos8enschaft und Schiedsgericht schlossen sich meinen Ausführungen an und wiesen die Ansprüche des K. zurück. Die Richtigkeit dieser Schlussfolgerung beweist nach¬ stehender Fall: II. Der Schiffseigner H., 51 Jahre alt, glitt am 2. Januar 1899 auf Deck aus, fiel hin und zog sich durch den Fall eine Quetschung der rechten Schulter und Verstauchung des Schultergelenks zu. Wegen zurückgebliebener Behinderung der Beweglichkeit des rechten Armes wurde ihm seitens der Berufsgenossenschaft eine Rente von 20 Prozent zugebilligt. Nach der Angabe des Beschädigten hatte sich am Tage nach der Entlassung aus dem medico-mechanischen Institut, am 7. April 1899, Gelenkrheumatismus eingestellt, welcher zuerst das rechte Schultergelenk, dann der Reihe nach das rechte Knie, das linke und das rechte Fussgelenk befiel und sich in mehrfachen Rückfällen zeigte. Der behandelnde Arzt attestirte, dass H. seit seiner Entlassung aus dem Institut an Gelenk¬ rheumatismus erkrankt sei. H. legte Berufung beim Schieds¬ gericht ein, in welcher er die gewährte Rente als unzuläng¬ lich bezeichnete und behauptete, dass sich in Folge des Un¬ falls in dem verletzten Arm ein hochgradiger Rheumatismus eingestellt habe. Der vom Schiedsgericht hinzugezogeue Arzt kam in seinem Gutachten zu folgenden Schlüssen: „1. H. ist wegen Gelenkrheumatismus noch für einige Zeit erwerbs¬ unfähig. 2. Ein Zusammenhang dieser Erkrankung mit dem Unfall ist nicht anzunehmen. 3. Die bei der Entlassung aus dem Institut bestehende Erwerbsbeschränkung, also vor der Erkrankung an Gelenkrheumatismus, betrug 25 Prozent.* Daraufhin verneinte das Schiedsgericht den Zusammenhang zwischen Unfall und Rheumatismus und gewährte dem Manne eine Rente von 25 Prozent, indem es der Schätzung des Gut- adhtCrfiftfifete. ‘ ylfi d^gen 1 dieses Urtheil legte H. beim Reichs-Versicherungs- aicfl* lÜekt/fä eiii 'ünd beantragte ihm die Rente für völlige Er- öbmng'ioJiiU moJdouoi werbsunfähigkeit zuzusprechen. Das Reichs-Versicherungsamt erkannte unter dem 9. Januar 1900 folgendermassen: »Durch die beigefügten ärztlichen Gutachten ist er¬ wiesen, dass zwar nicht die Erkrankung des Klägers an Gelenkrheumatismus auf den Unfall vom 2. Januar 1899 zurückzuführen ist, wohl aber auf den Verlauf der Krank¬ heit der Unfall insofern von Einfluss gewesen ist, als der Rheumatismus in dem durch den Unfall geschädigten Schultergolenk heftiger aufgetreten ist als in don andern Gelenken und in diesem Schultergelenk noch heute besteht, während er in den andern Gelenken bereits verschwunden ist. Insoweit besteht also zwischen dem Unfall und dem Gelenkrheumatismus ein mittelbarer Zusammenhang, und die Beklagte ist deshalb verpflichtet, den Kläger auch für diese Folge des Unfalls zu entschädigen. Die Gebrauchs¬ fähigkeit des verlotzten rechten Armes ist seit dem Hin¬ zutreten dos Gelenkrheumatismus, der etwa um die Zeit der Entlassung aus dem Institut des Dr. G. aufgetreten ist, gleich null, und der Kläger von da ab, so lange dieser Zustand besteht, ebenso zu entschädigen, als wenn er den rechten Arm überhaupt eingebüsst hätte, das heisst mit 75 Prozent der Vollrente." Diese Entscheidung des ReichB-Versicherungsamts hebt über manche Schwierigkeiten hinweg. Erkrankt ein Mann an Gelenkrheumatismus und tritt letzterer an einem durch Un¬ fall geschädigten Gelenk heftiger auf als in den anderen Gelenken, bleibt er schliesslich allein noch in diesem Gelenk bestehen und verursacht er eine gesteigerte Störung der Ge¬ brauchsfähigkeit in diesem Gelenk, daun besteht zwischen dem Unfall und dem Gelenkrheumatismus ein mittelbarer Zu¬ sammenhang. Die Fragen, ob der Gelenkrheumatismus durch den Unfall herbeigeführt oder ob das beschädigte Gelenk zuerst vom Rheumatismus befallen worden ist oder ob der Mann schon vor dem Unfall zum Gelenkrheumatismus dis¬ ponirt war, werden in einem solchen Falle gänzlich überflüssig. Beachtenswerth ist meiner Ansicht nach die Bedingung, dass das betreffende Gelenk durch den Unfall noch geschädigt sein muss, d. h. dass bei ihm noch nachtheilige Folgen von dem Unfall her vorhanden sein müssen zur Zeit, wo der Ge¬ lenkrheumatismus einsetzte. Anders würde die Beurtheilung des qu. Zusammenhanges ausfallen müssen, wenn die Unfallfolgen an dem beschädigten Gelenk schon seit Jahren gänzlich beseitigt sind. Wird dann der Mann von Gelenkrheumatismus befallen und bleibt letzterer grade in dem s. Z. vom Unfall beschädigten Gelenk persistent und nachtheilig wirkend, dann würde ich Bedenken tragen, hierfür den Unfall als indirekte Ursache anzuschuldigen, da es ja ganz zufällig sein kann, dass sich die rheumatische Er¬ krankung grade in diesem Gelenk festgesetzt hat. Andrerseits könnte mau aber argumentiren: Nach der Beschädigung des Gelenks können so geringfügige krankhafte Veränderungen in demselben zurückgeblieben sein, dass sie gar keine funktio¬ nellen oder andere Störungen mehr zu machen brauchten und sich sowohl den Beobachtungen des Unfallverletzten selbst wie den genauen Untersuchungen des Arztes entzogen; gleichwohl aber genügen diese minimalen Veränderungen, um die Ver¬ anlassung für das längere Persistireu und stärkere Einwirken des Rheumatismus grade in diesem Gelenk abzugeben. Mit einer solchen Argumentation verlässt mau aber den Boden des Thatsächlichen und begiebt sich auf das Gebiet der Spekula¬ tion. Um den Wahrscheinlichkeitsbeweis für den Kausalnexus in einem solchen Falle zu erbringen, müsste man zum Min¬ desten verlangen, dass das s. Z. beschädigte Gelenk zuerst vom Gelenkrheumatismus befallen wird. Aber selbst dann bleibt die Sache noch sehr fraglich. Ich würde in einem sol¬ chen Falle sagen: Da die Folgen des Traumas an dem ge- Digitized by Google 1. Juli 1900. Aerztliche Sachverständig en-Zeitung. 255 troffenen Gelenk schon seit Jahren verschwunden sind, so halte ich die Annahme für gewagt und wissenschaftlich nicht erweisbar, dass das stärkere Ein- und Festsetzen des Gelenk¬ rheumatismus in dem qu. Gelenk mit dem Unfall in irgend einem Zusammenhang steht. Der Umstand, dass das qu. Ge¬ lenk am intensivsten vom Gelenkrheumatismus befallen wor¬ den ist, gestattet an sich nicht den Rückschluss, dass die Folgen des Traumas noch nicht gänzlich beseitigt waren. III. Einiges Interesse bietet folgender Fall: Der Deck¬ mann L., 30 Jahre alt, fiel am 13. Januar 1899 von einem IV 2 Meter hohen Holzbock herab und zog sich dabei eine Quetschung der beiden Hüften und am rechten Handgelenk zu. Der zuerst hinzugezoger.e Arzt, welcher den Beschädigten vom 14. bis 21. Januar 1899 behandelte, stellte am Tage nach dem Unfall fest, dass die Bewegung der verletzten Beine und der rechten Hand sehr beschränkt und schmerzhaft war. Temperaturerhöhung war am 14. Januar nicht vorhanden. Am folgenden Tage äusserte L. dem Arzt gegenüber, dass die Schmerzen in den Hüften sich sehr gebessert hätten, dagegen wäre jetzt die Bewegung in den beiden Schultergelenken sehr schmerzhaft. Die Temperatur betrug 39°. In den nächsten Tagen erkrankten beide Ellbogen- und Handgelenke, weshalb die Diagnose auf akuten Gelenkrheumatismus, wahrscheinlich unabhängig vom Unfall, gestellt wurde. Da das Fieber nach einigen Tagen zurückging und keine Zeichen von Endocarditis festgestellt werden konnten, wurde dem Manne die Erlaubniss ertheilt, nach Hause zu reisen. In seiner Heimatli ange¬ kommen, musste er sich sofort wieder in ärztliche Behandlung begeben. Der Arzt konstatirte am 22. Januar 1899 eine Temperatur von 38,8° und akuten Gelenkrheumatismus, in Folge dessen beide Hand- und Fussgelenke geschwollen waren und eine Endocarditis sich eingestellt hatte. Auch nach der Ansicht dieses Arztes war der Gelenkrheumatismus nicht als Unfallfolge zu betrachten. Ich schloss mich in meiner Beur- theilung des Falles den Ansichten der behandelnden Aerzte an und zwar aus dem Grunde, weil die beschädigten Hüftge¬ lenke von dem Gelenkrheumatismus nicht befallen waren, ihre Schmerzhaftigkeit beim Einsetzen des Letzteren sogar geringer geworden und weil erst in den späteren Tagen das beschädigte rechte Handgelenk mit rheumatisch erkrankt war. Berufung beim Schiedsgericht und Rekurs beim Reichs-Ver¬ sicherungsamt wurden auf Grund der übereinstimmenden Urtheile der Aerzte ohne anderweitige Begründung zurück¬ gewiesen. Der Fall liegt eigenartig. Unwillkürlich drängt sich der Gedanke auf, dass man es hier mit dem seltenen und schwer zu beurtheilenden Fall einer Coincidenz von beginnendem Ge¬ lenkrheumatismus mit einem Unfall zu thun hat. Wer bürgt dafür, dass die Schmerzen in den Hüftgelenken nicht bereits der Anfang des Gelenkrheumatismus waren? Wie der Mann gefallen war, hat sich leider nicht feststellen lassen; es ist aber kaum anzunehmen, dass beim Fallen beide Hüftgelenk¬ enden gleichzeitig gequetscht worden sind. Man müsste denn aunehmen, dass er bei gestreckten Beinen mit den Füssen zuerst aufgeschlagen ist und dass es sich um eine fortge¬ pflanzte Stauchung der Hüftgelenke gehandelt hat. In diesem Falle würden aber auch sicher Schmerzen in den Fuss- und Kniegelenken aufgetreten sein und würde sich die gleich¬ zeitige Quetschung des Handgelenks nicht gut erklären lassen. Die vom Arzt am Tage nach dem Unfall beobachtete normale Temperatur würde nicht direkt gegen die Annahme eines be¬ reits in der Entwickelung begriffenen Gelenkrheumatismus sprechen. Was aber ziemlich sicher gegen die rheumatische Erkrankung der Hüftgelenke zur Zeit des Unfalls spricht, ist der Umstand, dass ihre Schmerzhaftigkeit am dritten Tage nach dem Sturze, wo die Schmerzen anderer Gelenke mit Temperatursteigerung auf akuten Gelenkrheumatismus hin¬ wiesen, geringer geworden war. Bei einem akut rheumatisch afficirten Gelenk hätte man nach einem dasselbe treffenden Trauma das Gegentheil erwarten müssen. Ich bin auf diese Supposition nur eingegangen, um mir zu vergegenwärtigen, wie man einen Fall von zufälliger Coinci¬ denz von Gelenkrheumatismus und Trauma, der gewiss selten Vorkommen wird, aber immerhin im Bereich der Möglichkeit liegt, zu beurtheilen hat. Dieser Fall führte mich noch zu einer anderen Frage: Zugegeben, dass sich im Anschluss an ein Gelenktrauma oder, exakter gesagt, in Folge eines solchen ein akuter Gelenk¬ rheumatismus entwickeln kann, muss man dann zum Nach¬ weise des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Unfall und Gelenkrheumatismus die Forderung stellen, dass das be¬ schädigte Gelenk zuerst rheumatisch befallen wird? Meines Erachtens muss diese Frage, so lange wir über die Pathoge- nose des Gelenkrheumatismus noch auf keinem festen Boden stehen und über Hypothesen nicht hinausgekommen sind, be¬ jaht werden. Wir handeln dann wenigstens konsequent und zwar nach Analogie unserer Beobachtungen bei dem Kausal¬ nexus zwischen Trauma und Gelenktuberkulose, Trauma und Osteomyelitis, Trauma und Syphilis. Wohl niemand wird be¬ haupten, dass, wenn nach einem Trauma des Fussgelenks eine Tuberkulose im Handgelenk sich entwickelt, ein ursäch¬ licher Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Handge¬ lenkstuberkulose besteht. Ebensowenig wird man einen solchen Zusammenhang behaupten können, wenn nach einem Trauma des Kniegelenks bei einem früheren Syphilitischen spezifische Plaques an der Rachenschleimhaut auftreten. (Die von Dreyer auf der letzten Naturforscher-Versammlung ange¬ führten hierher gehörigen Fälle beweisen nur, wie ich damals in der Diskussion angeführt habe, dass man bei den Syphilis- recidiven nach Traumen diesen letzteren nur die allgemein schwächende Rolle zuschreiben und aus dieser Schwächung, wie bekannt, eine grössere Neigung zum Recidiv herleiten kann; dass man aber zu weit gehen würde, wenn man be¬ haupten wollte, ein Trauma bei einem latent Syphilitischen könne die Ursache werden für syphilitische Neubildungen und Zerstörungen fern vom Orte der Einwirkung an beliebigen Stellen und Organen des Körpers.) Ich wiederhole, so lange unsere Kenntnisse in der Pathogenese des Gelenkrheumatis¬ mus nicht über Vermuthungen hinausgehen, so lange wir überhaupt nur von der Wahrscheinlichkeit des Bestehens eines Kausalnexus zwischen Gelenktrauma und Gelenkrheuma¬ tismus reden können, müssen wir zum Beweise dieses wahr¬ scheinlichen Zusammenhanges die Forderung stellen, dass das traumatisch affiizirte Gelenk zuerst rheumatisch erkrankt. Gehen wir nur einen Schritt weiter, dann begeben wir uns auf das unbegrenzte und unsichere Gebiet der Spekulation uud des Philosophirens. IV. Zum Schluss will ich noch folgenden Fall auführen: Der Kutscher G., ca. 25 Jahr alt, erlitt am 31. Dezember 92 durch Fall von einer Leiter einen Bruch der rechten Knie¬ scheibe. Nach etwa vierwöchentlicher Krankenhausbehandlung wurde er als fast geheilt entlassen. Es bestand eine derbe fibröse Vereinigung der Bruchstücke. Am Tage nach der Ent¬ lassung aus dem Krankenhause erkrankte er an akutem Ge¬ lenkrheumatismus, welcher an dem beschädigten Knie zuerst einsetzte und sich in den nächsten Tagen auf das andere Kniegelenk und andere Gelenke verbreitete. Zum Glück des Mannes trat nach 4 Wochen vollständige Heilung, ohne Be- nachtheiligung des beschädigten Knies und der Kniescheibe durch den Rheumatismus ein. Nach Ablauf der Karenzzeit Digitized by Google 256 Aerztliche Sachverständigen-Zeita ng. No. 13. wurde ihm lediglich wegen der noch vorhandenen Folgen des Kniescheibenbrucbes eine Rente von 3378 % zugebilligt. In diesem Falle war ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Trauma und Gelenkrheumatismus nicht von der Hand zu weisen. Ich dachte damals noch nicht an die traumatische Entstehung des Gelenkrheumatismus; ich sagte mir aber, der Mann hat das durch den Unfall beschädigte Kniegelenk auf dem langen Wege vom Krankenhaus nach seiner Wohnung zu sehr angestrengt, es hat sich von Neuem entzündet und in diesem entzündeten Gewebe hat der Gelenkrheumatismus ein¬ gesetzt. Nach unserer heutigen Auffassung darf dieser Fall wohl einen Beitrag zur Kasuistik der Fälle von Gelenkrheu¬ matismus in Folge von Trauma abgeben. Fasse ich in Kürze die Folgerungen aus meinen Beob¬ achtungen und aus der einschlägigen Litteratur zusammen, so sind es folgende: 1. Die Entstehung eines akuten Gelenkrheumatismus in Folge eines Gelenktraumas (Verstauchung, Verrenkung, Quetschung, Zerrung), ist wahrscheinlich. 2. Zum Nachweis der Wahrscheinlichkeit des Causalnexus muss gefordert werden, dass das durch Unfall beschädigte Ge¬ lenk zuerst vom Gelenkrheumatismus befallen wird. 3. Da die Differenzialdiagnose zwischen traumatischer und rheumatischer Entzündung eines durch Trauma be¬ schädigten Gelenks oft auf grosse Schwierigkeiten stösst, so rathe ich erst dann die Diagnose auf akuten Gelenkrheuma¬ tismus zu stellen, wenn von letzterem auch andere Gelenke befallen werden. 4. Sind die Folgen eines Gelenktraumas sohon seit Jahr und Tag gänzlich beseitigt und erkrankt dann der Betreffende an akutem Gelenkrheumatismus, so ist der Kausalnexus in hohem Maasse unwahrscheinlich. 5. Erkrankt ein Mann, der durch Unfall eine Gelenkbe¬ schädigung erlitten hatte und von den Folgen dieser Be¬ schädigung noch nicht vollständig geheilt war, unabhängig vom Unfall an Gelenkrheumatismus und hinterlässt letzterer eine Verschlimmerung des s. Z. verletzten und noch nicht völlig geheilten Gelenks, so besteht ein mittelbarer Zusammen¬ hang zwischen dem Unfall und dem Gelenkrheumatismus. 6. Die Gefahr, dass ein Gelenktrauma zum akuten Ge¬ lenkrheumatismus führt, steigert sich bei denjenigen Per- spnen, welche zu letzterem disponirt sind. Aber auch in diesem Falle ist an Satz 2 und 4 festzuhalten. 7. Recidivirt ein Gelenkrheumatismus bei einem Manne, bei welchem die erste Erkrankung an Gelenkrheumatismus als mit dem Gelenktrauma ursächlich zusammenhängend an¬ erkannt worden ist, so würde das Recidiv nur in dem Falle auf Konto des Unfalls gesetzt werden können, wenn das s. Z. beschädigte Gelenk noch Unfallfolgen aufweist und wieder zuerst oder zum Mindesten besonders intensiv vom Gelenk¬ rheumatismus befallen wird. Weitere Grenzen zu ziehen, halte ich für gewagt. Voraussetzung ist dabei natürlich, dass der Betreffende nicht schon vor dem Unfall zu Erkrankungen an akutem Gelenkrheumatismus disponirt war. 8. In letztgedachtem Falle wird man jedes spätere Reci¬ div, auch wenn inzwischen ein Recidiv durch einen Unfall herbeigeführt war, zunächst auf die vom Unfall unabhängige Disposition zurückführen müssen, zumal wenn inzwischen die Folgen des Unfalls an dem s. Z. beschädigten Gelenk schon geraume Zeit abgeklungen waren. Ausgenommen hiervon sind diejenigen Fälle, in welchen die späteren Recidive sich vorwiegend und immer wieder in dem durch den Unfall ver¬ letzten Gelenk lokaüsiren. *) 9. Je kürzer die Zeit zwischen Gelenktrauma und akutem Gelenkrheumatismus ist, um so wahrscheinlicher ist der ur¬ sächliche Zusammenhang zwischen beiden. *) Peliosis rheumatica und Trauma. Von Dr. M. Mayer- Simmem. Könlgl. Kreiswandarzt. Im Anschluss an die Arbeit „Gelenkrheumatismus nach Trauma“ von Herrn San.-Rath Dr. Becker in der Aerztl. Sachv.-Zeitung vom 15. Juni 1900 möchte ich in Nachstehen¬ dem einen kasuistischen Beitrag zur Frage des Zusammen¬ hanges zwischen Peliosis „rheumatica“ und Trauma geben. Die etwa 50 Jahre alte Frau, die bis dahin anscheinend gesund gewesen war und die durch Botengänge ihr Brot ver¬ dient hatte, fiel am 5. Juli 1897 beim Kleeholen von einem niederen Wagen auf die Vorderfläche des linken Kniegelenkes. An den Fall schloss sich alsbald Schmerz im Gelenke, geringe Schwellung an; es wurde sofort ein Knochenflicker, nach etwa drei Wochen gelegentlich ein Arzt zugezogen. Diesem fiel eine Neigung zur Beugestellung, eine mässige Beschränkung der Beweglichkeit in den äussersten Exkursionen bei aktiven und passiven Bewegungsversuchen und ganz besonders der hinkende Gang auf. Die Verletzte war ihm persönlich genau bekannt gewesen. Er betonte in seinem Gutachten besonders den im Verhältnis zur Stärke des Hinkens auffällig geringen objektiven Befund; er nahm an, es müsse durch jenen von Zeugen einwandfrei beobachteten Fall immerhin eine tiefere Verletzung der das Gelenk konstituirenden Theile verursacht worden sein, obwohl jeder Anhalt für die Art der Verletzung fehlte. Grade dieses Betonen des Gegensatzes zwischen Gering¬ fügigkeit des objektiven Befundes und der Grösse der Funktions¬ störung Seitens eines in hohem Masse erfahrenen Gutachters ist von Bedeutung. Er schätzte übrigens nach Ablauf der ersten 13 Wochen die Beeinträchtigung an Erwerbsfähigkeit, soweit sie von der Kniegelenkverletzung herrührte, auf 30 Prozent. Am 23. September 1897 erlitt die Frau einen zweiten Un¬ fall. An eine Fingerverletzung durch einen rostigen Nagel schloss sich eine progressive Phlegmone von Hand und Vorder¬ arm rechts an. Für diesen Fall wurde meine Hülfe in An¬ spruch genommen. Hierbei fiel auch mir sofort der unbehol¬ fene, unsichere, hinkende Gang mit der linken unteren Extremi¬ tät auf. Als nach Heilung der Phlegmone eine neue Prüfung des Beines vorgenommen wurde, zeigte es sich, dass es nicht gelang, wie in der Norm, das Bein auf eine ebene Unterlage aufzulegen. An der Streckung bis zur äussersten Grenze fehlten einige Grad; ebenso war aktive und passive Beugung bis zum spitzen Winkel nicht möglich. Bei dieser Untersuchung vom 14. Oktober 1897 zeigte sich in der Form kaum ein Unter¬ schied zwischen rechtem und linkem Kniegelenke. Das Mess¬ band ergab über der Kniescheibe keine Differenz; der Um¬ fang betrug beiderseits 31,5 cm; unter der Kniescheibe rechts 28,5, links 27,5 cm. Die Oberschenkelmuskulatur erwies sich rechts um 2 cm an Umfang grösser, als links, auch resistenter, fester. Es hatte sich demnach um eine akut entstandene, rasch zu recht grosser Funktionsstörung führende Kniegelenk- veränderung gehandelt, die mit den bekannten Formen nichts gemeinsam hatte und deren Diagnose in suspenso gelassen werden musste. Bei einer Nachuntersuchung im Mai 1898 fand ich an der Vorderfläche des linken Unterschenkels einige zerstreute Blut¬ unterlaufungen. Diese Plaques sind in späterer Zeit häufiger Becker, 1. c. Digitized by Google 1. Juli 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 257 und intensiver aufgetreten und sind später auch rechts beob¬ achtet worden. An dem spontanen Sichausbilden der Flecke bestand damals kein Zweifel. Bei der letzten, am 20. Juni 1900 vorgenommenen Prü¬ fung des Allgemeinbefindens und der Erwerbsfähigkeit zeigten sich beide Unterschenkel von je etwa 10 bis 12 durchschnitt¬ lich U /2 cm im Durchmesser fassenden, grünlich bis gelb¬ grünlich roth gefärbten, nicht erhabenen Flecken an den Streck¬ seiten besät. Die Untersuchte, selbst von der Zahl und der Grösse der Blutunterlaufungen überrascht, führte dieselben darauf zurück, dass sie in der letzten Zeit wiederholt gefallen sei und wollte dadurch die Schwäche ihres Kniegelenkes demonstriren. Für die Möglichkeit der traumatischen Entstehung aller Flecke zu gleicher Zeit oder je eines Extravasates allein zu verschie¬ dener Zeit fehlte aber jeder Anhalt, man hätte dann doch auch irgendwo einmal eine Hautabschürfung oder eine Beule finden müssen; auch hätten einem Falle entsprechend die Flecke einmal grössere Ausdehnung in der Längenrichtung und nicht blos Kreisform aufgezeigt. Irgend eine messbare Formveränderung des Gelenkes be¬ steht nicht mehr; auch dem tastenden Finger zeigen sich keinerlei Unterschiede. Die Muskulatur beider Oberschenkel ist beider¬ seits nahezu vollkommen gleich kräftig. Die äusserste Streckung gelingt nunmehr auch aktiv, das Bein federt indessen sofort in eine mässige Beugestellung, aus welcher es nicht, wie in der Norm, zum vollständigen spitzen Winkel gebracht werden kann. Der Gang ist noch mässig hinkend. Schmerzen sollen bei Witterungswechsel gelegentlich recht heftig im linken Knie¬ gelenke auftreten. Der Harn enthält auch heute, wie früher, kein Eiweiss, kein Blut. Stehen nun die Blutunterlaufungen an beiden unteren Extremitäten, die immer wieder aufs Neue auftreten und immer wieder resorbirt werden, mit der Gelenkverletzung im Zu¬ sammenhang? Es handelt sich nicht um ein typisches Blutergelenk, wie es König in seiner klassischen Darstellung (Volkm. klin. Vortr. N. F. 36) schildert. Die Frau ist keine Bluterin; übrigens sind alle anderen Gelenke frei geblieben und sind die operativen Eingriffe an der oberen Extremität ohne grossen Blutverlust verlaufen. Man könnte nun an einen Zusammenhang zwischen den zur Heilung der Vorderarmphlegmone bei Tamponade der Schnitt¬ wunden angewandten Reizmitteln, insbesondere der Jodtinctur und der Neigung zu Blutungen denken, umsomehr, als ins¬ besondere französische Aerzte (Boinet) den Morbus maculosus mit der Anwendung von Jod in Connex gebracht haben. Dem widerspricht aber das immer wieder beobachtete Neu¬ auftreten von Blutungen, trotzdem der Arm bereits einige Jahre geheilt ist, derselbe Punkt, der auch die Annahme eines Zu¬ sammenhanges mit irgend welchen akuten infektiösen Prozessen nicht aufkommen lässt. Nehmen wir aber an, dass es sich um eine „Peliosis rheumatica“ handelt, um eine Krankheit, die sonst spontan entsteht und sich durch Gelenkaffektion und Petechien kundgiebt, so deutet sich das ganze Bild am einheitlichsten. Es müsste dann angenommen werden, dass auf den Fall — bei bereits vorher bestehender „Dyskrasie“ — ein geringer Bluterguss ins linke Kniegelenk gefolgt sei, dass dieser sich in eigenartiger Weise rasch organisirt hat, und dass nachdem gerade auf die hintere Kapselwand sich Membranen abgelagert haben, eine umschriebene Schrumpfung von Partien dieser Wand eingetreten ist. Das Auftreten von Blutunterlaufungen an den Extremitäten ist auch bei spontan entstehender Peliosis nach dem Einsetzen von Gelenkveränderungen beobachtet worden. Für das Entstehen der Diathese überhaupt möchte ich eine jahrelange Unterernährung verantwortlich machen. Obwohl hier von Skorbut nicht die Rede ist — Schleimhaut¬ blutungen fehlten durchaus — ist mancherlei Vergleichsmoment mit den von Kl ein-Marburg beobachteten Fällen haemorrhagi- scher Diathese gegeben. Mittelbarer Zusammenhang zwischen Augenverletzung und tötlicher Hirnhaut-Entzündung. Auszug aus einem für die Nordöstliche Eisen- und Stahl-Berufs¬ genossenschaft abgegebenen Gutachten. Von Dr. M. Wolff-Berlinchen. Dem 23jährigen Schlosser W. drang am 30. April 1898 bei der Arbeit ein Stahlsplitter in das Innere des linken Auges. Der Stahlsplitter konnte nicht entfernt werden. Wegen dau¬ ernder Reizzustände und Schmerzen des linken Auges duroh den Fremdkörper wurde erst im September 1899 das linke Auge herausgenommen. Es bestand nach der Herausnahme eine stete eitrige Absonderung in der Augenhöhle. In den ersten Tagen des Februar 1900 erkrankt W. plötz¬ lich unter Frost, starkem Kopfschmerz, Erbrechen. W. bricht besonders beim Aufrichten des Körpers. Am 8. Februar sehe ich den Patienten. Er bietet das Bild der Hirnhautentzündung, die in ihrem Verlaufe typisch ist und am 17. Februar 1900 zum Tode führt. Erwähnt sei nur, dass die linke Augenhöhle des Auges entbehrt, eine stark geröthete Wundfläche mit geringer Nässung zeigt. In den Lidwinkeln steht flüssiger Eiter; es haften auch an ihnen, sowie den Augenbrauen angetrock¬ nete Eiterpartikel. Das rechte Auge erscheint äusserlich hin¬ sichtlich der Lider, Bindehaut etc. normal. Es besteht keine Sekretion. Der Augenhintergrund ist etwas trübe, ohne Stau¬ ungserscheinungen. Lungenentzündung, Typhus, Pyämie, Miliartuberkulose etc. waren hinsichtlich des Verlaufes und objektiven Befundes, auch eine tuberkulöse Meningitis, eine primäre epidemische Genick¬ starre auszuschliessen. Die Meningitis war eine sekundäre d. h. die Entzündungserreger mussten von einer andern Stelle zu den Gehirnhäuten hingeführt sein. Erkrankungen der Sohädel- knochen, offene Kopfwunden, Furunkel, Ohreiterungen bestanden nicht, Quellen, von denen sonst bisweilen Eitererreger zur Gehirnhaut gelangen und hier eine Meningitis auslösen. Dass nach Herausnahme eines Auges in einem gewissen Prozentsatz Meningitis eintritt, ist bekannt. Hat doch aus diesem Grunde Gräfe die Enukleation mit der angeblich gefahrlosen Exen¬ teratio bulbi vertauscht. Doch ist hier die Enukleation im September 1899 gemacht; die Erscheinungen der Meningitis traten erst Februar 1900 auf, eine Zwischenzeit, die zu lang ist, um die Meningitis auf jene Enukleation ohne weiteres zu¬ rückzuführen. Es ist jedoch folgendes zu erwägen: Dass Krank¬ heitserreger, welche bei Verletzungen in den Augapfel hinein¬ kommen, durch die Lymphscheiden der Sehnerven über die Sehnervenkreuzung nach dem andern Auge wandern, ist auf Grund vielfacher Untersuchungen anzunehmen. Die Lymph¬ scheiden derSehnerven stehen aber nicht nur unter sich, sondern auch gemäss ihrer anatomischen Anordnung mit dem Lymphraum der Hirnhäute in Verbindung. Dass bei W. die linke Augen¬ höhle ständig Sitz von Eitererregern war, ist nach dem oben Gesagten durch Vorgeschichte sowie Befund festgestellt. Eiter¬ erreger waren hier in die Lymphräume bezw. Lymphscheiden ausgewandert, hatten nicht den üblichen Weg über die Seh¬ nervenkreuzung zum andern Auge genommen, sondern waren zu den Lymphräumen der Gehirnhäute gelangt und hatten hier die Meningitis ausgelöst. Die Meningitis führte zum Tode. Digitized by Google 258 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No 18. Also eine von selbst gegebene Kette des Zusammenhangs. Verletzung des Augapfels durch den Stahlsplitter. Nach 17 Mo¬ naten Enukleation, Monate lange Eiterung der leeren Augen¬ höhle, Ueberwanderung der Eitererreger von hier durch kom- munizirende Lymphräume zu den Gehirnhäuten, Meningitis, Tod. Der Tod steht also in ursächlichem Zusammenhang mit dem Unfälle. _ Referate. Allgemeines. Ueber die Zuverlässigkeit der Angaben der verletzten Person über die Torgänge bei einer von ihr erlittenen schweren Schädelverletzung. Von Prof. Dr. Ph. Ziehen-Jena. (Cor. Bl. d. »Hg. ttratl. Ver. von Thüringen, 1900, No. 2.) Der Landwirth M. in 0. wurde am 18. Februar 1899 sammt seinen beiden Kindern erschlagen, seine Ehefrau schwer am Schädel verletzt, aber noch lebend, vorgefunden. Das Stirn¬ bein war zertrümmert, Blut floss aus dem rechten Ohr und der Nase. Im Laufe desselben Tages war die Frau nicht dauernd bewusstlos, insbesondere antwortete sie auf die Frage nach dem Thäter: „fragt doch nicht noch, sie sind’s gewesen, Schmied“. Der Verdacht lenkte sich daher auf einen Freund M.’s, den nahewohnenden Schmied B. Ein andermal antwortete die Verletzte auf die gleiche Frage: „Der Meister.“ Auch gab sie trotz ihres schwer leidenden Zustandes noch manches andere bezüglich des geschehenen Verbrechens an: „Zwei grosse starke Männer sind in Strümpfen in die Kammer gekommen, es waren Oldisleber, ich darf nicht sagen wer es gewesen ist, wenn alles vorbei ist, will ich’s sagen“ u. s. w. Am folgenden Tage bezeichnete sie die Thäter deutlich mit Kaufmann, Arbeiter, dann aber sagte sie auch wieder, und zwar nach dem Dafür¬ halten der Krankenschwester bei vollem Bewusstsein, „der Meister, der Schmied, der die Pferde beschlägt“ und nannte schliesslich B.’s Namen. Sie erkannte den Arzt und ihren an¬ wesenden Bruder. In der Folgezeit erzählte sie ganz ausführ¬ lich, was sie und ihr Mann Abends gethan hätten, und über¬ zeugte durch das Ausrechnen von Rechenexempeln die anwe¬ senden Laien völlig von ihrer geistigen Klarheit. Am 7. März untersuchte Z. die Verletzte und fand, abge¬ sehen von den örtlichen Verletzungsfolgen, körperlich nichts Besonderes an ihr. Sie war über Ort und Personen vollkom¬ men im Klaren und unterhielt sich geordnet. Was sie am Abend vor dem Mordanfall gethan habe, erzählte sie ganz genau. Von dem Vorfall selbst hatte sie jetzt keine Erinnerung mehr. Insbesondere wollte sie nicht behaupten, dass der Schmied sie geschlagen habe. In seinem Gutachten führte Z. aus, dass, trotz der schein¬ baren geistigen Frische Fr. M. sich auch heute noch in einem, durch die Allgemeinwirkung bedingten, Dämmerzustand be¬ finde. Er Btellte fest, dass sie noch verhältnissmässig theil- namlos war, dass es ihr noch schwer sei, sich auf manches Ver¬ gangene zu besinnen, dass unabhängig von der Schwierigkeit der an sie gestellten Fragen, ihre Antworten noch oft falsch wären. Solche Dämmerzustände sind häufig mit Sinnestäu¬ schungen verquickt, die jedoch bei Frau M. keine grosse Rolle zu spielen scheinen. Immerhin liegt eine Andeutung auf Sinnes¬ täuschung in der Aeusserung: „Ich darf es nicht sagen wer uns geschlagen hat.“ Die Dämmerzustände nach Verletzungen bedingen fast immer eine Lücke in der Erinnerung, welche sich auf einen umgränzten Zeitraum vor und nach Verletzung und auf die Verletzung selbst erstreckt. Gegenwärtig ist die Erinnerungs¬ lücke sehr stark ausgeprägt, Fr. M. weiss von der ganzen Mordnacht gar nichts, und ihre Angaben über den Verlauf des vorhergehenden Abends haben sich zum Theil als falsch her- ausgestellt. Wie sind nun die bestimmten Aeusserungen der Fr. M. in derZeit unmittelbar nach (Jen* Mordanfall zu beurtheilen? Nach ärztlicher Erfahrung kann man nicht sagen, dass aus dem jetzigen Erinnerungsmangel die Falschheit der anfäng¬ lichen Angaben gefolgert werden dürfte. Aber andererseits muss man berücksichtigen, dass t bei derartigen Mittheilungen im Beginn eines Dämmerungszustandes die Phantasie eines Verletzten selbst und Beeinflussungen seitens dritter Personen eine grosse Rolle spielt. Am Zuverlässigsten sind noch be¬ stimmte Schilderungen, und es wäre zum Beispiel nicht gleich- giltig, wenn die M. wörtlich gesagt hätte: „B. kam in Strümpfen herein und schlug mich mit dem Hammer.“ In Wirklichkeit hat sie aber nur immer auf bestimmt gestellte Fragen ge¬ antwortet: B. oder der Schmied oder der Meister, einmal so¬ gar ganz abweichend: Kaufmann, Arbeiter. Verfasser ist daher zu dem Schlüsse gelangt, dass den Angaben der Fr. M. über den Thäter kein unbedingter Glaube beizumessen ist. Grosses Unheil ist durch dieses Gutachten verhütet worden. Der Verdacht wurde von B. abgelenkt und richtete sich später auf den Knecht der Familie M., welcher nach. kurzer Zeit gestand, den Raubmord verübt zu haben. Zur Kasuistik der Selbstmorde durch Schuss. Von Prof. Dr. Leo Wachholz-Krakau. (Ztschr. f. Med. B. 1899 No. 22.) 1. Drei Schüsse gegen den Kopf, Selbstmord oder Mord? Ein Schlossermeister, der mit einem Freunde ausgegangen war, wurde zwölf Stunden später noch lebend, aber bewusst¬ los auf einer Wiese gefunden. Neben ihm lag ein Revolver, von dessen 5 Patronen 3 abgeschossen waren. Er verschied nach einem weiteren halben Tage, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Bei der Sektion fanden sich am Kopfe drei Wunden, in deren Umgebung die Haut geschwärzt und die Haare ver¬ sengt waren. Von der rechten Schläfe führt eine Einschuss¬ öffnung in einen beide Stirnlappen des Gehirns durchquerenden Kanal, welcher unmittelbar in eine die linke Schläfe durch¬ dringende Wunde mündet. Die Oeffnung auf der rechten Seite, sowie der rechte Theil des Kanals sind deutlich weiter als die entsprechenden Antheile der linken Seite. Ein Blei¬ geschoss liegt etwas unter der Mitte des Kanals in der Hirn¬ substanz. Ein dritter Wundkanal führt von der linken Schläfe erst durch den linken Vorderlappen, dann an der Grenze zwischen diesem und dem Schläfenlappen bis in das Hinter¬ horn der linken Hirnhöhle. Hier lag ein zweites Geschoss. Die Umgebung der Einschussöffnungen liess mit Sicher¬ heit erkennen, dass die Schüsse, durch welche der Tod des Schlossers herbeigeführt war, aus unmittelbarer Nähe abge¬ geben worden sein mussten. Diese Thatsache und die Ergeb¬ nisse der polizeilichen Untersuchung macht es wahrscheinlich, dass nicht Mord sondern Selbstmord vorliege. Die Frage, ob ein Mensch im Stande sei, sich selbst hintereinander mehrere so bedeutende Gehirnverletzungen beizubringen, wird vom Ver¬ fasser bejaht. Aus dem Sektionsbefunde ergiebt sich, dass drei Schüsse den Kopf getroffen haben. Eine Kugel ist in die rechte Schläfe eingedrungen und im rechten Stirnlappen stecken geblieben. Die beiden anderen haben die linke Schläfe getroffen, und zwar muss man annehmen, dass das eine dieser Geschosse nach Durchbohrung des rechten Stirn¬ lappens in den von links her kommenden Wundkanal gerieth und durch diesen den Körper wieder verliess (Erweiterung des linken Wundkanals und der linken Einschussöffnung). Das Digitized by Google 1. Juli 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 259 dritte Geschoss endlich ist schräg bis in das Unterhorn der linken Hirnhöhle gedrungen. Wenn man annimmt, dass die Schüsse in der eben ange¬ gebenen Reihenfolge wirklich abgegeben worden sind, so widerspricht es der ärztlichen Erfahrung nicht, dass der Ver¬ storbene nach Abfeuerung der ersten beiden bei Bewusstsein geblieben ist und die Kraft besessen hat, noch ein zweites bezw. drittes Mal zu schie6sen. Aehnliche Fälle sind etliche Male beschrieben. 2. Herzverletzung durch Schuss aus einer Flo- bert-Pistole. Der Diener eines Waffenhändlers wurde, vollkommen ange¬ kleidet, tot neben seinem Bette gefunden. Unter dem Bette lag eine kleine Flobert-Pistole. In der Magengrube fand sich eine kleine Hautabschürfung; ringsum war die Haut blutunter¬ laufen. Man gelangte mittelst einer feinen Sonde in eine kaum merkliche Wnnde. Diese bildete jedoch den Eingang zu einem Kanal, der die rechte Herzhöhle eröffnete. Ein Ge¬ schoss war nicht zu finden, doch liess ein stahlgrau verfärbtes Loch in den Kleidern über der Wunde keinen Zweifel, dass ein Schuss aus der Pistole die Todesursache gewesen wäre. Nach Lage der äusseren Umstände konnte nur Selbstmord oder Zufall in Frage kommen. Da die Wirkung der Flobert-Geschosse noch nicht genü¬ gend studirt ist, machte Verfasser eine Reihe von Versuchen mit der Vorgefundenen Waffe. Es ergab sich, dass nur bei Schüssen aus unmittelbarer Nähe die Wände des Schusskanals geschwärzt wurden, und dass eine Schwärzung der abfeuern¬ den Hand nur eintrat, wenn die Mündung der Pistole un¬ mittelbar auf den zu verletzenden Gegenstand gesetzt wurde. Im vorliegenden Falle liess die fehlende Schwärzung der Finger keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die Pistole beim Schuss nicht unmittelbar auf den Körper oder die Klei¬ dung aufgesetzt war. Hierdurch und durch die Thatsache, dass der Verstorbene vollständig bekleidet gefunden wurde, wird ein Selbstmord höchst unwahrscheinlich gemacht. Die Entstehung von Geschwülsten im Anschlnss an Verletzungen. Ein Beitrag aus der Chirurg. Universitätsklinik Strassburg i. E. (Prof. Dr. Madelung). Von Dr. Alfred Machol-Strassburg i. E.-Singer. 1900. Als Beitrag zu der von v. Büngner-Hanau auf dem 28. ChirurgenkongreBS (cf. diese Zeitschr. No. 11 1899) vorge¬ schlagenen Sammelforschung ist diese Arbeit auf Anregung von Prof. Dr. Madelung unternommen worden. Zu Grunde liegt die Untersuchung über obige Frage. Das ganze Geschwulstmaterial, das an der Universitätsklinik Strassburg vom 1. Oktober 1894—1. Oktober 1899 in Be¬ obachtung kam, ein Zeitraum, während dessen die chirurgische Klinik unter einheitlicher Leitung (Prof. Dr. Madelung) ge¬ standen hat. In der Einleitung wird darauf hingewiesen, dass die Ge¬ schwulstätiologie — vor Allem die Frage der traumatischen Aetiologie — heute nicht mehr eine rein theoretisch-wissen¬ schaftliche ist, sondern seit dem Inkrafttreten des Unfallver¬ sicherungsgesetzes eine eminent praktische Bedeutung erlangt hat, und dass die Ausübung der ärztlichen Sacliverständigen- Thätigkeit dringend erfordert, eine sichere Basis für die Be¬ urteilung solcher Fälle zu gewinnen. Dazu können wir beim heutigen Standpunkt der biolo¬ gischen Forschungsmethoden nur auf dem rein statistischen Wege gelangen, aber zahlreich sind — wie des Näheren in der Arbeit ausgeführt ist — die Fehlerquellen, mit denen wir rechnen müssen, und darum wird mit allem Nachdruck be¬ tont, dass wir die Ergebnisse nicht als wissenschaftliche Urtheilssprüclie aufzufassen haben, sondern dass unsere Ent¬ scheidungen nur eine Abwägung von Wahrscheinlichkeiten darstellen. Die Bedingungen, auf Grund deren die „Wahrscheinlich¬ keit“ des Zusammenhanges zwischen einer Neubildung und einem vorausgegangenen Trauma als gegeben betrachtet wurde, sind ebensowenig wissenschaftlicher Erkenntniss, son¬ dern einzig und allein der im Laufe der Jahre gewonnenen Erfahrung der Sachverständigen zu verdanken, und in der zu erörternden Arbeit folgt dabei der Verfasser der Zusammen¬ stellung von Thiem in dessen „Handbuchder Unfallerkrankungen“. 1. Der Tumor muss an der Stelle der ursprünglichen Gewaltseinwirkung entstehen. 2. Es muss zwischen Unfall und Ausbruch der Erkran¬ kung eine Brücke von Erscheinungen vorhanden sein, die den ursächlichen Zusammenhang mit der Verletzung auch in zeit¬ licher Beziehung begreiflich resp. wahrscheinlich erscheinen lässt. 3. Innerhalb eines gewissen Zeitraumes muss die Neu¬ bildung spätestens sich gezeigt haben. Nach diesen Grundsätzen wurde das Material kritisch untersucht und eingetheilt in drei Gruppen: 1. Carcinome, 2. Sarcome, 3. anderweitige (eigentliche) Geschwülste. In diesen drei grossen Gruppen sind die Fälle wieder ge¬ sondert, je nachdem AI) die Entstehung der Neubildung zurückgeführt wird auf ein einmaliges Trauma (Trauma in berufsgenossenschaft¬ lichem Sinne), das auf eine vorher anscheinend vollkommen normale Stelle eingewirkt hat, All) die Entstehung zurückgeführt wird auf ein Trauma, durch welches eine bereits vorhandene Warze oder Narbe be¬ troffen wurde. B) Die Neubildung entsteht aus einer Narbe, die a) im Anschluss an einen chronischen Entzündungs¬ prozess oder an ein lange zurückliegendes Trauma Bich ge¬ bildet, ohne dass abermals ein Trauma diese betroffen hat, b) die Neubildung entsteht aus Wunden, die nicht zur Heilung gelangt und geschwürig entartet sind. Vom Standpunkte der Unfallgesetzgebung aus kamen demnach vor Allem die Fälle in Betracht, welche in der Gruppe AI zusammenzustellen waren. Bei den Carcinomen entfielen von 502 Fällen 11 in diese Gruppe und zwar 1. 6 Mammacarcinome, 2. 3 Gesichtscarcinome, 3. 1 Magencarcinom, 4. 1 Beckencarcinom. Davon konnte in acht Fällen der Zusammenhang als ein wahrscheinlicher erklärt werden = 0,87 Prozent und zwar bei 1. 4 Mammacarcinomen von im Ganzen 72 Fällen = 5,55 Prozent, „ 2. 2 Gesichtscarcinomen, „ 3. 1 Magencarcinom, „ 4. 1 Beckencarcinom. Sarcome waren 155 beobachtet worden und in 19 Fällen = 12,25 Prozent wurde ein einmaliges vorausgegangenes Trauma als Ursache der Geschwulstentstehung angeschuldigt. Zwischen dem Auftreten der Geschwulst und dem Unfall war ein Zeitraum verstrichen, der von 33 Jahren bis 3 Wochen schwankte. Digitized by Google 260 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No 13. Dem Sitz nach vertheilten^sich die Fälle: 1. auf Kopf und Gesicht 4 Beobachtungen, 2. „ die Extremitäten 5 „ 3. „ das Becken 4 „ 4. „ den Rücken 2 „ Je ein Fall kam auf Hoden, Brustdrüse, Netz, Rippenfell. Vom Knochensystem ging die Neubildung in 10 Fällen aus. Die Haut war viermal befallen. — Je 1 Mal: Augapfel, Brustfell, Netz, Hoden, Mamma. Von diesen 19 Fällen konnte 11 Mal der kausale Zu¬ sammenhang als ein wahrscheinlicher bezeichnet werden. Von den Geschwülsten der in. Gruppe, in der 263 Fälle verzeichnet sind konnte fünfmal der kausale Zusammenhang als wahrscheinlich erklärt werden und zwar 1. bei 1 Cystadenom der Mamma, 2. bei 2 Angiomen, 3. bei Exostosis cartilaginea, 4. bei 1 Osteom. Im Ganzen konnten demnach von 920 GeBchwulstfällen, wobei nur die eigentlichen Neubildungen nach dem heutigen Stande der Wissenschaft berücksichtigt und nur solche Fälle verwerthet wurden, von denen ausreichend ausführliche Krankenblätter Vorlagen, 24 Beobachtungen für die vorliegende Frage in positivem Sinne verwerthet werden, während nach den Angaben der Patienten 39 Mal ein ursächlicher Zu¬ sammenhang vorhanden gewesen wäre. Von 39 Fällen haben also 15 = 38,46 Prozent, d. h. mehr wie ein Drittel, bei kri¬ tischer Betrachtung ausgeschieden werden müssen. In diesem positiven zahlenmässigen Ergebniss =~ 2,06 Prozent unterscheidet sich die vorliegende Arbeit wesent¬ lich von denen, die früher der gleichen Frage ihre Aufmerk¬ samkeit zugewendet haben, und das wird darauf zurückge¬ führt, dass in anderen Arbeiten 1. die Angaben der Patienten ohne weitere Prüfung aufgenommen wurden, 2. kein Unterschied gemacht wurde zwischen einmaligem Trauma und sog. chronischem Reiz, 3. kein Unterschied gemacht wurde zwischen der Ent¬ stehung der Geschwulst auf vorher gesundem Boden und dem Emporwachsen aus früher schon pathologisch verändertem Gewebe. Des Weiteren wird an der Hand eines Falles eine Fehler¬ quelle angeführt, die in der Unsicherheit der Diagnose liegt in Fällen, da ein Tumor gemäss seines Sitzes direkter Unter¬ suchung nicht zugänglich und der Befund ein derartiger ist, dass man gedrängt ist, eine Neubildung aufzunebmen, während es sich in Wirklichkeit überhaupt um keine solche handelt. Führt dann weder ein Eingriff noch die Obduktion zur Rich¬ tigstellung der Diagnose, dann bereichert auch ein solcher Fall die Kasuistik dieser Frage, allerdings mit recht zweifel¬ haftem Nutzen für die praktische Aufgabe. — Alle diese Punkte bedingen, dass es ausserordentlich nöthig ist, jeden einzelnen Fall kritisch abzuwägen, soll durch ihn der Schatz unserer Erfahrung bereichert werden, auf Grund deren wir allein im konkreten Fall eine Entscheidung treffen können. Darum kann eine statistische Arbeit über diese Frage einen gewissen, wenn auch immer nur relativen, Werth nur dann haben, wenn sie ihre zahlenmässigen Schlüsse nach kritischer Aussonderung ihrer Fälle zieht. Aber auch dann wird dies Ergebniss niemals als ein wissenschaftlicher Beweis der traumatischen Aetiologie der Geschwülste aufge- fasst werden dürfen. In der angeführten Arbeit schliesst sich den Fällen, da ein einmaliges Trauma (Trauma in berufsgenossenschaftlichem Sinne) Vorgelegen, dann in Form einer kurzen Uebersicht die Besprechung der Fälle an, da es sich um den Einfluss gering¬ fügiger, chronischer traumatischer Reizungen bei der Ent¬ stehung von Geschwülsten gehandelt haben soll, und Verfasser kommt dabei zum Schluss, dass man den chronischen Reifen und den durch sie gesetzten Veränderungen einen wesentlich höheren Werth zugestehen muss, als den einmaligen heftigen Insulten bei der Frage der traumatischen Aetiologie der Ge¬ schwülste. Doch in beiden Fällen wird das Trauma niemals allein die Grösse sein, die wir einsetzen können an Stelle des uner¬ forschten „unbekannten X“. Der Arbeit sind dann sechs Tabellen beigegeben, die in leicht übersichtlicher Form das zahlenmässige Resultat ent¬ halten. Das Ergebniss, zu dem Verfasser gelangt, ist dahin zu¬ sammengefasst : Dass das Trauma einen Umstand darstellt, in dessen Ge¬ folge wir, soweit ein einmaliger Insult in Frage steht, sehr selten, etwas häufiger, sobald es sich um wiederholt einwir¬ kende Reize handelt, eine Neubildung sich entwickeln sehen, dass aber durch nichts die Annahme gerechtfertigt wäre, in diesem Umstand die eigentliche, letzte Ursache, die causa eBsentialis zu erblicken. Der Literatur-Nachweis umfasst 66 Nummern. Alle näheren Einzelheiten der bezüglichen Fälle und ihrer Verwerthung sind in der Arbeit selbst einzusehen. Autorreferat. Ueber „Druckstauung“. Von Dr. Georg Perthes-Leipzig, Privatdozent. (D. Ztcchr. f. Chir. Bd. 55 H. 3-4.) Durch gewaltsame Zusammendrückung des Brustkorbs oder des Bauches kann ein seltenes eigenartiges Krankheits¬ bild hervorgerufen werden, das in der Hauptsache durch Stau¬ ungs-Wassersucht und mehrfache Blutaustritte am Kopf und Hals gekennzeichnet ist. Der vorliegende Fall ist im Ganzen der sechste, der veröffentlicht wird. Eine 27 jährige Fabrikarbeiterin wurde von einem schweren eisernen Wagen gegen einen Prellbock gepresst, das Gesicht nach oben, die linke Schulter gegen den Wagen, die rechte Brustseite gegen den Bock gekehrt. „Ein paar Sekun¬ den, höchstens zwei Minuten“, soll sie eingequetscht gewesen sein. Als sie befreit wurde —, war der Puls klein, für den Vor¬ fall bestand keine Erinnerung. Der ganze Kopf war dick auf¬ gedunsen und beinahe schwarzblau. Massenhaft hirsekorn¬ grosse in dem blausüehtigen Gebiet verstreute Punkte waren als Blutaustritte leicht zu erkennen. Die Verfärbung schnitt am Halse ringförmig scharf ab. Unter die Bindehäute beider Augen waren starke Blutaustretungen er¬ folgt, ebenso in das Trommelfell und aus demselben, auch in der Lippen-, Wangen etc.- Schleimhaut. Die Pupillen waren eng und reagirten wenig ausgiebig. Der Augenhintergrund, der erst am zweiten Tage untersucht werden konnte, war un¬ verändert. Hautblutungen fanden Bich noch an den Schultern und Armen und am Brustkorb. Das linke Schlüsselbein war gebrochen, ebenso die siebente und achte Rippe rechts. Völlige Heilung erfolgte ziemlich rasch. Das Zustandekommen der Druckstauung hat P. in einer früheren Arbeit auseinandergesetzt. Es handelt sich im Wesentlichen um eine mechanische Verdrängung des Blutes aus dem Brustkorb — eventuell dem Bauchraum —, wobei hauptsächlich eine Rückstauung durch die klappenlosen Hals¬ venen nach Hals und Kopf statt hat. Durch nachträglich vor¬ genommene Messungen ist festgestellt worden, dass die nor¬ male Tiefe des Brustkorbs bei dem Mädchen 8 bis 13 cm Digitized by Google 1. Juli 1900. Aerztliohe Sach verständigen-Zeitung. 261 grösser ist, als die Entfernung des Wagens vom Prellblock während der Einklemmung war. Die scharfe Grenze des Stauungsgebietes nach unten hin, die einen Gerichtsarzt vor¬ kommenden Falls hätte stutzig machen können, stellt that- sächlich eine Strangulationswirkung dar: Der für gewöhnlich ganz lockere Jackenkragen des Mädchens wurde durch das Oedem so eng, dass er den Hals gradezu einschnürte. Ueber traumatische Schädigungen des M. cucullaris und ihre Diagnose. Von Prof. Dr. Til mann -Greifswald. (Mon. f. Unf. 1800, No. 5.) Der Kappenmuskel setzt sich aus drei Antheilen zusammen, die verschiedene Aufgaben haben. Der obere, respiratorische, der am äusseren Drittel des Schlüsselbeins ansetzt, ist bei der Athmung betheiligt, indem er die Brustmuskeln entlastet. Der mittlere, elevatorische, dessen Bündel zur Schulterhöhe und -gräte ziehen, hebt die Schulter, seine Spannung hält sie in der gewöhnlichen Höhe; der untere, adduktorische, Antheil endlich, der sich an die innere Hälfte der Schultergräte an¬ heftet, senkt den inneren Schulterblattwinkel und nähert den Rand des Schulterblattes der Wirbelsäule. Hierdurch unter¬ stützt er die Hebung des Arms. Wenn der Kappenmuskel unmittelbar gequetscht wird, so ist anfangs die örtliche Schädigung leicht zu erkennen; sobald aber die Quetschungszeichen verschwunden sind, wird die Diagnose schwierig. Es stellt sich ein Unbehagen in der Schulter, verbunden mit ziehenden Schmerzen vom Ohr zum Oberarm, besonders in der Ansatzgegend des Deltamuskels, ein, wodurch häufig die Aufmerksamkeit ganz auf den Arm abgelenkt wird. Es handelt sich hier entweder um die Erscheinungen einer Zerrung des Armnervengefiechts, bewirkt durch Senkung der Schulter, oder um einen unerklärten Fernschmerz wie der im Knie bei Hüftgelenksentzündung, vielleicht auch um die Folgen der An¬ näherung von Ursprung und Ansatz des Deltamuskels anein¬ ander (?). Wichtig sind neben den Schmerzen die Zeichen der Schwäche des gequetschten Muskels: Das Heben des Arms über die Waagerechte ist erschwert, alle Arbeiten, bei denen die ganze obere Gliedmasse einschliesslich des Schultergürtels kräftig thätig sein muss, werden unmöglich (Ziehen, Heben schwerer Lasten). Ebenso wie durch solche direkte Schädi¬ gungen wirken mittelbare, wie plötzliche Zerrungen am Arm, die sich auf die Schulter übertragen. Die bisher genannten Klagen sind dieselben, ob der ganze Muskel oder nur ein Theil verletzt ist. Bei Schädigung eines einzelnen der oben gekennzeichneten Antheile entspricht der objektive Ausfall der Leistung durchaus dem, was oben über die Aufgaben der verschiedenen Portionen gesagt wurde. Diese Muskelverletzungen können Monate und Jahre bis zum Rückgang aller Folgen brauchen. Die Untersuchung ist nicht schwer, da der Muskel oberflächlich liegt und mit dem der Gegenseite leicht verglichen werden kann. Wichtig ist es, die Stellung der Schulter bei Erschlaffung und bei Zusammen¬ ziehung des Kappenmuskels zu vergleichen. Es folgen die Krankengeschichten von fünf Fällen. 1. Ein Fischer hält das Seil eines Netzes in der rechten Hand; plötzlich wird es mit heftigem Ruck angezogen. Sofort macht sich eine Schwäche und Schwere im Arm geltend, an¬ geblich infolge Sehnenzerrung am Oberarm. In 6 Monaten blieben die Beschwerden gleich, schliesslich wurde der Mann als Simulant bezeichnet. Bei der Untersuchung klagte er über Schmerzen am Ansatz des Deltamuskels und rasche Ermüd¬ barkeit des Arms. Die rechte Schulter war im Gegensatz zur linken etwas nach vorn gesunken, der Nackenwulst hier etwas abgeflacht. Der Arm kann nur mühsam über 140 Grad gehoben werden und sinkt bald zurück. Man kann beobachten, wie vor dem Herabsinken des Arms der innere Schulter¬ blattrand sich vom Brustkorb langsam abhebt. Der untere Rand des Kappenmuskels fühlt sich schlaff an, rechts steht das Schulterblatt U /2 cm weiter von der Wirbelsäule ab und der innere Wirbel 1 cm tiefer als links. Die raschere Ermattung und geringere Kraftleistung des Kappenmuskels wird durch entsprechende Versuche bestätigt. Hier, wo es sich um eine mittelbare Zerrung handelt, ist, wie in solchen Fällen meist, der ganze Muskel geschwächt. Durch Uebungsbehandlung, Massage und Faradische Elek¬ trizität wurde Heilung in V 2 Jahr© erzielt. 2. Vorausgegangen ist ein Fall von der Treppe auf die rechte Schulter. Es haben sich die mehrerwähnten ausstrah- lenden Schmerzen vom Ohr zum Arm eingestellt. Das rechte Schulterblatt steht weiter von der Wirbelsäule ab als das linke. Während der obere und mittlere Antheil des Kappenmuskels unversehrt ist, gelingt eine Heranziehung des Schulterblatts an die Mittellinie nur schwach und vorübergehend; beim Versuch, den Arm über die Waagerechte zu erheben, hebt sich der innere Schulterblattrand vom Brustkorb ab, die Bewegung misslingt. 3. (Fall von der Pferdebahn) und 4. (Druck eines schweren Ballens) entsprechen dem zweiten Falle. Dieser heilte in IV 2 » Fall 4 erst in 5 Jahren. Diese Verletzungen stellen also Schädigungen des unteren, adduktorischen Muskelabschnitts dar. 5. Ein Kutscher stürzt mit dem Pferde, kommt unter das Thier zu liegen und erhält wahrscheinlich einen Hufschlag gegen die linke Schulter. Wenn er den Arm hängen lässt, hat er ziehende Schmerzen darin. Die linke Schulter steht 2,5 cm tiefer als die rechte, der obere Schulterblattwinkel 2 cm weiter von der Wirbelsäule ab als rechts. Der obere Theil des Kappen¬ muskels fühlt sich schlaff, der untere straff an. Die Arm¬ bewegungen sind ungestört, die Schulterhebung besorgt aus¬ schliesslich der Heber des inneren Wirbels. 6. Hier war die Verletzung eine mittelbare (Drehung des Körpers beim Heben einer schweren Kiste mit der rechten Hand). Gleichwohl wurde, wie bei 5) nur der obere und mitt¬ lere (respiratorische und elevatorische) Antheil des Muskels geschädigt. Der Fall zeichnet sich vor den andern dadurch aus, dass er frisch in Behandlung kam und noch deutlich eine haselnussgrosse Muskelblutung ertastet werden konnte. Elektrisch waren in all diesen Fällen bestimmte Verände¬ rungen an den Muskeln nicht nachweisbar. Manchmal war die galvanische Erregbarkeit erhöht. Ein Fall von ungewöhnlicher Dislokation bei Fractura cruris. Von Dr. Ro ich enb ach-Heidelberg. (D. med. W. 1900 No. 16.) Ein sehr hübscher Beleg für die Nothwendigkeit bei Röntgen-Aufnahmen, die Bilder in jedem einzelnen Fall von verschiedenen Punkten aus zu projiziren. Bei einem queren Unterschenkelbruch sah man, wenn von vorn innen nach hinten aussen durchstrahlt wurde, die unteren Bruchstücke beider Knochen zwischen die oberen ein¬ geschoben. Von vorn aussen nach hinten innen durchleuchtet war das Bild ganz anders, die Bruchstücke standen in fol¬ gender Reihenfolge: oberer Theil des Schienbeins, unterer Theil des Schienbeins, oberer Theil des Wadenbeins, unterer Theil des Wadenbeins. In einer Mittelstellung endlich deckten sich die beiden Bruchstücke des Wadenbeins derartig, dass bei oberflächlicher Betrachtung ein unversehrter Knochen vorge¬ spiegelt wurde. Eine sehr anschauliche Skizze, die wir hier nicht wieder¬ geben können, die man sich aber leicht selbst konstruiren Digitized by Google 202 Aerztliohe Sachverständlgen-Zeitung. No. 13. kann, giebt die Lösung des ßäthsels: Das Schienbein war in frontaler, das Wadenbein in sagittaler Ebene gebrochen, bei jenem hatte sich das untere Bruchstück nach innen, bei diesem nach hinten verschoben, eine allerdings ungewöhnliche Bruchform. Innere Medizin. Zur Frage der Erkältung als Krankheitsursache. Von Dr. Alexander Partos, Kurarzt in Herkulesbad. (Wiener medisin. Blätter, No. 12—18, 1900.) Der Begriff der Erkältung wird zwar immer mehr und mehr eingeschränkt, spielt aber doch mit Recht für eine Reihe von Krankheitszuständen noch eine beachtenswerte Rolle. In erster Linie ist es der refrigeratorische Einfluss, die plötzlich und lange genug einwirkende Noxe einer niedrigeren Tempe¬ ratur als die der Blutwärme auf den unvorbereiteten Organis¬ mus, welcher die Erkältungskrankheiten zu Stande kommen lässt. Dieser Einfluss macht sich folgendermassen geltend: 1. Er wirkt als niedere Temperatur entweder auf eine um¬ schriebene Stelle oder auf die ganze Körperoberfläche durch Entziehung von Wärme herabsetzend auf die Körpertemperatur; dadurch schon müssen Veränderungen im Stoffumsatz zu Stande kommen. 2. Entfaltet er eine direkte Wirkung auf die Nerven, indem er in und um dieselben anatomische (entzündliche?) Veränderungen etablirt oder 3. reflektorisch Veränderungen hervorruft, die in Circulations-, Sekretions- und Nutritions¬ störungen bestehen. 4. Wirkt er auf die affizirten Blutgefässe direkt oder indirekt ein und verursacht Cirkulationsstörungen in den betreffenden Cirkulationsgebieten und Veränderungen der betreffenden Blutgefässe. Alle diese vier Faktoren zu¬ sammengenommen, können so auf den Organismus einwirken, dass sie zum mindesten als die Gelegenheitsursache für die ßich entwickelnde Krankheit bezeichnet werden dürfen. Als Erkältungskrankheiten gelten ziemlich allgemein Affektionen der Luftwege, neuralgische und rheumatische Erkrankungen, auch häufig Nephritis. —y. Ein Fall von Blutschwitzen. Von Dr. Ilg-Biberach. (Württemb. medisin. Correspondensbl. No. 12, 1900.) In dem vom Verf. mitgetheilten interessanten Falle von Blutschwitzen handelt es sich um einen an Struma parenchy- matosa leidenden Kaufmannslehrling, aus dessen Antecedentien hervorzuheben ist, dass er häufiger an Ohnmächten litt und psychische oder intellektuelle Störungen aufwies, die als Anzeichen theils von Melancholie, theils von Moral insanity gelten konnten. Die Erscheinung des Blutschwitzens zeigte sich an der rechten Hand, die auf der Rückseite vollständig mit Blutstropfen besät war, ohne dass dieselben konfluirten. Das Phaenomen erklärt Verf. folgendermassen: Die zarten Hautgebilde sind von kleinen und kleinsten Blutgefässen um¬ sponnen, die alle einer Beeinflussung, resp. Regulirung fähig sind, indem überall bis in die oberen Epidermisschichten hin¬ auf Nervenfäserchen, bezw. Ganglien vertheilt sind. Durch eine Erkrankung des Vasomotorencentrums können nun sehr leicht Reize vasomotorischer Art ausgelöst werden, in Folge deren Blut aus den Capillaren in die Schweiss- und Talg¬ drüsenkanäle hineindringt und durch die vis a tergo zur Ober¬ fläche der Haut tritt. Wenn dabei nur einige Tropfen zum Vorschein kommen, so hat dies seinen Grund wohl darin, dass die zarten Capillar- nerven nur geringe Reize aushalten und dann erschlaffen, so dass es nicht zur Konfluirung von Blutstropfen kommen kann. Es handelt sich also um eigenthiimliche Störungen in der Blutzirkulation, welche sich in der Hauptsache auf eine auf¬ fallend starke Blutdruckschwankung beziehen, indem bald Anaemie des Gehirns (Ohnmacht), bald Ueberfüllung der Haut ein tritt, und die auf eine Störung im Vasomotorenoentrum zu¬ rückzuführen sind. Die gerichtsärztliche Frage, ob der Nach¬ weis der pathologischen Blutvertheilung in Gehirn und Haut und deren Erklärung durch die Erkrankung des Vasomotoren¬ centrums genügen würde, um den Patienten vor gerichtlicher Ahndung zu schützen, wozu sein Verhalten leicht Veranlassung geben könnte, will Verf. unentschieden lassen. —y. Ueber Urinbefunde nach Nierenpalpation. Von Dr. C. Menge-Leipzig, Privatdozent. (M. M. W. 1900 No. 28.) Durch eine zufällige Beobachtung aufmerksam gemacht, untersuchte Verf. den Urin von 21 Personen mit Tiefstand einer oder beider Nieren nach Ausführung der bimanuellen Betastung des Organs. 15 mal enthielt unmittelbar nach der Betastung der Harn Blut und eine Eiweissmenge, die etwas höher schien, als der Blutabsonderung entsprochen haben würde. Es steht also fest, dass unter Umständen, die nicht selten zutreffen, Betastung der Niere eine merkliche Gewebs¬ schädigung bewirken kann. Nach den Erfahrungen, die Verf. gemacht hat, scheint ihm der Grad der Schädigung von fünf Bedingungen abhängig zu sein: Von der Stärke des Betastungs¬ drucks — der selbstverständlich nie in roher Weise gesteigert wurde; vom Ernährungszustand, dessen Besserung in einem Falle die Entstehung der Albuminurie verhinderte; von der Spannung der Bauchdecken, vom Grade des Tiefstands — je grössere Parthieen abgetastet werden können, um so grösser ist die Blutung —, und endlich von einer von Mensch zu Mensch verschiedenen Empfindlichkeit der Niere. Die Beobachtungen M.'s erlauben gewisse Vermuthungen hinsichtlich der Bedeutung der Nephroptosis und ihrer Behand¬ lung: Der Druck der Kleidungsstücke, besonders des Korsets bewirkt vielleicht bei den mit Nierentiefstand Behafteten (be¬ sonders jungen Mädchen und kinderreichen Frauen) durch Schädigung der Nieren und davon abhängige Blut- und Ei¬ weissverluste nicht selten Blutarmuth. Vor Massage der Nierengegend und vor dem Tragen einer Bandage mitNieren- pelotte ist zu warnen, das zweckmässigste Mittel gegen die Folgezustände der Nephroptose ist die Mästung der Kranken, das Fettlager schützt die Nieren am sichersten. Neurologie. Ueber den Scapulo-Humeralreflex. Von Prof. Dr. W. v. Bechterew-St. Petersburg. (Neorol. Cent 1900 No. 6.) Bei der Wichtigkeit der Reflexe für die Beurtheilung von Nervenkrankheiten ist es bedauerlich, dass regelmässig vor¬ handene Reflexe für den oberen Theil des Rückenmarks bis¬ her nicht bekannt waren. Verf. hat nun einen solchen ge¬ funden, der beim Gesunden nur sehr selten fehlt und sich fol¬ gendermassen äussert: Wenn man mit dem Percussionshammer den inneren Rand des Schulterblattes beklopft, besonders in der Nähe des unteren Winkels, so wird der Oberarm reflektorisch dem Rumpf genähert. Bisweilen wird er gleichzeitig auswärts ge¬ dreht, nicht selten verursacht Mitbetheiligung des Deltamuskels und der Vorderarmbeuger eine Hebung des Armes und ge¬ ringe Beugung im Ellbogengelenk. Der „Scapulo-Humeralreflex* fehlt immer bei Entzündung der Vorderhörner im Rückenmark, spinalem Muskelschwunde, bei Nervenentzündungen im Bereich der Schultergegend. Digitized by Google 1. Juli 1900. Aerztliohe Saohverständlgen-Zeitung. 268 Mindestens abgeschwäoht ist er bei der sogenannten Muskel¬ dystrophie, meist herabgesetzt bei der chronischen Steifigkeit der Wirbelsäule (Spondylosis rhizomelica), gesteigert dagegen bei denjenigen Lähmungen, die vom Gehirn ausgehen. Ueber den Scapulo-Humeralreflex. Von Dr. med. Hans HaeneL (Nearol. Centr. 1900, No. 9.) Die unter obigem Namen veröffentlichte neueste Ent¬ deckung Bechterews hat Haenel einer Nachprüfung unterzogen und ist dabei zu recht abweichenden Ergebnissen gelangt. Am unteren Schulterblattwinkel liegt keine Sehne und kein Knochen frei unter der Haut. Wenn man hier klopft, macht allerdings der Oberarm die beschriebene Bewegung, aber nicht durch einen Reflex, Bondern durch unmittelbare Erregung des hier gelegenen breiten Rückenmuskels. Durch genaue Beobach¬ tung ist das mit Sicherheit feststellbar. Vom Innenrande des Schulterblatts aus ist — abgesehen von den eben erwähnten Zuckungen — meist kein Reflex aus¬ lösbar. Dagegen gelingt es ziemlich häufig, an der von Mus¬ keln unbedeckten Stelle, wo sich die Schultergräte vom inne¬ ren Rande abzweigt, einen Reflex, der auch auf den zwei¬ köpfigen und Delta-Muskel übergreifen kann, zu erzielen. Dieser ist nach Untersuchungen an 120 Kranken viel seltener als die Sehnenreflexe des zwei- und dreiköpfigen Oberarmmuskels und als der Knochenhautreflex der Speiche. Er ist manchmal auf einer Seite stärker ausgeprägt als auf der andern. Eine Bedeutung bei der Beurtheilung von Krankheitszuständen kommt dem Bechterewschen Reflex also keineswegs zu. Erfahrungen in der Behandlnng konträrer Sexualempfindung. Von Dr. Alfred Puchs-Wien. (Wiener klinische Randschau No. 18, 1900.) Die Richtigstellung der Thatsache, dass konträrsexuale Menschen vom ärztlichen und nicht vom juridischen Stand¬ punkte aus zu beurtheilen sind, ist für viele Tausende von unglücklichen Menschen von vitalster Bedeutung. Nachdrück¬ licher kann man dies der Legislative gegenüber nicht ver¬ fechten, als indem man Menschen, die man für krank erklärt, behandelt und — heilt. Das ist Verf. denn auch bei einer Anzahl von Konträrsexualen gelungen. Im Ganzen kamen 42 Fälle zur Behandlung, von denen 14 vollkommen geheüt wurden, d. h. sie wurden zu regelmässigem heterosexuellem Verkehr gebracht, und die Länge der Beobachtungsdauer bietet eine Gewähr dafür, dass sie nicht rückfällig werden. Zu sexueller Neutralität gelangten 8. Das angewandte Heilver¬ fahren war ein hypnotisch-suggestives, natürlich unter Zuhülfe- nahme aller therapeutischen Mittel, die zur Heilung beitragen konnten. Bevor man zur eigentlichen psychischen Behandlung eines Konträrsexualen schreitet, muss man meist gegen die vorhandene Neurasthenie ankämpfen; auch liegt sehr oft bei diesen Kranken psychische und somatische Masturbation in excessiver Weise vor, ebenso wie sie häufig unter dem un¬ glückseligen Einfluss des Alkohols stehen. Diese Umstände verdienen zunächst sorgfältigste Berücksichtigung. Die Psycho¬ therapie der konträren Sexualempfindung selbst setzt sich zu¬ sammen aus einem gewissen pädagogischen Vorgehen und aus der eigentlichen Psychotherapie, welche am zweckentsprechend¬ sten in die äussere Form der hypnotischen Suggestion ge¬ kleidet wird, und zwar auch in jenen Fällen, in welchen man sich mangels jeder Empfänglichkeit für Hypnose auf Wach¬ suggestionen beschränken muss. Eine tiefe Hypnose ist ge¬ wöhnlich bei Konträrsexualen überhaupt nicht zu erreichen; glücklicherweise erweist sich aber auch ein mitteltiefes En- gourdissement schon als therapeutisch wirksam. — y. Vergiftungen. Psychose nach Bleiintoxikation. Von Dr. Seydel-Königsberg. (Viertelj»hr»chr. f. ger. Med. 1900 Heft 2.) Ein Gelbgiesser, welcher Syphilis gehabt und ziemlich viel getrunken hat, erkrankt nach einem fallsuchtartigen An¬ fall seelisch. Er begeht thörichte Handlungen (wirft brennende Streichhölzer ins Bett), und es entwickelt sich bald ein blühen¬ der ungeheuerlicher Grössenwahn, die Sehnenreflexe waren gesteigert, die Pupillen reagirten träge. Gesichtshälften- Unterschiede und Sprachstörungen bestanden. Die Diagnose Lähmungsirrsein war demnach selbstverständlich, die Entmün¬ digung begründet. In wenigen Monaten aber änderte sich das Bild. Der Kranke übernahm sein Gewerbe wieder und „besorgte seine Angelegenheiten“ in ein wandsfreier Weise. Die Untersuchung ergab nur noch einen geringen Rest seelischer Störung bei fortbestehenden Zeichen lähmungsartiger Schwäche. Die Ent¬ mündigung konnte daher aufgehoben werden, und Verf. war sogar in der Lage, ein halbes Jahr später noch eine weitere Besserung festzustellen. Soweit hätte der Fall nicht viel Besonderes. Es wäre eine progressive Paralyse der Irren mit bedeutendem Nach¬ lassstadium. Nun ist aber der betr. Kranke als Gelbgiesser vielfach Bleidämpfen ausgeBetzt gewesen und bat vor seiner Erkrankung längere Zeit in der Werkstatt, wo er am Tage mit dem Blei arbeitete, auch die Nächte zugebracht. Er ist also einer chronischen Bleivergiftung ausgesetzt gewesen und hat überdies thatsächlich beim Eintritt in die erste Kranken¬ anstalt einen Bleisaum am Zahnfleisch gehabt. Auf diese Thatsachen legt S. grossen Werth. Er ist der Ueberzeugung, dass das Blei mindestens bei der Entstehung der Bleivergif¬ tung mitgewirkt hat. Nach der mitgetheilten Kasuistik ver¬ läuft die Mehrzahl der Bleiparalysen — die nur einen Theil der chronischen Bleipsychosen ausmachen — ungünstig, wahr¬ scheinlich wegen der gewöhnlich vorhandenen Ernährungszu¬ stände, gelegentlich aber kommen Besserungen und Genesun¬ gen vor. Es wäre interessant, nach Jahren zu hören, was aus dem hier beschriebenen Kranken geworden sein wird. Ueber die Gesundheitsschädlichkeit bleihaltiger Ge¬ brauchsgegenstände, insbesondere der Trillerpfeifen. Von Adolf Beythien. Mittheilung aus dem chemischen Untersuchungsamte der Stadt Dresden. (Zeitschrift f. Unters ach. d. Nähr.- u. GenattmHtel, April 1900.) Durch das Gesetz betr. den Verkehr mit blei- und zink¬ haltigen Gegenständen vom 25. Juni 1887 wurde zunächst nur für gewisse Gruppen von aus Metall hergestellten Gebranchs¬ gegenständen, nämlich für Ess-, Trink- und Kochgeschirr, so¬ wie Flüssigkeitsmaasse die Verwendung einer mehr als lOProz. Blei enthaltenden Legirung verboten. Auf die grosse Gruppe der aus Bleilegirungen bestehenden Kinderspielsachen bezog sich das Gesetz nicht. Bei der feststehenden Giftigkeit der Bleisalze für den menschlichen Organismus suchte man diese Lücke durch Heranziehung des § 12 No. 2 des Nahrungs¬ mittelgesetzes auszufüllen, nach welchem die Herstellung und das Feilhalten von Spielwaaren etc., deren bestimmungsge- mässer oder vorauszusehender Gebrauch die menschliche Ge¬ sundheit zu beschädigen geeignet ist, strafbar erscheint. Unter dieses Verbot fielen auch die Trillerpfeifen, die von den Digitized by Google 264 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 13. Kindern ihrer Bestimmung gemäss in den Mund geführt werden. Dabei war stillschweigende Voraussetzung, dass in der That die Gesundheit durch die bleiauflösende Wirkung des Speichels gefährdet werden kann. Verf. hat diese Frage in einer experimentellen genauen Untersuchung geprüft und kommt dabei zu folgendem Ergebniss: Die bleihaltigen Triller¬ pfeifen geben zwar bei zweistündigem ununterbrochenen Aufenthalt im Munde, selbst bei Anwesenheit stark saurer Speisen und Getränke, kein Blei in löslicher Form ab, aber durch das Herumkauen mit den Zähnen auf dem Bleigegen- stande werden Metalltheilchen in feinvertheiltem Zustande losgetrennt, deren Menge in zwei Stunden etwa 2—3 mg be¬ trägt. Bei Behandlung von feinvertheiltem Blei bei Blut¬ temperatur mit saurem Magensaft, dessen Säuregehalt den in der Natur beobachteten Verhältnissen einigermassen entspricht, geht schon nach vierstündiger Einwirkung Blei in lösliche Form über. Die Frage, ob die Menge des in Lösung über¬ gehenden Bleies zu Vergiftungen Veranlassung geben kann, will Verf. als Chemiker dem Arzte zur Beantwortung über¬ lassen. —y. Die Intoxikation bei Gebrauch der Jodoform-Glycerin* Emnlsion. Aus der Chirurg. Abtheilung des St. Lazarus-Spitales zu Krakau. Von Dr. Arthur Frommer und Dr. Kasimir Paneck. (Wiener med. Wochenichr. No. 17, 1900.) Verff. befürworten anf Grund ihrer klinischen und experi¬ mentellen Untersuchung die Verwendung von nicht sterilisir- ten Jodoform-Emulsionen. Infektionen sind dabei nicht zu be¬ fürchten, hingegen werden Intoxikationen, wie sie beim Ge¬ brauch sterilisirter Emulsionen gar nicht so selten sind, da¬ durch vermieden. Während der Sterilisation gehen nämlich in den Bestandtheilen der Emulsion chemische Veränderungen vor sich, die für die Intoxikationserscheinungen verantwortlich gemacht werden müssen. In Folge der gegenseitigen Ein¬ wirkung des Jodoforms und des Glycerins kommt es zum Aus¬ scheiden verschiedener, leicht resorbirbarer Körper, welche für den Organismus nicht gleichgiltig sind. In anderen Fällen dürfte freilich daB Glycerin bezw. dessen Derivate die Haupt¬ ursache für die Intoxikationserscheinungen abgeben. Alsdann pflegen dieselben gleich nach der Infektion in die Erscheinung zu treten; in den leichteren Formen handelt es sich um Tem¬ peratursteigerungen, in den schwereren um Zerfall der rothen Blutkörperchen und Albuminurie. Dass auch Fälle Vorkommen, in welchen beide Ursachen mitwirken, ist zweifellos; dann hat auch das Intoxikationsbild einen gemischten Charakter. Am zweckmässigsten verwendet man jedenfalls nach den Erfah¬ rungen, welche Verff. gemacht haben, eine nicht sterilisirte, in denselben Flaschen höchstens 1—2 Wochen aufbewahrte Jodoform-Emulsion. —y. Hygiene. Zur Ausführung der Trichinenschau. Von Schlachthof-Direktor F. Meyer-Frankfurt a. 0. (ZeltBchr. f. Fleisch- u. Milchhygiene, Heft 6, 1900.) Die obligatorische Untersuchung des Schweinefleisches auf Trichinen ist in sämmtlichen Provinzen Preussens bekanntlich durch besondere Polizeiverorduungen geregelt. Dabei sind zwar über die Art und Weise der Untersuchungen und über das Kennzeichnen der untersuchten Objekte genügend präci- sirte Vorschriften gegeben, jedoch über die Zahl der von einem Trichinenschauer an einem Tage ausführbaren Untersuchungen werden im Allgemeinen nur wenige in der Praxis verwend¬ bare Angaben gemacht. Verf. untersucht diese Frage, für deren Beantwortung eine grosse Reihe auch äusserer Momente in Betracht kommt, und berechnet, dass die einfache (ein¬ malige) mikroskopische Untersuchung eines Schweines auf Trichinen bei 30 Präparaten auf einem Kompressorium für einen gewandten Trichinenschauer einen Zeitaufwand von 20—23 Minuten, für weniger Geübte einen solchen von min¬ destens 25 Minuten erfordert. Bei doppelter Untersuchung wird die Einzel- bezw. Nachuntersuchung einige Minuten weni¬ ger betragen können, ebenso wenn statt 30 nur 24 Präparate der Anfertigung und Untersuchung unterliegen. Mittels der Normaluntersuchungszeit von 25 Minuten für ein Schwein lässt sich für jeden Trichinenschauer, sei er auf dem Lande oder an einem Schlachthof thätig, die Zahl der an einem Tage zu untersuchenden Schweine unter Berücksichtigung der übrigen örtlichen Verhältnisse genauer berechnen. Verf. stellt als Tageszahl der mikroskopischen Untersuchungen für einen selb¬ ständigen bezw. Land-Trichinenschauer 8—9 bezw. 10—12 Schweine, für einen Schlachthof-Trichinenschauer 16 Schweine hin. Was die Personalfrage betrifft, so spricht sich Verf. mit Rücksicht auf die grosse Verantwortlichkeit, welche die unter¬ suchende Person auf sich nimmt, dafür aus, dass das Amt der Trichinenschau besser einem Manne als einer Frau übertragen wird. —y. Russbildner ln unseren Wohnränmen. Von Prof. Dr. Max Rubner-Berlin. (Hygien. Rundschau No. 6, 1900.) Der Stadt- und Industrieruss bildet eine offenkundige Quelle der Luftverunreinigung; wir haben aber auch in den Wohnräumen selbst Russbildner, denen bisher keine genügende Beachtung geschenkt wurde. Es ist Verf. durch ein beson¬ deres Verfahren ein Leichtes gewesen, nachzuweisen, dass selbst so vollkommene Beleuchtungseinrichtungen, wie das Auerlicht, kleine Mengen von Russ abgeben. Sehr reichliche Russbildung findet beim Brennen von Stearinkerzen statt; die Menge des erzeugten Russes hängt vielfach von der Dochtart ab. In dem Russnachweis besitzen wir ein einfaches Mittel, um der unvollkommenen Verbrennung leichter nachzugehen, als dies bisher möglich war. Vom hygienischen Standpunkte aus verdient diejenige Beleuchtungseinrichtung den Vorzug, die ohne Russentwickelung das nöthige Licht giebt. Die Art der Brenner, die Dauer des Betriebes, das Leuchtmaterial und Anderes dürfte hierfür massgebend sein. Aber auch die Be¬ schaffenheit der chemischen Zusammensetzung der Luft in den Stuben lässt ihren EinfiusB nicht verkennen. Bemerkens¬ werth ist z. B. die gesteigerte Russbildung, wenn in einem Zimmer offene Flammen brennen, in welchem vorher mit terpentinhaltiger Bohnermasse das Parket gehöhnt wurde. Verf. glaubt, dass durch sein neues Verfahren des Russnach- weises für manche Fragen der Ventilation, der Beheizung etc. eine bessere Unterlage geschafft wurde, die zu erneuten, ein¬ gehenden Untersuchungen Veranlassung geben dürfte. —y- Die Beurtheilung des Zusatzes schwefligsaurer Salze zum Fleische vom sanitätspolizeilichen Standpunkte. Von Reg. u. Medizinalrath Dr. Bornträger. (Bonderabdr. aus d. hygien. n. gegundheitstechn. Zeitschrift „Gesundheit“.) Die schwefiigsauren Salze und insbesondere das schweflig- saure Natrium, welches das wirksame Prinzip vieler soge¬ nannter Konservirungsmittel bildet, hemmen nicht nur die Bakterienentwickelung und verlangsamen auf diese Weise die Zersetzung des Fleisches, sondern sie haben auch noch die Fälligkeit, dem Fleische die frische rothe Farbe zu erhalten, bezw. zu verleihen, leisten also dasselbe wie ein Fleischfärbe- Digitized by ^ooQie 1. Juli 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 265 mittel, indem sie auf den Blutfarbstoff einwirken, das Oxy- haemoglobin konserviren und vor Reduktion schützen. Sie sind sogar im Stande, bereits grau gewordenem, in saurer Gährung befindlichem Fleische in gewissen Grenzen den Ge¬ ruch zu nehmen und vor allen Dingen die rothe Farbe wiederzugeben. Diese Eigenschaften haben zu einer weit¬ gehenden Verwendung der schwefligsauren Salze geführt, so dass die Frage, ob dieselben der Gesundheit nicht schädlich sind, von grosser praktischer Bedeutung ist. Verf. unterzieht diese Frage einer eingehenden Erörterung und stellt dabei folgende Sätze auf: 1. Die schweflige Säure ist für Menschen und Thiere ein Gift, auch wenn sie in Lösung in den Magen eingebracht wird; sie bildet sich, wenn schwefligsaure Salze mit der Nahrung genossen werden, im Magen. 2. Der fort¬ gesetzte Genuss kleiner Mengen schwefligsaurer Salze, auch in den Gaben, in denen sie dem Hackfleisch beigefügt wer¬ den, bewirkt bei Thieren schwere Organschädigungen, auch ohne dass äusserlich denselben etwas anzumerken ist 3. Manche Menschen, vermuthlich nicht wenige, insbesondere manche Kategorien und zwar zum Theil gerade solche, für die das Hackfleisch bestimmt ist, erleiden schon beim Genuss minimaler Mengen schwefliger Säuren (0,01) oder schweflig- saurer Salze (0,04) deutliche Störungen des Wohlbefindens. Es ist anzunehmen, dass diese Störungen sich bei genügender Beachtung häufiger, als zur Zeit im allgemeinen angenommen wird, werden nachweisen lassen, weiter aber auch, dass leichte Organbeschädigungen öfters auch dort Vorkommen, wo Trübungen des Gesundheitsbewusstseins nicht wahrgenommen werden. Hieraus ergiebt sich, dass die Hygiene die Fern¬ haltung aller Zusätze von schwefliger Säure oder schweflig¬ sauren Salzen zu Nahrungsmitteln, insbesondere auch zu Hack-, Schab- und Wurstfleisch, fordern muss. Zum Schlüsse seiner Arbeit erörtert Verf. die Gesetzesbestimmungen, mit Hülfe deren dieses Postulat durchgesetzt werden kann. —y- Der gegenwärtige Stand des Findelwesens in Ungarn. Von Dr. M. Szalärdi. Auf dem im Jahre 1899 in Budapest abgehaltenen internationalen Kongress für Kinderschutz vorgetragen. (Deutsche Vierteljahrsschrlft für öffentlcibe Gesundheitspflege, Bd. 32, Heft 2). Der im Jahre 1885 gegründete Landes-Findelhaus-Verein vom Weissen Kreuz in Budapest hat es sich zur Aufgabe ge¬ stellt, für die unehelichen und verlassenen Kinder zu sorgen, indem er den Müttern bald nach ihrer Niederkunft sammt ihren Kindern Zuflucht und auch später materielle Hülfe gewährt. Diesem Verein wurde im Jahre 1895 die Befugniss ertheilt, Kinder auf Kosten der zuständigen Gemeinden aufnehmen zu dürfen. Für die Regelung der Findlingsversorgung ist in Ungarn ausschliesslich der Gesichtspunkt massgebend, ob das Kind auf die öffentliche Pflege angewiesen ist oder nicht, im Uebrigen kommt weder Alter, noch Religion, noch Nationalität in Betracht, ja nicht einmal der Umstand, ob das Kind ehe¬ lich oder unehelich ist. Im Gegensatz zu den meisten Findel - häusern wird in Ungarn, wenn irgend möglich, das Kind mit der Mutter zusammen aufgenommen und beide in der An¬ stalt so lange verpflegt, bis das Kind ein Gewicht von 3^2 bis 4 kg erreicht hat, erst dann wird das Kind in Ammen¬ pflege auf das Land gegeben. In neuerer Zeit ist es ausser¬ dem gelungen, nicht nur die Mütter syphilitischer Kinder, sondern alle Mütter von schwach entwickelten und kranken Kindern zu bewegen, die ganze Zeit der Säuglingsperiode in einer der eigens hierzu eingerichteten Kolonien mit dem Kinde zuzubringen, während welcher Zeit für sämmtliche Bedürf¬ nisse des Kindes, wie der Mutter gesorgt wird. Die Mutter bleibt in diesen Fällen die Amme ihres Kindes. Diesem Vor¬ gehen entsprechend sind die Gesundheitsverhältnisse der Kinder besonders günstige, wie andrerseits auch das Zusammen¬ leben mit ihrem Kinde auf die Mutter moralisch günstig ein¬ wirkt. Ein andrer hygienischer Vorzug des ungarischen Systems liegt darin, dass der Gesundheitszustand der sämmtlichen in 85 Gemeinden (Kolonien) untergebrachten 1500 Pfleglinge durch eigene, von der Anstalt honorirte Aerzte überwacht wird, die jeden Pflegling mindestens viermal im Jahre unver- muthet untersuchen. Die Mortalität der Pfleglinge war stets geringer, als die Sterblichkeit der Kinder in Budapest und Umgegend überhaupt. Endlich wurden mit Autorisation der Regierung in verschiedenen Centren des Landes Filialen er¬ richtet, die in gleicher Weise den Zweigvereinen des Weissen Kreuzes unterstellt wurden. Roth (Potsdam). Bäder und Badewesen im Mittelalter. Von J. Marcuse. (Dtech. Vierteljabrscchr. f. Öff. Gesundheitspflege Bd. 32, H. 2.) Als Folge zu »Bäder- und Badewesen im Alterthum“. Dieselbe Zeit¬ schrift Bd. 31. Verf. giebt in der vorliegenden Arbeit ein anschauliches Bild des Badewesens im Mittelalter, speziell in Deutschland, dessen Ursprung hier, wie in den übrigen Ländern Europas auf das römische Badewesen zurückführt. Nach einem vorübergehenden Rückgang wurde in Deutsch¬ land mit dem Aufblühen des bürgerlichen Lebens der Ge¬ brauch der Bäder ein allgemeiner und zur Lebenssitte. An¬ fangs auf die Fest- und die Feiertage beschränkt, wurde die Badesitte allmählich weiter ausgedehnt und mindestens einmal in der Woche, gewöhnlich am Sonnabend gebadet. Zahlreiche öffentliche Badestuben erstanden in Stadt und Land gegen¬ über den ursprünglichen primitiven Formen des Hausbade- stübleins und der gewöhnlichen Badekufe. Ausser in der Errichtung zahlreicher öffentlicher Bade¬ anstalten und Hausbadestuben findet die Verbreitung des Badewesens ihren Ausdruck in der Einbeziehung der Bade¬ stuben in die landesherrlichen Regale, in der Verab¬ reichung von Badegeld als einer Art von Trinkgeld, in der Sitte, Badegewänder als Geschenke zu vertheilen, sowie in dem sorgfältigen Anmerken der günstigen Badezeiten in den in allen Händen befindlichen Kalendern. Im 16. Jahr¬ hundert finden wir sowohl in jedem einigermassen behaglich eingerichteten städtischen Bürgerhanse wie auf jedem grösse¬ ren Bauernhöfe eigene Badestüblein, die gewissermassen den Salon des Hauses bildeten, wo man mit guten Freunden badete und trank, ohne auf den Unterschied des Geschlechts besondere Rücksicht zu nehmen. Die gewöhnliche Form deB Bades war die des Schwimmbades, der Piscina, und des Vollbades in Wannen aus Holz oder gemauerten Becken. Diese Voll- oder Wannen¬ bäder, wie sie auch von den Aerzten zu Heilzwecken verordnet wurden, waren entweder einfache oder medikamentöse, mit Zusätzen von Kräutern bereitete. Für die Armen und Siechen wurden besondere Armenbäder gestiftet. Mit dem Auftreten der Lepra wurde das einfache Wasser¬ bad mehr und mehr zu Gunsten des Schwitz- oder Dampf¬ bades zurückgedrängt, das dadurch gerade zum typischen Bade des Mittelalters wurde. Der Dampf in den Schwitzbädern wurde in der Regel dadurch erzeugt, dass man auf den Oefen Steine erhitzte und sie mit Wasser übergOBS. Beim Eintritt in die Schwitzstube bot der Badewirth dem Gaste mehrere meist aus Birken- oder Eichenlaubreisern ge¬ bundene Büschel dar, Wadel oder Quäbten genunnt; eine Digitized by Google 266 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 13. solche Badequaste galt auch als Aushängeschild der Bade¬ stuben. Sie diente den Badenden dazu, sich zur Erhöhung der Hautthätigkeit mit ihnen zu peitschen oder auch mit ihnen als einer Art Blätterpinsel zu besprengen, daher auf bild¬ lichen Darstellungen des Sündenfalls aus dieser Zeit statt des Feigenblatts die Badequaste. Allmählich artete der Gebrauch der Schwitzbäder wie der damit verbundene, von Italien nach Deutschland gekommene Unfug des Schröpfens immer mehr aus. Dazu kam der immer mehr zunehmende, durch die Mischung der Geschlechter be¬ dingte sittenverderbende Einfluss des Badens. Vor Allem aber war es ein äusserliches Ereigniss, das dem plan- oder ziel¬ losen Badeunfug ein Ende machte, das war das Hereinbrechen der Volksseuchen im 15. und 16. Jahrhundert. An die Stelle der Lepra, die den Schwitzbädern als vermeintlicher Panazee eine universelle Verbreitung verschafft hatte, war die Syphilis getreten, und mit ihr die Furcht, in den Badestuben sich zu infiziren. An manchen Orten wurde den Badem untersagt, derartigen Kranken den Eintritt in ihre Badestuben zu ge¬ statten, und als im Laufe desselben Jahrhunderts die Pest er¬ schien, da wurden die öffentlichen Badestuben von der Obrig¬ keit völlig geschlossen. Als man sie dann nach dem Er¬ löschen der Pest wieder eröffnete, war der Reiz geschwunden und das Publikum wagte sich nicht mehr hinein. An die Stelle des Gebrauchs der öffentlichen Badestuben trat jetzt eine von Jahr zu Jahr steigende Frequenz des Be¬ suchs naturwarmer Quellen, im Gegensatz zu den kunstwarmen Bädern Wildbäder genannt. Wie schon zur römischen Kaiser¬ zeit diese Mineralbäder als Stätten rauschender Vergnügungen und lebensfroher Lustbarkeiten besonderer Beliebtheit sich er¬ freut hatten, so trug auch jetzt die weltliche Lust, die die Kurorte zu den lockersten Vergnügungsorten umgestaltete, wesentlich dazu bei, im mittelalterlichen Badewesen die Aera der Badefahrten anzubahnen und geradezu einea Taumel nach Badereisen entstehen zu lassen. Alles in Allem hat das Badewesen im Mittelalter niemals das klassische Alterthum mit seiner hervorragenden Kultur der Pflege des Körpers erreicht. Gleichwohl behauptet auch das Mittelalter in der Geschichte des Badewesens seinen Platz, denn zum zweiten Mal in der Entwicklung der Menschheit sehen wir, wenn auch dem Geist und Geschmack der Zeit nur allzusehr unterworfen, eine Epoche auftreten, in der das Baden zu den unentbehrlichen Bedürfnissen des alltäglichen Lebens gehört, in der es zum Gemeingut aller Klassen der Gesell¬ schaft wird. „ ln diesem Punkte tritt es für den Hygieniker und Kulturhistoriker, befreit von seinen sonstigen mannigfachen Schlacken, als kulturelle Errungenschaft hervor und lehrt uns, dass selbst in einem Zeitalter, in dem Mysticismus und Askese das Heil des Körpers einem falsch verstandenen Heile der Seele opferten, der Sinn für die praktische Gesundheitspflege doch nicht ertödtet war.“ Ein kurzer kulturgeschichtlicher Rückblick auf die Ent¬ stehung des Gewerbes der Bader und Scheerer, deren eigent¬ liche GeburtSBtätte die Klöster waren, schliesst die anregende Arbeit. Roth (Potsdam). Aus Vereinen und Versammlungen. Berliner Medizinische Gesellschaft. Sitzung vom 24. Mai 1900. (B. Kl. W. No. 24, 1900.) Herr B. Frankel: Migraenin-Exanthem. Vortr. stellt einen Mann vor, der nach jedesmaligem Gebrauch von Migraenin = Citronensäure + Coffein + Antipyrin binnen einer kurzen Zeit — angeblich einer Viertelstunde — einen Ausschlag au Haut und Schleimhäuten bekommt, der bald nesselsucht- bald schäl¬ blasenartig ist. Besonders die Lippen und die Mundschleim¬ haut werden betroffen. Stellenweise bilden sich diptherieartige Auflagerungen. Die Krankheit läuft in acht Tagen ab. Berliner Verein für innere Medizin. Sitzung vom 30. April 1900. (Centr. BL f. innere Med. 1900, No. 22.) Herr v. Leyden demonstrirt eine traumatisch entstan¬ dene Erweiterung der grossen Bauchschlagader. Der Kranke verunglückte 1898 durch einen Fall auf den Leib. Seit¬ dem hat er Schmerzen deren Zunahme ihn schliesslich dienst¬ unfähig machte. Gegenwärtig, nachdem durch Gelatine-Ein¬ spritzungen bereits eine kleine Besserung erzielt ist, fühlt man noch deutlich das Pulsiren des Gefässes im oberen Theil des Leibes und die Röntgen-Aufnahme ergiebt deutlich das Vor¬ handensein der Aneurysmas. Beim Behorchen nimmt man bei der Zusammenziehung und bei der Erschlaffung des Herzens je ein Geräusch über dem erweiterten Gefäss wahr. Das diastolische Geräusch ist bei Aneurysmen selten und beruht auch dann noch meist auf gleichzeitiger Schlussunfähigkeit der halbmond¬ förmigen Herzklappen, welche im vorliegenden Falle nicht vor¬ handen ist. v. L. glaubt zur Erklärung dieses Geräusches an¬ nehmen zu müssen, dass oberhalb des Blutsackes, von diesem durch eine enge Stelle getrennt noch eine Erweiterung der grossen Schlagader besteht. Herr Litten bemerkt dazu, dass doch auch innerhalb des Blutsacks selbst eine enge Stelle existiren könnte, die an dem Geräusch schuld sei. Sitzung vom 21. Mai 1900. Herr Kaminer hat auf Anregung einer Fabrik, in welcher Arbeiter nach Beschäftigung mit Phenylhydrazin Gesund¬ heitsstörungen gezeigt hatten, Thierversuche über die Gift¬ wirkung dieses Körpers angestellt. Er fand, dass das Phenylhy¬ drazin blutzersetzend wirkt. Bei chronischer Vergiftung sind die rothen Blutkörperchen vermindert und missgestaltet. Nicht selten bilden sich Lungenentzündungen aus, bei akuter Ver¬ giftung sind alle Organe bräunlich verfärbt, die Nieren von Blutungen durchsetzt und ihre Gewebe theilweise abgestorben. Dementsprechend findet sich im Harn Eiweiss und Blut. Freie Vereinigung der Chirurgen Berlins. Sitzung vom 12. März 1900. (Centr. BL f. Chir. 1900, No. 18.) Herr Rose berichtet über eine Heilung von epilep¬ tischem Blödsinn bei einem sechsjährigen Jungen. Nach einer Stirnverletzung im September 1899 hatten sich Zuckungen in den Gliedmassen und Bewusstlosigkeit eingestellt. Dann entwickelte sich das seelische Krankheitsbild: das Kind nahm die sonderbarsten Stellungen ein, schlug die Beine über den Kopf, gab unartikulirte Laute von sich, war unreinlich im höch¬ sten Grade, benahm sich bei der Nahrungsaufnahme thierisoh. R. entschloss sich zu einem blutigen Eingriff, er bildete an der Stelle der Narbe einen Hautknochenlappen, spaltete die harte Hirnhaut, an der nichts besonderes zu finden war, punktirte ohne Ergebniss das Gehirn und nähte dann die Wunde wieder zu. Der erste merkbare Erfolg war ein epileptischer Anfall gleich nach der Operation. Aber merkwürdigerweise war von Stund an der Junge geheilt. R. denkt sich, dass die Krank¬ heit auf vorübergehenden Schwellungszuständen des Gehirns beruht hat (?). Die Bezeichnung Blödsinn dürfte in einem der¬ artigen Falle psychiatrisch nicht ohne Weiteres gerechtfertigt sein. Digitized by Google 1. Juli 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 267 Hierauf stellt Herr Rose noch einen älteren Mann vor, der trotz schwerster Verletzungen am Leben geblieben ist. Es waren mehrere Rippen, ein Schlüsselbein, ein Oberarm ge¬ brochen, 2500 ccm Blut wurden aus dem Brustfellraum gepumpt, der Herzbeutel enthielt ebenfalls Blut, durch das zerrissene Zwerchfell war Luft in den Bauchraum getreten. Und dennoch! Herr Schüller berichtet über Befunde von kleinsten Lebewesen in Geschwülsten. Bei Sarkomen fand er regel¬ mässig im Innern blasenartige Körper von goldgelber Farbe, stark lichtbrechend, von runder, ovaler oder Birnen-Form. An ihnen liess sich sowohl eine Schichtung als eine speichenartige Streifung (Kanäle) erkennen. Sie haben die dreifache Grösse weisser Blutkörperchen. Die Gebilde liegen zwischen den Geschwulstzellen. Um sie zu finden, muss man die Geschwulst- theilchen zerreissen, in Alkohol entwässern und in Lavendelöl aufhellen. Zur Färbung eignet sich nur schwache Haematoxy- lien oder Jod-Jodkalilösung. Uebertragungsversuche auf Thiere hat Vortr. noch nicht abgeschlossen. Wenn Theile mitten aus frisch operirten Geschwülsten mit sterilen Messern ausge¬ schnitten und in einem Glascylinder bei Körpertemperatur im Dunkeln aufbewahrt wurden, entwickelten sich Sago-ähnliche Körnchen. Aehnliche Organismen fand S. in Impfpräparateu aus syphi¬ litischen Geschwülsten, oft kolonieartig aneinandergereiht Er will aus seinen Befunden keine bestimmten Folgerungen ziehen, nur zu weiteren Forschungen anregen. Gesellschaft der Aerzte in Wien. Sitzung vom 18. Mai 1900. (W. med. W. No. 22.) Schnitzler: Subkutane Darmverletzung. Dem betreffenden Manne war eine Last über den Leib gerollt. Er erbrach einmal, die rechte Unterbauchgegend war stark druckempfindlich und gab gedämpft tympanitischen Schall. Sonst waren keine Krankheitserscheinungen vorhanden; dem¬ nach machte S. den Bauchschnitt und fand eine bohnengrosse Lücke im Dünndarm. Die Därme waren bereits eitrig belegt. Dennoch erfolgte nach Ausspülung mit warmer Kochsalz¬ lösung und Drainage völlige Heilung. In einem zweiten Falle, der gleichfalls auf dem Wege der Besserung ist, war ein bei der Bearbeitung abgesprungenes Blechstück durch Kleidung und Bauchdecken gedrungen und hatte den Darm glatt angeschnitten. Sitzung vom 25. Mai 1900. (W. med. W. No. 23.) Herr Weinlechner demonstrirt einen jungen Mann mit einer Stichwunde unter dem rechten Warzenfortsatz. Der Stich hat den Gesichtsnerv und die innere Unterkiefer- Schlagader getroffen. Letztere musste unterbunden werden, da die Blutung durch Ausstopfung nicht zum Stillen zu brin¬ gen war. Der Nerv soll genäht werden. In einem zweiten von W. gezeigten Falle handelte es sich um eine Revolververletzung, bei der die Kugel unterhalb des Joohbogens eiugedrungen war, den Gaumen durchbohrt hatte und zwischen den Querfortsätzen des 2. und 8. Hals¬ wirbels stecken geblieben war. Nachdem der Sitz der Kugel durch Röntgenstrahlen genau bestimmt war, gelang es, sie operativ zu entfernen. _ Wiener medizinischer Klub. Sitzung vom 25. April 1900. (W. med. Pr. 1900 No. 20.) Grünbanm: Ruptur des langen Bizepskopfes. Die Fälle stammen aus dem Institut von Bum und Hers. Die Verletzung wurde in dem einen Falle duroh das Heben eines schweren Mehlsacks, in dem andern dadurch bewirkt, dass ein Stürzender nach einem Rohr an der Wand griff, um sich festzuhalten. Das Krankheitsbild war das von Pagenstecher u. s. w. (s. vorige Nummer) angegebene. Zur Behandlung werden feste Verbände widerraten, da sie gewöhnlich nicht nützen, wohl aber schaden können, Massage und Gymnastik ist vorzuziehen, Naht kommt selten in Frage. Wissenschaftlicher Verein der Militärärzte der Garnison Wien. Sitzung vom 18. Januar 1900. (Der Militärarzt 1900, No. 9—10.) Herr Jeney zeigt Röntgeubilder aus verschiedenen Ge¬ bieten der Chirurgie, insbesondere geht er auf die Fuss- geöchwulst ein. Er hat im Jahre 1899 nur in einem ein¬ zigen Falle von denjenigen, welche klinisch die Erscheinungen der Fussgeschwulst aufwiesen, Knocheuveränderungen fest¬ stellen können. In den anderen Fällen dürfte es sich daher um eine Bänder- oder Sehnenscheiden-Entzündung am Mittel- fuss gehandelt haben. Herr Habart bemerkt hierzu, dass auch er der Meinung ist, dass es zwei Arten von Fussgeschwulst im Sinne des Vor¬ tragenden giebt. Herr Habart zeigt zunächst ein Präparat von Revolver¬ verletzung des Darmes und berichtet über den betreffen¬ den Fall, sodann führt er einen Soldaten vor, bei dem sich, nachdem er von einem Pferde an eine Futtermuschel ange¬ drückt worden war, eine schwere traumatische Hysterie ausgebildet hat. Die Krankheit verläuft hauptsächlich unter dem Bilde der Tetanie. Klopfen und Druck auf den Ellen- und Schienbeinnerven ruft Zusammenziehung der zugehörigen Muskeln hervor. Die galvanische Erregbarkeit war hochgradig gesteigert, die Hände befanden sich in Bchreiberstellung, die Athmung stockte einmal derartig, dass das Pflegepersonal glaubte, der Mann sei gestorben, ferner bestand Erbrechen und halbseitige Herabsetzung des Hautgefühls. Der Allgemein¬ zustand war anfangs recht schlecht. Ferner führt Habart einen Soldaten vor, bei dem er eine erfolgreiche Operation an der Wirbelsäule ausgeführt hat. Durch einen Sturz aus dem 3. Stockwerk hatte der Mann einen Bruch des 10., 11., 12. Brustwirbels erlitten. Die Folge davon war ein Buckel an der gebrochenen Stelle und vollständige Lähmung der Blase, des Mastdarms und der Beine. Habart entfernte an der Stelle des Bruchs die Wirbelbögen und Dornfortsätze. Er fand, dass die Wirbelkörper weder ge¬ brochen, noch verrenkt waren, dass das Rückenmark nicht durchtrennt war und dass es nur durch Wucherungen von Knochen und Knorpel bezw. durch Verdickung seiner Hülle zusammengedrüokt wurde. Er ersetzte die durch ihn ge¬ schaffene Knochenlücke durch eine Celluloid-Platte, die an¬ standslos einheilte. Die Nachbehandlung wurde mit Hilfe von Aufhängung, Massage, Elektrizität, Bädern, Eisen, Höllenstein und Strychnin durchgeführt. Der Erfolg war gut, insofern die Erscheinungen an Blase und Mastdarm zurückgingen, der an¬ fangs bestehende Druckbrand ausheilte und die Beweglichkeit der Beine besser wurde. Herr Drastich stellt einen Jäger vor, der nach einer Ver¬ renkung im linken Schultergelenk eine vollständige Lähmung des Arms zurückbehalten hat. Die genaue Unter¬ suchung ergiebt, dass zwar, wie sich besonders elektrisch nachweisen lässt, eine Lähmung des Armnervengeflechts that- sächlich vorhanden ist, dass aber die Beschwerden zum grossen Theil auf traumatische Hysterie zurückzuführen sind. Es be¬ steht nämlich ein Mangel der gesammten Hautempfindung im Digitized by Google 268 Aerztliche Sachverstfindigen-Zeitung. No. 13. Gebiet des ganzen Oberarms einschliesslich Achselhöhle und Schulter, bis zum Halse hinauf und eine organisch unbegrün¬ dete Unfähigkeit, die linke Schulter zu heben, sowie eine Her¬ absetzung des Gaumenreflexes. Medizinische Sektion der Schlesischen Gesellschaft (ur yaterländische Kultur. Klinischer Abend vom 18. Mai 1900. (Allgem. med. Centr.-Ztg. 1900, No. 47.) Herr Uhthoff spricht über Sehschwache in Folge von Bleivergiftung. Er stellt einen Kranken vor, der als Steindrucker an Bleivergiftung erkrankt ist und neben Kolik, Schmerzen in den Beinen und im Kopfe auch eine starke Sehstörung hatte, die sich in kurzer Zeit entwickelt hat. Die Mitte der Netzhaut war unempfindlich, die Periferie unversehrt. Die Sehnerven-Papillen waren leicht entzündlich verändert die angrenzenden Theile der Netzhaut getrübt. Später blasste die Schläfenhälfte des Sehnerven beiderseits ab, während die Sehstörung sich ganz erheblich besserte. Nürnberger medizinische Gesellschaft und Poliklinik. Sitzung vom 18. Januar 1900. (M. m. W. 1900, No. 20.) Herr Barabo berichtet über einen Fall von Milzzer¬ reis sung. Ein Mann von über 69 Jahren stürzte auf einem Fabrikhofe und starb einen halben Tag später. Die 10. und 11. Rippe links waren, wie die Sektion ergab, gebrochen. Das Rippenfell war jedoch nicht verletzt, die Milz war in ihrem unteren Pol in grosser Ausdehnung zerrissen. In der Bauch¬ höhle fand sich viel freies Blut. Herr Katz berichtet über einen günstig abgelaufenen Fall von Bromoform-Vergiftung (Näheres wird nicht mitgetheilt) und über eine recht unliebsame Wirkung des Ortho- forms. Bei einer ziemlich grossen Brandwunde eines sehr kräftigen Arbeiters wurden vier Tuben Orthoform-Vaseline (lOprozentig) im Ganzen verwendet. Als die letzte verbraucht war, bildete sich eine sehr hartnäckige, über den ganzen Kör¬ per verbreitete Nesselsucht, die Brandwunde wurde übelriechend und an einigen Stellen brandig. Bei Verwendung von Ortho¬ form als Pulver hat K. ähnliches nie erlebt Er lässt die Frage offen, ob im vorliegenden Falle eine Idiosynkrasie oder etwa eine Zersetzung der Orthoform-Salbe, vielleicht durch die Zinntube (?) Schuld an der auffallenden Wirkung ist. Sitzung vom 1. Februar 1900. (Münch. med. W. 1900 No. 21.) Kirste: Fall von traumatischer Leberruptur. Ein Knabe von 57 2 Jahren war von einem Pferde gegen den Bauch gestossen worden. Aeusserlich war nichts von einer Verletzung wahrnehmbar, auch keine bestimmte schmerz¬ hafte Stelle vorhanden. Der Puls war verlangsamt. Nirgends fand sich eine Dämpfung. Erbrechen bestand anfangs nicht, stellte sich aber am nächsten Tage unter zunehmender Ver¬ schlechterung des Allgemeinbefindens ein. Eröffnung der Bauchhöhle ergab eine der Brustwarzenlinie parallele 4 cm lange und eine 3 cm lange schräg verlaufende Leberwunde. Trotz der Operation erfolgte der Tod, der keine weiteren Ver¬ letzungen ergab. Medizinisch-naturwissenschaftliche Gesellschaft zu Jena. Sitzung vom 22. Februar 1900. (M. m. W. 1900, No. 23.) Herr Brodmann spricht über aufsteigende Nerven¬ entzündung nach Unfall ohne äussere Verletzung. (Der Vortrag ist als Aufsatz erschienen und wird als solcher referirt.) Herr Dansauer berichtet über einen Fall von Korsa- koffscher Krankheit. Eine 53jährige Dame, seit Jahren Trinkerin, erkrankte mit ausgeprägten Erscheinungen an einer schweren vielfachen Nervenentzündung. Seelisch bestand eine hochgradige Vergesslichkeit für die jüngere Vergangenheit und völliges Unvermögen, sich in Ort, Zeit und Personen zurecht zu finden. Besonders kennzeichnend war, wie sie Nachts die Situation verkannte, sich mit allerlei nicht anwesenden Leuten unterhielt, und am nächsten Tage, ohne sich ihrer Sinnes¬ täuschungen zu erinnern, über die merkwürdigsten Erlebnisse berichtete. Es bestand völlige Krankheitseinsicht nnd auch sonst keine Trübung der Urtheils- und Kombinationsfähigkeit. Herr Hillmann bespricht eine durch einen eigen¬ artigen Fremdkörper hervorgebrachte Blasen-Ent- zündung. Die Kranke entleerte mit dem Harn öfters grössere und kleinere Konkremente, deren Kern jedesmal ein Stück¬ chen Fadengewebe bildete. Da die Kranke einmal wegen Vereiterung einer Muttertrompete operirt worden ist, lag es nahe, zu glauben, dass ein Nähfaden in die Blase einge¬ wandert sei. Der Scheidennarbe folgend, wurde ein Einschnitt gemacht, aber ohne Erfolg. Als man dagegen die Harnröhre gedehnt und durch Spaltung noch etwas nachgeholfen hatte, gelang es, aus der Blasenwand einen Fremdkörper zu ent¬ fernen, der sich als Rest eines Gaze-Tupfers herausstellte. Ein Seitenstück zu der Einwanderung von Tupfern in den Darm, die Merttens u. A. beschrieben haben. (Dass es sich um keinen Nähfaden handelte, hätte sich vielleicht mikrosko¬ pisch nachweisen lassen. Ref.) Gerichtliche Entscheidungen. Aus dem Relchs-Verslcherungsaint. Obergutachteo, betreffend einen Kreuzbeinbruch und eine Queteobung des grossen Hüftnerven (Nervus Ischiadicus) durch Unfall (Herabfallen eines Steines auf den Rücken des Verletzten) — Ischias traumatica — mit trophischen Störungen der Wadenmuskulatur. Amtl. Nachr. d. R.-V.-A. 1900, No. 6. Der Lehrhäuer H. R. in St. ist vom 3. bis zum 8. August 1899 in der hiesigen chirurgischen Klinik gewesen und wieder¬ holt eingehend von mir untersucht worden. R. ist ein kleiner, schlank gebauter, aber kräftiger und muskulöser Mensch von genügendem Ernährungszustände und gesunder Gesichtsfarbe. Er geht mühsam mit etwas abduzirtem linken Bein und gesenkter linker Beckenseite, während er sich kräftig mit einem Stock stützt. Die Klagen des R. beziehen sich auf Schmerzen in der linken Hüftgegend und im linken Bein, die bei jedem Versuch, längere Zeit zu stehen oder zu arbeiten, so heftig werden, dass er nach kurzer Zeit zu einer längeren Ruhepause ge- nöthigt ist. Herr Dr. S. sowohl wie Herr Kreisphysikus Dr. M. in M. haben bei ihren Untersuchungen keinerlei Abnormitäten fest¬ stellen können. In seinem Gutachten vom 28. November 1898 hebt ersterer besonders hervor, dass die Beweglichkeit der Beine in allen Gelenken eine vollkommen freie, und dass Mass- unterschiede im Umfang der Beine nicht vorhanden seien. Herr Kreisphysikus Dr. M. kommt zu demselben Resultat und hält den R. einfach für einen Simulanten und völlig erwerbs¬ fähig. Dem gegenüber konstatirte Herr Dr. N. in M. eine Ver¬ dickung am linken Hüftbeinkamm und eine auf Druck schmerz- Digitized by Google 1. Juli 1900. Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. 269 hafte Stelle am linken oberen (soll wohl heisBen horizontalen) Schambeinast, vermuthet einen Beckenbruch und erklärt den Verletzten für erwerbsunfähig. Meine eigenen Beobachtungen haben mich zu Ergebnissen geführt, die von beiden Anschauungen abweichen. Untersucht man zunächst die Beweglichkeit des linken Hüftgelenks, so ist dieselbe für Abduktion und Adduktion und für die geringeren Grade der Beugung, bis etwa zu einem rechten Winkel, eine durchaus freie und glatte. R. setzt den Bewegungen keinen Widerstand entgegen, und von irgend welchen Reibegeräuschen im Gelenk, wie sie anfangs vorhan¬ den waren (Bericht vom 12. Januar 1898), ist nichts mehr zu fühlen. Bei dem Versuch einer stärkeren Beugung aber giebt R. an, heftige Schmerzen zu empfinden und kann, obwohl er sich sichtlich Mühe giebt, eine unwillkürliche Anspannung der Streckmuskeln nur schwer unterlassen. Andere Hindernisse für die Beugung sind nicht vorhanden, so dass eine Schrumpfung der Gelenkkapsel, eine Verkürzung von Muskeln oder der¬ gleichen, als Folgen entzündlicher Vorgänge im Gelenk, aus¬ geschlossen werden können. Schmerzen bei stärkerer Beugung des Hüftgeleuks brauchen aber ihren Ursprung keineswegs nothwendig im Hüftgelenk selbst zu haben, sondern können auch bedingt sein durch die dabei stattfindende Dehnung der auf der Streckseite des Ge¬ lenkes gelegenen Weichtheile. In erster Linie kommt dabei der grosse Hüftnerv (Nervus ischiadicus) in Betracht. Um über eine Affektion desselben ins Klare zu kommen, wurde nun zunächst untersucht, welche Punkte in der Hüft- gegend dem R. denn eigentlich druckempfindlich waren. Da¬ bei stellte sich heraus, dass alle die in früheren Gutachten angegebenen Stellen, die Kreuzgegend, das Gelenk zwischen Kreuzbein und letztem Lendenwirbel u. s. w. gar nicht mehr oder nur minimal empfindlich waren. Sowie aber der Finger¬ druck auf die Austrittsstelle des Hüftnerven (Nervus ischiadi¬ cus) aus dem grossen Hüftloch (Foramen ischiadicum majus) gerichtet wurde, zuckte R. zusammen und gab mit grösster Entschiedenheit an, dass hier der Schmerz entstehe. Bei wiederholten Untersuchungen an verschiedenen Tagen war das Resultat dieser Untersuchung immer das gleiche. Nun musste selbstverständlich nach objektiven Beweisen für eine etwa vorhandene B Ischias traumatica“ gesucht werden. Dieselben ergaben sich leicht genug. Betrachtete man den auf dem Bauohe liegenden Kranken, so fiel sofort eine geringere Prallheit und ein verminderter Umfang der linken Wade auf. Die sorgfältige Messung des Umfanges ergab denn auch für die dickste Stelle der rechten Wade 32 3 / 4 cm, für die linke nur 32. Nun hätte sich diese Differenz vielleicht dadurch erklären lassen, dass das linke Bein in Folge der Verletzung von vornherein weniger gebraucht oder dass es von jeher schwächer war, als das rechte, obwohl dieses für die oberen Extremitäten ja normale Verhältnis sich für die unteren nicht in gleicher Weise zu wiederholen pflegt. Dann hätte aber auch der Oberschenkel links schwächer sein müssen, als rechts. Aber gerade das Gegentheil ist der Fall. Der Umfang des linken Oberschenkels, 20 cm oberhalb des oberen Kniescheibenrandes, beträgt 43^4 cm, der des rechten an gleicher Stelle nur 42 l /2- Da nun der Nervus ischiadicus der alleinige Versorger der Unterschenkelmuskulatur ist, während er von den Oberschenkel- muBkeln nur einen kleinen Theil innervirt, so werden sich die trophischen Störungen, die seine Erkrankung begleiten, in erster Linie am Unterschenkel geltend machen müssen. Die Abmagerung des Unterschenkels fällt im vorliegenden Falle aber um so mehr ins Gewicht, als man. entsprechend der kräftigeren Entwickelung der linksseitigen Oberschenkelmusku¬ latur, eher eine Differenz zu Gunsten der linken Wade hätte erwarten sollen. Was nun die Angaben des Herrn Dr. N. betrifft, so ist die Verdickung des linken Hüftbeinkammes, von welcher er spricht, in der That vorhanden. Da aber R. angiebt, hier keine Schmerzen zu haben, noch jemals gehabt zu haben, kann die¬ selbe nur als eine ganz unschuldige Asymmetrie des Körper¬ baues betrachtet werden. Der Schmerz am Schambein, dessen früheres Vorhandensein R. bestätigt und dessen Stelle er noch angiebt, ist nach seiner eigenen Aussage nicht mehr vorhanden. Trotzdem lag ja die Möglichkeit vor, dass die gesammten Störungen, auch die Ischias, durch einen Beckenbruch bedingt waren. Ich habe daher je eine Aufnahme einer jeden Becken¬ seite und eine des gesammten Beckens machen lassen. Von ihnen ergaben die ersteren ein vollkommen klares und be¬ weisendes Bild, welches alle Erscheinungen in befriedigender Weise erklärt und mit den Ergebnissen der klinischen Unter¬ suchung völlig übereinstimmt. Figur 1 stellt die kranke linke, Figur 2 die gesunde rechte Seite dar. K. K. sind die beiden Kreuzbeinflügel, B. B. die Beckenschaufeln. S. s. ist die Verbindung zwischen beiden Knochen, die Synchondrosis sacroiliaca. Während diese in¬ dessen auf der rechten Seite als gleichmässige helle Linie von oben nach unten verläuft, zeigt sich auf der linken ein auffallend verschiedenes Verhalten. Bei F. theilt sich die helle Linie. Ein Theil setzt sich gradlinig nach abwärts fort: die normale Synchondrose. Ein anderer weicht nach der Mittellinie zu ab: das ist der Ausdruck einer Bruchlinie, B. 1. Zwischen beiden liegt ein unregelmässiges Knochenstück von bimförmiger Gestalt, welches vom linken Kreuzbeinflügel ab¬ gesprengt ist; und gerade am unteren Ende der Bruchlinie tritt der Nervus ischiadicus aus dem Becken nach aussen hervor. Es handelt sich also in der That um einen Bruch, wenn auch nicht des Beckens, so doch des Kreuzbeines in unmittel¬ barer Nähe der Verbindung mit dem Becken und hart am grossen Hüftnerven. Es ist selbstverständlich, dass die Ge¬ walt, welche diesen Bruch veranlasst hat, auch eine Quetschung des Hüftnerven veranlassen konnte oder musste, und es war kaum zu vermeiden, dass die auf die Verletzung folgenden entzündlichen Prozesse sich auch auf den Nerven fortsetzten und ihn in Mitleidenschaft zogen. Die Diagnose: Kreuzbeinbruch, Quetschung des Nervus ischiadicus sin., Ischias traumatica mit trophischen Störungen der Wadenmuskulatur ist demnach unanfechtbar und ebenso ist es sicher, dass nur der Unfall vom 12. Januar 1898 als Ursache angesehen werden kann. R. ist demnach mit Unrecht als Simulant betrachtet wor¬ den. Seine Angaben entsprechen vielmehr vollständig dem objektiven Befund. Er ist nicht nur zu jeder ernsten Arbeit, welche Gehen und Stehen verlangt, unfähig, sondern wird auch kaum im Stande sein, anhaltend im Sitzen zu arbeiten, weil der Ischiadicus vermuthlich auch den Druck, dem er beim Sitzen ausgesetzt ist, nicht auf die Dauer ertragen wird. R. würde daher, selbst wenn er eine im Sitzen zu verrichtende Arbeit gelernt hätte, um etwa 80 Prozent in seiner Erwerbs¬ fähigkeit geschädigt sein. Dass ein an Ischias leidender Mensch aber nicht im Stande ist, in diesem Zustand ein Hand¬ werk erst zu erlernen, welches im Sitzen ausgeübt wird, dürfte einleuchtend sein. R. ist meines Erachtens völlig erwerbs¬ unfähig. Er gehört gegenwärtig in ein Krankenhaus und müsste einer Behandlung unterworfen werden, welche die Beseitigung seiner Ischias sich zum Ziel zu setzen hätte. — Spanische Digitized by Google 270 Aerztliche Sachverständigen- Zeitung. No. 13. Fliegen, unblutige Dehnung, Elektrizität (faradische Bürste), eventuell die blutige Nervendehnung, das würden die Mittel sein, die hier in Betracht zu ziehen wären. Bonn, den 8. August 1899. Professor Dr. M. Schede, Geheimer Medizinalrath und Direktor der chirurgischen Universitätsklinik. Nachtrag: Der Aufforderung des Reichs-Versicherungsamtes, mich unter Berücksichtigung der neueren Gutachten des Herrn Dr. S. und des Herrn Kreisphysikus M. nochmals über den R. zu äussern, komme ich im Folgenden nach: , Ich beschäftige mich zuerst mit dem Gutachten des Herrn Dr. S. vom 20. Oktober 1899. Ich habe in meinem Gutachten angegeben, dass nach meinen Untersuchungen die in früheren Befunden als schmerz¬ haft angegebenen Stellen: die Kreuzgegend, das Gelenk zwischen Kreuzbein und letztem Lendenwirbel u. s. w. gar nicht mehr oder nur noch minimal empfindlich waren, dass aber R. sofort schmerzhaft zusammenzuckte, sowie der Finger¬ druck gegen die Austrittsstelle des grossen Hüftnerven aus dem Foramen ischiadicum gerichtet wurde. Bei wiederholten Untersuchungen an verschiedenen Tagen war dieses Resultat immer das gleiche. Herr Dr. S. konstatirt zunächst denselben Befund. Dann drückt er aber in der Umgebung rasch hintereinander bald diesen, bald jenen Punkt, findet, dass der Patient nun an¬ fängt, auch entferntere Punkte, die vorher nicht als schmerz¬ haft bezeichnet wurden, als angeblich schmerzhaft zu em¬ pfinden und umgekehrt nnd schliesst daraus, dass Patient die verschiedenen Angaben nur macht, weil er nicht Zeit zum Ueberlegen hat, und dass seine ersten Angaben erlogen waren. Ich halte ein solches Untersuchungsverfahren nicht für richtig und nicht für geeignet, zu einem unparteiischen Ur- theil zu führen. Zunächst muss doch betont werden, dass ein massiger Druck auf die Austrittsstelle des Nerven durchaus kein be¬ sonderes Gefühl macht, welches den Untersuchten in den Stand setzte, den Druck gerade auf diese Stelle zu erkennen, so lange der Nerv gesund ist. Wenn also bei vorsichtigem Druck auf die früher schmerzhaft gewesenen und als schmerz¬ haft anerkannten Stellen, die dem R. doch wohl bekannt waren, dieser ganz freimüthig zugiebt, hier keinen Schmerz mehr zu empfinden, während er mit grösster Sicherheit jedes¬ mal schmerzhaft zusammenzuckt, sowie der Ischiadicus be¬ rührt wird, so ist von vornherein nicht leicht an eine Simula¬ tion zu glauben. Wird nun aber in rascher Folge bald diese, bald jene Stelle, bald der schmerzhafte Nervenstamm, bald eine Stelle dicht daneben, bald eine entferntere gedrückt und dieses Verfahren mehrfach wiederholt, so würde ich mich keinen Augenblick wundern, wenn das Lokalisationsvermögen unsicher und die Schmerzempfindung eine verbreitetere wird. Gerade bei Schmerzen, die in Nervenstämmen entstehen, ist es ja eine ganz bekannte Thatsache, dass eine stärkere Reizung des ursprünglich affizirten Nerven zu sogenannten irradiirten Schmerzen führt, zu Schmerzen, die in den Bahnen benach¬ barter Nerven verlaufen, und dass diese oft so sehr in den Vordergrund treten, dass der Schmerz in dem eigentlich kranken Nerven dagegen ganz in den Hintergrund tritt. Das weiss man z. B. von der Trigeminusneuralgie, das weiss man vom ganz gewöhnlichen Zahnschmerz. Viele Leute sind absolut nicht im Stande, den schmerzenden Zahn mit Sicherheit zu bezeichnen, und bezeichnen, wenn sie dazu aufgefordert werden, nicht selten einen falschen. Wie schwer es oft ist, aus den Schmerzempfindungen von Kranken mit Sicherheit einen Schluss darauf zu ziehen, ob beispielsweise ein Schmerz im Magen, in der Gallenblase oder in der Niere entsteht, wird Herr Dr. S. ja wissen. Was ich daraus schliesse, ist: Es ist überhaupt nicht immer leicht für den Kranken, den vornehm¬ lich schmerzenden Punkt mit aller Sicherheit anzugeben. Untersucht man aber in der Weise, wie es Herr Dr. S. gethan hat, so setzt man sich dem aus, dass durch die wiederholte Reizung des Nerven und seiner Umgebung schliesslich die ganze Gegend so empfindlich wird, dass die Angaben des Pa¬ tienten jeden Werth verlieren. Was das zweite Symptom, den Schmerz bei stärkerer Beugung des Hüftgelenks, anlangt, so hat dasselbe offenbar in der That an dem Tage, als Herr Dr. S. den R. untersuchte, nicht bestanden. Es fragt sich nur, ob daraus der Schluss berechtigt ist, dass es überhaupt zu keiner Zeit vorhanden war. Dass die Schmerzhaftigkeit kranker Nerven in weiten Grenzen zu schwanken vermag, wird Herr Dr. S. schwerlich leugnen. Wird es jemals einem Arzt einem Privatkranken gegenüber einfallen, denselben deswegen für einen Schwindler zu erklären, wenn derselbe, an Ischias leidend, heute Be¬ wegungen mit seinem Bein ausführen kann, die er gestern nicht ohne Schmerzen machen konnte und morgen vielleicht wieder nicht machen kann? Doch gewiss nicht. Ich gebe aber ausserdem zu bedenken, dass gerade der Umstand, dass R. das eine Mal über starke Schmerzen bei der Beugung klagt, während er sie ein anderes Mal nicht angiebt, meines Er¬ achtens für seine Ehrlichkeit spricht. Wollte er simuli- ren, so wäre doch wahrhaftig nichts leichter, als die Fiktion festzuhalten, dass eine starke Beugung des Hüftgelenks ihm schmerzhaft sei. Was drittens den messbaren Unterschied in der Dicke der beiden unteren Extremitäten angeht, so giebt Herr Dr. S. den von mir gefundenen geringeren Umfang der linken Wade ohne Weiteres zu. Ich will bei dieser Gelegenheit nur noch einmal hervorheben, dass nicht nur der Umfang derselben geringer ist, sondern dass auch auf den ersten Blick die grössere Schlaffheit der Muskulatur dem geübten Auge auffällt. Wie steht es nun mit dem Oberschenkel? Ich habe darauf hingewiesen, dass der Umfang des linken Oberschenkels 20 cm oberhalb des oberen Kniescheibenrandes 4374 . der des rechten an gleicher Stelle nur 42 1 /* cm beträgt. Meine Deduktion war die: Hinge der geringere Umfang der linken Wade von einem etwa in Folge der Verletzung ver¬ minderten Gebrauch des ganzen linken Beines ab, oder hätte dieselbe von vornherein an Umfang hinter der rechten zurück- gestanden, so würde man auch einen geringeren Umfang des linken Oberschenkels erwarten müssen. Hier aber findet sich, 20 cm über der Kniescheibe, das umgekehrte Verhältnis. Demnach hätte man eher auch eine stärkere linke Wade er¬ warten sollen. Die Annahme einer trophischen Störung durch eine krankhafte Affektion des Nervus ischiadicus erklärt aber das eigenthümliche Verhältniss auf das einfachste. Der Ischia¬ dicus ist der alleinige Nerv für den Unterschenkel. Ist er krank, so wird hier die Muskulatur besonders leiden. Am Ober¬ schenkel versorgt er nur einen Theil der Muskulatur. Herr Dr. S. glaubt diese Beweisführung dadurch entkräftet zu haben, dass er an einer tiefer gelegenen Stelle, nämlich 10 cm über der Kniescheibe, einen geringeren Umfang des linken Oberschenkels nachweist. Aber auch darin ist er im Irrthum; gerade dieser von ihm herbeigezogene Umstand, den ich übersehen habe, ist ein neuer schwerwiegender Beweis Digitized by t^ooQie 1. Juli 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 271 für die Richtigkeit meiner Anschauung. Eine kleine anato¬ mische Bemerkung wird es beweisen: Die vom Nervus ischiadicus versorgten Muskeln des Ober¬ schenkels sind nämlich der Musculus biceps, semitendinosus, semimembranosus und Adductor magnus. 10 cm über der Kniescheibe werden diese sämmtlichen Muskeln von einem Querschnitt des Oberschenkels getroffen. Von anderen Ner¬ ven versorgte — Quadriceps, Gracialis, Sartorius — treten au Masse hinter ihnen positiv und relativ (im Vergleich zu höheren Querschnitten) zurück. 10 cm höher überwiegen da¬ gegen bei Weitem die nicht vom Ischiadicus versorgten Mus¬ keln. Die Atrophie der Ischiadicusmuskeln wird sich daher ganz besonders im unteren Drittel des Oberschenkels geltend machen müssen. Ob also das von Herrn Dr. S. angegebene Mass des Ober¬ schenkels 10 cm oberhalb der Kniescheibe beweist, dass meine Beweisführung „völlig unzutreffend und misslungen“ ist, über¬ lasse ich gern dem Urtheil des Reicbs-Versicherungsamts. Ich komme endlich zu dem letzten Punkt, der Röntgen¬ photographie. Was diese anlangt, so befinde ich mich mit Herrn Dr. S. insofern in völliger Uebereinstimmung, als ich auf seiner Photographie auch keinen Bruch erkennen kann. Sie ist recht minderwerthig und man erkennt überhaupt nichts auf ihr als die gröbsten Umrisse. Ich stelle anheim, Herrn Kollegen S. die in der Bonner Klinik gefertigte zur Ansicht zuzuschicken. Er wird dann auch ohne Zweifel die Vermuthung fallen lassen, dass ich mich durch einen Kothballen habe täuschen lassen. Um noch weiteres Beweismaterial zu sammeln, habe ich den R., als er irrthümlich noch einmal hierher kam, noch ein zweites Mal photographiren lassen. Das Bild ist nicht ganz so klar geworden wie das erste. Aber das, was ich als Bruch¬ linie ansehe (Bl.) tritt auch hier noch deutlich hervor — viel¬ leicht deswegen nicht mehr ganz so deutlich, weil ja seit der ersten Aufnahme wieder mehrere Monate vergangen sind und die Bruchlinien natürlich immer undeutlicher werden. Dass eine wesentliche Knochenverdickung in der Bruch¬ gegend nicht zu fühlen ist, ist begreiflich. Es hat keine Dis¬ lokation stattgefunden, weil die Knochen hier überhaupt nicht verschieblich sind. Der Bruch hat daher mehr den Charakter einer Fissur, die zu stärkeren Auflagerungen keinen Anlass giebt. In Fig. 4 habe ich eine normale Becken-Kreuzbeinverbin¬ dung aufnehmen lassen. Es ist ersichtlich, dass die Linie Bl. auf derselben völlig fehlt. Uebrigens kann ich versichern, dass ich sie auf hunderten von Beckenphotographien, die ich zu anderen Zwecken habe aufnehmen lassen, niemals ge¬ sehen habe. Leider habe ich R. bei seinem letzten Hiersein nioht noch einmal untersucht. Ich hatte die Akten noch nicht gelesen und liess ihn nur aus Interesse an dem ungewöhnlichen Be¬ fund noch einmal photographiren. In Bezug auf das Gutachten-des Herrn Kreispbysikus Dr. M. kann ich mich kurz fasseu. Das Meiste ist in dem Ge¬ sagten bereits erledigt. Dass R. sich bei Gelegenheit der vom Herrn Kreisphysikus vorgenommenen Untersuchung thöricht be¬ nommen, vielleicht auch stark übertrieben haben mag, kann ich selbstverständlich nicht bestreiten. Ich kann nur aufrecht erhalten, was ich selbst in sorgfältiger und gewissenhafter Untersuchung und bei dem ehrlichsten Bemühen, völlig un¬ parteiisch die Wahrheit zu finden, festgestellt zu haben glaube. Hiernach kann ich nur dem ganz entschiedenen Empfinden Ausdruck geben, dass man R. Unrecht thut, wenn man ihn als Simulanten ansieht. Er hat auf mich und meine Assisten¬ ten den Eindruck eines ganz ruhigen und ehrlichen, offenen Menschen gemacht. Eine Erklärung, warum alle früher von dem Verletzten als schmerzhaft angegebenen Stellen es jetzt nicht mehr sind — die vom Herrn Kreisphysikus in meinem Gutachten ver¬ misst wird — ist leicht gegeben. Die Besserung von Schmer¬ zen, die anfänglich sich an eine Verletzung anschliessen, ent¬ spicht doch wohl dem natürlichen und Gott sei Dank bei wei¬ tem am häufigsten eintretenden Verlauf der Dinge. Die Ent¬ wickelung einer traumatischen Ischias dagegen kann sehr wohl erst später eintreten. Sie ist abhängig oder kann abhängig sein von der Bildung von Kallus, von Narbengewebe (z. B. bei der Resorption von Blutergüssen) und anderen Dingen mehr. Dass eine Ischias ausnahmslos mit ausstrahlenden Schmerzen in dem Oberschenkel verbunden sein müsste, halte ich nicht für richtig. Für die traumatische Ischias wenigstens trifft es nicht zu. Die Sensibilitätsstörungen können sich bei ihr auf ein Gefühl von Taubsein, auf lokalen Druck oder Deh¬ nungsschmerz beschränken oder auch ganz fehlen, während die motorischen Störungen und ebenso vielleicht die trophi- schen gleichwohl deutlich sind. Die sensibeln Fasern sind, was Verletzungen und Regeneration anlangt, nach allen Er¬ fahrungen widerstandsfähiger als die motorischen. Ich habe nach alledem keinen Grund, meine Meinung über R. zu ändern. Bonn, den 12. Dezember 1899. Professor Dr. Schede, Geheimer Medizinalrath und Direktor der chirurgischen Universitätsklinik. Das Rekursgericht hat den unter Ueberreichung eines weiteren, der vorstehenden Beurtheilung des Falles wider¬ sprechenden Gutachtens des Dr. S. von der beklagten Berufs- genossensohaft gestellten Antrag auf Einholung eines ander¬ weiten Obergutachtens mit Rücksicht auf die hervorragende Bedeutung des Obergutachters und unter Hinweis auf die Aus¬ führungen im Bescheide 1221 (Amtliche Nachrichten des Reichs- Versicherungsamts 1893, Seite 170) abgelehnt und lediglich die Begutachtung durch diesen von ihm gewählten Sachverstän¬ digen zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht. Nach Lage der Sache konnte jedoch dem die Vollrente begehrenden Re- kursantrage des Klägers nur insoweit stattgegeben werden, dass die Beklagte zur Weitergewährung der früher rechts¬ kräftig festgesetzten Rente von 50 Prozent, die durch den an¬ gefochtenen, vom Schiedsgericht bestätigten Bescheid einge¬ stellt worden war, verurtheilt wurde. 25 Prozent für ein Auge. Rek.-Entsch. vom 23. November 1899. Gegen ein ungünstiges Urtheil des Schiedsgerichts hat die Genossenschaft Rekurs eingelegt und beantragt, ihren Be¬ scheid vom 26. Mai 1899 wieder herzustellen, durch welchen dem Kesselschmied H. aus der Nähe von M. 25 Prozent zuge¬ sprochen waren. Nach dem Gutachten des Augenarztes Dr. Pf. habe sich die Gebrauchsfähigkeit und der Erwerbswerth des erhalten gebliebenen Auges durch Gewöhnung an das Sehen mit diesem allein wesentlich erhöht. Das Reichsver¬ sicherungsamt entschied im Sinne der Berufsgenossenschaft und machte u. A. geltend: Allerdings hat das Reichsversiche¬ rungsamt für den gänzlichen Verlust der Sehkraft auf einem Auge bei normaler Beschaffenheit des anderen Auges, wenn der Verletzte ein sogenannter „qualifizirter“ Arbeiter war, zu denen auch Kesselschmiede wegen der Gefährlichkeit ihres Betriebes gerechnet werden können, in der Regel eine Min¬ derung der Erwerbsfähigkeit um etwa ein Drittel angenommen. Damit ist aber nicht gesagt, dass nicht auch in solchem Falle Digitized by Google 272 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 13. eine Erhöhung der Erwerbsfähigkeit möglich sei, die freilich nach Lage der Verhältnisse nur auf der Gewöhnung und An¬ passung an das Sehen mit einem Auge beruhen kann. Im vorliegenden Falle kann auf Grund des vorerwähnten Gut¬ achtens unbedenklich angenommen werden, dass der Kläger sich an die durch die Einäugigkeit bedingte Veränderung des Sehaktes gewöhnt und das ihm erhalten gebliebene, völlig gesunde Auge geübt hat. Dass hierdurch thatsächlich ein Erfolg hinsichtlich der Sehleistungen erzielt worden ist, be¬ weist das für eine gute Ausbildung des monokularen Sehens sprechende Ergebniss, welches die von dem Sachverständigen angestellte Prüfung des Tiefenschätzungsvermögens gehabt hat. Durch diese Fähigkeit wird aber bei ihrer gehörigen Vervollkommnung der Verlust der Möglichkeit des binokularen Sehens, d. h. der Fähigkeit, die Gegenstände nach ihrer Körperlichkeit wahrzunehmen und damit zugleich die Grössen¬ verhältnisse und Entfernungen richtig abzuschätzen, derartig ausgeglichen, dass dieser hauptsächlichste, durch die Einäugig¬ keit bedingte Funktionsmangel praktisch, nicht mehr ins Ge¬ wicht fällt. Darin liegt zweifellos eine wesentliche Besserung des durch den Unfall geschaffenen und für die erste Renten¬ festsetzung massgebend gewesenen Zustandes und zugleich eine Erhöhung der Erwerbsfähigkeit. In letzterer Hinsicht kommt wenigstens unterstützend in Betracht, dass der Kläger jetzt einen Lohn verdient, der seinem früheren fast gleich kommt und auch dem eines unverletzten mit denselben Ar¬ beiten wie er beschäftigten Arbeiters nicht erheblich nach¬ steht, obwohl er sich nicht mehr in dem Betriebe befindet, in welchem er verunglückt ist. Aus diesen Gründen war die Genossenschaft zur Herabsetzung der Rente für befugt und die Rente von 25 Prozent der Vollrente für angemessen und ausreichend zu erachten. M. Einfacher Schmied kein üualitfttsarbeiter. firad der Erwerbsverminderung bei Verlust eines Auges. Entsch. vom 21. April 1900. Dem Schmiede Wilhelm F., welcher am 26. Juni 1899 auf der Zeche ver. Westfalia eine Verbrennung der Hornhaut des linken Auges erlitten und in Folge dessen die Sehkraft auf diesem Auge eingebüsst hatte, wurde vom Sektionsvorstande eine Rente von 35% bewilligt. Nachdem das Schiedsgericht die Rente auf eine solche von 43%% Erwerbsverminderung erhöht hatte, legte die Berufsgenossenschaft Rekurs ein, indem sie die Annahme des Schiedsgerichts, der Kläger gehöre als Schmied zu den Facharbeitern, bestritt, weil sich seine Thätig- keit auf die Vornahme grober Schmiedearbeiten, insbesondere Ausbesserungen an Förderwagen, Bremskörben, Verladeein¬ richtungen und Schärfen der bergmännischen Werkzeuge be¬ schränke. Diese Arbeitsverrichtungen stellten keine besonderen Anforderungen an das Sehvermögen und verlangten insbe¬ sondere kein konzentrisches Sehen. Der Kläger könne daher eine höhere als die ihm durch den angefochtenen Bescheid zugebilligte Rente nicht verlangen, weil der Verlust eines Auges im Anschluss an die Spruchübung des R.-V.-A. mit 25% und die geringe Anpassungsstörung des unverletzten Auges mit 10% der Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit ausreichend entschädigt sei, zumal der Kläger nach Auskunft der Zechenverwaltung vom 10. November 1899 schon zur Zeit der Schiedsgerichtsentscheidung wieder seine frühere Thätig- keit aufgenommen habe und durchschnittlich den gleichen Lohn wie seine Mitarbeiter verdiene. Ferner wurde noch be¬ merkt, dass nach statistischen Erhebungen die meisten der¬ jenigen Verletzten, die den Verlust eines Auges zu beklagen hätten, als Schmiede weiter arbeiteten, zum Theil mit erheb¬ lich höherem Lohne als vor dem Unfälle. Der Kläger machte dem gegenüber geltend, dass er jetzt nur 3,50 M. gegen seinen früheren Tageslohn* von 6,50 M. verdiene, wies die anders lautenden Angaben der Beklagten als nicht den Thatsachen entsprechend zurück, hielt die statistischen Erhebungen für einseitig, unkontrolirbar und deshalb für unerheblich und be¬ antragte die Zurückweisung des Rekurses. Dem Rekurse wurde indessen stattgegeben und unter Aufhebung des Schiedsgerichtsurtheils der Sektionsbescheid wieder hergestellt. Gründe: Der Kläger hat durch den Betriebsunfall vom 26. Juni 1899 die Sehkraft seines linken Auges eingebüsst; irgend welche entzündlichen Erscheinungen sind an diesem Auge nicht eingetreten. Der Unfall hat bei dem rechten Auge des Klägers nach dem Gutachten des Knappschaftsarztes Dr. H. nur einige Akkomodationsstörungen hinterlassen. Für den Verlust des linken Auges und die nicht erheblichen, zur Zeit noch be¬ stehenden Beschwerden bei dem rechten Auge wird der Kläger nach der Ueberzeugung des Rekursgerichts durch eine Rente von 35 % derjenigen für völlige Erwerbsunfähigkeit ausreichend entschädigt, da sein Beruf als Schmied besondere Anforderungen an das Sehvermögen nicht stellt. Die von dem Schiedsgericht dem Kläger zugesprochene Rente ist zu hoch bemessen und es war deshalb der Bescheid vom 22. September 1899 unter Aufhebung des Urtheils des Schiedsgerichts, wiederherzustellen. (Kompass.) Aus dem fiammergericht. Aerzte dürfen auch die freigegebenen Arzneien verkaufen. Entscheidung vom 7. Mai 1900. Dem praktischen Arzt Dr. L. H. wurde zur Last gelegt, 1899 fortgesetzt Arzneien, mit denen der Handel für einen Arzt nicht freigegeben sei, verkauft und an Andere überlassen zu haben. H. ist Arzt und betreibt auch eine Kurbadeaustalt für seine Patienten; im Kassenraum seiner Badeanstalt wer¬ den gewisse Heil- und andere Mittel aufbewahrt, die von der Kassirerin an die Patienten gegen Vorweisung eines von H. ausgefüllten Rezeptes gegen Entgelt verabreicht werden. Bei einer Revision wurden im Kassenraum einige Kräuter, Thee etc. gefunden, wie z. B. Faulbaumrinde etc. Die Strafkammer erachtete für erwiesen, dass H. Arzneien im Sinne des § 367 (3) des Strafgesetzbuchs verkauft hat. Es fragte sich, ob es sich um Arzneien handelt, mit denen der Handel freigegeben ist und ob H. als Arzt nach § 14 der Apothekerordnung vom 11. Oktober 1801 durch das Halten jener Arzneien sich straf¬ bar machte. Dies hat die Strafkammer verneint und u. A. ausgeführt, die bei H. Vorgefundenen Arzneien sind im Ver¬ zeichniss A und B der Kaiserlichen Verordnung vom 27. Ja¬ nuar 1890 nicht aufgeführt, hieraus folgt in Verbindung mit § 6 Abs. 2 der Gewerbe-Ordnung, dass sie von jeder Person verkauft werden dürfen; ferner aber ist durch § 6 Abs. 2 der Gewerbeordnung eine reichsgesetzliche umfassende Regelung des Verkehrs mit Arzneien erfolgt, damit sind aber die ent¬ gegenstehenden landesrechtlichen Bestimmungen, d. h. auch § 14 der Apothekerordnung vom 11. Oktober 1801 obsolet ge¬ worden. Wollte man annehmen, dass § 14 der Apothekerord¬ nung noch fortbestände, so glangte man zur Konsequenz, dass dem Arzt verboten ist, solche Mittel, die jeder feilhalten darf, zu verkaufen, dies kann vom Gesetzgeber nicht gewollt sein. Die landesgesetzlichen Bestimmungen, die den Verkauf ge¬ wisser Stoffe und Präparate den Aerzten und jedermann ver¬ bieten und nur den Apothekern gestatten, wie z. B. die Apo¬ thekerordnung vom 11. Oktober 1801 und die §§ 456, 460, II. 8 A. L. R., beruhen theils auf den Apothekerprivilegien, theils auf der Gesundheitsgefährdung durch Verabreichen von Arz¬ neien aus der Hand Unsachverständiger. Dieser Gefahr ist Digitized by LjOOQie 1. Juli 1900. Aerztliche Sach verstand lgen-Zeltung. 273 nun durch die Verzeichnisse A und B der Kaiserlichen Ver¬ ordnung vom 27. Januar 1890 vorgebeugt und das Privilegium der Apotheker auf ausschliesslichen Verkauf von Arzneien ist durch die Freigabe der nicht in den Verzeichnissen A und B aufgeführten Mittel zum Verkauf für jedermann insoweit be¬ seitigt, dass es auch dem Arzt nicht mehr im Wege stehen kann. Diese Entscheidung focht die Staatsanwaltschaft durch Revision beim Kammergericht an, welches indessen die Vor¬ entscheidung als zutreffend erachtete. M. BHclicrbe^prechungen und Anzeigen. Dürck, Dr. Hermann, Privatdozent. Atlas und Grund¬ riss der speziellen pathologischen Histologie. I. Band, Cirkulationsorgane, Respirationsorgane, Magendarm¬ kanal. Lehmann’s medizinische Handatlanten. Band 20. 142 Seiten. Preis UM. Dasjenige Gebiet, auf welchem medizinische Atlanten ihre grössten und unbestrittensten Erfolge haben, ist und bleibt die mikroskopische Anatomie. Alles was, trotz der hervor¬ ragendsten technischen Hülfsmittel, das Flächenbild zur Dar¬ stellung irgendwelcher normaler oder kankhafter Zustände un¬ zulänglich erscheinen lässt, fällt fort, wo es sich nur um die Wiedergabe mikroskopischer Bilder handelt. Wenn somit unter den Lehmann’schen Handatlanten dem hier vorliegenden eine leichtere Aufgabe zugefallen ist, als den meisten anderen, so muss man auch andrerseits anerkennen, dass in seinen Bildern gradezu Vollendetes geleistet wird. In glücklichster Weise ist jede Abbildung typisch und doch wieder individuell. Klassisch schöne Präparate sind in technischer Vortrefflichkeit wiedergegeben. Der Text giebt für jedes Organ eine kurze Skizze der normalen Gewebelehre und eine büudige recht übersichtliche, angenehmzu lesende Beschreibung der wichtigsten Kraukheitsformen. Wer irgend Veranlassung oder Neigung hat, sich mit der Lehre von den krankhaften Veränderungen der Gewebe zu beschäftigen, wird die Anschaffung des Dürck’schen Atlas nicht versäumen dürfen. Friedrich Dommer, Vorsichtsmassregeln beim Selbst- katheterismus zur Vertheilung an Blasenkranke von Seite des Arztes. München 1900. Verlag von Seitz u. Schauer. Die praktischen, zur Vertheilung für den Selbstkatheteris¬ mus übende Patienten bestimmten Vorschriften geben in klarer, auch dem weniger gebildeten Patienten in verständ¬ licher AuRdrucksweise Anleitung über das Reinhalten des Ka¬ theters und zwar wird zunächst die Reinigung des Katheters vor der Einführung, sodann nach der Einführung besprochen. Daran schliessen sich Vorschriften über das Einführen des Katheters selbst. Den Schluss bilden allgemeine Vorsichts¬ massregeln diätetisch hygienischer Natur. Selbstverständlich wird auch der beschäftigte Arzt nie verabsäumen, zunächst dem Patienten durch persönliche Erklärung und Anleitung das Verständnis« für die einzuschlagenden Manipulationen beizu¬ bringen. Dem vergesslichen und unaufmerksamen Patienten dürften dann die vorliegendeu Vorschriften dazu dienen, sich die vom Arzte gegebene Belehrung immer wieder ins Ge¬ dächtnis zurückzurufen. Ledermann. Fuchs, Dr. Walter, Die Prophylaxe in der Psychiatrie. Nobiling-Jauhan, Handbuch der Prophylaxe, Abth. V. Mün¬ chen 1900. Seitz u. Schauer. M. 1,50. Dieser Band des Nobiling-Jauhanschen Handbuchs hat viele unbestreitbare Vorzüge. Umfassende Sachkenntnis, gründliches Eindringen in die vielseitige Aufgabe, der das Buch genügen soll, ist ihm nachzurühmen. Einzelne Kapitel, z. B. die „Prophylaxe der Paranoia“ sind ganz besonders hübsch. Bei der allgemeinen Prophylaxe und besonders beim Kapitel Neurasthenie vermisten wir einen Hinweis auf die wichtige und verhältnissmässig dankbare Verhütung der Ner¬ ven- und Geistesstörungen nach Unfällen. Ein ernsteres Bedenken gegen die Abfassung des Büch¬ leins können wir nicht unterdrücken: In einem Werke, das dazu bestimmt ist, dem Praktiker ein Gebiet vertrauter zu machen, auf dem er — leider — immer noch nicht besonders zu Hause zu sein pflegt, sollte grosser Werth darauf gelegt werden, den Stil einfach und möglichst leicht verständlich zu gestalten. Dies ist F. nur theilweise gelungen. Häufig wirkt die Länge der Satzperioden, die Verwendung von ungewöhn¬ lichen Fremdwörtern, das Reden in eigenthümlichen Gleich¬ nissen gradezu verwirrend. Es ist schade, dass einem sonst so brauchbaren Buche durch derartige Aeusserlichkeiten, die Aussicht, einen grossen Kreis wirklicher Leser zu finden, beein¬ trächtigt wird. Zur Besprechung eingegangen: Handbuch der Prophylaxe. Abt. 3: Fischl. Prophylaxe der Krankheiten des Kindes-Alters. Abt. 4: HofFa und Lilienfeld. Prophylaxe in der Chirurgie. Abt. 13: Goldschmidt. Zur Geschichte der Prophylaxe, München 1900. Verlag von Seitz und Schauer. Tagesgeschichte. Das Reichsseuchengesetz. Am 11. und 12. Juni ist der Gesetzentwurf zur Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten in zweiter und dritter Lesung angenommen worden. Er hat nur wenig Abänderungen erfahren und zu grossen Kämpfen nicht Anlass gegeben. In § 14, wo von der Absonderung kranker oder verdäch¬ tiger Personen die Rede ist, wurde ausser Arzt und Pflegeper¬ sonal auch dem Seelsorger billigerweise der Zutritt zu dem Abgesonderten gestattet, im übrigen sollte der § nur redaktionelle Aenderungen erfahren, doch setzte es der Abgeordnete Re un¬ hold durch, dass durch einen Zusatz auch Angehörigen und Urkundpersonen, soweit es zur Erledigung wichtiger und dring¬ licher Angelegenheiten geboten sei, der Zutritt unter bestimmten Vorsichtsmassregeln erlaubt wurde. Zu demselben Paragraph wurde schliesslich noch ein Antrag Bändert, der dem behan¬ delnden Arzt einen Einfluss auf die etwaige Ueberführung der Abzusondernden in ein Krankenhaus einräumt, angenommen. Schliesslich gab das Haus mit überwältigender Majorität dem Gesetze und der, von der Kommission beantragten Resolution zu Gunsten einer allgemein einzuführenden pflichtmässigen Leichenschau, seine Zustimmung. Die wenigen Gegner fanden, dass das Gesetz zu tief in die Privatverhältnisse einschneide. Einige äusserten bei dieser Gelegenheit ihre Gegnerschaft gegen die zünftigen Aerzte und die Schulmedizin, wobei besonders der Abgeordnete Böckel sich durch eine Brandrede gegen die Thier- und Menschenquälerei durch Aerzte und durch naive Unkenntnis über das Wesen der Seuchen, hervor that. Im Grossenund Ganzen benahmen sich die Anhänger der sogenannten Naturheilmethode, deren es ja auch im Reichstage etliche giebt, recht gemässigt. Sie gaben sogar dem Gesetz im Ganzen ihre Zustimmung, während vorher von dieser Seite Volksversamm¬ lungen gegen die Vorlage abgehalten und zornentbrannte Zei¬ tungsartikel losgelassen waren. Das Gesetz war bei der gegenwärtig, wenigstens hinsicht- Digitized by Google 274 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 13. lieh der Pocken und der Pest, drohenden Gefahr sicher notli- wendig, und man wird ihm im ganzen auch die Zweckmässig¬ keit nicht absprechen können. Uns Aerzten freilich hat etwas Anderes vorgeBchwebt, ein Reichsgesetz über die einheimischen ansteckenden Krankheiten, für deren Bekämpfung die gesetz¬ lichen Grundlagen, insbesondere das alte preussische Regulativ anerkanntermassen unzulänglich sind. Gewiss hätten die Gegner der ärztlichen Wissenschaft dann ein lauteres Kampfgeschrei erhoben, aber es wäre zweifellos ohne Erfolg verhallt. Die von der Regierung angegebenen Gründe für die Nichteinbrin¬ gung eines solchen Gesetzes haben sicher Niemanden überzeugt. Nun, die deutschen Aerzte werden nicht aufhören, dass zweite und wichtigere Reichsseuchengesetz zu fordern, und für dieses — kommen muss es doch einmal! — kann das jetzige in manchen Punkten vorbildlich sein. Ueber die obligatorische Leichenschau schreibt die „Zeitschrift für Versicherungswesen“, anscheinend offiziös, fol¬ gendes : Dem Bericht der Kommission ist eine Uebersicht über die zur Zeit bestehenden Bestimmungen der Einzelstaaten über die Leichenschau beigegeben. Einen Rückschluss auf den Umfang der Verschiedenheiten gestattet schon die Thatsache, dass diese Uebersicht nicht weniger als 13 Seiten Grossfolio umfasst Allgemeine obligatorische Leichenschau haben Bayern, Württem¬ berg, Baden, Hessen, Sachsen-Meiningen, Koburg-Gotha, Bremen und Hamburg; „verpflichtete Leichenfrauen“ Sachsen, Weimar, Altenburg, Schaumburg-Lippe. Keine allgemeine Leichenschau, aber ähnliche lokale Einrichtungen haben Preussen — mit weitgehenden Verschiedenheiten in den einzelnen Regierungs¬ bezirken, Mecklenburg-Schwerin, Braunschweig, Anhalt, beide Reuse, Lübeck und Eisass-Lothringen. Staaten ohne obliga¬ torische Leichenschau sind endlich Mecklenburg-Strelitz, Olden¬ burg, Schwarzburg - Rudolstadt, Schwarzburg - Sondershausen, Waldeck, Lippe-Detmold. Die Reichs-Regierung nimmt zu der Frage gegenwärtig folgenden Standpunkt ein: Zweifellos ist die allgemeine obligatorische Leichenschau vom gesundheit¬ lichen Standpunkt aus erwünscht. Die Reichs-Verwaltung hat sich schon wiederholt mit der Angelegenheit beschäftigt. Es hat sich ergeben, dass noch erhebliche Schwierigkeiten der Einführung entgegenstehen. Viele Sachverständige vertreten die Auffassung, dass nur eine ärztliche Leichenschau von prak¬ tischem Werthe ist. Auf dem platten Lande ist aber die Zahl der Aerzte gegenwärtig in vielen Theilen des Reichs noch zu gering, um in jedem Todesfälle die Besichtigung der Leiche durch einen approbirten Arzt sicherstellen zu können. Selbst wenn man auch Laien zur Vornahme der Leichenschau her- auziehen will, würde nicht überall ausreichendes Personal hierfür zur Verfügung stehen. Die Preussische Regierung hat im Jahre 1898, als die Verhandlungen wegen reichsgesetzlicher Regelung der Leichenschau wieder aufgenommen worden waren, die Durchführbarkeit der allgemeinen obligatorischen Leichenschau in Preussen verneint. Es seien weite Land¬ strecken vorhanden, wo geeignete Personen für einen zuver¬ lässigen Leichenschaudienst nicht aufzufinden wären. In Ostpreussen würde beispielsweise auf dem Lande nur die Uebertragung der Leichenschau an Lehrer in Betracht kommen. Hiergegen habe die Unterrichts-Verwaltung schwerwiegende Bedenken geltend zu machen. Die Angelegenheit bedarf der Regelung so vieler Einzelheiten, dass sie zum Gegenstand eines Sondergesetzes gemacht werden muss. Die bevorstehende Abänderung des Kranken- V ersicher ungsgesetzes. In der nächsten Session des Reichstages soll eine Novelle zum Kranken - Versicherungsgesetz vorgelegt werden, über deren Inhalt der Regieruugsrath Dr. Hoffmaun aus dem Mi¬ nisterium des Handels folgende, augenscheinlich offiziöse Mit¬ theilungen im „Preussischen Verwaltungsblatt“ macht. Die Krankenkassen als Träger der Krankenversicherung sollen leistungsfähiger gemacht werden, damit ihnen eine Ver¬ längerung der Unterstützungsdauer und eine gesteigerte Für¬ sorge für die Erkrankten zugemuthet werden kann. Eine Er¬ höhung der Beiträge soll nach Möglichkeit vermieden werden, schon weil die schliesslich zu erwartende Wittwen- und Waisen-Versorgung eine Vermehrung der Lasten in Aussicht stellt. Leistungsfähiger werden die Kassen dadurch gemacht werden, dass man die jetzige Zersplitterung aufhebt und die nach Berufen getrennten zu grossen Ortskrankenkassen ver¬ einigt. Die bisherige Trennung war für alle Betheiligten un¬ bequem: Zugehörigkeits-Streitigkeiten waren an der Tages¬ ordnung, derUebergang aus einer Kasse in die andere brachte oft eine Schmälerung der Rechte der Versicherten mit sich. Centralisirte Kassen können nicht nur billiger, sondern auch gründlicher verwaltet werden. Sie allein sind im Stande die so nothwendigen Statistiken über Ursachen, Verlauf und Dauer der Krankheiten zu schaffen. Die Gemeinde-Krankenversicherungen, welche von vorn¬ herein nur als Hilfseinrichtungen gedacht waren und in Folge der Niedrigkeit der zu erhebenden Beiträge sehr wenig leistungsfähig sind, zum Theil sogar nicht ohne Zuschüsse seitens der Gemeinden bestehen können, dürften aufzuheben sein, die Bau-, Innungs- und Betriebskrankenkassen können aus verschiedenen Gründen bestehen bleiben. Das Gleiche gilt von den Knappschaftskassen. Die Hilfskassen dagegen, welche bei der Auswahl ihrer Mitglieder wählerisch verfahren und von den Arbeitgebern dazu benutzt werden können, um den Versicherten allein die Zahlung der ganzen Beiträge auf- zubürdeu, sollten ihre Gleichberechtigung verlieren und ohne bei der Krankenversicherung berücksichtigt zu werden, ledig¬ lich Zuschusskassen privater Natur werden. Die geplante Centralisirung der Kassen setzt aber vor¬ aus, dass in der Verwaltung derselben eine Aenderung ge¬ schaffen wird. Es muss, wenn die Macht der Kassen ver- grössert wird, durchaus verhindert werden, dass eine aus Ar¬ beitern bestehende VQrstandsmajorität ihre Stellung zu politi¬ schen Zwecken oder zur Terrorisirung der Versicherten, der Aerzte und Lieferanten missbraucht. Den Arbeitgebern wird die Verpflichtung aufgelegt werden müssen, die Hälfte, statt wie bisher ein Drittel, der Beiträge zu leisten und sie werden dafür das Recht bekommen müssen, in gleicher Stärke wie die Arbeiter an der Verwaltung teilzunehmen. Die Verwaltung der Ortskrankenkasse soll an die der Gemeinde oder des Gemeindenverbaudes, für deren Bezirk sie errichtet ist, angegliedert werden. Aus der Zahl der bei der Gemeinde oder dem Verbände thätigen Beamten ist der Vor¬ sitzende zu ernennen, von der Gemeinde sind die Kasseu- beamten zur Verfügung zu stellen. Hierdurch soll den Beamten das nötige Ansehen gesichert, gleichzeitig eine Ga¬ rantie dafür gegeben werden, dass nur solche Personen an¬ gestellt werden, die sich ihrer Pflichten voll bewusst sind. Der Beamte soll das versöhnende Element zwischen Arbeit¬ geber und Arbeitnehmer hersteilen. Die Abgrenzung der Bezirke bleibt der höheren Verwal¬ tungsbehörde überlassen, doch gewährt eine bestimmte Zahl von Versicherten den einzelnen Gemeinden Anspruch auf eigene Kassen. Was die Forderungen der Aerzte betrifft, so ist gegen die unbeschränkte freie Arztwahl einzuwenden, dass wahrschein¬ lich nur jüngere Aerzte an der Kassenpraxis theilnehmen, Digitized by Google 1. Juli 1Ö00. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 275 ältere und erfahrene sich davon zurückziehen würden. (Bis jetzt lehrt die Erfahrung wohl durchweg das Gegentheil. Red.) Doch würde dieses Bedenken an Bedeutung verlieren, wenn eine Gewähr für die Betheiligung der älteren Aerzte geboten würde. Die Honorirung der ärztlichen Leistungen nach den Mindestsätzen der Taxe ist aus finanziellen Rücksichten un¬ durchführbar, die Forderung des Aerztetages, dass Verträge zwischen Aerzten und Kassen von der Standesvertretung der Aerzte gebilligt werden müssen, würde zu Unzuträglichkeiten führen. Zweckmässig erscheint die Forderung eines Schieds¬ gerichts, welches dann allerdings dieBefugniss haben müsste, Aerzte, die gegen das Interesse der Kasse verstossen, zu ver¬ warnen oder auszuschliessen. Bei den herrschenden Meinungsverschiedenheiten für und wider die freie Aerztewahl wird eine gleichmässige Regelung der Aerztefrage nicht möglich sein. Es werden auf anderem Wege Garantien für die Wahrung der ärztlichen Interessen zu schaffen sein. Die Kassen werden über die Art der Ge¬ währung ärztlicher Behandlung Vorschriften zu erlassen haben, welche der Genehmigung der Regierungspräsidenten bedürfen. Letztere werden dahin anzuweisen sein, auf die Zulassung einer möglichst grossen Zahl von Aerzten hinzuwirken und vor Ertheilung der Genehmigung die Aerztekammer zu hören. Der Mehrheit der im Bezirk ansässigen Aerzte könnte ausser¬ dem das Recht eingeräumt werden, bei der höheren Ver¬ waltungsbehörde eine Vermehrung der Kassenärzte zu bean¬ tragen. Mit der Behandlung der Versicherten kann die Gemeinde nach dem gegenwärtigen Recht bereits nur im Inlande appro- birte Aerzte be'auftragen. Nur wo solche besonders schwer zu erreichen sind, und in dringenden Fällen können Aus¬ nahmen gestattet werden. Die Zuziehung niederen Heilper¬ sonals ist von der Anordnung des Arztes abhängig zu machen. Im Auslande approbirte Zahnärzte oder weibliche Aerzte dürften mit Genehmigung der Verwaltungsbehörde bei be¬ stehendem Einverständnis zwischen Kassenvorstand und Ver¬ sicherten zuzulassen sein. Freie Apothekenwahl könnte im Falle einer landesge¬ setzlichen Ermässigung der Taxen für die Kassen gewährt werden. Was die Leistungen der Kasse betrifft, so wären die bisher geltenden Bestimmungen im Wesentlichen beizu¬ behalten. Die Weitergewährung der Krankenunterstützung über die 26. Woche hinaus müsste bei Erwerbsunfähigen ver¬ boten sein, da für diese alsdann die Versicherungsanstalt ein- tritt. Die Wöchnerinnenunterstützung könnte gesetzlich auf sechs Wochen ausgedehnt werden. Die Kassenverbände, wie sie für das Gebiet einzelner Bundesstaaten und des ganzen Reiches bestehen, die nichts weiter bezwecken als die Abhaltung von Verbandstagen, auf denen allerlei grossentheils fernliegende Fragen erörtert werden, verursachen recht überflüssige Kosten. Doch ist ihre gesetzliche Abschaffung nicht geboten. Eine hervorragende Rolle wird voraussichtlich bei dem Gesetzentwurf die Ausdehnung des Versicherungszwanges auf die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter und auf das Ge¬ sinde spielen. Bei den besonderen Verhältnissen dieser Ar¬ beitsklassen wird allerdings Befreiung von der Versicherungs¬ pflicht hier unter bestimmten Bedingungen (Krankenabonnement oder dergl.) zu gewähren sein. Da es sich vorläufig um keine greifbaren Paragraphen, sondern lediglich um offiziöse Andeutungen handelt, beschränken wir uns auf diese Inhaltsangabe. Die Berechtigung zum ärztlichen Studium. Durch die Tageszeitungen geht die Nachricht, dass die kürzlich abgehaltene Schulkonferenz einen sehr einschneiden¬ den Entschluss gefasst hat. Zu sämmtlichen Studienfächern der Universitäten und Hochschulen sollen künftig die Abiturienten der Gymnasien, Real-Gymnasien und Ober-Realschulen gleich- mässig zugelassen werden. Die den Einzelnen, vermöge ihrer Ausbildung, mangelnden Sonderkenntnisse, sollen durch Vor¬ kurse an den Hochschulen nachgeholt werden. Falls dieser Beschluss in Wirkung tritt, kann sich allerdings der ärztliche Stand nicht mehr beklagen, dass er allein zu Experimenten hinsichtlich der Vorbildung missbraucht wird. Die Bestimmung trifft vielmehr gleichmässig schmerzlich alle diejenigen,, die im Humanismus die geeignetste Vorbildung für alle gelehrten Stände erblicken. Sie würde offenbar nichts Endgiltiges, sondern lediglich einen Versuch im grossen Styl bedeuten, der auf die Schöpfung einer künftigen Einheitsschule hinzielt. Nochmals der Fall Zehnder. In No. 9 brachten wir eine Notiz über die in der Tages¬ presse mit der üblichen Entrüstung verbreitete Nachricht, von der angeblich widerrechtlichen Unterbringung des an¬ geblich geistesgesunden Dr. Z. in einer Irrenanstalt. Inzwischen hat bei der Berathung des Medizinaletats der bayrische Kultus- Minister, wie die M. med. Wochenschr. mittheilt, vertrauliche Aufschlüsse über diese Angelegenheit gegeben, aus denen, wie man zwischen den Zeilen lesen kann, wohl deutlich hervor¬ ging, dass die Unterbringung nicht aus feindseligen Motiven gegen Dr. Z., sondern in dessen eigenstem Interesse erfolgt ist. Im Plenum hat der Minister dann noch bewiesen, dass auch in der Form des Verfahrens kein Verstoss gegen das gütige Recht gemacht worden ist. Die Aufregung war also wieder mal überflüssig. Die Wiederbeschäftigung von Unfallverletzten im Bezirke der Sektion II der Knappschafts-Berufsgenossenschaft (Bochum). Die Satzungen des Allgemeinen Knappschaftsvereins in Bochum enthalten folgende Bestimmung: „Neu eintretende Personen, Mitglieder, welche länger als vier Wochen gefeiert haben, und solche Mitglieder, welche wegen Krankheit arbeitsunfähig waren, sind nur gegen eine von einem Knappschaftsarzte ausgestellte, nicht über eine Woche alte Bescheinigung, dass der Be¬ treffende arbeitsfähig ist, anzunehmen, bezw. zur Arbeit wieder zuzulassen.“ Hiernach wurden die Unfallverletzten, welche ihre volle Erwerbsfähigkeit noch nicht wieder erlangt haben, nur dann auf den Zechen zur Beschäftigung zugelassen, wenn sie ihre Befreiung von der Krankenversicherungspflicht beantragten. Der Knappschaftsverein nimmt an, dass die Unfallverletzten leichter wie andere Personen krank feiern und dass daraus für die Kasse eine grosse Belastung erwachsen könne. Da die Unfallverletzten im Allgemeinen keine Neigung dazu zeigten, ihr Recht auf die Krankenversicherung aufzugeben, ihnen dadurch auch ein pekuniärer Nachtheil hätte entstehen können, so war es für dieselben ausserordentlich schwer, eine regelmässige Beschäftigung zu erlangen. Bekanntlich ist aber gerade für Unfallverletzte Arbeit das beste Heilmittel. Un¬ tätigkeit verhindert bei ihnen in zahlreichen Fällen nicht nur eine Kräftigung der Muskulatur, die Besserung der Be¬ weglichkeit und der Gebrauchsfähigkeit der verletzten Extre¬ mität, sondern stellt geradezu den durch die ärztliche Behand¬ lung erzielten Heüerfolg in Frage. Digitized by Google 276 Aerztlicho Sachverständigen-Zeitung. No. 13. Der Vorstand der Sektion II (Bochum) ist über den Gegenstand mit dem allgemeinen Knappschaftsverein in Ver¬ handlung getreten, die dahin geführt hat, dass die Unfallver¬ letzten ohne Verzieht auf das Recht der Krankenversicherung auf den Zechen beschäftigt werden. Bei eintretender Krank¬ heit soll gleich ermittelt werden, ob dieselbe auf den voran¬ gegangenen Unfall zurückzuführen ist. In diesem Falle soll nicht der Knappschaftsverein in Anspruch genommen werden, sondern es tritt die Knappschafts-Berufsgenossenschaft für den Erkrankten ein. _ (Kompass.) Trinkerheilanstalt. Die von dem Verein gegen den Missbrauch geistiger Ge¬ tränke mit dem Charakter einer Volksheilstätte errichtete Berliner Trinkerheilanstalt bei Fürstenwalde wird Anfang Juli ihrer Bestimmung übergeben werden. Sie ist einem Ver¬ waltungsausschuss unterstellt, dem die Herren Baer, Sander, Laelir, Moeli, Ewald, Hebold und Waldschmidt angehören. Die Lage ist eine denkbar günstige und für den Zweck vorzüglich geeignete; rings von Tannenwaldungen umgeben, liegt die Anstalt mit freiem Ausblick auf Wiese und Aecker, 3—4 Kilo¬ meter von dem Vorortverkehr — Fürstenwalde — entfernt, völlig isolirt da. Auf dem 170 Morgen grossen Areal, welches aus Wald, Wiese und Feld besteht, ist ein Anstaltsgebäude erbaut, in dem neben der Verwalterwohnung, Anstaltsküche, Speise- saal, Aufenthaltsräumen und Badezimmern Platz für 50 Kranken¬ betten vorhanden ist. Die Schlafräume sind durchweg ein- und dreibettig, sehr behaglich und bei aller Einfachheit hübsch eingerichtet, wie überhaupt das Ganze einen ausserordentlich prächtigen und gediegenen Eindruck macht. Da grundsätzlich die Insassen körperliche Arbeit ver¬ richten sollen, so ist darauf Bedacht genommen, eine Oekonomie und Gärtnerei, in der die Kranken unter sachgemässer An¬ leitung sich — gegen Entgelt — bethätigen sollen, vorauszu¬ sehen. — Der Pensionspreis ist auf 100 M. monatlich fest¬ gesetzt; Krankenkassen, Landarmenverbänden, Landesver¬ sicherungsanstalten , Berufsgenossenschaften, Kommunalbe¬ hörden etc. werden auf Grund von besonderen Verträgen Pflegesätze gewährt, die den Berliner Sätzen für Kassenkranke entsprechen. Die Aufenthaltsdauer wird auf mindestens 6 Monat bemessen, nachweislich unheilbare Kranke werden nicht aufgenommen, da der Charakter der Heilstätte gewahrt bleiben soll. Jede wünschenswerthe Auskunft ertheiltDr. Waldschmidt, Charlottenburg-Westend, Linden-Allee 33 (Telephon: Amt Westend 68), an welche Adresse schon jetzt Anmeldungen erbeten werden. Sind Kreuzotterbisse tödtlich? In einer uns übersandten Nummer des Vogtländ. An¬ zeigers und Tageblatts wird die Frage aufgeworfen, ob Kreuzotterbisse, die so gefürchtet sind, jemals wirklich den Tod herbeiführen. Das genannte Blatt hat bei allen in jener Gegend bekannt gewordenen Fällen von Otterbiss regelmässig Erkundigungen über den Verlauf der Krankheit eingezogen und entgegen den stets verbreiteten Todesgerüchten immer erfahren, dass die Gebissenen geheilt sind. Bei dem allgemeinen Interesse der Frage halten wir ihre Beantwortung an dieser Stelle nicht für unangebracht. Die Frage, ob der Kreuzotterbiss tätlich wirken kann, muss bejaht werden. In Deutschland, wo die Kreuzotter die einzige Giftschlange ist, endeten in den Jahren 1878—1888 von 600 Bissen 17 tätlich (Blum), und nach dem 1893 er¬ schienenen vorzüglichen Lehrbuch der Vergiftungen von Robert kam noch 1892 ein Todesfall vor. In demselben Buche wird erwähnt, dass Lenz einen Mann nach dem Biss einer Kreuzotter in den Mund binnen wenigen Minuten sterben sah. Also bei einem ausreichenden Beobachtungs¬ material fehlen die tötlich endenden Fälle keineswegs, und Ausrottung der Kreuzotter bleibt nach wie vor eine wichtige Aufgabe. Tages-Ordnung der am 28. und 29. 8eptember 1900 zu Berlin im Festsaal des Savoy-Hötels, Friedrichstrasse Nr. 103, NW. (in unmittelbarer Nähe des Zentralbahnhofs Friedrichstrasse; Eingang zum Fest¬ saal auch von der Prinz Louis-Ferdinand-Strasse) stattfindenden XVII. Hauptversammlung des Preussischen Medizinal¬ beamten - T ereins« Donnerstag, den 27. September, 8 Uhr Abends: Ge¬ sellige Vereinigung zur Begrüssung bei Sedlmayr (Frie¬ drichstrasse 172). Freitag, den 28. September, 9 Uhr Vormittags: Erste Sitzungim Festsaal des Savoy-Hötels. 1. Eröffnung der Versammlung. 2. Geschäfts- und Kassenbericht; Wahl der Kassenrevisoren. 3. Verkehr mit Arzneimitteln ausserhalb der Apotheken. H. Reg.- u. Med.-Rath Dr. Penkert-Merse- burg. Frühstückspause im „Franziskaner" (Stadtbahnbogen am Bahnhof Friedrichstrasse, in unmittelbarer Nähe des Versammlungslokals). 4. Ueber die Veränderungen vergrabener Leichentheile. H. Prof. Dr. Lübarsch, Leiter der pathologisch¬ anatomischen Abtheilung des hygienischen Instituts in Posen. 5. Zur gerichtsärztlichen Kenntniss des Sadebaumöles. H. Dr. H. Hildebrandt, prakt. Arzt in Berlin, pro pl\ysicatu appro- birt. 3 Uhr Nachmittags: Festessen im Savoy-Hötel. 9 Uhr Abends: Gesellige Vereinigung bei Sedlmayr (Friedrich¬ strasse 172). Sonnabend, den 29. September, 9 Uhr Vormittags: Zweite Sitzungim Festsaale des Savoy-Hö tels. 1. Thema Vorbehalten. H. Prof. Dr. Wernicke, Direktor des hygieni¬ schen Instituts in Posen. 2. Neuere Untersuchungsmethoden in der gerichtlichen Medizin. H. Dr. Ziemke, Assistent am Institut für Staatsarzneikunde in Berlin, pro physicatu approbirt. 3. Vor¬ standswahl und Bericht der Kassenrevisoren. 4. Ueber Aus¬ bildung und Anstellung von Desinfektoren. H. Kreisphysikus Dr. Keferstein in Nimptsch. Nach Schluss der Sitzung: Gemeinschaftliches Mittag¬ essen im „Franziskaner“ und hierauf Besichtigung 1 ) der Siemens’schen Anlage zur Herstellung von keimfreiem Trink¬ wasser mittelst des auf elektrischem Wege hergestellten Ozons in Moabit (Augusta-Allee Nr. 8) unter sachverständiger Führung. 9 Uhr Abends: Gesellige Vereinigung. Indem der Unterzeichnete Vorstand auf eine recht zahl¬ reiche Betheiligung der Vereinsmitglieder, sowie auch derjenigen Kollegen hofft, die dem Verein bisher noch nicht beigetreten sind, bittet er, etwaige Beitrittserklärungen, Anmeldungen zur Theilnahme an der Versammlung oder sonstige Wünsche dem¬ nächst dem Vorsitzenden des Vereins gefälligst mittheilen zu wollen. Minden, den 15. Juni 1900. Der Vorstand des Preussischen Medizinalbeamten- V ereins. Dr. Rapmund, Vorsitzender, Regierungs-u. Geh. Medizinalrath in Minden. Dr. Elten, Schriftführer, Kr.-Physikus u. San.-Rath in Berlin. Dr. Bar nick, Regierungs- u. Medizinalrath in Frank¬ furt a./O. Dr. Wallichs, Kreisphysikus u. Geh. Sanitätsrath in Altona. Dr. Fielitz, Kreisphysikus und Sanitätsrath in Halle a./S. ‘) Das Nähere wird am Sitzungstage mitgetheilt werden. Verantwortlich für den Inhalt: Dr. F. Leppaann in Berlin. — Verlag und Bigenthom ron Richard Scheele in Berlin. — Druck tob Albert Damoke, BerLin-SohOneberg. Digitized by Google Di«„A«r*tlicho Sachvfrflt&ndlgen.Zeitung“ erscheint monatlich ■weimal. Dieselbe ist su beslehen durch den Buohhandel, die Post (No. 36) oder dureh die Verlagsbuchhandlung Ton Richard 8choetz, Berlin NW., Luisenstr« 30, sum Preise ▼on Hk. 6.— pro Vierteljahr. Aerztlich© Alle Manuskripte, Mittheilungcn und redaktionellen Anfragen beliebe man su senden an Dr. P. Leppmann, Berlin W., KurfUrstenstr. No. 8. Korrekturen, Rezensions-Exemplare, Sonderabdrücke an die Verlagsbuchhandlung, Inserate und Beilagen an die Annoncenexpedition von Rudolf Moaee. Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätgket des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und UnfaH-Heilkunde. Herausgegeben von Dr. L. Becker Dr. A Leppmann Dr. F. Leppmann Geb. Sanitfttsrath, Könlgl. Phjsikus, Vertrauensamt Sanitfttsrath, Königlicher Phjaikn«, Amt der Beobachtungsanstalt für ge lates- rakt. Amt ▼on Rernfkgenossensohaften nnd Schlodsgerichten. kranke Gefhngene in MoabiuBerlin, Speslalamt für Narren, n. Geisteskranke. P Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstrasse 36. VI. Jahrgang 1900. MU. Ansgegeben am 15. Juli. Inhalt: Origlnalien: F. Leppmann, Wann sind Zerreissungen der grossen Körperschlagader als Unfallfolgen zu betrachten? 8. 277. Referate: Allgemeine*. Dreyer, Ueber die in den Jahren 1884—1898 in der Göttinger medizinischen Universitätsklinik beobachteten Unfallkranken. 8. 283. Huth, Verwandten-Heirath und Taubstummheit. 8. 284. Chirurgie. Lange, Periostale Sehnen Verpflanzungen. S. 284. Hoffa, Orthopaedie im Dienste der Nervenheilkunde. 8. 284. Mintz, Traumatische Entstehung von Epithelcysten. 8. 285. Herhold, Nicht traumatische Knochenhautentzündung an den Unterschenkeln. 8. 285. Rosenbaum, Ueber Bauchmuskel-Zerreissungen. S. 285. Reissmann, Schusswunde des Unterleibs mit Beschädigung des Darms. 8. 285. Rubinstein, Bubo und Trauma. 8. 286. Innere Medizin. Cohnheim, Enorme Blasenerweiterung. 8. 286. Schlesinger, Einige Wirbelorkrankungen traumatischen Ur¬ sprungs. 8. 286. Neurologie. Stewart und Collier, Zerreissung des Armnervenge- flechts. S. 288. H offmann, Isolirte atrophische Lähmung des N. musculocu- taneus. S. 287. Bernhardt, Ueber die vicariirende Funktion der bei voll¬ kommener Lähmung der eigentlichen Vorderarmbeuger in Thätigkeit tretenden, von den Condylen des Oberarms ent¬ springenden Muskeln. 8. 288. Wann sind Zerreissungen der grossen Körperschlag- I ader als Unfallfolgen zu betrachten? Von Dr. Fritz Leppmann -Berlin. Ein gutachtlicher Fall, dessen später etwas ausführlicher gedacht werden soll, bot mir Veranlassung, der Frage näher zu treten, welche den Titel dieser Arbeit bildet. Es stellte sich heraus, dass die bisher vorhandene Literatur, von der mir wohl wenigstens der grössere Theil im Urtext oder in Aus¬ zügen zugänglich war, noch keine zusammenhängende Bear¬ beitung jener Frage enthält, dass vielmehr das Material ausser- erordentlich weitläufig in Büchern und Zeitschriften verstreut liegt. Auch die umfassenden Werke von Becker, Kauf¬ mann, Stern, 1 ) Thiem streifen dieses Gebiet höchstens, da sie eben hauptsächlich Unfallfolgen am Lebenden behandeln, während die Zerreissung der grossen Körperschlagader meist und grade in den Fällen, wo sie den Kernpunkt der Begut¬ achtung bildet, rasch den Tod herbeiführt. Unter diesen Umständen durfte der Versuch als zweckmässig betrachtet werden, einmal auf Grund der vorhandenen Beobachtungen allgemeine Anhaltspunkte für die Unfall-Sachverständigen - thätigkeit bei Zerreissungen der Aorta festzustellen. Huth, Poliomyelitis anterior chronica in Folge peripherer Ver¬ letzung. 8. 288. U hiemann, Gliom des Gehirns mit tödtlichem Ausgange. 8. 288. Augen. Knapp, Klinische Erfahrungen mit dem starken (Haab’schen) Elektromagneten. 8. 288. Pergens, Argyrosis derConjunctiva bei Protargolgebrauch. 8.289. Hygiene. Annet, Tubercle Bacilli in milk, butter and margarine. 8.209. Kröhnke, Reinigung des Wassers für häusliche und gewerbliche Zwecke. 8. 209. Aus Vereinen und Versammlungen. Versammlung deutscher Bahn¬ ärzte zu Baden-Baden. (Versammlungsbericht.) S. 289. 6ericht!iohe Entscheidungen :AusdemReichs- Versicherungs-Amt: Unfall und Invalidität. — Herzschlag. Betriebsunfall liegt vor. — Der Zusammenhang eines Bauchmuskelrisses mit einer Verrich¬ tung im Betriebe wird verneint. S. 291. BOcherbesprechungen u. Anzeigen: Mugdan, Das Krankenversicherungs¬ gesetz vom 15. Juli 1883 in der Fassung der Novelle vom 10. April 1892 etc. Kommentar für Aerzte. — Springfeld und Siber, Die Handhabung der Gesundheitsgesetze. — Ischreyt. Ueber septische Netzhautveränderungen. — Wilbrand und Saenger, Die Neurologie des Auges. — Kisch, Die Prophylaxe der Sterilität. — Zur Besprechung eingegangen. 8. 293. Tagetgeschichte: Der 28. Deutsche Aerztetag in Freiburg. — Gegen die Zuziehung von Kurpfuschern bei Unfällen. — Schulärzte. — Die Ansteckungsgefahr im Eisenbahnwagen und in den Kurorten. — Die Verwaltungsberichte der Elbschifffahrts- und der See-Berufs¬ genossenschaft über das Jahr 1899. S. 295. Die grosse Körperschlagader steht dauernd unter starkem Innendruck durch die Blutsäule, die immer wieder in sie hin¬ eingeschleudert wird und sich dann beim Versuch zurückzu¬ strömen in den Taschenklappen fängt. Verstärkt wird dieser Innendruck, sobald die Herzthätigkeit erhöht oder der Ab¬ fluss des Blutes erschwert wird. Eines oder das Andere, meist sogar Beides pflegt bei starken körperlichen Kraft¬ leistungen, aber auch bei heftigen Gemüthsbewegungen (Angst, Schreck, Zorn) stattzuflnden. Von aussen treffen das Gefäss häufig andre Gewaltwirkungen. Zwar ist es vor un¬ mittelbarer Quetschung durch seine geschützte Lage gewöhn¬ lich bewahrt, aber es wird, entsprechend seiner Aufhängung längs der Wirbelsäule, gezerrt bei allen ruckweisen Rumpfbewegungen, wie sich an der Leiche deutlich zeigen lässt; es wird erschüttert beim Laufen, Springen und vor allem beim Fallen. Allen diesen Angriffen, den duich ihre besondere Aufgabe im Körper bedingten, wie den gelegent¬ lich hinzutretenden, leistet normaler Weise die Wand der grossen Schlagader siegreich Widerstand. Solange sie nicht ihre gewöhnliche Stärke, Festigkeit und Elasticität ein- gebüsst hat, zerreisst sie weder ganz noch theilweiso, es sei denn durch sehr mächtige äussere Gewalten. Es ist festge¬ stellt worden, dass ein Stück gesunde Arterie von l l j 2 cm Länge durch Anhängen von einem Kilogramm auf 16V 2 cm Digitized by Google 278 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 14. gedehnt wurde und nach Abnahme der Last wieder bis zu 8,1 cm zurückschnellte — so gross ist ihre Elastizität. Die Unfälle, bei denen die Gewalt hinreicht und in ge¬ eigneter Form einwirkt, um die völlig gesunde Aortenwand zum Bersten zu bringen, sind sicher sehr selten. Der Innen¬ druck wird sich voraussichtlich nie derartig erhöhen können, dass die normal elastische Wand ihn nicht zu ertragen ver¬ mag, ebensowenig ist zu erwarten, dass blosse Zerrung einen Riss in ihr hervorbringen wird. Dagegen sind ungewöhnlich starke Zusammenpressungen des Brustkorbes von vorn her, besonders wenn der natürliche Schutzwall der Rippen und des Brustbeins gleichzeitig durchbrochen wird, hierzu wohl im Stande. In dieser Weise kann z. B. eine Ueberfahrung wirken (Devergie). 2 ) Nicht ganz so ungeheuer, aber immer noch stark genug war die einwirkende Gewalt in einem Falle Maschkas, 2 ) in dem ein wuchtiger Schlag gegen die Brust mit einer Erdhaue das Brustbein einbrach und die Aorta sprengte. Wichtiger noch als die Quetschung des Brustkorbes ist aber der Sturz aus grosser Höhe, bei dem die in voller Fall¬ bewegung befindliche und durch das Aufschlagen des Körpers auf den Boden plötzlich angehaltene Blutsäule wahrscheinlich einfach die Gefässwand sprengt. Chevallier und Devergie 2 ) haben solche Fälle beschrieben, der bemerkenswertheste ist der von Emm er t, 3 ) bei dem einem, von einem Gerüst abge¬ stürzten jüngeren Manne ohne jegliche Knochenverletzung die von krankhaften Veränderungen sonst völlig freie Aorta zer¬ rissen war. Quetschung und Erschütterung vereinigten sich bei einem von Langenbuch 4 ) beschriebenen Unfall: Ein Mann stürzte zwei Stock tief mit dem Körper auf einen Balken; die sonst völlig gesunde Aorta war quer durchgerissen. Der Sitz der Zerreissung wird in solchen Fällen ganz durch die Verletzung bestimmt: Bei Quetschung über dem Brustbein oder bei Fall auf die Füsse wird meist der aufsteigende Theil, bei Fall auf den Kopf der Bogen, bei einer den Rücken treffenden Gewalt der absteigende Theil bersten. Die Hauptmasse der Aorten-Zerreissungen ent¬ fällt auf diejenigen Menschen, bei denen das Gefäss nicht seine normale Wanddicke, Festigkeit und Elastizität besitzt. Bei ihnen genügen schon oft geringe Gewalten, um die ganze Gefässwand oder ihre inneren Schichten zu sprengen, ja selbst ohne jede Einwirkung von aussen, ohne Veranlassung zu erhöhtem Blutdruck, sogar im Schlafe können solche Aorten platzen. Sie sind es, die dem Unfallgutachter die eigentlich schwierigen Auf¬ gaben bieten. Die Veränderungen, auf denen die Verminderung der Wider¬ standsfähigkeit bei der Wand der Körperschlagader beruht, sind sehr verschiedener Art. Die wichtigste ist die sackartige Ausbuchtung, das Aneurysma der Aorta, dessen Lieblings¬ sitz der aufsteigende Theil des Gefässes ist. Kein Zweifel: wenn das in solch einen Sack einströmende Blut durch seinen Druck die Wände des Sackes, die nicht so widerstandsfähig sind wie eine normale Schlagader, mehr und mehr verdünnt, dann tritt schliesslich ganz ohne mitwirkende Nebenursachen der Augen¬ blick ein, wo die Wand unter dem Blutdruck einreisst. Eine bestimmte Regel, wie lange das dauert, oder wie gross das Aneurysma sein muss, bis dies fatale Ende eintritt, ist nicht zu geben. Man hat kindskopfgrosse Säcke längere Zeit bestehen, wallnussgrosse ja selbst haselnussgrosse 5 ) durchbrechen sehen. Zum Theil hängt das jedenfalls von der Verlöthung des Sackes mit verschiedenen Nachbarorganen ab. Sicher festgestellt ist, dass viele Menschen Aneurysmen der grossen Schlagader haben, von denen sie nichts merken, mit denen sie schwer arbeiten können, und die erst nach dem auf irgend einem andern Wege erfolg¬ ten Tode zufällig bei der Leichenöffnung gefunden werden. Bei solchen Personen, deren Blutsäcke ohne äusseren Einfluss voraussichtlich in absehbarer Zeit noch nicht bersten würden, kann ein Unfall von einer der oben beschriebenen Arten den Tod herbeiführen. Ein klassisches Beispiel hierfür ist ein Fall Lessers 6 ): Ein 83jähriger, bisher anscheinend stets gesunder Mann war mit dem Abladen schwerer Mehlsäcke beschäftigt. Plötzlich fiel er tot hin. Die Leichenöffnung ergab eine sack¬ förmige apfelgrosse Erweiterung der grossen Schlagader (in Folge Verengerung des darüber liegenden Abschnitts) dicht an den Taschenklappen. Im unteren Drittel des Sackes bestand ein fast 2 cm langer klaffender Riss, durch den das Blut sich erst zwischen mittlere und äussere Gefässhaut eingewühlt hatte; durch einen zweiten Riss war von da aus der Herzbeutel er¬ öffnet. Gewöhnlich kann man es dem Riss im Blutsack nicht ansehen, ob er von selbst oder unter der Mitwirkung eines Unfalles entstanden ist. Nur wenn die Oeffnung sehr klein und rund, wie mit einer Nadelspitze ausgestoohen ist, wird die Mitwirkung eines Unfalles recht unwahrscheinlich. Ein solches feines Loch kann doch wohl nur das Ergebniss einer ganz allmählichen Verdünnung, nicht das einer ruckweise einsetzen¬ den Gewalt sein. Im Allgemeinen ist es in der ärztlichen Literatur üblich, von „Zerreissungen“ der Aorta zu sprechen, wenn man nicht die Beratung der Aneurysmen, sondern die auf andrer Grund¬ lage entstehenden meint. Solche Aortenzerreissungen im enge¬ ren Sinne werden am häufigsten bedingt durch die — ganz all- gemeingesprochen—- chronische Entartung der Innenhaut des Gefässes, die sich als Verfettung, Verkalkung, Er¬ weichung, hy alineUm Wandlung, als Arteriosclerose oder Atherom darstellt und durch Gifte (Alkohol), Infektionskrank¬ heiten (Syphilis) oder Stoffwechselstörungen (Greisenalter) ver¬ ursacht zu werden pflegt. Poletebnow 7 ), dem wir die schon oben erwähnte Elastizitätsmessung verdanken, hat festgestellt, dass eine Schlagader mit entarteter Wand durch ein angehängtes Kilo¬ grammgewicht von 7,5 nur auf 9,9 cm gelängt wurde, dass sie aber dafür auch schon durch einen Quecksilberdruck von 20 bis 25, ja bei besonders ausgesprochenen Herdveränderungen schon durch einen von 15 cm Höhe zum Platzen gebracht werden kann. Dem entsprechen die klinischen Erfahrungen ganz. Die erste grössere Veröffentlichung über „spontane“ Aortenrisse vom Altmeister Rokitansky 8 ) enthält unter acht Fällen schon fünf, bei denen Verfettung, Verkalkung, Erweichung des Gefässes gefunden wurde. Am verständlichsten ist die Durchlöcherung der Gefass- wand ohne äussere Einwirkung, wenn sich durch völliges Ab¬ sterben einer Stelle der Innenhaut ein allmählich immer tiefer greifendes Geschwür gebildet hat, so dass schliesslich dem an¬ drängenden Blute nur noch ein ganz dünner Schutzwall gegen¬ übersteht, den es ohne Weiteres durchbricht. Dass unter solchen Umständen Leute, die ruhig dasassen oder ihres Weges gingen, plötzlich durch Aortenzerreissung todt Umfallen konnten (F e s t al , 9 ) Posner 10 ), ist leicht begreiflich. Andererseits begreift man, dass ohne solche Verdünnung plötzliche Gemüthsbewegungen, körperliche An¬ strengungen 11 ) durch die erhöhten Anforderungen, die sie der Festigkeit der Gefässwand stellen, die atheromatös veränderte Aorta zum Zerreissen bringen. Schon Broka 12 ) hat von 29 Fällen 9 jenen beiden Gruppen zurechnen müssen. Levi sah Zerreissung einer entarteten Körperschlagader bei der Stuhl¬ entleerung, Lignerolle beim Besteigen eines Pferdes, Duffey beim Wasserpumpen, Frey er 13 ) beim Abdrehen einer Schraube in stark gebückter Haltung, in einem zweiten Posnerschen Falle 14 ) bewirkte bei einer alten Frau die Freude über die Rückkehr eines todtgeglaubten Sohnes eine plötzliche Zerreiss- Digitized by e 15. Juli 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 279 uug der Körperschlagader. Die Zerrung der entarteten Aorta durch rasche Rumpfbewegung wurde tödtlich in einem sehr bemerkeuswerthen Palle von Chiari 15 ) — ein Mann droht auf dem Glatteis auszugleiten, giebt sich aber einen plötz¬ lichen Ruck nach hinten, sodass er aufrecht bleibt; — und in einem von Callender 16 ), der Anfangs als Verstauchung der Rückenmuskeln gedeutet wurde. Schon lange ist die Ver¬ letzlichkeit der entarteten Aorta durch Schlag, Stoss oder Fall auf Brust und Rücken bekannt. Der alte Morgagni 17 ) hat be¬ reits gezeigt, wie bei einem Greise, der wahrscheinlich arterio- scleroti8ch war, ein nicht sehr derber Stockschlag auf den Rücken augenblickliches Platzen der Aorta verursachen konnte. Ihm reiht sich wiederum Broca mit 7 Fällen, Uterhart, Puppe 18 ), Nissim 19 ) u. A. an. Selbst geringe Veränderungen der Gefässwand genügen unter Umständen als Vorbedingung für die Zerreissung, wenn die wirkende Gewalt, ohne übergross zu sein, doch bedeutend ist; z. B. wenn ein Mann, vom Gehirnschlag getroffen, blitz¬ artig zur Erde stürzt (Puppe), wenn ein Arbeiter sich mit der Brust gegen 50 Zentner schwere Eichenblöcke stemmen muss, um sie zu kanten (Brussatis 20 ) oder durch einen Stoss vor dieBrust von einer Wagendeichsel umgeworfen wird (Schnabel). Hierher zählt auch ein Fall von Förster 21 ), bei dem ein Bruch der Lendenwirbelsäule mit Zerreissung der wenig ent¬ arteten Bauchaorta verbunden war. Aber so einleuchtend es auch ist, dass eine entartete Schlagader leichter einreisst als eine gesunde — unlösbar ist im Einzelfalle gewöhnlich die Frage, warum nun grade diesmal der Einriss erfolgte, während doch unzählige Menschen mit entzündeten, verfetteten, verkalkten Aorten herumlaufen und die schwersten Gemüthsbewegungen, die härtesten Anstren¬ gungen, die bedeutendsten Erschütterungen, die raschesten Bewegungen ohne weiteres überstehen. Gewiss hatte auch der betreffende Verunglückte schon manchmal Gelegenheit gehabt, seine Aorta zu schädigen — warum musste das tödt- liche Ende grade diesmal ausgelöst werden? Die Frage wird noch schwieriger, wenn man hört, dass in einer langen Reihe von Fällen Körperschlagadern, die zwar atheromatös, aber frei von Erweichungsgeschwüren, zum Theil geradezu nur un¬ erheblich verändert waren, 24 ) ohne besonderen Anlass, etwa beim Essen, beim Ausziehen, und selbst im Schlafe geborsten sind. In manchen dieser Fälle mag es sich doch um rasche Druck¬ schwankungen aus irgend welchem Grunde, unzweckmässige Bewegungen, die ja auch im Schlafe möglich sind, oder ähn¬ liche uukontrolirbare Einflüsse gehandelt haben. Im Uebrigen aber müssen wir uns damit bescheiden, dass wir eben die Mechanik des einzelnen menschlichen Körpers nicht auskennen können. Wir können nun einmal nicht beurtheilen, ob nicht beim ungestörten gewöhnlichen Lauf der Dinge der Blutdruck an einem bestimmten Tage den krankhaft verminderten Zu¬ sammenhalt einer Gefässwand sprengen muss, während ein anderer Mensch, dessen Herzkraft vielleicht geringer oder dessen Gefässwand von Natur kräftiger ist, genau ebenso aus¬ gedehnte Entartungen länger überdauert. In einem Punkte aber, auf den gewöhnlich nicht ge¬ nügend geachtet zu werden pflegt, kann die mikroskopische Untersuchung das Verständniss sonst räthselhafter Zerreissungen ermöglichen. Wir sind gewöhnt, bei der Besichtigung des Gefässes nur die Innenfläche zu betrachten, also nur die innere Haut zu berücksichtigen und verkennen dabei ganz, wie wichtig für die Festigkeit und Elastizität die muskulöse und an elastischen Fasern reiche Mittelhaut ist. Diese aber kann krank sein, ohne dass man es der Innenfläche anmerkt Sie kann durch einen angeborenen Fehler in der Entwickelung beeinträchtigt, durch eine überstandene Krankheit — hierbei spielt der Typhus eine entschiedene Rolle, in drei Kranken¬ geschichten wird er erwähnt — verkümmert sein. Man findet dann die Arterienwand an der betr. Stelle verdünnt, 25 ) die Mus¬ kellager und elastischen Netze der Mittelhaut sind hier bis auf mehrweniger geringe Reste geschwunden. Auch hyaline Geweb8umwandlungen dieser Haut scheinen vorzukommen. Das Greisenalter, das ja keineswegs immer zur Atheromatose führt, kann ohne solche gleichfalls mit Elasticitätsverlust der Mittelhaut einhergehen. 22 ) Wir kennen mehrere Fälle, die ohne die eben angestellte Erwägung unerklärlich wären. Zwei davon, möchte ich nicht unterlassen, genauer wiederzugeben, weil sie besonders inter¬ essant sind. Eine bisher gesunde Frau liegt auf dem Kreissbett. Der Kopf des Kindes ist bereits bis zur Mitte des Beckens vorge¬ drungen. Mit einem Male beginnt die Frau zu frieren, be¬ kommt einen Krampf im Unterkiefer und in den Gliedern, dann wird sie blass und ist tot. Es findet sich ein 1V 2 cm langer Riss in der Wand der grossen Körperschlagader dicht über den Klappen. Die inneren Häüte sind in einiger Aus¬ dehnung von den äusseren abgehoben. An der Rissstelle ist die Wand deutlich verdünnt, aber von gewöhnlichem Aussehen an der Oberfläche. Etwas oberhalb befindet sich ein ver¬ härteter Fleck. Mikroskopisch findet man in der Mittelhaut an der zerrissenen Stelle kleine, schwer färbbare Parthien. (Heinriciuß.) 23 ) Ein junger Student, der vor 15 Jahren schweren Typhus gehabt hat, aber sich seither durchaus gesund und kräftig ge¬ fühlt hat, erkrankt eines Nachts ohne erkennbare Ursache mit Leibschmerzen und stirbt am nächsten Tage. Es finden sich zwei Risse in der Aorta, durch die das Blut in den hinteren Mittelfellraum und von da unter den serösen Häuten am Zwerchfell entlang bis hinter die Bauchhöhle, ja durch den Schenkelring gedrungen war. Noch mehrere kleine Sprünge durchsetzen die Aortenwand theilweise. Diese ist papierdünn, in der Mittelschicht fehlen die elastischen Netze fast völlig, die Muskelfasern bis auf geringe Reste (Brouardel). 41 ) In Verbindung mit der abnormen Dünnwandigkeit, aber auch ohne diese, kann eine angeborene Enge der Körper¬ schlagader die Ursache zu deren Beratung abgeben. Entweder bezieht diese Enge sich auf das Gefäss in grosser Ausdehnung, oder sie ist nur ringförmig und entspricht dann mit Vorliebe der Einmündungsstelle des Botanischen Ganges. Wie gefähr¬ lich diese Zustände sind, kann man leicht ermessen, wenn man bedenkt, dass das Herz, um das Hinderniss zu überwinden, an Muskelstärke zunimmt und nun mit noch vermehrter Kraft die Blutsäule in das schon vorher nicht genügend weite Rohr drängt. So muss sich, wenn die Abweichung stark entwickelt ist, entweder eine Aussackung bilden (z. B. bei dem Lesser- edien Fall, s. o.), oder das Gefäss muss reissen. Der letztere Zufall ist von Rokitansky, 8 ) Geigel, 26 ) Bruberger, 27 ) Bar¬ ke r 28 ) und Förster 29 ) beschrieben worden. Den Anstoss zur Beratung mag ein Unfall auch hier geben können (Quincke); zwar ist dies meines Wissens noch nicht in einem Einzelfalle be¬ schrieben worden, doch beweist das bei der spärlichen Lite¬ ratur des seltenen Leidens wenig. Sehr selten sind die Zerreissungen der Aortenwand in Folge Einwucherns krebsigen oder tuberkulösen Gewebes (Kamen) 30 ) aus der Nachbarschaft oder in Folge Durchbruchs eines typischen Speiseröhrengeschwüra (Betz). Sie bedürfen keiner Erläuterung. In etlichen Fällen von Zerreissung der Aorta ohne ge¬ nügende äussere Ursache fand ich nur das Fehlen irgendwie nennenswerther wahrnehmbarer Entartung der Wand angegeben, aber keine Mittheiiung, ob die Weite des Gefässes und die Wand- Digitized by Google 280 Aerztliche Sachverständigen- Zeitung. No. 14. dicke beachtet bezw. die Mittelhaut mikroskopisch untersucht worden ist. 31 ) Hierzu gehört u. A. die seltsame Beobachtung von Walsh, der zufolge ein bei einer Rauferei zu Boden ge¬ worfener Mann nicht blos eine Zerreissung der Hinterwand der aufsteigenden Aorta, sondern noch eine zweite am Aorten¬ bogen erlitt. Ich bin daher nicht in der Lage, prüfen zu können, ob man, wie Perrin de la Touche 19 ) behauptet, immer wenn nicht mit blossem, so mit bewaffnetem Auge Verände¬ rungen findet. Wenn nunmehr noch erwähnt wird, dass eine dauernde Steigerung des Innendrucks in der grossen Schlagader, durch Herzvergrösserung oder chronische Nieren¬ leiden 33 ) bedingt, einen ungünstigen Einfluss ausüben kann — so sind wohl alle wesentlichen inneren Krankheitszustände, die die Zerreissung des Gefässes verursachen oder begünstigen können, berücksichtigt. Die Folgerungen, die sich aus Vorstehendem für den Un¬ fallgutachter ergeben, lassen sich in wenigen Sätzen zusammen¬ fassen: Eine wirklich vollkommen gesunde grosse Körper¬ schlagader zerreisst nur durch mächtige Quet¬ schungen des Brustkorbs oder Erschütterungen des Körpers. Ob aber eine zerrissene Aorta vorher ganz gesund war, lässt sich manchmal nur durch mühe¬ volle mikroskopische Untersuchungen, und mit voller Sicherheit in einzelnen Fällen auch durch diese nicht erweisen. Ein anscheinend wenig oder gar nicht ver¬ ändertes Gefäss kann daher, zumal bei alten Leuten, durch einen geringen oder sogar ohne voraus¬ gegangenen Unfall bersten. Andrerseits kann, welche krankhafte Veränderung der Aorta auch bei der Leichenöffnung gefunden wird, immer ein Unfall im Sinne des Gesetzes die schliessliche Zerreissung veranlasst haben. [Nur bei kleinsten runden Durchboh¬ rungen wird man dies ausschliessen können.] Nie wird also der Gutachter auf das blosse Bestehen oder Nicht¬ bestehen einer sichtbaren Erkrankung an der Aorten¬ wand hin den Zusammenhang des Risses mit einem Betriebsunfall bejahen oder verneinen dürfen. Nie wird er eine scheinbar geringfügige äussere Gewalt¬ wirkung ohne Weiteres als Ursache der Aorten- zerreissung ausschliessen dürfen. Da, wie im vorigen Abschnitt gezeigt worden ist, die ärzt¬ liche Erfahrung uns nöthigt, zwei Anhaltspunkte für die Be¬ gutachtung der Aortenrisse, die man von vornherein geneigt ist, sehr hoch zu bewerthen, nämlich den Befund am zer¬ rissenen Gefäss und den Grad der Gewaltwirkung, erheblich geringer zu schätzen, so müssen wir uns nach andern An¬ haltspunkten umsehen. Wir müssen in jedem Falle fragen: Ist ein Unfall nachgewiesen, der seiner Art nach die Aortenwand zur Zerreissung bringen konnte? und war das Verhalten des Verletzten vor und nach dem Unfall so, dass man nicht annehmen kann, die Zerreissung sei schon früher oder erst spätererfolgt? Welcher Art Unfälle sein können, die die grosse Körper¬ schlagader schädigen, habe ich bereits oben ausführlich aus¬ einander gesetzt. Es sind, kurz wiederholt: Stoss oder Schlag gegen Brust oder Rücken, Quetschung des Rumpfes von vorn oder hinten her, rasche Beugung des Rumpfes nach irgend einer Seite, Sturz (nicht biosauf den Rumpf, sondern auch auf Füsse, Hände, oder sogar auf den Kopf) und starke Gemüthsbewe- gungen. Alle diese Ereignisse können Betriebsunfälle im Sinne des Gesetzes sein. Sollte jemand dies hin¬ sichtlich der Gemüthsbewegungen bezweifeln, so sei auf eine erst kürzlich erfolgte Entscheidung des Reichsversicherungs¬ amts — Tod eines bei einem Grubenbrande flüchtenden herz¬ kranken Arbeiters durch Herzlähmung in Folge seelischer Er¬ regung als Betriebsunfall anerkannt — hingewiesen (s. S. 293). Natürlich wird man aber sehr sorgfältig prüfen müssen, ob der Verstorbene wirklich einen Unfall erlitten hat, ob er nicht z. B. hingefallen ist, weil ihm die Körperschlagader geborsten war, oder aus einem dritten Grunde. [So stürzte z. B. der von Puppe angeführte Mann hin, weil er einen Hirnschlag erlitt, und der Sturz bewirkte eine Zerreissung der Körperschlag¬ ader — wie mahnt ein solches Vorkommniss zu genauer Be¬ rücksichtigung aller, auch fernliegender Möglichkeiten!] Wenn der Hergang des Unfalls ganz ungenau oder garnicht bekannt ist, wenn beispielsweise ein Mann neben einem Gerüst todt mit zerrissener Aorta gefunden wird, giebt manchmal die Leichenöffnung wichtige Aufschlüsse. Ganz verfehlt ist es, aus dem Fehlen äusserer Beschädigungen zu schliessen, es habe keine äussere Gewalt eingewirkt. Es muss immer wieder¬ holt werden, dass die äussere Haut verhältnissmässig wider¬ standsfähig ist. Sie kann unversehrt sein, während gleich¬ zeitig Risse in Leber, Lungen, Milz, Blutungen in den Mus¬ keln, im Mittelfellraum oder Knochenbrüche eine Verletzung deutlich beweisen. (Emmert u. A.) Manchmal ist das Lage- verhältniss zwischen der anderweitigen Verletzung und dem Aortenriss für den ursächlichen Zusammenhang nahezu be¬ weisend, z B. Halswirbelbruch mit Riss am Bogen 37 ), Lenden¬ wirbelbruch mit Riss am untersten Abschnitt des Gefässes 21 ). Aber sobald es sich um stellenweise entartete Gefässe handelt, können diese Beziehungen sich verwischen. Ein Stoss vor die Brust kann statt der aufsteigenden die absteigende Aorta zum Platzen bringen, weil dort zufällig die am wenigsten widerstandsfähige Stelle, ein syphilitischer Herd, sich befindet 38 ). Genaueres Eingehen erfordert die Frage nach dem Verhal¬ ten des zu Begutachtenden vor und nach dem Unfall. Auf vage Feststellungen, wie die, dass der Betreffende schon früher an Schwindel, Brustschmerz und Beklemmung gelitten hat, oder aber dass er immer gesund gewesen sei, ist wenig zu geben. Wir haben ja gesehen, dass der längst Aorten¬ kranke doch durch einen Unfall sterben und dass der schein¬ bar Gesunde von selbst eine Berstung der Ader erleiden kann. Nur das Eine ist wichtig, festzustellen, ob die, eine Zerreissung kennzeichnenden Erscheinungen sich zeitlich so verhielten, dass sie mit einer Wirkung des Unfalls ungezwungen in Ein¬ klang gebracht werden können. Hier bin ich genöthigt, einen gedrängten Ueberblick über die möglichen anatomischen und klinischen Folgen einer Aortenzerreissung zu geben. Allgemein bekannt ist es, dass die zähe, dehnbare Aussen- haut der Schlagadern oft noch unversehrt bleibt, wenn die Innen und Mittelhaut — richtiger wohl die Innenhaut und die innere Schicht der Mittelhaut — einreissen. Wenn der Ver¬ letzte sehr viel Glück hat, vernarbt die eingerissene Stelle ein¬ fach wieder. 34 ) Häufiger kommt es anders: Das Blut wühlt sich zwischen jenen beiden Blättern einen Weg, nicht selten bis herab zur Theilungsstelle der Aorta in ihre Endäste und selbst noch an diesen entlang. 39 ) So lange dieser äussere Blut¬ mantel, dies „Aneurysma dissecans“, nicht nach irgend einer Richtung durchbrochen ist, so lange lebt der Mensch ge¬ wöhnlich. Das kann sich Tage, Wochen, Monate, über ein Jahr hinziehen. In ausserordentlich seltenen Fällen (D r as ch e 35 ), Bostroem) 36 ) erfolgt eine Art Heilung, indem an irgend einer andern Stelle (Bauchaorta) das Blut wieder in das Gefässrohr durchbricht. Der neu geschaffene Kanal überzieht sich sogar, Digitized by Google 15 Juli 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 281 wenn er Zeit dazu hat, mit einer richtigen Gefäss-Innenhaut. So konnte ein derart Verletzter noch 30 Jahre leben! Wie es scheint, vermag ferner, wenn auch die äussere Gefässhaut mit eingerissen ist, gelegentlich die seröse Bedeckung des Gefässes, falls der Riss innerhalb des Herzbeutels liegt, das Blut noch eine Weile zurückzuhalten, es unterminirt dann diese äusserste Hülle und von da aus auch die der benach¬ barten grossen Gefässe (Perrin de la Touche). Liegt der Riss im Brusttheil, so kann auf gleiche Weise erst die binde¬ gewebige Scheide, die das Gefäss und die Speiseröhre um- giebt, mit Blut durchtränkt werden (Emmert). Aber auch völlige Durchtrennung der Aortenwand an einer Stelle bedingt nicht immer sofortigen Tod. Es kommen da wunderbare Dinge vor. Leute, denen die Aorta ganz und gar durchschossen oder durchstochen war, haben noch Wochen und Monate gelebt, eine Stichwunde soll sogar mal geheilt sein. 42 ) Vielleicht bildet sich, wenn der Mensch ziemlich viel Blut verloren hat oder wenn das Herz unter dem Druck des in den Herzbeutel ergossenen Blutes nur noch schwach arbeitet, ein Gerinnsel über der Wunde, das dem trägen Blutstrom den falschen Weg zu verlegen vermag. Sehr bedeutend ist die Verlängerung des Lebens, die auf diese Weise erfolgt, frei¬ lich meist nicht, besonders nicht, wenn der Riss — und das ist das häufigste — im aufsteigenden Theil des Gefässes er¬ folgt und in den Herzbeutel führt. [Auf die seltenen Durch¬ brüche von Aortenaneurysmen in die Luftröhre, Speiseröhre oder Lungenschlagader und auf die von Geschwüren (Krebs, Tuberkulose) aus anderen Hohlorganen in die Körperschlag¬ ader brauche ich nicht einzugehen]. In dem Augenblicke, wo eine Aorta zerreisst, haben die Betroffenen oft das Gefühl, als ob ihnen inwendig etwas platzte, oder auch einen heftigen inneren Schmerz. Eine allgemein gütige Regel ist dies aber nicht, ja auch nach¬ her braucht der Schmerz nicht bald einzutreten, wie ein Fall von Spitz zeigt: Ein Kutscher fiel, nachdem er mit grosser Kraftanstrengung an einem Wagenbrett gehebelt hatte, in dem Augenblick hin, als das Brett herausfuhr. Er stand wieder auf, war weiter thätig und musste sich erst nach drei Tagen, von Schmerzen geplagt, zu Bett legen (Aneurysma dissecans der Brustaorta, wahrscheinlich an der Stelle eines luetischen Er¬ krankungsherds, brach später in die Speiseröhre durch!) 38 ) Immerhin setzen in den allermeisten Fällen bald nach der Zerreissung Schmerzen ein, die an sehr verschiedenen Stellen empfunden werden können. Der Häufigkeit des Durchbruchs in den Herzbeutel entspricht ein meist in der Herz¬ gegend oder Magengrube gefühlter, dann und wann nach hinten, nach der Schulter, selbst nach dem Kopfe 28 ) ausstrahlender Schmerz von grosser Heftigkeit. Da die Herzbewegung mehr und mehr erschwert wird, ist gleichzeitig zunehmende Be¬ klemmung und Athemnoth vorhanden. Durchbruch in den Rippenfellraum bewirkt dieselben Beschwerden wie eine Rippen¬ fellentzündung neben den Zeichen rasch wachsender innerer Blutung. Für die Blutergüsse, die sich frei oder als dissecirende Aneurysmen längs der Wirbelsäule ausbreiten, und einen Druck auf die Eingeweide, Gefässe und Nerven ausüben, scheinen besonders bezeichnend kolikartige Schmerzen zu sein, die mit Erbrechen einhergehen und einer Gallensteinkolik täuschend ähnlich sein können (Geigel, Brouardel, Brussatis). Manchmal werden freilich nur „leichte ^Magenbeschwerden“ empfunden (Kamen). Verhältnissmässig wenig sieht man, besonders solange noch keine freie Blutung erfolgt, oft die Leistungsfähigkeit vermindert. Der Frey er ’ sehe Kranke 18 ) blieb ausser Bett ebenso der Spitz'sehe, 38 ) der Schnabel’sche 1 ) arbeitete am Tage des Unfalls und den folgenden ruhig weiter und brach erst zu¬ sammen, als er eine schwere Last eine Treppe hinauftrug. [Ein Zusammenwirken zweier Unfälle, das zu interessanten Rechtsstreitigkeiten Anlass geben könnte!], der Brussatis- sche 20 ) hat aller Wahrscheinlichkeit nach auch ein Weilchen weiter gearbeitet und konnte dann noch nach Hause gehen. Selbstverständlich treten physikalisch am Lebenden nach¬ weisbare Veränderungen — Vergrösserung der Herzdämpfung, Dämpfung über den unteren Theilen einer Seite des Brustkorbs — bei Bluterguss in den Herzbeutel oder Rippenfellraum ein. Der Tod tritt zwar bei manchen Zerreissungen blitzartig rach ein: die Menschen stürzen zusammen, stossen vielleicht einen Schrei aus und stehen nicht wieder auf — aber man hüte sich, wenn ein Mensch in dieser Weise gestorben ist und die Aorta zerrissen gefunden wird, zu behaupten, der Riss sei erst in dem Augenblick entstanden, als der Mensch zusammenstürzte und schrie. Der Riss kann schon vorher, etwa durch einen Unfall, entstanden und Anfangs sehr klein gewesen sein oder nicht alle Schichten durchsetzt haben, das plötzliche Ende brauchte nur dem völligen Durchreissen oder einer raschen Vergrösserung der ersten Gefässwunde zu ent¬ sprechen. Aus Alledem lässt sich ja allerdings kein durchaus regel¬ mässiges und jedesmal unmittelbar an die Verletzung an¬ schliessendes Krankheitsbild zusammenstellen. Aber wenn man die ziemlich eigenartigen, meist doch rasch nach der Verletzung auftretenden Schmerzen mit ihren Begleiterschei¬ nungen vom Kreislaufs-, Athmungs- und Verdauungsapparat aus, wenn man die Ergebnisse einer etwaigen physikalischen Untersuchung berücksichtigt und mit dem Sektionsbefunde vergleicht — dann wird man doch in der Regel ermitteln können, wann ungefähr die Zerreissung erfolgt sein muss. Damit ist schon viel, oft Alles gewonnen. Natürlich giebt es auch Fälle, in denen ein sicherer End¬ spruch nicht möglich ist. Mir ist aus der Unfallpraxis bisher keiner, dagegen einer aus der Gerichtspraxis bekannt 40 ): Ein Mann unterhielt verbrecherischen Verkehr mit der Ehefrau eines Andern. Er wird von diesem Nachts in dessen Wohnung überrascht. Am nächsten Morgen findet man ihn dort tot. Die Leichenöffnung ergiebt einen Riss in der stark verfetteten, erweiterten und verdünnten Aorta, keine Spuren äusserer Ge¬ walt. War der Schreck, war eine Misshandlung, war ein Zufall schuld? Non liquet! Als Beispiel für die Beurtheilung der Aortenzerreissungen in der Unfallpraxis sei der Fall, der mich zur Ausführung der vorliegenden Arbeit veranlasste, kurz dargestellt: Es handelte sich um einen 45 jährigen Arbeiter S., dessen früherer Gesundheitszustand aus den Akten nicht zu ermitteln war, von dem jedoch nachgewiesen ist, dass er im letzten Jahre ohne Unterbrechung in demselben Betriebe gearbeitet hatte. Dieser Mann half eines Nachmittags einem anderen Arbeiter Mauersteine auf einen Wagen laden. Er stand so, dass der Andre ihn nicht sehen konnte. Mit einem Male äusserte S., es seien ihm Steine auf den Kopf gefallen. Genauer hat er sich nicht ausgesprochen. Er war an Kopf und Brust beschmutzt, und Steine lagen neben ihm am Boden. S. wollte noch weiter arbeiten, hat auch vielleicht noch ein paar Steine aufgehoben, liess sie aber bald fallen und ging still weg. Wenige Minuten später klagte er über Un¬ wohlsein, Schwindel und Brennen in der Brust Er sah elend aus. Ein anderer Arbeiter führte ihn heim — wie weit, ist nicht angegeben. Unterwegs wurden die Schmerzen in der Brust immer heftiger, die Schwäche immer grösser, S. konnte kaum sprechen und glaubte nicht lebend nach Hause zu kommen. Ganz erschöpft kam er zu Hause an. Ein Arzt Digitized by Google 282 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 14. wurde erst am nächsten Morgen geholt. Als die Frau von diesem Gange zurückkam, war der Mann schon tot. Vier Tage später wurde die Leichenöffnung vorgenommen. Als Todesursache fand sich ein 2 1 / 2 cm langer Längsriss in der grossen Körperschlagader dicht über der vorderen halbmond¬ förmigen Klappe. Die Ränder des Risses waren fetzig und mit Blut durchtränkt Von ihm aus hatte sich eine starke Blut¬ unterlaufung unter dem Herzbeutelblatte, das die grossen Gefässe innerhalb des Herzbeutels überzieht, gebildet. Der Riss führte in den Herzbeutel, der fast einen halben Liter theils flüssiges, theils geronnenes Blut enthielt. Im Uebrigen sah die grosse Schlagader in ihrer Wandung unverändert aus. Daneben waren noch einige andere Befunde wichtig. An der äusseren Haut fanden sich nur ein paar Schrunden am Kinn und eine iu der Mitte des Scheitels. Dagegen enthielt das vordere Mittelfellgewebe einen thalergrossen flachen Blut¬ erguss mitten über dem Herzbeutel. Die Hirnschlagadern waren starr und klafften. In diesem Falle lag es nahe, einfach zu sagen: Die sonst gesunde Aorta kann unmöglich von selbst gerissen sein, folg¬ lich muss der Unfall daran Schuld gewesen sein. Aber da konnte eingeworfen werden — und das ist thatsächlich ein¬ geworfen worden: vielleicht waren bei der Sektion Wand¬ veränderungen, die ein selbstständiges Zerreissen verursachen konnten, übersehen worden. Dass das in gewissem Sinne selbst bei geübten Untersuchern Vorkommen kann, haben wir oben gesehen. Auch war der Unfall doch ohne Augenzeugen ge¬ schehen. Der plötzliche Ruf des S., es fielen Steine auf ihn, und sein Aussehen nachher waren immerhin nicht voll be¬ weiskräftig für einen Unfall, von einer Verletzung der Brust hatte S. gar nicht gesprochen, und bei gesunder Aorten wand musste es immer noch sehr auffallend klingen, dass ein aus geringer Höhe fallender Stein eine Zerreißung der Körper¬ schlagader bedingt haben sollte, zumal der Mann ja nachher noch mancherlei zu leisten im Stande war. Die richtige Deutung des Falles wurde ermöglicht: 1. Durch die vereinzelte Blutunterlaufung im vorderen Mittelfellraum. Diese konnte kaum anders als durch eine von aussen auftreffende stumpfe Gewalt erklärt werden. Das Fehlen von Hautverletzungen bewies nichts dagegen. Gleich¬ zeitig war es von vornherein wahrscheinlich, dass Schreck über die herabfallenden Steine und Abwehr- oder Ausweichungs- BewegungendesRumpfes erhöhten Innendruck und Zerrung der Aorta bewirkt haben konnten. 2. Durch das Verhalten des S. vor und nach dem Unfall. Vorher war er rüstig mit einer freiwillig übernommenen harten Arbeit beschäftigt. Nachher konnte er nicht mehr weiter arbeiten, es wurde ihm schwindlig, er bekam Schmerzen auf der Brust und Beklemmung. Sein Leiden nahm zu, so lange er unterwegs war. Zu Hause mag es ihm vorüber¬ gehend etwas besser gegangen sein. Schliesslich starb er circa 13 Stunden nach dem Unfall. Das alles entspricht gut einer vielleicht zuerst noch durch die Schlagaderwand eine Zeit lang aufgehaltenen, dann allmählich in den Herzbeutel einsickernden Aortenblutung. Dass diese nicht alsbald in den Herzbeutel erfolgen konnte und sich zunächst unter der serösen Auskleidung der grossen Gefässe Bahn zu schaffen versucht hatte, deutete auch der Befund an der Leiche an. Hiernach musste die Aortenzerreissung bei S. als Unfall¬ folge anerkannt werden. R. Stern schliesst in seinem trefflichen Buche über die traumatische Entstehung innerer Krankheiten das Kapitel „Aneurysma der Aorta thoracica* mit den Worten: „Wir dürfen hoffen, dass grade Beobachtungen an Unfallverletzten unsere Kenntniss über diesen Punkt — den ursächlichen Zu¬ sammenhang zwischen Trauma und Krankheit — fördern werden*. Das Gebiet der Zerreissung der grossen Schlagader ist dem hier von Stern berührten dicht benachbart; und wenn es auch in manchen Punkten leichter zu überschauen ist als jenes, so bieten die äusseren und inneren Bedingungen der Aortenruptur und ihrer so verschiedenen Folgen doch ebenfalls noch manche ungelöste Frage. Es wird eine dankbare Auf¬ gabe für die Unfallgutachter sein, durch einschlägige Beob¬ achtungen auch hier unser Wissen und die Sicherheit unseres Urtheils zu fördern. Literatur. 1. R. Stern. Ueber traumatische Entstehung innerer Krank¬ heiten. H. 1. Jena 1896. 2. Schuster. Ueber Verletzungen der Brust durch stumpfwir- kende Gewalt, vom gerichtsärztlichen Standpunkte. Ztschr. f. Heilk. Bd. 1. 3. E mm er t. Ueber Verletzungen der Aorta innerhalb der Brust¬ höhle. Friedreichs Bl. f. ger. Med. 1880. 4. Pantzer. Quetschung des Oberkörpers bei einem Unfall. Tod nach 7 Jahren in Folge Platzens eines Aneurysmas der abstei¬ genden Bauchschlagader. Fraglicher Zusammenhang des Todes mit dem Unfall. Vierteljschr. f. ger. Med. 1898. H. 2. 5. (iordon. Death from haemorrhage in the pericardium. Lancot 6./I. 1894. Ref. in Virehow-Hirschs Jahrb. 6. Lesser. Die wichtigsten Sektionsergebnisse in 171 Fällen plötzlichen Todes. Vierteljschr. f. ger. Med. 7. Quincke. Krankheiten der Gefässe, in Ziemssen’s Handb. d. spec. Path. u. Ther. Leipzig 1876. 8. Rokitansky. Spontane Zerreissung der Aorta. Oesterr. med. Jahrb. Bd. 26. Ref. i. Schmidts Jahrb. 9. Festal. Rupture intrapdricardiale de l’aorte. Bull, de soc. d’anat. de Bordeaux 1892. Ref. in Schmidts Jahrb. 10. Posner: Ein Fall von intrapericardialer Zerreissung der Aorta. Deutsche med. W. 1889 No. 25. 11. C. v. Noorden. Artikel Aorta in Eulenburgs Realen- cyklopaedie. 12. L ebert. Krankh. d. Blut- und Lymphgofässe. Virch. Handb. d. spec. Path. u. Ther. Erlangen 1855. 13. Freyer. Demonstration einer Aortenruptur. Wiss. Verein d. Aerzte z. Stettin. 9. Jan. 1900. Berl. klin. W. 1900, No. 15. 14. Posner: Diskussion in der Sitzung des Berliner Vereins für innere Medizin vom 18./V. D. med. W. 1885. 15. C hiari: Fali von traumatischer Aortenruptur. Prager med. W. 1886 31./1II. 16. C allen der. Ruptur der Aorta Transakt. of the path. Soc. of Lond. 1857. Ref. in Schmidts Jahrb. 17. Uterhart. Aneurysma Aortae traumaticum. Tracheoto¬ mie, Tod. Berl. klin. W. 1867. 18. Puppe. Untersuchungen über das Aneurysma der Brost- Aorta. D. med. Woch. 1894 45/46. 19. Perrin de la Touche. De la mort subite par rupture spontan6e de l’aorte. Annales d’bygiöne publ. etc. 1899 II. 20. Brussatis. Ein Fall von Zerreissung der Aorta. Acrztl. Sachv.-Ztg. 1899. No. 12. 21. Förster. Ruptur der Aorta. Transakt. of the path. Soc. of Lond. 1857. Ref. in Schm. J. 22. Velluti. Sulla rotura della aorta intrapericardiaca. Riv. clin. 1891/5. Ref. in Schmidts Jahrb. 23. Heinricius. Plötzlicher Tod während der Entbindung. (Zer¬ reissung der Aorta.) Finsk. Läk. 1882. Ref. i. Schmidts Jahrb. 24. Dicenta. Ruptur an der inneren Seite des arcus aortae. Arch. f. phys. Heilk. 1855. Ref. u. Schm. Jahrb. 25. Ko ekel. Demonstration dreier Fälle von Spontanruptur der Aorta. Verh. d. Mediz. Ges. in Leipzig 1897. Sitzg. v. 6. VII. 26. Geigel. Ruptur der Aorta. WUrzb.med.Ztchr.il. 2. 1861. 27. Bruberger. Ein Fall von Zerreissung der Aorta ohne Ver¬ änderungen in der Gefässwand. Berl. kl. W. 1870. 28. Thomas Alfred Barker. Stenose der Aorta und Ruptur der Aorta ascendens. Med. Chir. Transakt. LXI1I. ref. n. Schm. J. Digitized by Google 15. Juli 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 283 29. Förster. Stenose der Aorla an der Einmtindungsstelle des Ductus Botalli. Ruptur der Aorta ascendens. Verh. d. med. phys. Ges. z. Wiirzburg X i. Ref. i. Schmidts Jahrb. 30. Kamen. Aortonruptur auf tuberkulöser Basis. Beitr. z. path. Anat. 1895. Ref. in Schmidts Jahrb. 31. Chauvel: Notes sur les ruptures Aorte Gaz. med. de Paris 1865. Ref. in Cannst. Jahrb. 32. Walsh: Aneurysma der Aorta thoracica. Assoc. Journ. 1856 may. Ref. n. Schmids Jahrb. 33. Coode Adams. Cases of spontanoous Rupture of aorta and heart. Lancet Okt. 1887. 34. E. Frankel. Ueber einen Fall von geheilter Spontauruptur der Aorta. Festschr. z. Eröffn, d. Eppend. Krankenh. 1889. Ref. i. Virchow Hirschs Jahrb. 35. Dräsche. Bericht d. Krankenanstalt Rudolphstiftung in Wien 1868. Ref. in Schm. Jahrb. 36. E. Boström: Das geheilte Aneurysma dissecans. Arch. f. kl in. Med. 1888 I. 37. White Haie. Laceration of Aorta. Transcr. of the path. Soc. 1885. Ref. in Schm. Jahrb. 38. Spitz. Traumatisches Aneurysma der Aorta descendens. Bresl. Aerztl. Ztschr. 1882. 39. Barbo. Ein Fall von Situs viscerum inversus completus, verbunden mit Aneurysma Aortae dissecans. Berl. kl. W. 1900 No. 26. 40. Schulte: Drei Fälle von Verletzung des Herzens resp. des Bulbus Aortae. Ztschr. f. ger. Med. 1886 Bd. 44. 41. Brouardel et Vibert. Rupture de l’aorte thoracique. Ann. d’hyg. publ. 1892 I. 42. J. Riedin ger-Würzburg. Die Verletzungen des Thorax und seines Inhalts. Handbuch der praktischen Chirurgie. Stuttgart 1899. Referate. Allgemeines. Ueber die in den Jahren 1884—1898 in der Göttinger medizinischen Universitätsklinik beobachteten Unfall- kranken. Von Felix Dreyer-Göttingen. (J. D. 1899.) Von 200 begutachteten Unfallverletzten aus der Eb- stein’schen Klinik waren 88 durch Sturz aus der Höhe oder Fall bezw. Ausgleiten zu ebener Erde zu Schaden gekommen, 34 von herabstürzenden Gegenständen getroffen; 7 hatten Quetschungen erlitten, 32 waren durch andere mechanische Gewalt geschädigt. UeberanBtrengt hatten sich 13, verhoben 5. Verletzungen an der Hand (?) hatten 7 erlitteu, 5 waren über¬ fahren, 2 verbrannt, zwei durch giftige Gase, einer durch übergrosse Luftwärme geschädigt, einer durchnässt, einer misshandelt worden. Nervöse Störungen waren 73 mal vorhanden, davon 24 mal funktionelle, unter denen seltsamer Weise „trauma¬ tische Neurose“, „Railway spine“, „Neurasthenie“, „Erschöpf- ungsneurose“ und „funktionell nervöse Störungen“ von ein¬ ander gesondert werden. Die Sinnesorgane waren 3 mal, die Athmungsorgane 34 mal (u. A. 12 Tuberkulosen, 1 Asthma bronchiale), der Verdauungsapparat 5 mal geschädigt. Trau¬ matischer Diabetes ist 4 mal, traumatische Leukämie 2 mal, Milzschwellung ohne Blutveränderung 1 mal verzeichnet. Der Harn- und Geschlechtsapparat wurde 3 mal (Eiterung in den Harnwegen, Cystitis membranacea, Nierenentzündung), die Ge¬ lenke wurden 2 mal, die Kreislaufsorgane 13 mal erkrankt gefunden. Rückbleibsel von Knochen- und Weichtheilver- letzungen kamen 7 mal, Vergiftungen 2 mal, chronisches Siechthum 1 mal zur Begutachtung. 45 mal konnte keine Unfallfolge anerkannt werden, 15 Begutachtete mussten als Simulanten oder Uebertreiber erklärt werden. Genauer besprochen sind die 13 Fälle mit Störungen der Kreislaufsorgane. Meist waren schwere Unfälle: Sturz aus grosser Höhe, Quetschung durch herabfallende Lasten, Ver¬ schüttung u. dgl. vorausgegangen, in einer Reihe von Fällen waren Rippenbrüche vorhanden. Die Krankheit bestand am häufigsten in Entartungen des Herzmuskels bezw. Herzschwäche, zum Theil aber auch in Herzklappenfehlern oder nervösen Stö¬ rungen der Herzthätigkeit. In einem grossen Theil konnte nur Verschlimmerung eines vorherigen Leidens anerkannt werden. Der Hauptwerth der Arbeit liegt darin, dass das unge¬ fähre Häufigkeitsverhältniss der Unfallkrankheiten an einer ziemlich umfangreichen Statistik nachgewiesen wird. Dagegen tritt das, was für den Gutachter am meisten lehrreich ißt: Der Beweis des Zusammenhangs zwischen Unfall und Krank¬ heit im einzelnen Falle leider recht zurück. Bei den kurz mitgetheilten Fällen sind meist nicht einmal die objektiven Befunde angedeutet, aber selbst bei den ganz ausführlich be¬ handelten ist das Endgutachten mehr oder weniger dogma¬ tisch gehalten. Wie es kommt, dass die betreffende Ver¬ letzung ein Herzleiden hervorbringen, ein bestehendes ver¬ schlechtern konnte, ist nur selten erläutert Zum Schluss stellt der Verfasser die Forderung auf, dass nach jeder Unfallverletzung der erst herbeigerufene Arzt einen genauen Befund und eine kurze Vorgeschichte aufnehmen soll. Dadurch werde die spätere Begutachtung leichter und Irrthümern weniger ausgesetzt als jetzt, viel Unglück würde vermieden, die Kosten sehr vermindert, die Rechtsstreitig¬ keiten verringert. Wir denken über den Vorschlag nicht gauz so sanguinisch. Grade bei schweren Verletzungen des Kopfes, der Brust, des Bauches, aber auch bei Knochenbrüchen und starken Weichtheilwunden der Gliedmassen, die gern zu schweren Folgezuständen führen, wird eine genaue Unter¬ suchung anfangs theils unthunlich sein, theils wegen der augenblicklichen Nachwirkung der Verletzung zu unverwerth- baren Ergebnissen führen. Flüchtige, oberflächliche Unter¬ suchungen können natürlich meist nur Schaden anrichten. Uebrigens möchten wir noch betonen, dass keinem Arzte ein so grosser Zeitaufwand, wie er zu derartigen Untersuchungen unbedingt erforderlich ist, ohne entsprechende Vergütung zu- gemuthet werden kann. Eine solche hat er von der zustän¬ digen Kasse gewiss nicht zu gewärtigen; eine Anregung im Sinne des Verf. müsste also von den Berufsgenossenschaften ausgehen. Sie müssten die Verpflichtung zur Tragung der Kosten übernehmen. Der Arztbericht müsste in Form eines begründeten Gutachtens abgefasst und demgemäss honorirt werden. Noch grössere Vortheile verspricht sich Verf. von einer regelmässigen, 2 bis 4 mal im Jahre anzustellenden ärztlichen Untersuchung aller Angestellten jedes Betriebes. Auch hier gilt der Einwand, dass nur sehr gründliche Untersuchungen und ausführliche Aufzeichnungen einen wirklichen Werth für die Mehrzahl etwaiger späterer Uufallfragen haben, ungründ¬ liche dagegen geeignet sind, für den Verletzten oder die Be¬ rufsgenossenschaft ungerechtfertigte Nachtheile entstehen zu lassen. Freilich, ein Diabetes, ein ausgeprägter Herzklappen¬ fehler — das sind leicht zu erkennende Krankheiten, aber beispielsweise eine beginnende Lungentuberkulose oder Leu¬ kämie und das ganze Heer der mittleren und leichten Neu¬ rosen — die erfordern doch recht eingehende Untersuchungen. Sollen vollends diese Untersuchungen dazu dienen, auch die Frage der Verschlimmerung früherer Leiden nach Unfällen beurtheilen zu lassen, so werden sie die Gründlichkeit einer wissenschaftlichen Arbeit haben müssen. Völlig durchführbar ist die Massregel natürlich so wie so nur bei einem Bruchtheil der Versicherten, bei denen, die wirklich in einem und demselben Betriebe längere Zeit thätig sind. Und auch hier kann den Aerzten eine Gratisleistung e 284 Aorztüche Sach verständigen-Zeitung. No. 14. keinesfalls zugemuthet werden, auch hier würden die Berufsgenossenschaften als Hauptinteressenten die Kosten tragen müssen — was eine hübsche Summe ergeben möchte. Kurz, die vom Verf. angeregten Vorschläge haben unver¬ kennbar .manches für sich, aber nur wenn sie mit grösster Vorsicht und nicht unerheblichem Kostenaufwand durchgeführt werden. Yerwandten-Heirath und Taubstummheit. Von Alfred H. Huth. (The lancet, 10. Pebr.) Bei dieser Zusammenstellung von einer Reibe statistischer Arbeiten „über Blutheirath und Taubstummheit“ beansprucht die Arbeit des Dr. Fay „Marriages of the Deaf in Amerika“ das grösste Interesse. Durch genauste Nachforschungen war er im Stande 3078 solcher Ehen zu ermitteln. Er kam zu folgenden Schlüssen: Die Unfruchtbarkeit ist durchschnittlich bei solchen Ehen nicht grösser als in der übrigen Bevölkerung. Wo beide Eltern an Taubheit leiden, scheiut die Möglichkeit der Ver¬ erbung auf die Kinder sich zu verdoppeln. Da die Ursache der Taubheit verschiedenartig sein kann, so ist eine Vererbung weniger wahrscheinlich, wenn die Ursache, welche die Taub¬ heit der Eltern veranlasst hat, nicht die gleiche gewesen ist. Diejenigen Eltern, bei welchen Taubheit angeboren ist, über¬ tragen den Defekt leichter auf die Kinder, als solche, bei welchen Taubheit erst nach der Geburt zur Entwickelung kam. Was die Heirath unter Blutsverwandten betrifft, so schliesst er, dass die Taubstummheit durch die Verwandtschaft nicht begünstigt, sondern auch dann nur von einer etwaigen Taub¬ stummheit in der aufsteigenden Linie beeinflusst wird. Nach Huth ist es eine Thatsache, dass häufig taube Eltern kein einziges Kind haben, welches taub ist, dass aber auch andererseits Fälle Vorkommen, wo die Taubheit ebenso vererbt worden ist, wie das auch sonst bei Erkrankungen des Nervensystems der Fall sein kann. Franz Meyer-Berlin. Chirurgie. lieber periostale Sehnenverpflanzungen bei Lähmungen. Von Priv.-Doz. Dr. Fritz Lange-München. (M. M. W. 1900, No. 15.) Die unter den Referaten dieser Zeitschrift mehrfach be¬ sprochene Sehnenüberpflanzung auf andere Sehnen und Muskeln hat sich dem Verf. zwar im Allgemeinen bewährt. Sie versagte aber in manchen Fällen, weil die Sehne des ge¬ lähmten Muskels bei schweren Formveränderungen des betr. Gliedes gegen den ihr entgegenwirkenden Muskelzug nicht widerstandsfähig genug war, weil sie sich nach und nach ver¬ längerte und die alte Fehlstellung wieder entstehen liess. Um dies zu vermeiden, näht er den kraftspendenden Muskel bezw. dessen Sehne unmittelbar an die Knochenhaut desjenigen Knochens an, auf den ein Zug ausgeübt werden soll. Z. B. sei der gemeinsame Zehenstrecker gelähmt. Die Hauptaufgabe dieses Muskels ist die Rückwärtsbeugung des Fusses. Der vordere Schienbeinmuskel sei unversehrt. Dieser muss die Kraft liefern. Von seiner Sehne wird ein Theil ab¬ gespalten und oben auf die Knochenhaut des Würfelbeins ge¬ näht. Zieht sich jetzt der Muskel zusammen, so erfolgt ohne Weiteres die Rückbeugung des Fusses. Diese Methode hat den Vortheil der Sicherheit mit dem der Freiheit in der Wahl des Ansatzpunktes gemeinsam. Sie erfordert freilich, um den richtigen Punkt wählen zu lassen, oft grosses Nachdenken. L. beschreibt eine Reihe von operirten Fällen. 1. Spitzfuss in Folge Lähmung des Zehenstreckers und vorderen Schienbeinmuskels. Nach gewaltsamer Verbesserung der Stellung (unter Durchtrennung der Achillessehne) musste ein Rückwärtsbeuger des Fusses, gleichzeitig aber, um Platt- fussstellung zu vermeiden, ein Heber des inneren Fussrands geschaffen werden. Der lange Wadenbeinmuskel, der unver¬ sehrt war, wurde am äusseren Fussrand durchschnitten, bis zur Mitte des Unterschenkels losgelöst, schräg über dessen Vorderseite hin zum innern Fussrand geführt und dort am Kahnbein befestigt. 2. Hackenfuss in Folge Lähmung des zweiköpfigen Waden¬ muskels. Gleichzeitige Umknickung des Fusses nach aussen wegen Schwäche des tibialis anticus. Wieder wurde der Pe¬ roneus longus verwandt, aber in der Weise, dass er hinten schräg über den Unterschenkel geführt und innen an der Hacke festgenäht wurde, wodurch der Umknickung nach aussen entgegengewirkt wird. 3—5. Spitzklumpfüsse. Der gemeinsame Zehenstrecker und beide Wadenbeinmuskeln waren gelähmt. Der erhaltene vordere Schienbeinmuskel wurde längs gespalten, der seitliche Antheil abgelöst, frei gemacht, unter der Rückenhaut des Fusses zum Würfelbein geschoben und dort angenäht (s. o.). Merkwürdig ist, dass in zweien dieser Fälle die Kinder ge¬ lernt haben, die abgespaltene Muskelpartie gesondert zu be¬ wegen. 6—8. Lähmungen des vierköpfigen Kniestreckers. Hier musste eine besondere Form des Verfahrens angewandt werden, denn die herangezogenen Sehnen des Biceps und Se- mitendinosus sind viel zu kurz. L. durchflocht die Sehnen¬ enden mit starken Seidenfäden und führte diese zwischen Kniescheibe und Haut zur Rauhigkeit des Schienbeinkopfs, wo er sie annähte. Der Erfolg war gut. Die gehoffte Um¬ wucherung der künstlichen Sehne mit Bindegewebe trat ein, wie aus der nachträglichen starken Verdickung des ehemals dünnen seidnen Stranges deutlich zu ersehen war. Der eine Operirte kann das Bein in fast gestreckter Stellung so lange schwebend halten, dass eine — dem Aufsatz beigefügte — Photographie davon gemacht werden konnte. Die Orthopaedie im Dienste der Nervenheilkunde. Von Prof. Albert Hoffa-Würzburg. (Mitt a. d. Gronig., 1900 Bd. V H. 4/5.) Die Nervenheilkunde ist nach Hoffa ein Grenzgebiet zwischen innerer Medizin und Chirurgie, insofern als Läh¬ mungen und Krampfzustände durch orthopädische Massnahmen verschiedener Art gebessert, ja geheilt werden können. Verf. berichtet sehr eingehend über seine Erfahrungen auf diesem Gebiete. Sie erstrecken sich auf Fälle von Veits¬ tanz, Hysterie (Stimmbandlähmung, Schiefhals, Rückgratsver¬ krümmung, Krampf des Biceps), Gelenkneuralgieen, Neu¬ rasthenie, Schreibkrampf, Ischias, Zitterlähmung, Hirnblutung, Gesichtslähmung, Krampf im Gebiete des elften Hirnnerven, Entzündung der Vorderhörner des Rückenmarks, Lähmungs- Schiefhals, Wirbelsäulenverkrümmung in Folge von Muskel- Lähmung, Missformungen an den Gliedmassen nach Läh¬ mungen, und auf verschiedene Rückenmarks- und Wirbel¬ krankheiten. Wir können an dieser Stelle nicht die mannigfachen Einzel¬ heiten wiedergeben, die bei der Behandlung in Betracht kommen, von der einfachen Elektrizität und Massage bis zu den komplizirtesten Stütz- und Lageverbesserungsapparaten und den orthopädischen blutigen Eingriffen. Ueber einen grossen Theil dieser in neuerer Zeit so vervoilkommneten 15. Juli 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 285 Massnahmen ist ja auch bereits aa dieser Stelle berichtet worden. Das Verdienst des hier vorliegenden Aufsatzes ist es weniger, wieder neue Methoden zu beschreiben, als den Nutzen der bisher bekannten auf einem zum grössten Theil früher hoffnungslosen Gebiete an einem imposanten Material und mit vortrefflichen Abbildungen auch dem Ungläubigsten zu beweisen. Bei der Behandlung der reinen Neurosen scheint H. den Antheil, den die seelische Wirkung der von ihm angewendeten Stützapparate u. s. w. am Erfolge hat, auffallend gering zu schätzen. Er sagt das zwar nicht ausdrücklich, aber die Art der Darstellung lässt stark vermuthen, dass er auch bei der Behandlung von hysterischen Krämpfen und dergl. die ortho¬ pädischen Massnahmen für ein hauptsächlich körperlich wirken¬ des Heilmittel hält. Znr traumatischen Entstehung von Epithelcysten. Von W. Mintz in Moskau. (Centr. f. Chir. 1900, No. 25.) An den Fingern und der Hohlhand können sich in Folge von Verletzungen Cysten an der beschädigten Stelle bilden, die mit konzentrisch geschichtetem Epithel ausgekleidet sind und eine bald mehlige bald breiige Masse, die auch vereitern kann, enthalten. M. veröffentlicht vier neue Fälle dieser Art. Die Geschwülste hatten die Grösse einer Kaffeebohne bis Haselnuss. Sie entwickelten sich meist sehr allmählich, so- dass sie erst 5 Monate bis 2 : U Jahre nach der Ursprungsver¬ letzung zur Operation kamen. Zweimal waren Metallstücke eingedrungen, einmal eine Nadel — in diesem Falle soll die Geschwulst schon 3 Wochen nach der Verletzung bemerkt worden sein —, einmal war ein Hundebiss vorausgegangen, dessen Narbe noch sichtbar ist. Die Stelle der Geschwulst war die Daumenkuppe, die Hohlhand, die Vorderfläche des Grundgliedes vom Ringfinger, die Rückenfläche des Köpfchens vom dritten Mittelhandknochen. Die Ausschälung unter Cocain gelang jedes Mal anstandslos. Ueber die nicht traumatische Knochenliautentz&ndung an den Unterschenkeln bei den Mannschaften des Heeres. Von Oberstabsarzt Herhold-Altona. (Deutsche militärÄratliche Zeitschrift, Juni 1900). Das Krankheitsbild, von welchem die vorliegende Arbeit handelt, gehört in gewissem Sinne in die Gruppe der Berufs¬ krankheiten. Besonders während der militärischen Ausbildungs¬ zeit beobachtet man bei Soldaten Knochenhautentzündungen an den Unterschenkeln, für welche als alleinige Ursache das Marschiren verantwortlich zu machen ist. Die als „Marsch- Periostitis“ zu bezeichnende Krankheit kommt an allen Stellen des Schienbeines vor. Die hauptsächlichsten Krankheitserschei¬ nungen bestehen in: Schmerzen beim Gehen und bei leichtem Druck auf das Schienbein, geringem Hautoedem, gleichmässiger oder höckeriger Auftreibung der vorderen Fläche oder der inneren Kante des Knochens, Schwellung der Weichtheile an der inneren Seite des Unterschenkels. Die Knochenauftrei¬ bungen bestehen nicht aus Osteophyten, sondern aus fibrösem Gewebe. Die Entzündung wird hervorgerufen durch die Zug¬ wirkung des M. soleus und M. fiexor digitorum communis; die weniger häufig vorkommende Knochenhautentzündung an dem Condylus internus des Schienbeines ist auf eine Zugwirkung der Oberschenkelmuskulatur zurückzuführen. Die Behandlung, die durchschnittlich vier Wochen in Anspruch nimmt, hat zu bestehen in vollkommener Bettruhe und Anwendung der Bier- schen venösen Blutstauung, bezw. der Anwendung ableitender und resorbirender Mittel. Eine besondere Veranlagung für die Erkrankung ist nicht nachweisbar. —y. Ueber Bauchmuskel-Zerreissungen. Von Ass.-A. R. Rosenbaum-Spandau. (D. Milit.-Ae. Zeitechr. 1900 H. 7.) Dreimal konnte Verfasser Bauchmuskel-Zerreissungen be¬ obachten. Immer waren die Betroffenen jüngere Soldaten, und die Ursache der Verletzung war in ungeschickten ruck¬ weise ausgeführten Bewegungen zu suchen, die die Leute beim Aufsitzen ohne Bügel machten. Der Trainsoldat L. sprang zu kurz vom Boden ab, wollte sich auf andere Weise am Pferde hocharbeiten; plötzlich empfand er einen heftigen Schmerz im Leibe. Dieser liess bald wieder nach. Dafür bildete sich eine harte scharf ab¬ gegrenzte Geschwulst von Apfelgrösse links ungefähr hand¬ breit unter dem Nabel. Bei Rumpfbewegungen, die durch die Bauchmuskeln bewirkt oder unterstützt werden, waren Schmerzen vorhanden. Es wurde nur Bettruhe und örtliche Kälte ver¬ ordnet. Nach 14 Tagen war L. völlig geheilt und that wieder Dienst. Eine derbe etwas eingezogene Quernarbe zeigte später die Stelle der früheren Verletzung. Es hatte offenbar Zerreissung des graden Bauchmuskels Vorgelegen. Ganz ähnlich bezüglich des Befundes war ein zweiter Fall, nur dass hier die Beschwerden längere Zeit kamen und gingen, ohne Krankmeldung zu veranlassen, bis sie endlich überhand nahmen. Der äussere schräge Bauchmuskel zerriss einem andern Soldaten bei derselben Uebung. Anfangs war nur eine gut handgrosse allgemeine Anschwellung rechts oberhalb der Nabel¬ linie nachweisbar. Die Beschwerden waren ziemlich gering, die Heilung ging rasch von statten. Später waren die deut¬ lichen Spuren der ehemaligen Zerreissung in Gestalt eines schmalen etwas eingezogenen harten Stranges im Muskel zu fühlen. Dass gerade dieser Muskel betroffen wurde, erklärt sich vielleicht daraus, dass der Mann beim Aufschwingen den Körper nach rechts geworfen hat. Dafür, dass Zerreissungen des geraden Bauchmuskels fast ausschliesslich im unteren Drittel ihren Sitz haben, macht Verfasser das Fehlen der hinteren Muskelscheide in diesem Theil verantwortlich. Sicherlich mögen ähnliche Vorkommnisse auch in der civilen Unfallpraxis nicht fehlen. Die Kenntniss der günstigen Heilungsaussichten ist wichtig! (Einen nach Abfassung dieses Referats zu unserer Kennt¬ niss gekommener hierher gehöriger Streitfall 8. S. 293.) Ein Fall von Schusswunde des Unterleibs mit Beschä¬ digung des Darms. Genesung ohne Operation. Von B. Reissmann. (The lancet, 10. Mttrs.) Ein Fall von schwerer Schussverletzung des Leibes, der ohne Operation zur Heilung kam, gehört sicher zu den Selten¬ heiten. Der 31 jährige Soldat wurde Ende Oktober 1899 beim Heranrücken gegen den Feind in der Gegend von Elands- laagte durch den Schuss eines Mausergewehrs verwundet. Er verspürte plötzlich in der Gegend des rechten Hypochondriums einen brennenden Schmerz, der sich von Minute zu Minute so steigerte, dass der Verletzte bald vor Schwäche zu Boden sank, er musste erbrechen und das Erbrochene bestand aus reinem Blut in grösserer Menge. Er hatte zwei Wunden, die Ein¬ schussöffnung vorne rechts in der Lebergegend in der Höhe der neunten Rippe und die Ausschussöffnung rechts neben der Wirbelsäule etwas oberhalb des Beckens. Der Blutverlust aus den Wunden war ziemlich bedeutend. Erst nach einer halben Stunde wurde ihm von einigen Kameraden mit Hülfe eines alten schmutzigen Stücks Leinen ein Nothverband ange¬ legt und erst nach sechs Stunden wurde er in ein benach- Digitized by Google 286 Aerztliehe Sachverständigen-Zeitung. No. 14. hartes Landbaus verbracht, wo er zwei ganze Tage ohne ärzt¬ liche Hülfe, schlecht gelagert, zubringen musste. Erst als er mit der Eisenbahn nach dem Feldlazareth in Ladysmith über¬ führt worden war, also vier Tage nach der Verwundung, wurde nach Abnahme deB blutdurchtränkten alten Verbands der erste kunstgerechte Verband angelegt. Zu erwähnen ist, dass erst 18 Stunden nach der Verwundung zum ersten Mal ein auffallend dunkel verfärbter Urin entleert wurde und dass der Stuhlgang, welcher erst zwei Tage später abging reichlich Blut enthielt. Die Wunde verheilte ohne Störung, ohne jede Eiterung, ohne Schwellung der Umgebung, der Leib war stets frei von allge¬ meinen Schmerzen und von pathologischer Dämpfung, von Resistenz oder Spannung, nur ein kleiner Bezirk in der Gegend der Einschussöffnung war schmerzhaft. Zehn Tage nach der Verwundung hat der Verletzte Fleisch und Gemüse ohne Be¬ schwerden zu sich nehmen können. Den Weg der Kugel ge¬ nau zu bestimmen, war nicht möglich, doch ist es wahrschein¬ lich, dass sie durch die Leber hindurchging, dass sie in die Bauchhöhle eindrang und Darmtheile des Verdauungstraktus schwer verletzt, womöglich durchbohrt hat. Dafür spricht vor Allem das Blutbrechen und die blutige Kothentleerung. Dass auch die Niere verletzt wurde, ist unwahrscheinlich. Der Fall ist in Bezug auf die Behandlung jedenfalls lehrreich; man sieht, dass auch, wenn die Eingeweide ohne Zweifel verletzt sind, die Laparotomie nicht unbedingt nothwendig ist. Dies ist um so wichtiger, als gerade in Kriegszeiten manchmal die Hülfsmittel fehlen, um diese ernste Operation schnell und kunstgerecht auszuführen. Obwohl der erste Verband weder den Forderungen der Antisepsis noch der Asepsis am mindesten entsprochen hat, ist keinerlei In¬ fektion zu Stande gekommen. Indessen gestattet ja ein einzelner Fall keine allzu weit gehenden Schlüsse. Franz Meyer-Berlin. Bubo und Trauma. Von F. Rubinstein-Berlin. (Arch. f. Unf.-Heilk. Bd. 111, H. 2 ) Ein 22jähriger Mann hat vor zwei Jahren einen Tripper erworben, der nach acht Tagen angeblich geheilt war. An¬ geblich nach dem Mitheben einer schweren Last ist, wie der Untersuchte selbst aussagt, ganz plötzlich (I) eine Ge¬ schwulst in der Leiste entstanden, die für einen Bruch ge¬ halten wurde. Sie war wenig schmerzhaft. R. untersuchte den Mann vier Wochen später. Er stellte eine Leistendrüsen¬ entzündung fest, die er nach dem langsamen Verlauf und der geringen Schmerzhaftigkeit für einen Tripperbubo hielt. Ob es wahrscheinlich ist, dass diese Geschwulst wirklich erst nach einer Verletzung entstanden ist, ob diese letztere überhaupt erfolgt ist, ob die Gonorrhoe thatsächlich so weit zurückliegt, wie der Untersuchte angiebt, ist nicht erörtert. Verf. glaubt den Satz aufstellen zu dürfen: Es ist der Er¬ wähnung werth, dass ein Trauma bei bestehendem chronischen Tripper zum Anlass für das Auftreten von Spätbubonen werden kann. Auch betont er, dass man in solchen Fällen bezüglich der Unterscheidung zwischen Bubo und Leistenbruch irrege¬ führt werden kann. Die Beweiskraft der aus diesem Fall gezogenen Schlüsse soll durch einen zweiten erheblich erhöht werden: Einem 23 jährigen Schlosser sind angeblich wegen eines im Anschluss an Tripper entstandenen Bubo 1897 die rechts¬ seitigen Leistendrüsen herausgenommen worden. Er kommt zum Verf. mit der Angabe, seit acht Tagen, seit dem Mit¬ heben an einer Last von zehn Centnern, „bemerke“ er eine beiderseitige Hodengeschwulst. Es findet sich eine Verdickung des Hodensackes nach Art der Elephantiasis und schmerzhafte Schwellung der linken Leistendrüsen. Auch hier wird der Zusammenhang zwischen Unfall und Elephantiasis ohne weitere Erörterung bejaht Zur Erklärung dieser beiden Fälle stellt R. sich vor, dass die beim Lastenheben eintretende Zusammenziehung der Bauch¬ muskeln eine Lymphstauung bewirkt hat, die die schlummernde Entzündung in den Leistendrüsen zum Wiederaufflammen ge¬ bracht hat. Innere Medizin. Ein Fall Yon enormer (übermannskopfgrosser) Blasen¬ erweiterung mit vorwiegend dyspeptischen Symptomen, Von Dr. Paul Cohnheim-Berlin, (Allgem. medlcln. Ccntral-Zeitung No. 33, 1900.) Wie wichtig es ist, bei allen Männern jenseits der fünfziger Jahre, wenn sie über dyspeptische Beschwerde klagen, auch die Harnorgane von der Untersuchung nicht auszuschliessen, erhellt aus dem vom Verfasser mitge- theilten Falle. Patient war lediglich wegen seiner Magen¬ beschwerden und Abmagerung behandelt worden. Bei der Untersuchung fand sich das Abdomen oberhalb der Symphyse stark vorgewölbt; man fühlte genau median eine übermanns¬ kopfgrosse Geschwulst prall elastisch, kugelig, nach oben bis in die Mitte zwischen Nabel und Schwertfortsatz reichend, nach unten im kleinen Becken verschwindend, beiderseits etwa handbreit die Mittellinie überragend. Die Vorsteherdrüse war stark vergrös8ert. Es stellte sich heraus, dass es sich um die mächtig erweiterte Harnblase handelte. Bei Einführung des Katheters liefen iy 2 Liter Harn ab. Unter sachgemässer Behandlung, wie sie bei Prostatikern üblich, gingen auch die Verdauungsbesch werden zurück. Auffallend war der Mangel an subjektiven, auf die Blase hindeutenden Beschwerden, so¬ wie die Unempfindlichkeit des Organes gegen Druck. — y. lieber einige Wirbelerkrankungen traumatischen Ursprungs. Von Dr. Hermann Schlesinger-Wien. (W. mod. W. 1900. No. 25.) An erster Stelle nennt Verf. die Bechterew’sche Ver¬ steifung der Wirbelsäule. Eine Person wird durch schwere Gewalten, die unmittelbar auf die Wirbelsäule oder auf den Kopf, auf die Füsse wirken, verletzt. Anfangs ist die Verletzung nicht von grossen Beschwerden gefolgt. Im Laufe der Monate krümmt sich dann die Wirbelsäule nach vorn, und der Verunfallte merkt, dass er sich nach keiner Seite mehr so wie früher bücken kann. Die Erscheinung des Kranken ist dann recht auffallend: der Kopf ist auf die Brust gesunken, der Gang unsicher. Um zu sehen, was ringsum vorgeht, muss der Kranke immer den ganzen Körper wenden. Nicht selten spüren solche Kranke auch schmerzhafte Gefühle in verschiedenen Nervengebieten, besonders in denen der Zwischenrippen- und Hinterhauptnerven. Am Hinterhaupt ent¬ steht durch Drücken und Kratzen nicht selten ein Ekzem. Die Schultergürtelmuskulatur magert etwas ab. Auch der Brust¬ korb wird durch Verknöcherung der Rippenwirbel- und Rippen¬ kreuzbeingelenke steif, die Athmung daher erschwert. Ebenso verknöchert die Verbindung des Beckens mit dem Kreuzbein. Immer ist bei diesen Personen eine Verletzung vorherge¬ gangen. Als ganz andere Krankheit fasst S. die Marie’scbe Spondylose rhizomälique, die chronische ankylosirende Steifigkeit der Wirbelsäule und der grossen Gelenke, auf Hier spielt seines Erachtens das Trauma keine Rolle. Die Digitized by Google 15. Juli 1900. Aorztliehe Sachverständigen-Zeitung. 287 Hüft-, Schulter- oder Kniegelenke, die bei dem ersten Typus immer frei bleiben, Bind hier betheiligt, ja ihre Versteifung kann die Scene eröffnen. Meist schreitet auch jener Prozess von oben nach unten, dieser von unten nach oben vor. Anatomisch ist kein wesentlicher Unterschied zu finden. Die Wirbelsäule bleibt auch nach Entfernung der Weichtheile steif wie ein Stück Holz und gekrümmt. Bald geschieht dies, weil die Wirbelränder gewulstet sind und einander umgreifen, bald, weil sich von einem Wirbel zum andern Knochenspangen gebildet haben oder einzelne Bänder oder die ganzen Band¬ apparate verknöchert sind. Die kleinen Gelenke sind ver- hältnissmässig wenig betheiligt. Im Folgenden spricht Verf. über Dinge, die den Lesern dieser Zeitschrift von früheren Jahrgängen her bekannt sind: die KümmelTsehe Spondylitis traumatica; die Muskelspannun¬ gen, welche eine solche Vortäuschen können; die Tuberkulose und die bösartigen Geschwülste der Wirbel nach Traumen. Neurologie. Ein Fall von Zerreissung des Armnervengeflechts. Von Furne8 Stewart und Maigo Collier. (The lancet/lO. März.) Ein Mann im Alter von 33 Jahren wurde Anfangs September 1899 in halb bewusstlosem Zustand in das North-West-London- Hospital aufgenommen. Er war anscheinend von seinem Wagen heruntergefallen, in dessen Nähe man ihn auf der Strasse liegend aufgefunden hatte. Da der Mann kein Trinker war, auch unmittelbar vor dem Unfall nicht getrunken hatte, nach den Angaben seiner Frau aber an epileptischen Anfällen litt, so nahm man mit Wahrscheinlichkeit an, dass er in einem epileptischen Anfall vom Wagen gestürzt war. Bei der Unter¬ suchung im Krankenhause war der Kranke unruhig, benommen, in der linken Scheitelgegend fand sich eine oberflächliche Kopfwunde. Die rechte Pupille war kleiner als die linke, die rechte obere Extremität befand sich in dem Zustande voll¬ kommener und zwar schlaffer Lähmung. Auf der rechten Körperseite, von der rechten Seite des Nackens und über die rechte Schulter bis vorne zur Achselhöhle sich erstreckend, sah man die Zeichen der Quetschung. An Stelle der Unruhe trat erst ruhige Bewusstlossigkeit, nach wenigen Tagen kehrte das volle Bewusstsein zurück. Die Kopfwunde verheilte, aber der rechte Arm, die rechte Hand blieben unverändert gelähmt. Auch 10 Wochen nach dem Unfall bestand noch, während der Verletzte frisch und gesund aussah, eine völlige Lähmung der rechten oberen Gliedmasse in Bezug auf Bewegung sowie Empfindung. In der Gegend der rechten Seite des Nackens bestand weder Schwellung noch Empfindlichkeit, nur passive Abduktion der rechten Schulter war schmerzhaft. Die rechte Pupille war 1 mm enger als die linke, die Reaktion auf Licht¬ einfall und Akkomodation war prompt, doch trat bei Ver¬ dunklung die Erweiterung der linken Seite schneller und deutlicher ein, als die der rechten. Das rechte Auge schien etwas eingesunken, die rechte Lidspalte war deutlich enger als die linke. Die Gehirnnerven und auch der ganze übrige Körper zeigten sonst weder motorische noch sensible Störung. Was nun die rechte obere Gliedmasse betraf, so bestand gegen Berührung, Schmerz und Temperatur vollkommene Unempfind¬ lichkeit, nur am Oberarm waren zwei Streifen mit normaler Empfindung erhalten geblieben, der eine auf dem vorderen Theil des Oberarms in der Gegen des oberen Theils des zweiköpfigen Muskels, der andere an der Innenseite und Rück¬ seite des Oberarms über dem dreiköpfigen Muskel. Das Muskelgefühl war am rechten Ellbogen, am Handgelenk und an den Fingern erloschen. Die Bewegungen des rechten Schulterblatts waren normal, der Säge-Muskel, der Rauten- Muskel waren nicht gelähmt, während der rechte Kappen- Muskel etwas schwächer war als der linke. Die rechte Schulter war abgeflacht, die obere Grätengrube ausgehöhlt, der rechte Oberarmknochen nach abwärts verschoben. Der breite Rückenmuskel war gelähmt. Auch konnten an dem betroffenen Arm die Sehnenreflexe nicht ausgelöst werden. Die gelähmten Muskeln zeigten auf faradischen Strom keiner¬ lei Reaktion und bei der Untersuchung mit dem galvanischen Strom war die Erregbarkeit stark herabgesetzt und die Re¬ aktion träge. Die Haut der rechten Hand war roth und zeigte Kongestion. Der Befund und der weitere Verlauf sprachen deutlich gegen die Annahme einer Gehirnkrankheit in Folge der Ver¬ letzung, und für eine Verletzung der Nervenstämme. Als ein Stützpunkt für diese Annahme durfte die Erscheinung gelten, dass bei einem epileptischen Anfall 8 Wochen nach dem Unfall alle Gliedmassen mit Ausnahme des gelähmten Arms von Krämpfen befallen worden waren. Die Verfasser sind der Ansicht, dass die Verletzung in der Weise stattgefunden hat, dass das Wagenrad über die rechte Schulter und den unteren Theil des Nackens gegangen ist. Als Anhaltspunkt für eine genauere Lokalisation der Verletzung dienten die Thatsachen, dass der Rauten- und hintere Säge- rauskel verschont blieben, während alle anderen vom Arm¬ nervengeflecht versorgten Muskeln gelähmt worden waren und dass ferner, wie aus der oben beschriebenen Störung der Augen zu schliessen war, die mit dem ersten Brustnerven in Verbindung stehenden Fasern des Nervussympathicus in Mit¬ leidenschaft gezogen worden waren. Franz Meyer-Berlin. Isolirte atrophische Lähmung des N. musculocutaueus, nebst Bemerkungen über compensatorische Muskel- thätigkeit. Von Dr. Aug. Hoff mann- Düsseldorf. (Neur. Centr. 1900. No. 12.) Ein 36 jähriger Arbeiter H. hatte seit zwei Jahren vor¬ zugsweise eine bestimmte Arbeit verrichtet: er musste Kohlen¬ körbe von einem Schiff in ein anderes tragen. Hierbei trug er den Korb immer auf der linken Schulter und hielt ihn oben mit dem rechten Arm, während die linke Hand in die Hüfte gestützt war. Plötzlich traten ohne äussere Veranlassung Schmerzen im rechten Oberarm auf. Diese vergingen, H. konnte wieder arbeiten, aber die Kraft des Armes hatte nach¬ gelassen und wurde nicht mehr die alte. Der Oberarm magerte ab. Etwa sieben Monate nach der ersten Erkrankung bildete der zweiköpfige Armbeuger nur noch einen dünnen Strang und war deutlich verkürzt, aber auch vom inneren Armbeuger war wenig mehr zu fühlen. Vorder- und Seitenfläche des Oberarmknochens waren dicht unter der Haut abzutasten. Faradisch war von den beiden Beugern nur das äussere Bün¬ del des Brachialis internus erregbar, galvanisch wurde Ent¬ artungsreaktion erzielt. Der Unterarm und am Oberarm die Strecker sowie der Musculus coraco-brachialis waren unver¬ ändert. Die Beugung des Arms konnte sowohl bei aufwärts als bei abwärts gedrehter Handfläche vollzogen werden, frei¬ lich mit geminderter Kraft. Hierbei zog sich das erhaltene äussere Bündel des inneren Armbeugers und der Supinator longus kräftig zusammen. Das Hautgefühl war an der Speichen- und Beugeseite des Unterarms auf einem schmalen Streifen herabgesetzt. Die Deutung ist einfach: Es liegt eine Lähmung des den Musculus coraco - brachialis durchbohrenden, aber nur theil- Digitized by Google 288 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 14. weise versorgenden, den Biceps und das innere Bündel des brachialis internus allein innervirenden und mit seinen Em¬ pfindungsfasern auf den Speichenrand des Unterarms aus- strahlenden Nervus musculo-cutaneus (Perforans Casseri). In der Literatur konnte H. bis jetzt sieben Fälle von Lähmung dieses Nerven finden, aber meist war die Lähmung weder bo vereinzelt noch so vollständig, nie der Muskel¬ schwund so ausgiebig, die meisten Fälle heilten. Iu allen anderen Fällen handelte es sich um mehrweniger ausge¬ sprochene einmalige Verletzungen, während hier nur die Wahl zwischen Ueberanstrenguug oder unbekannter innerer Ursache bleibt. Für den Unfallgutachter ist es sehr bemerkenswerth, dass der Supinator longus die eigentlichen Beugemuskeln weit ge¬ nug ersetzt, um dem Erkrankten ziemlich schwere Arbeit zu ermöglichen, sodass H.’s Kranker Monate lang der Krankheit keine grosse Bedeutung beimass. lieber die vicariirende Funktion der bei vollkommener Lähmung der eigentlichen Vorderarmbeuger in Thätig- keit tretenden, von den Condylen des Oberarms ent¬ springenden Muskeln. Von Prof. M. Bernhardt. (Neur. Centr. 1900. No. 12.) Ein Mann, der durch Schulterquetschung eine „Erbsche Lähmung“ davongetragen hatte, zeigte Aufhebung der Brauch¬ barkeit des rechten Muskulus Deltoides, biceps, brachialis internus, supinator longus und brevis, Infra- und supraspinatus.- Dennoch war er im Stande, den Unterarm im Ellbogengelenk, wenn auch kraftlos, zu beugen, jedoch nur bei nach oben ge¬ drehtem Handrücken. Es sind die vom inneren Rollhügel entspringenden Muskeln, der pronator teres, der flexor carpi ulnaris insbesondere, die diese Möglichkeit gewähren. Man fühlt ganz deutlich, wie bei aktiver Beugung diese Muskeln sich zusammenziehen und einen scharf vortretenden Wulst bilden. B. hat diese Ansicht schon früher ausgesprochen, es ist ihm jedoch entgegengehalten worden, dass auf Grund ana¬ tomischer Verhältnisse nicht die am inneren, sondern die am äusseren Rollhügel entspringenden Muskeln, vor Allem der Ex¬ tensor carpi radialis longus bei dieser Beugung betheiligt sind. Auf Grund seines neuen Falles fühlt B. sich umsomehr be¬ rechtigt, bei seiner früheren Ansicht zu bleiben. Poliomyelitis anterior chronica in Folge peripherer Verletzung. Von Dr. Huth, Arzt in Prenzlau. (Mon. f. Unf. 1900. No. 5.) Ein älterer Landwirth, ein gesunder und kräftiger Mann, trat sich einen Nagel in die linke Sohle. Es entwickelte sich eine tiefgreifende Entzündung, die langsam mit starker Narbe heilte. Schmerzen von der verletzten Stelle aus blieben zu¬ rück. Nach einer Reihe von Monaten wurde das linke Bein unbehilfiich, sehr bald so schwach, dass der Mann es kaum noch vom Boden aufheben konnte. Gleichzeitig bestand Ge¬ fühl von Kälte und Taubheit in dieser Gliedmasse. Wieder wenige Monate später wurde von der Lähmung in geringerem Grade das rechte Bein ergriffen. Als Verf. den Kranken sah, war dieser abgeraagert und konnte sich nur mühsam, die Füsse kaum vom Boden ab¬ hebend, mit einem Stock und von einem Begleiter unterstützt, fortbewegen. Die Muskeln der unteren Gliedmassen waren völlig schlaff und beträchtlich abgemagert, besonders an den Unterschenkeln, am linken Oberschenkel mehr als am rechten. Die Beugung des Oberschenkels gegen den Rumpf war in liegender Stellung möglich, die gleichzeitige Streckung des Kniees durchaus nicht. Von der aktiven Beugung und Streckung im Knöchelgelenk war ein Rest vorhanden, von den Dreh¬ bewegungen des Fusses nicht. Der seitliche Fussrand hing herab. Die faradische Reizung gelang am besten am rechten Oberschenkel, schwächer war die Stromwirkung am linken Oberschenkel, nur spurweise vorhanden beiderseits am Unter¬ schenkel im Bereich der Schienbeinnerven und ganz erloschen im Bereich der Wadenbeinnerven. Entartungsreaktion fand am linken Oberschenkel und den Unterschenkeln statt. Die Haut der unteren Gliedmassen war blass, an den abhängigen Theilen bläulich, welk. Das Empfindungsvermögen war rechts am Unterschenkel und Fuss, besonders an der Sohle, herab¬ gesetzt, links in noch höherem Masse und schon von der Ge- sässgegend an. Der Kniereflex war beiderseits, besonders rechts, sehr lebhaft, der Achillessehnenreflex ist schwach, die Cremasterreflexe sind schwach. Verf. erkannte den Zusammenhang der Nervenkrankheit mit dem Unfall an, Thiem als Obergutachter schloss sich ihm an. Die Diagnose ist sehr zweifelhaft. Das Fehlen von Faserzuckungen in den gelähmten Muskeln, das Vorhan¬ densein von Empfindungsstörungen, die Lebhaftigkeit des Kniereflexes auch auf der linken Seite — das alles verträgt sich mit der Poliomyelitis anterior chronica, der Entzündung der grauen Vorderhörner des Rückenmarks, schlecht. Gutachten über einen Fall von Gliom des Gehirns mit tödtlichem Ausgange in Folge von Kopfverletzung nach ca. 10 l / 2 Jahren. Von Dr. Uhlemann-Altenburg. (Mon. f. Ünf. 1900, No. 6.) Ein Mann, der 1887 einen heftigen Schlag auf den Kopf mit Risswunde und leichter Eindrückung des Schädels erlitten hat, nach 3 Wochen aber wieder arbeitsfähig war, soll seit¬ dem viel über den Kopf geklagt haben. Es ist festgestellt, dass er 1892, 96, 97 und 98 wiederholt wegen Beschwerden, die der behandelnde Arzt als neuralgisch oder neurasthenisch auflfasste, behandelt worden ist. 1895 wurde bereits Un¬ sicherheit beim Gehen, Steigerung des Kniereflexes und Rom- berg’sches Zeichen festgestellt. 1897 ging es besser, 1898 traten die Erscheinungen der Hirngeschwulst deutlich hervor, die im April gemachte Sektion ergab ein Gliom. U. führt in 'seinem Gutachten, das den Zusammenhang zwischen Verletzung und tödtlicher Krankheit bejaht, u. A. an, dass Gerhardt in 10 von 60 fremden und 4 von 11 eignen Beobachtungen Verletzungen als Ursache von Gliomen ange¬ geben fand. Er berichtet über andere Fälle mit ähnlich lang¬ samem Verlauf und wird den überleitenden Beschwerden gerecht. Das Schiedsgericht schloss sich diesem Gutachten an, ein Gegengutachten wurde von der Berufsgenossenschaft vorge¬ legt, worauf das Reichsversicherungsamt einen Obergutachter ernannte, der im Sinne U.’s die Entscheidung gab. Augen. Klinische Erfahrungen mit dem starken (Haab’sclien) Elektromagneten. Von Prof. Dr. Hermann Knapp. (Arch. f. Augenheiik. XL. 8. 223—38. 1899.) Verf. reiht den bisher in Amerika über die Anwendung des starken Elektromagneten veröffentlichten 15 Fällen 13 Digitized by Google 15. Juli 1900. Aerztliche Saohvers tändigen-Zeitung. 289 neue aus seiner eigenen Praxis an. Die erste Gruppe um¬ fasst zwei Fälle von Eisenstückchen in der vorderen Kammer. Bei dem einen der beiden Kranken gelaDg es, durch Annähern des grossen Magneten an das Auge, den Eisensplitter durch die in der Hornhaut gelegene Einbruchspforte zu entfernen. Es erfolgte Heilung mit voller Sehschärfe. Drei weitere Fälle betreffen Augen, in deren Tiefe sich eiserne Fremdkörper be¬ fanden, welche jedoch von dem grossen Magneten nicht her¬ ausgezogen wurden, da sie in dichtes Gewebe eingebettet waren, wie die Enucleation ergab. Es folgt die dritte Gruppe: „eiserne Fremdkörper vermuthet.“ In dem hier angeführten Falle lag eine perforirende Hornhautwunde mit Iriseinlagerung vor. Da der grosse Magnet keinen Fremdkörper anzeigte, wurde trotz heftiger Iritis mit Hypopyon, welche allerdings erst 26 Tage nach der Verletzung auftrat, kein operativer Eingriff vorgenommen. Es erfolgte schliesslich Heilung mit S = 2 / 3 . In der letzten Gruppe werden sieben Fälle beschrieben, in welchen Eisensplitter von dem grossen Magnet angezeigt und ausgezogen wurden. Es gelang öfter, den Fremdkörper um den Linsenrand herum in die vordere Kammer zu ziehen und durch einen Horn¬ hautschnitt zu entfernen. Einige der Augen erlangten eine gute Sehschärfe wieder, bei anderen konnte nur der erblindete Augapfel erhalten werden, in einem Falle musste der Bulbus nachträglich enucleirt werden. Der kleine Magnet war in einigen dieser Fälle vorher vergeblich in das verletzte Auge eingeführt worden. Groenouw. Argyrosis der Conjunctiva bei Protargolgebrauch. Von Dr. E. Pergens-Brüssel. (Klinische Monatsbt. f. Angenheilkunde, 1900, S. 256-257.) Verf. sah bei Personen, welche längere Zeit eine 2 o/ 0 Protargollösung in den Bindehautsack einträufelten Argyrose der Conjunctiva entstehen. Es kann bei durchaus vorscbrifts- mäs8igem Gebrauch der genannten Lösung, dreimal täglich 2 Tropfen, schon nach 5—6 Wochen eine deutliche Verfärbung der Bindehaut eintreten. Verf. glaubt, dass namentlich zer¬ setzte, dunkelbraun gewordene Lösungen diese Wirkung haben. Groenouw. Hygiene. Tnbercle Bacilli in milk, butter and margarine. H. E. Annett. The Lancet 20. Jan. 1900. Der Autor hat seine Untersuchungen zum Theil im Koch- schen Institut in Berlin, zum Theil in dem Thompson-Yates- laboratorium in Liverpool gemacht. In Betreff des Vor¬ kommens der Tuberkelbazillen in der Milch und der Butter referirt er nur die bekannten Arbeiten, welche früher in deutschen und englischen Zeitschriften veröffentlicht worden sind. Seine eigenen Untersuchungen beziehen sich ausschliess¬ lich auf Margarine. Bei der Herstellung der Margarine kann die Infektion derselben auf mehrfache Weise zustande kommen: Erstens von dem Thier her, welchem das verwendete Fett entstammt, zweitens von der zugesetzten Butter und der zu¬ gesetzten Milch, drittens von tuberkulösen Arbeitern, welche bei der Anfertigung der Margarine mit dieser in Berührung kommen. Die Versuche wurden mit Meerschweinen angestellt. Es wurde jedesmal einem Paar derselben 5 Kubikcentimeter Margarine, welche durch Erwärmen auf 45 bis 50° C. zum Schmelzen gebracht worden war, in die Bauchhöhle gespritzt. Im Ganzen wurden 28 brauchbare Versuche gemacht, 15 in Berlin 13 in Liverpool. Nur in einem Falle in Liverpool wurde der virulente Koch’sche Tuberkelbacillus nachgewiesen. In einem Falle in Berlin fand sich in den Organen des Meer¬ schweins ein Bacillus, der dem Tuberkelbacillus sehr ähnlich war in seinen Eigenschaften und in den Veränderungen, welche er in den Organen des Thieres hervorbrachte, ganz ähnlich dem Bacillus der Pseudotuberkulose war, wie er schon früher bei den Untersuchungen der Butter auf Tuberkel¬ bazillen von Rabinowitsch beschrieben worden war. Die Ver¬ suche von Anett waren in der Weise angestellt worden, dass die geimpften Thiere insgesammt etwa 8 bis 10 Wochen nach der Impfung getödtet und dann die Organe auf Tuberkulose untersucht wurden. Franz Meyer-Berlin. Die Reinigung des Wassers für häusliche und gewerbliche Zwecke. Von Dr. 0. Kröhnke. (8amml. ehern, u. cbem.-techniscb. Vorträge. 3—5 H., 5. B. 1900.) Nach einer kurzen Kennzeichnung der verschiedenen Wasserarten (Grund-, Oberflächen , Meerwasser etc.) bespricht Verfasser zunächst in ausführlicher Weise die allgemeinen Reinigungsmethoden, die Anwendung mechanischer Verfahren zur Entfernung suspendirter Stoffe aus dem Wasser (Sedi¬ mentation, Filtration), die Anwendung physikalischer Verfahren zur Ausscheidung gelöster Stoffe aus dem Wasser und schliesslich die chemischen Methoden der Wasserreinigung (direkte und indirekte Fällung, Drydation). Die zweite Hälfte der Arbeit ist der Erörterung der Reinigung des Wassers für besondere Zwecke gewidmet. (Häuslicher Gebrauch, Wasser für Kesselspeisezwecke, für die verschiedenen Fabrikations¬ zwecke, wie Brauereien, Färbereien, Zucker-, Stärkefabriken u. s. w.). Den Schluss der mit zahlreichen guten Abbildungen versehenen Arbeit bildet eine Besprechung der „Wasserreiniger“ in ihren verschiedenen Ausführungen. — y. Aus Vereinen und Versammlungen. Versammlung deutscher Bahnärzte zu Baden-Baden. 23. und 24. Juni 1900. Am 23. Juni 9 Uhr Vorm, fand eine Sitzung des Aus¬ schusses des Vereins deutscher Bahnärzte statt. In derselben waren anwesend: für Berlin: Braehmer, Königsberg: Löwen¬ thal, Danzig: Davidson, Bromberg: Augstein, Breslau: Wronka, Kattowitz: Kober, Stettin: Heiligtag, Halle: Satt- low und Herzfeld, Erfurt: Voigt, Magdeburg: BroeBe und Hager, Essen: Wahl, Redeker, Berns, Cassel: Bode, Frankfurta.M.: Käss,Mainz:Ambrosius,Reichslande:Eilers, für Baiern: Zeitlmann und Stich, für Baden: Blume, für Württemberg: Beck. Braehmer Vorsitzender, Hager Schriftführer. Der Vorsitzende macht zunächst geschäftliche Mittheilungen. In Posen hat sich vor Kurzem ein Bahn - Aerzte - Verein auf Veranlassung der Eisenbahn-Direktion gebildet. In Münster- Hannover und Altona steht die Bildung von Vereinen noch aus, dürfte aber demnächst erfolgen, so wie auch hoffentlich bald im Königreich Sachsen. Der Kassenführer Schwechten ist nicht anwesend. Der Kassenbestand beträgt zur Zeit 356 Mark, die Geschäfts¬ führung soll, so wird beschlossen, das Recht haben, den künftigen Beitrag Bchon vorher einzuziehen, falls durch diesen Kongress in Baden ein Defizit entstehen sollte. Ein Antrag der Eisenbahn-Direktion Breslau, dass in Zu¬ kunft Obergutachten einer Kommission, aus drei Bahnärzten bestehend, übertragen werde, ist dadurch als erledigt anzu- sehen, dass ein dahin gehender Antrag des Ausschusses bereits besteht und an massgebender Stelle erörtert wird. Digitized by Google 290 Aerz t liehe ßaehverstandigen-Zeitung. No. 14. Diese Erörterung erstreckt sich auch darauf, ob die be¬ treffende Kommission nicht zweckmässig durch den Vorstand der bahnärztlichen Vereine gebildet werde. Aehnliche Ein¬ richtungen bestehen bereits, wie von einzelnen Anwesenden bestätigt wird. Ein Antrag Kattowitz will bei Entbindungen nicht nur den Bahnarzt, sondern auch den etwa nothwendigen Assistenten mit 15 Mark honorirt wissen. Der Antrag konnte aus einem äussern Grunde nicht zur Beschlussfassung gelangen, fand aber Beifall und wird an geeigneter Stelle angeregt werden. Bezüglich der Abhaltung eines internationalen hygieinischen Eisenbahn-Kongresses im Jahre 1901 berichtet Zeitlmann, dass die Stimmung der Münchener und Nürnberger Bahnärzte derselben zur Zeit nicht günstig sei. Nach längerer Debatte, bei welcher von allen Seiten be¬ tont wird, dass die Theilnahme unserer Behörden noch mehr gewonnen werden müsse, ehe man die Vertreter des Auslandes einladen könne, beschliesst der Ausschuss nach sorgfältiger Erwägung mit Rücksicht auf die vor¬ handenen Schwierigkeiten zur Zeit von der Ab¬ haltung eines internationalen Eisenbahn-Kongresses in Deutschland abzusehen: er wird aber zu gelegenerer Zeit und namentlich dann, wenn dringende Fragen internationaler Art vorliegen mit Vorschlägen zu einem internationalen Eisenbahn-Aerzte-Kongresse vorgehen. Ferner einigt man sich dahin, den nächsten deutschen Bahnärztetag geeigneten Falls 1902 in München stattfinden zu lassen. Der Vorsitzende hat ein Schreiben der Königlichen Eisen¬ bahn-Direktion erhalten, worin er aufgefordert wird, die Er¬ fahrungen und Ansichten der Bahnärzte der einzelnen Direk¬ tionen über die Infektionsgefahr beim Gebrauche derselben Signalhörner durch verschiedene Personen zu erforschen. Man war einstimmig der Ansicht, dass eine solche Gefahr nicht nur in Bezug auf Tuberkulose sondern auch auf andere Krankheiten vorläge und einigte sich zur Beseitigung dieser Gefahr auf folgenden gutachtlichen Beschluss: Die Versammlung, über die Möglichkeit einer Infektion durch Signalhörner und die Verhütung der¬ selben befragt, spricht sich einstimmig dahin aus, dass die beste Sicherheit gegen eine Infektionsge¬ fahr durch die Anschaffung von besonderen Signal¬ hörnern für jeden Bediensteten gewährleistet ist; doch hält sie auch Wechselmundstücke für genügend, vorausgesetzt, dass eine Garantie geboten ist, dass diese Wechselmundstücke auch benutzt werden. Ein Antrag voir Beck (Württemberg) betr. Anschaffung einer eisenbahnärztlichen Zeitung, welche alle dahin schlagen¬ den Fragen behandeln, alle Verhandlungen bringen und jedem Bahnarzt zugesandt werden soll, wird dahin abgeändert, dass die „Aerztliche Sachverständigen - Zeitung* durch Rück¬ sprache des Vorsitzenden mit dem Redakteur ersucht werden soll, jedem Bahnarzte ein Exemplar der Zeitungs-Nummer, in welcher ein Artikel bahnärztlichen Inhalts steht, zugehen zu lassen, zu¬ gleich aber auch, damit solche Exemplare nicht unbeachtet bleiben, sie aussen durch eine besondere Auszeichnung wie „bahnärztliche Mittheilung enthaltend“ u. s. w. kenntlich zu machen. Es wird erwartet, dass von den Kollegen dafür so weit als möglich für Verbreitung und Abonnement des Organs gesorgt wird. Bez. der Honorar-Verhältnisse erwähnt Brähmer, dass das Honorar für die Atteste behufs Anstellung von Arbeitern und Hilfsarbeitern als Beamte in Zukunft von der Eisenbahnbehörde getragen werde. Ueber die Höhe des Honorars schweben noch Erwägungen. Den Ausführungen des Kollegen Kaess-Frankfurt gegen¬ über, welche die Unzulänglichkeit der Honorirung betrafen, macht Brähmer auf die Verhandlungen und Beschlüsse der letzten Ausschusssitzung in Berlin im März d. J. aufmerksam. Zu einem Einheitssatz in der Honorirung, wie ihn noch viele Aerzte erstrebten, werde es bei der grossen Verschieden¬ heit der Verhältnisse nicht kommen; doch habe die veran¬ staltete Enquöte ergeben, dass ein Theil der Bahnarztgehälter auffallend niedrig sein. Es sei daher Sache der einzelnen Di¬ rektionen, eine Aufbesserung der Gehälter dort zu bewirken, wo die Honorar-Verhältnisse solche abnorm niedrigen sind. Eine solche Aufbesserung sei jetzt angebahnt. Schluss gegen 1 Uhr. Nachmittags 2V 2 Uhr. Sitzung der Versammlung deut¬ scher Bahnärzte im neuen Saale Louis XIII des Konversations¬ hauses. Eröffnung und Begrüssung durch den Geschäftsführer und Vorsitzenden des Badischen Bahnärzte-Vereins Blume-Phi¬ lippsburg. Er wirft einen Rückblick auf die Geschichte und den Fortgang unserer Bestrebungen. Es erfolgt die Konstituirung des Bureaus, Brähmer- Berlin wird zum ersten, Zeitlmann-München zum zweiten Vorsitzenden ernannt. Zu Schriftführern Hag er-Magdeburg und Beck-Mengen, Württemberg. Im Namen der badischen Regierung begrüsst die Ver¬ sammlung Staatsrath vonEisenlohr und er betont das Inter¬ esse, welches das badische Eisenbahn-Ministerium den Be¬ strebungen der Bahnarzt-Vereine entgegenbringe. Bürger¬ meister Füsser und Hofrath Dr. Obkircher begrüssen die Versammlung im Namen der Stadt und der Aerzte von Baden- Baden. Von den Begrüssungen auswärtiger Aerzte und Vereine erwähnen wir die telegraphische des Chefarztes der ungari¬ schen Bahnen, Ritter von Czatary aus Buda-Pest. Brähmer antwortet dankend auf diese Begrüssungen und geht dann zu den geschäftlichen Mittheilungen über, indem er bekannt giebt, was in den beiden Ausschusssitzungen in Berlin und Baden beschlossen ist. Diese Beschlüsse finden die Billigung der Versammlung. Es folgen die drei sich auf das Thema Tuberkulose be¬ ziehenden Vorträge. Dieselben werden ausführlich in den demnächst erscheinenden „Verhandlungen der 4. Versammlung deutscher Bahnärzte zu Baden-Baden“ zum Abdruck gelangen. 1. Geh. San.-Rath Dr. Brähmer: Mittheilungen und Gedanken über die Tuberkulose-Kongresse in Berlin und Neapel. Der neuerdings aufgenommene Kampf gegen die Tuber¬ kulose hätte zunächst einen zusammenfassenden Ausdruck ge¬ funden in dem Tuberkulose-Kongress zu Berlin Mai 1899, als dessen Fortsetzung der diesjährige Kongress zu Neapel be¬ trachtet werden könnte. Indem er kurz hierüber und über die Tuberkulose-Vorlesungen für Bahnärzte in der Berliner Charitöe berichte, hoffe er am besten die heutigen Verhand¬ lungen einzuleiten. Während die übrigen Unterabtheilungen des Kongresses für Alle das gleiche Interesse hätten, käme für die Verkehrs¬ hygiene als eigenartig nur die Prophylaxe in Betracht. Die¬ selbe sei denn auch in Berlin von Rubner, in Neapel von Sanarelli und ihm besprochen worden. Nach seiner Ansicht dürfe die Ausbreitung der Tuberkulose im Eisenbahnverkehr nicht überschätzt werden, dagegen spräche sowohl die Erfah¬ rung der Praktiker als auch die, allerdings unvollkommene Statistik. Zur Verhütung schlage er vor, häufige Reinigung, Digitized by Google 15. Juli 1900. Acrztliehe Sach verständigen-Zeitung. 291 Lüftung, Desinfektion der Eisenbahnwagen, Dienst- und Warte¬ räume, Verbot des Ausspuckens, unterstützt durch Aufstellung von Spucknäpfen, Fernhalten aller Teppiche und Fasernstoffe, Vorziehen der glatten Stoffe vor den Plüschstoffen, Desinfek¬ tion der Wagen oder der einzelnen, zum Herausnehmen ein¬ gerichteten Theile durch strömenden Dampf oder durch chemi¬ sche Desinfektionsmittel u. s. w. Ein weiteres Eingehen auf diese Punkte erwarte er schon von den heutigen Verhand¬ lungen. Die Kongresse hätten vor allen Dingen das Gute ge¬ habt, eine, für die ganze Menschheit wichtige Frage in Fluss zu bringen sowie das Verständnis und Interesse au derselben wach zu erhalten. 2. Dr. Zeitlmann - München: Die Tuberkulose bei den Eisenbahnbediensteten. Die Mittheilungen Z/s stützen sich auf das sehr voll¬ ständige und zuverlässige Material der bayrischen Eisenbahn¬ statistik. Krankheiten der Athmungsorgane überhaupt bedingten in Bayern nur 15 Prozent der Mortalität. Die Ziffer für Tuber¬ kulose bewegt sich in allen Jahren erheblich unter der Tuber¬ kulose-Mortalitätsziffer der Gesammtbevölkerung, w r as dadurch leicht erklärlich wird, dass man es mit einem ausgesuchten Menschen-Material zu thun hat. Im letzten Jahrzehnt ist die Tuberkulose-Ziffer erheblioh zurückgegangen. Die Erkrankungs¬ häufigkeit bei den einzelnen Beamtenkategorien ist eine sehr verschiedene. Bahnwärter sind am günstigsten daran, das Bureaupersonal am ungünstigsten. Zwischen diesen beiden entgegengesetzten Polen bewegen sich die übrigen Beamten¬ klassen. Die Erkrankungsziffer der Eisenbahnschaffner ist eine günstige. Sie würde dagegen sprechen, dass der Verkehr mit den Reisenden, unter welchen doch vielfach tuberkulöse Passagiere sich befinden, als gesundheitsschädliches Moment irgend eine Bedeutung hat. Bremser und Heizer erkranken seltener als die Kondukteure. Der Dienst in freier Luft und vorgeschritteneres Alter sind gesundheitsförderliche Momente in Bezug auf Tuber¬ kulose. Auch der Aufenthalt in Wohnungen, in welchen vorher tuberkulöse Kranke gewohnt haben und gestorben sind, scheint Dach Z.'s Aufstellungen sich nicht als gefährlich zu erweisen: ein Beweis dafür, dass die angewandte Reinigung doch zu ge¬ nügen scheint. Aehnliche Erfahrungen wie diese soll man in Oesterreich gemacht haben. San. Rath Dr. Hager-Magdeburg: Ueber die Vornahme bakteriologischer Sputum-Untersuchungen Seitens der Bahnärzte. Der Vortr. erwähnt, wie an die Bahnärzte des Direktions¬ bezirks Magdeburg im vergangenen Jahre seitens der Direktion die Aufforderung gerichtet Bei, in zweifelhaften Erkrankungen der Athmungsorgane den Auswurf bakteriologisch zu unter¬ suchen. Auf die einstimmige Vorstellung der Vorstandsmit¬ glieder des Vereins, welche die Schwierigkeiten betonte, welche diese Massregel zur Zeit noch finden würde, würden diese AuswurfUntersuchungen, so oft sie sich als nothwendig erweisen sollten, dem Berliner medic. Waarenhause übertragen. Soll dies so bleiben?, so fragt der Vorsitzende, oder soll der Bahn¬ arzt der Zukunft im Stande sein und sich verpflichten, einfache bakteriologische Untersuchungen, die seine Behörde von ihm fordert, selbst zu machen? H. möchte diese Frage entschieden bejahen. Er legt in ausführlicher Weise dar, dass der Ver¬ kehr auf Eisenbahnen wahrscheinlich eine viel grössere Rolle in der Verbreitung der Tuberkulose spielt, als man gewöhnlich an¬ zunehmen geneigt ist und geht genauer auf einen Vortrag SanarelliB auf dem Tuberkulose-Kongress zu Neapel: „Ueber die Verbreitung der Tuberkulose durch den Eisenbahn-Verkehr“ ein. An diesen Vortrag schliesst er eine Demonstration der bakteriologischen Untersuchung verschiedener Tuberkelbazillen enthaltender Sputa an, zum Beweise, dass diese Art der Unter¬ suchung sich jetzt erheblich einfacher gestalte als manche der Herrn Kollegen glauben und dass auch die Fehlerquellen meist theoretisch konstruirt, für die Praxis wenig in Betracht kommende sind. Die fast eine Stunde dauernde Disskussion über die Vor¬ träge und die durch sie angeregten Fragen war eine sehr leb¬ hafte und anregende. Der Vorsitzende fasste schliesslich das Resultat derselben in folgenden Sätzen zusammen: 1. Die Versammlung ist der Ansicht, dass die Eisenbahnverwaltungen in dem Kampf gegen die Tuberkulose nicht zurückstehen dürfen. 2. Dass aus den heutigen Vorträgen und ihrer Diskussion der Mangel einer zu verlässigen Statistik bei der Mehrzahl der Eisenbahn-Verwaltungen her¬ vorgeht und die Eisenbahn-Verwaltungen ersucht werden sollen, solche wenigstens bezüglich der Tuberkulose anzubahnen. 3. Dass die Bahnärzte mit der Kenntniss des Betriebes auch die Ergebnisse aller neueren ätio¬ logischen und diagnostischen Momente in Bezug auf Verbreitung der Tuberkulose beherrschen müssen. Den Verhandlungen folgte um 6 Uhr ein Festessen, da¬ rauf um 10 Uhr ein Reunion-Ball in den bekannten klassischen Sälen des Konversationshauses. Am Sonntag den 24. fand seitens des Hofraths Dr. Ob- kircher die Demonstration des Friedrichsbades, desKaiserin- Augusta-Bades, des Landesbades und aller in denselben be¬ findlichen Kurmittel Badens statt; namentlich interessirte der elektrisch geheizte Tallermann’sche Schwitzapparat, in welchem kranke Glieder einer Temperatur bis zu 150° C. ohne alle subjektive Belästigung ausgesetzt werden können und die Erfahrungen Obkircher’s über die Wirkungen desselben; nicht minder fanden die vorzüglichen Zerstäubungs- und Inhalations- Vorrichtungen, die reichhaltigen medicomechanischen Institute, die elektrischen Bäder und die in ihrer luxuriösen äusseren Ausführung einzig dastehenden Badeeinrichtungen den unge¬ teilten Beifall aller Theilnehmer. Das am Nachmittag folgende Promenaden-Konzert, der Ausflug auf das Schloss Hohen-Baden, die festliche Beleuch¬ tung des Konversationshauses und die italienische Nacht wer¬ den allen Betheiligten in dankbarer, leuchtender und dauern¬ der Erinnerung bleiben. Hager-Magdeburg. Gerichtliche Entscheidungen. Aas dem Beichs-Tersieherungsamt. Unfall und Invalidität. Rek.-Entscheidung vom 7. März 1900. Gegen ein Urtheil des Schiedsgerichts hatte der Kläger K. rechtzeitig die Revision eingelegt und beantragt, ihm die Invalidenrente auch über den 7. September 1898 hinaus zu gewähren. Das Reichs-Versicherungsamt hob auch die Vor¬ entscheidung aus folgenden Gründen auf: Wenn der Kläger lediglich in Folge des am 8. Juni 1898 erlittenen Betriebsun¬ falls erwerbsunfähig geworden ist und auf Grund dieses Zu¬ standes Unfallrente bezieht, so findet § 9 Abs. 2 des Invali- ditäts- und Altersversicherungsgesetzes auf den erhobenen In¬ validenrentenanspruch Anwendung. Der Kläger kann dann also nur insoweit die Invalidenrente verlangen, als diese die gewährte Unfallrente übersteigt. Dasselbe gilt — entsprechend Digitized by Google 292 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 14. dem jener Vorschrift zu Gründe liegenden Gedanken, wonach eine doppelte Berücksichtigung desselben Schadens ausge¬ schlossen sein soll — auch dann, wenn neben den eigent¬ lichen Unfallfolgen andere Leiden, welche bereits vor dem Betriebsunfall bei dem Versicherten bestanden, zur Herbei¬ führung der Erwerbsunfähigkeit mitgewirkt haben und bei der Festsetzung der Unfallrente mit berücksichtigt sind. Sind die Unfallfolgen oder sonstige «Schäden des Versicherten einmal bei Gewährung der Unfallrente berücksichtigt worden, so kann der Unfallverletzte sich — abgesehen von späteren Ver¬ schlimmerungen — im Invalidenrentenverfahren auch nicht mehr darauf berufen, dass sie in ihrer Wirkung auf seine Er¬ werbsunfähigkeit zu seinen Gunsten zu gering geschätzt sind. Wenn jedoch solche anderen Leiden bei der Festsetzung der Unfallentschädigung überhaupt nicht berücksichtigt worden sind oder sich nachträglich verschlimmert haben, oder wenn andere Schäden überhaupt erst nach dem Unfall und unab¬ hängig von ihm hervorgetreten sind, so trifft auf die nach dem Gesammtzustande des Versicherten vorliegende Erwerbs¬ unfähigkeit nicht § 9 Abs. 2 Satz 2 des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzes oder §15 Abs. 2 Satz 2 des Invali¬ denversicherungsgesetzes zu, sondern es ist dem Versicherten neben der Unfallrente die Invalidenrente zu gewähren, und nur soweit beide zusammen die in § 34 Ziffer 1 des Invalidi¬ täts- und Altersversicherungsgesetzes oder nach dem neuen Invalidenversicherungsgesetz die im § 48 Abs. 1 daselbst ge¬ setzte Höchstgrenze übersteigen, ruht thatsächlich die Inva¬ lidenrente. Wenn endlich die Unfallfolgen selbst sich nach Festsetzung der Unfallrente verschlimmern und so — allein oder in Verbindung mit anderen Schäden — die Erwerbsun¬ fähigkeit herbeigeführt haben, so kann, so lange nicht wegen der veränderten Verhältnisse auf Grund des § 65 des Unfall¬ versicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884 oder der entsprechen¬ den Bestimmungen der übrigen Unfallversicherungsgesetze eine Erhöhung der Rente erfolgt ist, der Versicherte, ohne dass ihm § 9 Abs. 2 Satz 2 des Invaliditäts- und Altersver¬ sicherungsgesetzes oder § 15 Abs. 2 Satz 2 des Invalidenver¬ sicherungsgesetzes entgegensteht, auf Grund seiner Erwerbs¬ unfähigkeit bei der Versicherungsanstalt den Anspruch auf Gewährung der Invalidenrente erheben, trotzdem er die Un¬ fallrente für eine, noch nicht bis zur Erwerbsunfähigkeit im Sinne der Invalidenversicherungsgesetze hinabgehende Be¬ schränkung der Erwerbsfähigkeit bezieht. In diesem Falle ist dann die Versicherungsanstalt auf Grund des § 76 des Invali¬ ditäts- und Altersversicherungsgesetzes berechtigt, sich ihrer¬ seits an die verpflichtete Berufsgenossenschaft zu halten. Uebrigens ist im Sinne der bezeichneten §§ 9 des Invaliditäts¬ und Altersversicherungsgesetzes und 15 des Invalidenversiche¬ rungsgesetzes die Gewährung von freier Kur und Verpflegung im Krankenhause gemäss § 7 des Unfallversicherungsgesetzes seitens der Berufsgenossenschaft der Gewährung einer Unfall¬ rente gleichzustellen. Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze auf den vorliegenden Fall unterlag das schiedsgerichtliche Urtheil wegen ungenügender Aufklärung des Sachverhalts der Beanstandung. Das Schiedsgericht hat sich lediglich auf die Gutachten des Dr. K. zu C. vom 13. Juli 1899 gestützt und daraus entnommen, dass der Kläger seit dem Unfall vom 8. Juni 1898 und in Folge dessen dauernd erwerbsunfähig ist. Legt man diese Feststellung für die ganze Zeit vom Ablauf der dreizehnten Woche seit dem Unfall als zutreffend zu Grunde, so hat das Schiedsgericht in Uebereinstimmung mit der Versicherungsanstalt gesetzmässig verfahren, wenn es dem Kläger für die ersten 13 Wochen nach dem Unfälle, für welche ihm eine Unfallentschädigung nicht zustand, die volle Invalidenrente zubilligte, dagegen für die weitere Zeit, da die seit Ablauf der 13. Woche gewährte Unfallrente die Invaliden¬ rente übersteigt, den Anspruch des Klägers auf Invalidenrente ablehnte. Jene Feststellung des Schiedsgerichts beruht jedoch auf unzulänglichen Unterlagen. Das Schiedsgericht konnte aus den ihm vorgelegten Akten der Versicherungsanstalt er¬ sehen, dass der Unfall des Klägers lediglich im Bruch des rechten Oberschenkels bestand, und dass die UnfaUrente, welche der Kläger bezieht, nur nach dem Satze von 50 Prozent der Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit geworden war. Der Befund des Kreisphysikus Dr. La R. vom 29. Juli 1898 geht dahin, dass die Bruchstelle unter Verkürzung des sonst über¬ ernährten rechten Beines um 2 cm, mit Knochenverdickung fast geheilt, das linke Bein jedoch zurückgeblieben sei. Auf Grund dieses Befundes hat Dr. La R. den von ihm sonst als in jeder Beziehung gesund bezeichneten Kläger für erwerbs¬ unfähig erklärt und diesen Zustand lediglich auf den Unfall zurückgeführt. Auch Dr. K. sieht anscheinend den Kläger als erwerbsunfähig im gesetzlichen Sinne an. Sein Befund be¬ treffs des Oberschenkelbruchs ist ähnlich dem des Dr. La. R. Von dem zurückgebliebenen linken Bein spricht er, abgesehen von den Angaben abweichender Masse für die Beine, über¬ haupt nicht. Er stellt jedoch noch gewisse Unregelmässig¬ keiten an Lunge und Herz fest und nimmt im Uebrigen Ischias und allgemeine Schwäche beim Kläger an, ohne dass er sich darüber, inwieweit die Erwerbsunfähigkeit auf den Unfall oder auf sonstige mitwirkende Ursachen zurückzuführen ist, und über die daran sich knüpfenden weiteren thatsäch- lichen Fragen irgendwie äussert. Diese in den Akten der Versicherungsanstalt vorhandenen beiden ärztlichen Gutachten genügten schon an und für sich und insbesondere unter Her¬ anziehung des Umstandes, dasB der Kläger trotz seiner an¬ geblich lediglich vom Unfall herrührenden Erwerbsunfähigkeit nur 50 Prozent Unfallrente bezog, nicht als Unterlage für die Anwendung des § 9 Abs. 2 des Invaliditäts- und Altersver¬ sicherungsgesetzes. Vielmehr musste das Schiedsgericht zu¬ nächst die Unfallakten, welche der Versicherungsanstalt Vor¬ gelegen hatten, über deren Inhalt sich jedoch in den Akten nur ein nicht beweiskräftiger, übrigens auch vom Schiedsge¬ richt garnicht erwähnter, geschweige denn gewürdigter Aus¬ zug findet, einfordern und die verschiedene Beurtheilung des Zustandes des Klägers aufzuklären suchen, und zwar insbe¬ sondere mit Rücksicht auf die oben dargelegten Rechtsgrund- sätze auch in der Richtung, welche Schäden als Unfallfolgen oder auch als bereits vor dem Unfall vorhanden bei Gewäh¬ rung der Unfallrente von 50 Prozent berücksichtigt worden sind und ob etwa angenommen werden kann, dass — und von welchem Zeitpunkte ab — nach dem Unfallrentenbescheid die Folgen des Unfalls oder unabhängig von diesem die schon zur Zeit des Unfalls vorhandenen Leiden sich verschlimmert, oder noch andere Leiden beim Kläger sich eingestellt, und diese hinzugetretenen neuen Schäden oder Verschlimmerungen bereits berücksichtigter Schäden erst die Erwerbsunfähigkeit des Klägers herbeigeführt haben — oder ob die Schäden, auf Grund deren im gegenwärtigen Verfahren die Invalidenrente verlangt wird, im Wesentlichen dieselben sind, welche bereits im Unfallrentenverfahren ihre — wenn auch vielleicht nach der Auffassung des Schiedsgerichts nicht ganz zutreffende — Berücksichtigung gefunden haben. Thatsächlich enthalten die Akten der Berufsgenossenschaft das im Auszuge in den An* staltsakten vermerkte Gutachten des Dr. W. zu K. vom 5. No¬ vember 1898, in welchem dieser wegen der Schwere der Ver¬ letzung, die hier besonders hervorzuheben sei, da das ver¬ letzte Bein des Klägers an sich schon schwach sei, wegen der Bewegungsstörung im Kniegelenk und der langen Ent¬ wöhnung von der Arbeit eine Rente von 50 Prozent vorläufig Digitized by Google 15. Juli 1900. Aerztliche Sachverständigen- Zeitung. 298 für ein Jahr als angemessen bezeichnet. Dieses Gutachten ist schon insofern unklar und wenig überzeugend, als es, wie bemerkt, bei Schätzung des Grades der Erwerbsunfähigkeit das verletzte — also das rechte Bein „an sich schon schwach“ nennt, während vorher gesagt ist, das linke, also das nicht verletzte Bein sei seit Geburt schwächer und kürzer gewesen. Letzteres passt zu dem Befund des Dr. La R. Jedenfalls wird eine Aufklärung, wie sie für die zutreffende rechtliche Beurtheilung des Falles erforderlich ist, auch durch das Gut¬ achten des Dr. W. vom 5. November 1898 nicht geboten und auch nicht durch ein bei den Unfallakten vorhandenes neueres, zeitlich nach dem Gutachten von Dr. K. und Dr. La R. und nach dem Schiedsgerichtsurtheil liegendes Gutachten desselben Dr. W. vom 10. November 1899, welches übrigens in der Re¬ visionsinstanz sachlich auch nicht mehr verwerthet werden könnte. Es werden daher durch nähere ärztliche Auskunft und sonstige geeignete Aufklärung die erforderlichen Unter¬ lagen für eine zutreffende rechtliche Beurtheilung des Falles im Hinblick auf die bezeichneten gesetzlichen Bestimmungen zu beschaffen sein. M. Herzschlag. Betriebsunfall liegt vor. Rek.-Entscheidung vom 28. Februar 1900. Der auf der Zeche Centrum beschäftigt gewesene Berg¬ mann Rudolph Sp. ist am 28. April 1899 gestorben. An diesem Tage hat auf der genannten Zeche ein Grubenbrand stattgefunden und Sp. ist von den Rettungsmannschaften tot aufgefunden worden. Da nach dem Ergebniss der Obduktion der Leiche Sp. an Herzschlag ohne nachweisbare äussere Ein¬ wirkung gestorben sein soll, lehnte der Sektionsvorstand den Rentenanspruch der Wittwe und des Kindes ab, weil ein Be¬ triebsunfall nicht vorliege. Das Schiedsgericht nahm dagegen einen Betriebsunfall im Sinne des § 1 des Unf.-Vers.-Ges. als vorliegend an und verurtheilte die Berufsgenossenschaft zur Gewährung der gesetzlichen Wittwen- und Waisenrente. Der hiergegen vom Geuossenschaftsvorstande erhobene Rekurs wurde zurückgewiesen. Gründe: Sp. hat bis zur Meldung von dem Ausbruch des Brandes gearbeitet, ohne über Unwohlsein oder Ermattung zu klagen. Er ist sodann auf das gegebene Signal eine beträchtliche Strecke gegangen, auch über zwei steile Fahrüberhaue ge¬ klettert und ist demnächst erschöpft an der Stelle sitzen ge¬ blieben, an der er später todt aufgefunden worden ist. Er ist am Herzschlag verstorben. Angesichts der Meinungsäusserung des Königlichen Berg¬ revierbeamten, dass Sp. sich bei der Meldung von dem Grubenbrande erklärlicherweise habe in Angst und Auf¬ regung befinden müssen, und weiterhin der Ausführungen des aus Fachmännern bestehenden Schiedsgerichts, dass ein plötzliches Schicht - Klopfen die Bergleute naturgemäße ängstlich und besorgt mache und zur Eile treibe, lässt sich die Behauptung der Beklagten, dass Sp. weder beunruhigt gewesen, noch sich in Eile zur Ausfahrt begeben habe, füg¬ lich nicht aufrecht erhalten. Nun sind Angst, Aufregung und Ueberanstrengung er- fahrungsmässig häufig die Veranlassung zum Eintritt eines Herzschlages; es ist deshalb nicht abzusehen, weshalb sie nicht auch im vorliegenden Falle als wesentlich mitwirkende Ursachen des plötzlichen Todes des herzkranken Sp. ange¬ sehen werden sollten. Die Annahme eines rein zufälligen, jeglichen ursächlichen Zusammenhanges entbehrenden Zu¬ sammentreffens des Grubenbrandes und des Todes des Sp. ist nach der Ansicht des Rekursgerichts mit einer natürlichen und unbefangenen Auffassung der in Rede stehenden Ereignisse nicht vereinbar. Es ist vielmehr in dem zur Begründung der richterlichen Ueberzeugung erforderlichen Masse wahrschein¬ lich, dass Sp. seinen Tod in Folge eines Unfalls im Betriebe als wesentlich mitwirkender Ursache gefunden hat. (Compass.) Der Zusammenhang eines Bauchmuskelrisses mit einer Verrichtung im Betriebe wird verneint (Rek. Entsch. v. 18. IV. 1900.) Der Ziegeljunge H. behauptete, gelegentlich des Einhebens eines Rollwagens in das Geleise eine Muskelzerreissung in der rechten Leistengegend erlitten zu haben. Von der Ge¬ nossenschaft wurde erwogen, dass es sich bei der erwähnten Thätigkeit durchaus nicht um eine besonders anstrengende Arbeit handelte, sondern um eine solche, die zu den gewöhn¬ lichen Verrichtungen eines Ziegeljungen gehöre. Auch der Betriebsunternehmer erklärte, dass die fragliche Arbeit mit Leichtigkeit auszuführen sei. Gegen die Annahme, dass das Einheben des Wagens die Ursache des Leidens sei, sprach ferner der Umstand, dass der Verletzte weder seinen Mit¬ arbeitern noch dem Unternehmer von dem angeblichen Unfall Mittheilung gemacht hatte. Zudem meldete er sich erst nach drei Wochen krank. Der behandelnde Arzt gab auch nur die Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zu. Als das Schiedsgericht auf die Berufung des Klägers demselben eine Rente zubilligte, wandte sich die Genossenschaft auf dem Wege des Rekurses an das Reichs-Versicherungsamt. Letzteres hat unter dem 18. April 1900 den ablehnenden Bescheid der Ge¬ nossenschaft mit folgender Begründung wiederhergestellt: Das Rekursgericht hat aus der von den Vorinstanzen ver- anlasßten Beweisaufnahme nicht die Ueberzeugung zu ge¬ winnen vermocht, dass der Kläger am 16. September 1896 in Folge eines Betriebsunfalles eine seine Erwerbsfähigkeit be¬ einträchtigende Muskelzerreissung erlitten hat. Die Arbeit, bei welcher der Kläger den Körperschaden davongetragen haben will, bestand in dem Einheben eines Rollwagens im Gewicht von etwa 25 kg und erfordert nach dem Gutachten des Betriebsunternehmers so geringe Anstrengungen, dass selbst ein Junge sie mit Leichtigkeit ausführen konnte. Keiner der Mitarbeiter hat irgend etwas von einem Unfälle wahrge¬ nommen, weder ihnen noch dem Betriebsleiter ist ein Unfall gemeldet worden und der Kläger selbst hat seine Arbeit noch ununterbrochen drei Wochen lang fortgesetzt. Unter diesen Umständen muss es unwahrscheinlich erscheinen, dass die am 5. Oktober 1898 im Krankenhause festgestellte Muskelzer¬ reissung mit jenem Einheben des Rollwagens vom 16. Sep¬ tember 1896 in ursächlichem Zusammenhänge steht. Die Be¬ klagte hat deshalb mit Recht den auf die §§ 1, 5 des Unfall¬ versicherungsgesetzes gestützten Entschädigungsanspruch des Klägers abgelehnt. (Unf. Vers.-Pr.) Bücherbesprechungen und Anzeigen. Mugdan, Otto, Dr. Das Krankenversicherungsgesetz vom 15. Juli 1883 in der Fassung der Novelle vom 10. April 1892 etc. Kommentar für Aerzte. Leipzig. Georg Thieme. 1900. Das Krankenversicherungsgesetz, dieses wichtigste der sozialpolitischen Gesetze des deutschen Reiches hat, darüber ist sich wohl die Mehrheit der deutschen Aerzte einig, den Aerztestand sehr geschädigt. Seinen Gliedern Bind, soweit sie nicht zu der immer mehr sich verringernden Minderheit derer gehören, welche nur von Digitized by Google 294 Acrztliche Sachverständigen-Zeitnng. No. 14. der Privatpraxis bei den Begüterten leben können, die Nach¬ theile eines freien Erwerbsstandes, nämlich die Unsicherheit des Einkommens und der Mangel an Alters-, Invaliditäts- und Wittwenversorgung geblieben, während die freie Bewerbung um das Vertrauen des Publikums dadurch behindert wird, dass der weitaus grösste Theil der erwerbenden und „konsum¬ fähigen“ Bevölkerung unter dem Kassenzwang steht. Dadurch trat an Stelle des freien Wettbewerbes die oft drückende Ab¬ hängigkeit von den Kassenvorständen und ein bedauerlicher Tiefstand der Entlohnung der ärztlichen Leistungen. Diese Missstände verdanken zum grössten Theile ihre Entstehung nicht den Bestimmungen des Gesetzes selbst, sondern seiner den Aerzten ungünstigen Ausführung, welche allerdings durch die gleichzeitige Ueberfüllung des ärztlichen Studiums und Berufes begünstigt wurde. Zur Heilung oder wenigstens Besserung der Schäden ent¬ stand vor circa 10 Jahren eine Bewegung, deren Endziel war: Schaffung gleicher Verhältnisse für die Kassenmitglieder wie für die selbst den Arzt Zahlenden, d.h. Einführung freier Arztwahl. Der Verfasser vorliegenden Werkes war und ist einer der eifrigsten und geschicktesten Vorkämpfer jenes Prinzips. Er iBt viel befehdet worden wegen der agitatorischen Art seines Vorgehens. Die ihm näher standen, haben an seinem Werthe nie gezweifelt. Sie wussten, dass sein Kampf nicht der Aus¬ fluss nothleidenden, persönlichen Missvergnügens sondern das selbstlose Ringen für ein Lebensideal war. Jetzt, wo seine Sturm- und Drangperiode vorüber ist, giebt er den deutschen Aerzten im vorliegenden Werke den Ge- sammtinhalt langjährig erworbener und geklärter Kenntnisse und Erfahrungen. Er hat es herausgefühlt, dass trotz der vielen und ge¬ rühmten Kommentare zum Krankenversicherungsgesetz keiner exi8tirt, welcher den Bedürfnissen des ärztlichen Standes an¬ gepasst ist. Er schuf ein Buch, welches dem Arzte das Studium der deutschen Krankenversicherung erleichtern, dann aber ihm bei Abschluss oder Erneuerung von Verträgen mit Krankenkassen- vorständen, in Versammlungen und im Verkehr mit den Be¬ hörden ein zuverlässiger Berather sein und zu gleicher Zeit Allen, auch den Nichtärzten, zeigen soll, dass die Behebung der Uebelstände, welche den deutschen Aerztestand durch das Gesetz getroffen haben, durchaus nicht so grosse Schwierig¬ keiten bietet, wie Manche meinen, dass sie im Interesse aller Betheiligten liegt und eine bessere Gestaltung der Kranken¬ versicherung bedeutet. Mugdan hat seine Aufgabe in ausgezeichneter Weise gelöst. Das, was er bietet, ist übersichtlich und klar in der Form und erschöpfend im Inhalt. In erster Reihe erläutert er das Krankenversicherungs¬ gesetz, dann folgen Auszüge aus dem Unfall- und Kranken- vereicherungsgeBetz der land- und forstwirtschaftlichen Ar¬ beiter, dem Invalidenversicherungsgesetz vom 13. Juni 1899 sowie das Gesetz über die freien Hilfskassen in der Fassung vom 1. Juni 1884, ebenfalls mit Erläuterungen. Den Anhang bilden Beispiele von Krankenkassenstatuten und Verträgen sowie von einer Instruktion für die Mitglieder eines Vereins freigewählter Kassenärzte. Die Erläuterungen sind so gefasst, dass sie alle in Be¬ tracht kommenden Tagesfragen der ärztlichen Praxis er¬ schöpfen. Wir finden da die Grundsätze und Entscheidungen über die Entlohnung von Nichtkassenärzten für kassenärztliche Leistungen, die Abgrenzung des Umfanges der kassenärztlichen Pflichten, die Beziehungen der Krankenkassen zu den Berufs¬ genossenschaften, die Grundsätze bei Uebernahme des Heil¬ verfahrens durch die Invaliditätsversicherungs-Anstalten etc., kurz, eine grosse Reihe von Dingen, über welche, nach den Anfragen bei Fachzeitungen zu schliessen, viele Praktiker in hilfloser Unklarheit sich befinden. Diejenigen Ausführungen, welche von der Möglichkeit der Durchführung der freien Arztwahl und der Art ihrer Einrich¬ tung handeln, dürften jetzt besonders lehrreich sein, wo wir vielleicht am Vorabend der gesetzlichen Einführung einer solchen Massregel stehen. In allen Einzelheiten zeigt der Verf. eine umfassende Kenntniss von Gesetzen, Verwaltungsbestimmungen und Ent¬ scheidungen. Immer bemüht er sich den Wortlaut juridischer Ausführungen möglichst zu kürzen und in der Form den Aerzten verständlich zu machen. So ist das vorliegende Werk ein wirkliches Gebrauchs¬ buch für die Praxis und sichert dem Verfasser die Anerkennung von Freunden und Gegnern. L. Springfeld u. Siber. Die Handhabung der Gesundheits¬ gesetze. Bd. IV. Die Rechte und Pflichten der Unternehmer gewerblicher Anlagen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer von Roth, Geh. Reg.- und Med.-Rath in Potsdam, Tschorn, Gewerbetechn. Hilfsarbeiter und Ver¬ treter des Reg.- und Gewerberaths am Pol.-Präs. in Berlin, Dr. Wetzel, Gewerbe Inspektions-Assistent in Berlin. Ber¬ lin 1899. Rieh. Schoetz. 787 Seiten. Pr. 15 M. Ein zuverlässiger Führer durch die komplizirte Gewerbe- gesetzgebung, in welcher sich an die Reichsgewerbeordnung eine grosse Reihe von Gesetzen 'und Verordnungen angeglie¬ dert haben, fehlte bis jetzt, namentlich aber ein Führer, wel¬ cher für Beamte, Arbeitgeber und -uehmer in gleicher Weise verständlich und übersichtlich ist. Zur Schaffüng eines solchen konnten nur Männer bernfen sein, welche die Handhabung der Gesetzgebung aus eigener praktischer Erfahrung kannten uud deshalb konnte ein Ein¬ zelner die Bearbeitung dieses Theiles des Springfeld-Siber- schen Sammelwerks nicht übernehmen. Dass die Verfasser berufen dazu waren und ihrer Aufgabe vollauf gerecht geworden sind, lehrt der Inhalt des Buches. Dasselbe ist trotz der Theilung des Stoffes gleichmässig klar uud übersichtlich, wie aus einem Guss. Ueberall ist die Sprache für Jedermann verständlich. Es handelt sich in dem Werke nicht etwa um eine An¬ einanderreihung behördlicher Bestimmungen im Wortlaut, um eine vorwiegende Gesetzessammlung, nein um einen fortlau¬ fenden erklärenden Text, in welchen die wichtigsten Gesetzes¬ und Verwaltungsvorschriften organisch eingefügt sind und immer wird in den Erklärungen betont, wie die Praxis diese und jene Verfügung verstanden und angewendet hat. Auch die Eintheilung richtet sich nach rein praktischen Erwägungen. So werden die gewerblichen Anlagen nicht, wie in manchen Handbüchern der Gesundheitspflege, nur nach der Art des Be¬ triebes, sondern nach der Art der Genehmigungspflicht (Stadt¬ ausschuss; Bezirksausschuss nach § 16 der Gew.-O. und Dampf¬ kessel nach § 24 der Gew.-O.) eingetheilt. Ein chronologisches Register der Gesetze und Verfügungen, sowie ein ausführliches Sachregister erleichtern die Brauch¬ barkeit. Wir sehen in diesem Buche eine werthvolle Bereicherung der einschlägigen Litteratur und machen die Medizinal¬ beamten, welche von jetzt ab bei der Konzessionirung ge¬ werblicher Anlagen wieder in ihre Rechte getreten sind, be¬ sonders darauf aufmerksam, L. Digitized by Google 15. Juli 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 295 Isclireyt, G. Ueber septische Netzhautveränderungen. Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Augenheilkunde, herausgegeben von Vossius. Band III Heft 7. 24: Seiten. Preis Mk. 0,80. Bei allgemeiner Septiko-Pyämie kann das Auge im wesent¬ lichen in zwei verschiedenen Erkrankungsformen betheiligt sein. Entweder tritt infolge einer auf dem Wege der Blut¬ bahnen erfolgenden Infektion des Auges mit Mikroorganismen eine heftige eitrige Entzündung, die metastatische Ophthalmie auf oder es entwickelt sich das Bild der Retinitis septica. Biese Erkrankung setzt lediglich mit dem Augenspiegel sicht¬ bare Veränderungen, während das Auge äusserlich betrachtet durchaus normal erscheint. Man findet hauptsächlich in der Umgebung der Sehnervscheibe Blutungen und weisse Herde in sehr wechselnder Anzahl. Stärkere Entzündungserscheinungen fehlen, insbesondere sind die Grenzen der Papilla optica durch¬ aus scharf. Die Retinitis septica findet sich sowohl bei akuten als bei chronischen Formen von Septico-Pyaemie, sie kann wenige Tage, aber auch viele Wochen vor dem Tode auf- treten, bedingt jedoch durchaus nicht immer eine schlechte Vorhersage quoad vitam. Die Nelzhautveränderungen pflegen lange Zeit hindurch unverändert fortzubestehen. Bleibt das Beben erhalten, so können Bie vollständig verschwinden. Sehr wichtig ist die Retinitis septica in diagnostischer Hinsicht. Allerdings finden sich ähnliche Veränderungen, namentlich Blutungen, auoh bei vielen anderen Allgemeinleiden. Handelt es sich aber um die Unterscheidung von Miliartuberkulose, Abdominaltyphus oder Meningitis von Septikopyaemie, so spricht das Vorhandensein von Netzhautblutungen stets für letztere Erkrankung. Die beste Erklärung für die Entstehung der septischen Netzhautveränderungen giebt die zuerst von Roth aufgestellte, später vielfach bestrittene, dann aber wieder allgemein anerkannte Annahme, dass es sich um eine chemische Veränderung des Blutes handelt, welche infolge Ernährungs¬ störung eine abnorme Durchlässigkeit der Gefässwände be¬ dinge. Eine Embolie der Netzhautgefässe mit im Blute kreisenden Bakterien können wir nach den neueren mikro¬ skopischen Untersuchungen erkrankter Augen nicht als Ur¬ sache der Retinitis septica anBprechen. Groenouw. Wilbrand und Saenger. Die Neurologie des Auges. Ein Handbuch für Nerven- und Augenärzte. 1. Band 2. Abtheilung Seite 307—696. Mit 88 Textabbildungen. Wiesbaden 1900. I. F. Bergmann. Ueber die erste Abtheilung dieses Werkes haben wir be¬ reits im vorigen Jahrgange dieser Zeitung Seite 222 berichtet. In der vorliegenden zweiten Abtheilung wird zunächst die Besprechung der Ptosis fortgesetzt. Es wird die Ptosis bei Syphilis, bei Gehiruleiden, nach Traumen, bei verschiedenen Nervenleiden, im Schlafe u. s. w. ausführlich abgehandelt. Dann folgen die Beziehungen des Facialis zu den Augen¬ lidern sowie die Krampf- und Lähmungszustände der von diesem Nerven versorgten Muskeln. Hiermit schliesst der erste Band dieses ausserordentlich .sorgfältig und ausführlich bearbeiteten Werkes ab. Groenouw. Kisch, Prof. Dr. H. Die Prophylaxe der Sterilität. Supplement zu Nobiling Jankau’s: Handbuch der Prophy¬ laxe. München b. Seitz u. Schauer. Verf. bearbeitet sein Thema von den drei Gesichts¬ punkten, dafür zu sorgen: 1. dass die Keimbildung beim Weibe in normaler Weise erfolge, dass die Ovula normal entstehen und zur Reife gelangen; 2. dass die Conjugation von Sper¬ makern und Eikern, der gegenseitige Kontakt normal be¬ schaffener und erhaltener Spermatozoen mit dem Ovulum er¬ möglicht werde; 3. dass der Uterus geeignet sei, der Bebrütung des befruchteten Eies stattzugeben. Der therapeutische Stoff ist geschickt gruppirt ohne Neues zu bringen. Schwarze. Zur Besprechung eingegangen: Alt, Dr. Konrad. Allgemeines Bauprogramm für ein Landesasyl zur ausgedehnteren Einführung der familiären Irrenpflege. Mit 2 Tafeln. Halle 1900. Carl Marhold. 39 S. 2 M. Ammann, Dr. E., Augenarzt in Winterthur. Die Begutach¬ tung der Erwerbsfähigkeit nach Unfallverletzungen des Sehorgans. München, J. F. Lehmann, 1900. 80 S. Pr. 2 M. Jessner, Dr. S. Compendium der Hautkrankheiten einschliesslich der Syphilide und einer kurzen Kosmetik. Königsberg, Thomas u. Oppermann, 1900. 318 S. Lenhartz, Dr. Hermann, Prof, der Med. u. Krankenhausdirek¬ tor in Hamburg. Mikroskopie und Chemie am Kran¬ kenbett. 1H. Aufl. Berlin 1900. Julius Springer. 360 S. 8 Mark. Möbius, Dr. P. J., in Leipzig. Ueber Entartung. Grenz¬ fragen des Nerven- und Seelenlebens. Herausgegeben von Löwenfeld und Kurella. Heft III. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1900. 123 S. 1 M. Tagesgeschichte. Der 28. Deutsche Aerztetag in Freiburg. Unter den Gegenständen der Tagesordnung interessirt zunächst: Die Nothwendigkeit der obligatorischen Leichenschau. Dieselbe wurde von Becher-Berlin begrün¬ det. Die Leichenschau sei nothwendig, um Verbrechen nicht unentdeckt zu lassen, um die herrschenden oder eindringenden ansteckenden Krankheiten in jedem Falle zu erkennen, die »Engelmacherei“ aufzudecken. Die Furcht vor dem Lebendig¬ begrabenwerden werde geringer werden. Geeignet seien als Leichenschauer ausschliesslich Aerzte. Die Kosten würden nicht zu bedeutend sein. In auffällig scharfen Worten wandte sich der Badische Medizinalrath Battlehner, Mitglied des Reichsgesundheits¬ amts, gegen die preussische Regierung. In Baden sei die Leichenschau seit 80 Jahren eingeführt, in Preussen scheine sie an der Regierung zu scheitern, der auch die Mangelhaftig¬ keit des Reichsseuchengesetzes zu danken sei. Die Forderung der obligatorischen Leichenschau wurde einstimmig, die der Ausführung durch Aerzte mit allen gegen 2 Stimmen angenommen. Die zweite Erörterung von allgemeiner Wichtigkeit betraf die Einführung eines praktischen Jahres nach been¬ detem klinischem Studium (Antrag Leipzig-Land). Götz- Leipzig führte aus, dass neben Krankenhäusern auch erfah¬ rene praktische Aerzte zu diesem Theil der Ausbildung der Aerzte herangezogen werden müssen. Battlehner stellt als Mitglied der Reichsprüfungskom¬ mission die Aufnahme des praktischen Jahres in die dem¬ nächst zu erlassende Prüfungsordnung in sichere Aussicht, hält aber die Zuziehung der Praktiker für überflüssig. In Kliniken und Krankenhäusern sei genug Gelegenheit zur Uebung für die angehenden Aerzte. Die Versammlung ging über den Antrag zur Tagesordnung über. Henius sprach sodann über die Bedeutung des Sa¬ mariter- und Rettungswesens für den ärztlichen Stand. Nach längerer Debatte wurden folgende von ihm auf- Digitized by Google 296 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 14. gestellte, von der Versammlung z. Th. etwas abgeänderte Thesen angenommen. „Die Ausübung der ersten Hilfe bei Unglücksfallen und plötzlichen Erkrankungen steht den Aerzten zu. Nur in den¬ jenigen Fällen, in denen ärztliche Hilfe nicht sofort zu be¬ schaffen ist, namentlich auf dem Lande und in kleinen Städten, ist die Hinzuziehung des Laienelements zulässig. Dooh sollen sich die für die Leistung der ersten Hilfe eigens von Aerzten ausgebildeten Samariter darauf beschränken, dem Verletzten Alles fern zu halten, was ihm schaden könnte und ihn mög¬ lichst sohnell ärztlicher Versorgung zu übergeben. Die in grossen Städten zu treffenden Einrichtungen zur Beschaffung erster ärztlicher Hilfe bei Unfällen oder plötz¬ lichen Erkrankungen (Rettungswachen, Unfallstationen, Sani¬ tätswachen) sollen von den städtischen Verwaltungen unter¬ halten oder finanziell sichergestellt werden. Sie entsprechen nur dann gleichmässig den Interessen des Publikums wie der Aerzte, wenn sie 1. bezüglich ihrer Einrichtung und ihres Betriebes einer ärztlichen Oberleitung unterstehen, wenn 2. auf der Wache selbst oder am Orte des Unfalls resp. der Erkrankung die Hilfe von Aerzten geleistet wird, 3. wenn sie sich darauf beschränken, nur die erste und nur einmalige Hilfe zu gewähren, 4. wenn die Theilnahme am Rettungsdienst sämmtlichen Aerzten gestattet wird, die sich bestimmten vertragsmässig festzusetzenden Bedingungen unterwerfen, welche den ärzt¬ lichen Standesvertretungen zur Genehmigung vorgelegt wer¬ den können, 5. wenn sie über geeignete Transportmittel verfügen, um Verletzte und Schwerkranke möglichst schnell und in zweck¬ mässiger Weise in ihre Wohnung oder in ein Krankenhaus zu schaffen, 6. wenn sie ausser der Gewährung erster Hilfe keinerlei Nebenzwecke verfolgen, 6a. wenn der Oeffentlichkeit keinerlei Mittheilung über Vorkommnisse bei dem Verletzten und Erkrankten gemacht wird, 7. wenn den Unbemittelten die Hilfe unentgeltlich, sonsti¬ gen Patienten nach den üblichen Taxsätzen geleistet wird.“ Die Errichtung einer Auskunftstelle für Nieder¬ lassung deutscher Aerzte im Auslande wurde grund¬ sätzlich beschlossen, der Ort dafür aber noch nicht bestimmt. Berlin und Hamburg würden in die engere Wahl kommen. Im Anschluss hieran wurde einer Anregung Beckers Folge gegeben, die Schaffung einer C entrale für alle ärztlichen Rechts¬ angelegenheiten vorzubereiten. Der Geschäftsausschuss wurde mit der Ernennung einer fünfgliederigen Kommission beauftragt. Aus den Berathungen der Kommissionsberichte sei noch Einiges hervorgehoben. Nach Beschluss des Lebensversicherungs- Ausschusses wurde den ärztlichen Vereinen widerrathen, Honorar¬ forderungen aufzustellen, die über die zwischen dem Bunde und den Gesellschaften früher vereinbarten hinausgehen. Auch eine Erhöhung der Gebühren gegenüber Privatunfallgesell¬ schaften wurde im Sinne des guten Einvernehmens abgelehnt. Gegen die Zuziehung von Kurpfuschern bei Unfällen. Zur Kenntniss der Berufsgenossenschaften ist es mehr¬ fach gelangt, dass Personen, die in dem Rufe von Kur¬ pfuschern stehen, sich auffällig und unter allerhand falschen Vorspiegelungen darum bemüht haben, die Behandlung Un¬ fallverletzter zu übernehmen, was ihnen auch verschiedent¬ lich gelungen ist. Da in allen diesen Fällen die Heilerfolge fast negativ gewesen sind, ist angeordnet worden, dass solche Personen unter keinen Umständen, auch wenn sie eine be¬ deutende Privatkundschaft haben sollten, für die Zwecke der Unfallversicherung bei Unglüoksfällen herangezogen werden dürfen. (D. Arb.-Ztg.) Schulärzte sind im Herzogthum Sachsen-Meiningen auf Staatskosten an¬ gestellt worden, und zwar mit einigen bemerkenswerten Be¬ stimmungen. Zunächst sollen einmal alle Schulkinder ge¬ sundheitlich untersucht werden. Die Mädchen der 4 obersten Schuljahre sollen aber — ausser bezüglich der Augen — nur auf besonderen Wunsch der Eltern in diese Bestimmung inbe¬ griffen sein. Später sollen jedes Jahr nur die zukommenden und abgehenden Kinder und die, bei denen körperliche oder geistige Fehler vom Arzte oder später vom Lehrer wahr¬ genommen werden, zur Untersuchung kommen. Bei den am Ende der Schulzeit stehenden Knaben ist die Untersuchung besonders des zu ergreifenden Berufes wegen wichtig. Das Untersuchungsergebniss wird für Lehrer und Arzt Amts- geheimniss. Die Ansteckungsgefahr im Eisenbahnwagen und in den Kurorten. Der Warnungsruf, den Kob er t (cf. Referat in Nr. 1 dieses Jahrgangs) kürzlich erklingen liess, ist von einem österreichischen Arzte Dr. Schwarz aus Baden bei Wien an¬ lässlich des Anfang April abgehaltenen Balneologen-Kongresses in Ragusa ebenso dringlich wiederholt worden. Er richtet an alle Aerzte die dringliche Mahnung, keuchhustenkranke Kinder nicht, wie es bisher geschieht, wegen des vermeint¬ lichen Nutzens eines Klimawechsels nach den Kurorten zu verschicken. Sie verseuchen die Wagen, in denen gerade jetzt im Sommer zahllose gesunde Kinder fahren, sie ver¬ seuchen die Kurorte — und, so behauptet Schwarz wenigstens, sie haben selbst keinen Nutzen davon. Er hat Kinder mit Keuchhusten von Wien nach dem Semmering, von da nach Baden, dann nach Görz und endlich nach Abbazia schicken Behen — eine ungeheure Ansteckungsgefahr für Andere und doch kein Erfolg bei den Kranken selbst. Schon Niemeyer hat gesagt, dass der Arzt eine schwere Verantwortung auf sich ladet, wenn sein ohne weitergehende Fürsorge ertheilter Rath eines Ortswechsels eine Verschleppung der Krankheit veranlasst. Seitdem ist das gleiche wiederholt, u. A. in Berlin 1899 von Sieb eit, betont worden, aber in Fleisch und Blut ist es den Aerzten im Allgemeinen nicht übergegangen. Die Verwaltungsberichte der Elbschifffahrts- und der See- Berufsgenossenschaft über das Jahr 1899 welche uns zugegangen sind, enthalten manche recht inter¬ essante Einzelheiten. Während bei der See-Berufsgenossen¬ schaft der Abschnitt „Ausbau der Unfallverhütungsvor- schriffcen“ eine ganze Reihe wichtiger Neuerungen enthält, ist es bei der Elbschifffahrt hauptsächlich der Bericht der Vertrauensärzte Dr. Maröchaux und Dr. Jessen, der eine dankenswerthe Zugabe darstellt Besonders gerühmt werden in dem Bericht die Erfolge der möglichst oft veranlassten Behandlung in medico-mechanischen Instituten. Die schweren Unfälle haben abgenommen, auch die Zahl der „Querulanten 11 soll geringer geworden sein, sodass das Gesammtergebniss des Berichtes ein sehr erfreuliches ist. — Druck von Albert Daracke, Berlin-Schön eberg. Digitized by V ) Verantwortlich für deo lobnlt: Dr. P. [jeppmann ln Berlin. — Verlag nnd Blgeothnm von Richard Bchoeta ln Berlin. Oie „A entliehe SachYeret&udigen.Zeitimg“ eneheint monatlich zweimal. Dieselbe iat zu beziehen dnrch den Buchhandel, die Post (No. Sfi) oder dnreh die Verlagsbuchhandlung von Richard 8choetz, Berlin NW., Lniaenstr. 86, znm Preise ▼on Mk. 5 . — pro Vierteljahr. Aerztliche Alle Sfannskripte, Mittheilungen nnd redaktionellen Anfragen beliebe man zu senden an Or. F. Leppmann, Berlin W., Knrihrstenstr. No. 8. Korrektoren, Rezenaions-Exemplaie, Sonderabdrücke an die Verlagsbuchhandlung, Inserate und Beilagen an die Annoncen.Expedition ron Rudolf Möwe Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständ genthät gke t des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und Unfall-Heilkunde. Herausgegeben ▼on Dr. L. Becker Dr. A. Leppmann Dr. F. Leppmann Geh. Sanitltarath, König!. Phyaikus, Vertrauensarzt Sanitfttsrath, Königlicher Physiku«, Arzt der Reobachtungsanstalt für geiatee- rakt. Arzt ▼on Bernfkgenoesensohaften und Schiedsgerichten. kranke Gefangene in Moabit-Berlin, Spezialarzt für Nerven, n. Geisteskranke. Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstrasse 36. VI. Jahrgang 1900. 15 . Ausgegeben am '. August. Inhalt: Originallen: A. Leppmann, Ist traumatische Neurasthenie Siechthnm im Sinne dos § 224 des R. St. G.? S. 297. Jo na8, Strychninvergiftung durch Syrup. hypophosph. Fellows. S. 299. Referate: Allgemeines. Sammel bericht. Arbeiten zur Blutuntersuchung, ß. 300. Chirurgie. Schulz, Traumatische Wirbelerkrankungen (Spondylitis traumatica). S. 302. Schanz, Spondylitis typhosa. S. 302. Hahn, Tuberkulose der Knochen und Gelenke des Fussen. S.303. Cotton, Epiphysenlösung am Ellbogen. S. 304. Neurologie und Psychiatrie. Verletzung des plexus sacralis. S. 304. Gau pp, Aetiologie und Symptomatologie der multiplen Sklerose. S. 304. Hoppe, Wiederholte Brandstiftungen unter Einfluss des Alkohols. S. 305. Altmann, Sadismus (?) ß. 305. Vergiftungen. Abrahams, Tödtlicher Fall von Carbolsäure-Ver¬ giftung bei einem Kinde, in Folge Aufnahme des Giftes von der Haut aus. S. 305. Heim, Drei Fälle von ßantoninvergiftung in einer Familie. S. 305. Brouardel, Atropinvergiftung. S. 306. Preobrashensky, Zur Casuistik der Ptomainparalysen. S.316. Gynaecologisches. Haberda, Ueber der anatomischen Nachweis der erfolgten Defloration. 8. 306. Schaffer, VicariirendeBlutungen u. i. forensische Bedeutung. S.307. Neugebauer, Zufällige Zurücklassung eines sub operatione be¬ nutzten Fremdkörpers in der Bauchhöhle. S. 308. Ohren. Hagedorn, Ursachen und Folgen der Erkrankungen des Warzentheils und ihre Behandlung. S. 309. Okada, Diagnose und Chirurgie des otogenen Kleinhirn- abscesses. S. 309. Aus Vereinen und Versammlungen. Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. (Versammlungsbericht.) S. 309. Gerichtliche Entscheidungen :AusdemReichs - Versicherungs-Amt: Die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit muss im wirtschaft¬ lichen Leben als ein messbarer Schaden in Betracht kommen, um einen Rentenanspruch zn bedingen. — Geringfügige Unter¬ schiede in der Schätzung der Erwerbsunfähigkeit liegen innerhalb der natürlichen Fehlergrenze. — Grad der Erwerbsverminderung. Eine Anordnung an den Rentenempfänger, angemessene Arbeit zu verrichten, ist zugleich mit dem Angebot solcher Arbeit zu verbinden. S. 311. Aus dem Ober-Verwaltungsgericht: Vom GlünickeschenHeil¬ verfahren. S. 313. Bücherbesprechungen u. Anzeigen: Amoedo: Die Zahnheilkunde in der gerichtlichen Medizin. — Zur Besprechung eingegangen. S. 3L3. Tagesgeschichte: Statistik der Heilbehandlung bei den Versicherungs¬ anstalten und zugelassenen Kasseneinrichtungen der Invaliden¬ versicherung für die Jahre 1897, 1898, 1899. — Ein Versuch zur Eindämmung des Aethermissbrauchs in Ostpreussen. — Die Graphologen als gerichtliche Sachverständige. — Das Programm der 72. Naturforscher-Versammlung. S. 314. Ist traumatische Neurasthenie Siechthum im Sinne des § 224 des R. St. G.? Von San.- Rath Dr. Leppmann - Berlin. Kgl. Bez.-Physikus etc. Das Reichs-Strafgesetzbuch stuft bei vorsätzlichen Straf- thaten den Grad der Strafe sehr wesentlich nach dem Umfange des angerichteten Schadens ab und zwar ganz unabhängig davon, ob die Verursachung des Schadens in dem entstandenen Maasse von dem Thäter beabsichtigt war, ja selbst unabhängig davon, ob sie von demselben vorausgesehen werden konnte. Dieses Uebertragen des biblischen Auge um Auge und Zahn um Zahn in die Strafrechtspflege macht einzelne Momente im Leben eines jeden im Geltungsbereich des Deutschen Strafgesetzbuches Lebendend zu einer Art Glücksspiel. Dies zeigt sich bei keiner Strafthat mehr als wie bei Körper¬ verletzung. Jeder harmlos gemeinte und aasgeführte Schlag kann den, der ihn austheilt, Jahre lang seiner Freiheit berauben wenn der Verletzte eine jener dauernden Folgen zurück behält, welcher der § 224 des Strafgesetzbuches umgreift. Bei allen den dort genannten schweren Gebrechen kann der verbrecherische Wille ein verhältnismässig gerin¬ ger gewesen sein, namentlich aber tritt das Missverhältniss zwischen Grösse der verbrecherischen Absicht und Grösse des angerichteten Schadens dann hervor, wenn es sich um nervöse Verletzungsfolgen handelt. Ein Schlag, der kaum den Begriff einer thätlichen Be¬ leidigung sonst erfüllen würde, kann die Entstehung einer Geistesstörung zur Folge haben, wenn der Verletzte ein zum Erkranken vorbereitetes Individuum ist, wenn die leichte Körper¬ beschädigung sich zu einer Menge anderer Schädlichkeiten, welche vorher den Geist bereits allmählich morsch gemacht haben, dazu addiert. Aehnlich ist es mit dem Verfall in Siechthum. Auch dieser gehört zu den Folgen, welche die Verletzung zu einer schweren im Sinne des § 224 macht. Siechtum ist bekanntlich nach der durch das Reichs¬ gericht festgesetzten Rechtsauslegung ein chronischer Krank¬ heitszustand, welcher den gesammten Organismus des Verlezten ergriffen hat und zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens, zu einem Schwinden der Körperkräfte und zur Hinfälligkeit geführt hat. Unheilbar braucht ein solcher Zustand nicht zu sein, es liegt aber in dem Wortbegriff, dass eine Heilung in absehbarer Zeit nicht bestimmbar ist. Wenn wir uns nach Krankheitsformen umsehen, deren Entstehung von Körperbeschädigungen abhängig ist, und welche Digitized by AjOOQle 298 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 15. diesen Begriff erfüllen, so werden sich, ich möchte sagen, un willkürlich unsere Blicke in erster Reihe auf die traumatische Neurasthenie richten, welche meist der obigen Erläuterung des Siechthumsbegriffs wörtlich entspricht. Bei dieser aber lehrt uns die Unfallbegutachtung mit erheblicher Häufigkeit, dass das greifbare Missverhältnis zwischen Grösse der Ver¬ letzung und VerletzungsWirkung fast zur Regel wird. Freilich sollen dabei die sozialen Folgen der Beschädigung eine erhebliche Rolle spielen, aber in unserer nervösen Zeit, wo es eine ganze Reihe von Menschen mit leicht erschütter¬ barem Nervensystem giebt, wird man auch genug Zustände von traumatischer Neurasthenie nach solchen Körperbeschädi¬ gungen beobachten, wo die Begeh nun gs- und Angst Vor¬ stellungen, deren Wirkung man bei Betriebsunfallverletzten hervorgehoben hat, keine Rolle spielen. Auch besteht gerade bei den absichtlichen, strafrechtlich zu ahndenden Körperbeschädigungen eine gewisse Analogie mit den Betriebsunfällen, da auch hier materielle Folgen (civilrechtliche Entschädigung, gerichtliche Busse) in Frage kommen. In der Litteratur der letzten Jahre ist die vorliegende Frage casuistisch wenig berührt. E. Schnitze hat in dieser Zeitschrift einen Fall von traumatischer Hysterie mit Anfällen (Jan. 1898, No. 14) allerdings nach erheblicher Misshandlung entstanden, veröffentlicht, und in Friedreichs Blättern (Januar- Februar 1900) findet sich ein Fall von Wickel von typischer Neurasthenie nach Kopfverletzung, welche beide zweifellos als Siechthum gedeutet werden mussten. Glücklicherweise ist auch die Regel, dass eine trauma¬ tische Neurasthenie den Begriff des Siechthums erfüllt, nicht ohne Ausnahme. Dies beweist mir ein lehrreicher Fall, den ich jüngst zu begutachten hatte. Freilich zeigt auch dieser Fall, von welchen äusseren Zu¬ fälligkeiten der Ausgang einer solchen Begutachtung abhängig ist Wären die Vorermittelungen in diesem Falle eher ab¬ geschlossen gewesen, und hätte ich in Folge dessen den Ver¬ letzten eher zu begutachten gehabt, wie vier Monate nach stattgehabter Verletzung, so hätte mein Gutachten wahrschein¬ lich gelautet, dass es sich um einen in seinem Ausgang un¬ absehbaren wesentlichen allgemeinen Erkrankungs- und Schwächezustand, d. h. um ein Siechthum gehandelt hätte. Der Fall ist in der üblichen gutachtlichen Form folgender: I. T hat sächlich es. X., 24 Jahr alt, stammt nach seinen Angaben aus einer Familie, in welcher Geistes- und Nervenkrankheiten nicht vorgekommen sind. Er besuchte die Schule bis Prima und wurde nicht Soldat wegen eines Augen¬ fehlers (Astigmatismus). Mit 18 Jahren litt er ca. ein halbes Jahr lang an Darmkatarrh. Vor 2 Jahren hatte er eine Blind¬ darmentzündung, dieselbe begann plötzlich in seinem Amte mit sehr starken Schmerzen, sodass er zusammenknickte. Abgesehen davon will er nie krank gewesen sein, nament¬ lich nie an Krämpfen und Ohnmächten gelitten, auch nie eine Geschlechtskrankheit gehabt haben. Er betrieb vor seiner jetzigen Erkrankung den Rudersport. Seit 1895 ist er in den Bureaux einer Gemeinde thätig. Seit 5. Juni 1898 ist er verlobt. Am 22. Juli 1899 erlitt er, aus Anlass eines Wortwechsels mit dem Gemeindebeamten Y. nach seinen Angaben, welche wohl durch die Bekundungen der Augenzeugen unterstützt werden, einen Schlag mit der Faust oder mit der Hand ins Genick. Es war ein Streit aus geringfügiger Ursache. Y. war ins Bureau gekommen und hatte aus Anlass des Beginns seines Sommerurlaubs übermüthig laut gesprochen. X. hatte sich das verbeten und als Y. sagte, er liesse sich von ihm nichts sagen, hatte er einen Tintenwischer gegen ihn geworfen. Hierauf erfolgte der Schlag, wohl als abgeglittene Ohrfeige. Dem H. wurde es, wie er erzählt, sofort schwarz vor den Augen, er bekam Brausen im Kopfe und Sausen vor den Ohren, fiel aber nicht um. Er meldete den Vorfall seinem Bureauvorsteher und schrieb mit Unterstützung eines Gemeindebeamten Z. eine Anzeige an seine Vorgesetzte Behörde. Dabei trat Schwindel und Uebelkeit bei ihm ein und er wurde von einem Kanzlisten zu dem prakt. Arzt Dr. W. geführt. Dieser fand laut seinem Attest vom 22 . Juli den X. als einen blassen und benommen aussehenden Patienten, welcher mit schwacher Stimme sprechen und nur mit Unterstützung sich aufrecht erhalten konnte. Er hatte beständige Neigung zum Erbrechen, fiel von Zeit zu Zeit in Ohnmacht, hatte eine träge Pupillarreaktion und einen schwachen und langsamen Puls. Vom Arzte begab sich X. nach seiner Wohnung, indem er ca. V 4 Stunde die Pferdebahn benutzte und dann noch 5 bis 10 Minuten zu Fuss ging. Dort lag er zunächst 14 Tage zu Bett und wurde mit Eis¬ blase und Abführmitteln behandelt. Er will in dieser Zeit 12 Pfund abgenommen haben. Dann ging er in Behandlung des prakt. Arztes Dr. V. über. Dieser berichtet in einem Zeugniss vom 8 . August, X. habe damals den Eindruck hochgradiger Blutarmuth gemacht. Seine Pupillarreaktion sei träge, die Kniescheibenrefiexe seien garnicht zu erzielen gewesen. Die sonstigen Körperorgane waren gesund, der Puls war ruhig, im Urin waren keine krankhaften Bestandtheile. X. ging am 15. August nach einem ländlichen Badeorte, wo er kohlensaure Bäder nahm und einen Monat verblieb. Alle Arztberichte stimmen darin überein, dass X. in jener Zeit einen schwerkranken Eindruck machte und zwar muth- masste man auf ein organisches Leiden. Seit dem 9. Oktober 1899 ist er wieder im Dienst und zwar hatte er zunächst leichte Arbeit. Er behauptet immer noch, Schmerzen im Rücken, heftige Kopfschmerzen, furchtbare Gedankenschwäche und Jucken am Hinterkopf zu haben, sich auch sehr abgespannt zu fühlen. Sein Stuhlgang sei jetzt regelmässig. Meine eigenen Wahrnehmungen sind folgende: Der X. ist mehr als mittelkräftig gebaut Er ist jeden¬ falls kräftiger, als er den Eindruck macht, wenn man ihn in Kleidern sieht. Er ist in leidlich gutem Ernährungszustände, hat eine zarte Haut und frische Farben. Sein Lidschluss ist unsicher, zitterig. Kurz nach dem¬ selben schwankt er etwas nach hinten über, steht aber dann sofort sicher. Seine Zunge weicht etwas nach rechts ab. Die rechte Pupüle ist nicht ganz rund, sie macht einen etwas eckigen Eindruck. Die Schmerzempfindung scheint an der Haut des ganzen Körpers herabgesetzt. Sonst aber finden sich keinerlei krankhafte Abweichungen am Nervensystem, insbesondere reagiren die Pupillen deutlich auf Lichteinfall und Akkomodation, die Kniescheibenreflexe lassen sich beiderseits erzielen. Die grobe Kraft sämmtlicher Muskeln ist ebenso erhalten, wie die Möglichkeit ihres Zusammenwirkens zu feineren Be¬ wegungen. Nirgends sind schmerzhafte Druckpunkte, weder über Nervenstämmen, noch über den Wirbelfortsätzen. Auch das Beklopfen des Schädels zeigt keinen besonderen charak¬ teristischen Schmerz. Der Puls ist auch jetzt ruhig und regel¬ mässig. Die übrigen Körperorgane sind einwandsfrei. An den Digitized by AjOOQle 1. August 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 299 Geschlechtsteilen finden sich weder Narben noch Drüsen¬ schwellungen. Was nun den seelischen Zustand anbetrifft, so macht H. zunächst einen ängstlich befangenen Eindruck. Er benimmt sich so, als ob es ihm schwer fiele den Faden des Gesprächs festzuhalten. Nachdem er aber lebhafter geworden ist, wurden seine Antworten rascher und sicherer und man sieht, dass er weder Lücken im Erinnerungsvermögen, noch Störungen der Auffassungskraft hat. II. Gutachten. Dass H. durch die Körperverletzung am 22. Juli 1899 eine Erschütterung des gesammten Nervensystems erlitten hat, deren Wirkungen bis in die Gegenwart fortdauern, erscheint mir nach dem obigen thatsächlichen Material zweifellos. Selbst wenn der Körper des H. durch vorhergegangene Erkrankungen für nervöse Störungen empfänglich gewesen sein sollte, wie der Angeschuldigte Y, bisher unbewiesen, behauptet, selbst dann ist die Verletzung die Haupt- nämlich die Ausbruchs¬ ursache des Nervenleidens. Was nun die Art dieses Nervenleidens anbetrifft, so han¬ delt es sich, wie der Verlauf und die gegenwärtige Unter¬ suchung beweist, nicht um eine organische Erkrankung, weder um eine solche des Rückenmarks noch um eine solche des Gehirns, sondern es handelt sich um ein funktionelles Leiden, um eine Nervenerschöpfung und Ueberreizung, um eine so¬ genannte Neurasthenie. Ein Verfall in Lähmung in Folge dieses Leidens liegt nicht vor, denn der H. ist thatsächlich im Stande, jeden Theil seines körperlichen Bewegungsapparats, zu den Bewegungen zu welchen er von Natur bestimmt ist zu benützen. Was aber den Begriff des Siechthums anbetrifft, so möchte ich denselben analog mit den Entscheidungen des Reichs¬ gerichts und den Auslegungen der wissenschaftlichen Deputation definiren: als einen chronischen, d. h. in seinen Ausgängen unabsehbaren Krankheitszustand, welcher durch Beeinflussung des Allgemeinbefindens Lebensgenuss und Arbeitsfähigkeit er¬ heblich schädigt. Dann aber bildet der hier vorliegende Grad von Neurasthenie keinen Siechthumszustand. Schon 2 l / 2 Monat nach der Beschädigung ist H. wieder zu seiner Berufsthätigkeit zurückgekehrt. Wenn er auch gegenwärtig noch nicht voll arbeitsfähig ist, so ist von einer erheblichen Schädigung der Arbeitsfähig¬ keit nicht mehr die Rede. Aehnlich wird es mit der Genussfähigkeit stehen. Ausserdem ist nach dem gegenwärtigen Zustande, selbst wenn noch Schwankungen im Befinden eintreten sollten, eine völlige Heilung in absehbarer Zeit, d. h. in 3 bis 6 Monaten (mit kürzeren Zeitabschnitten rechnet man nicht bei dergleichen Krankheitsformen) wahrscheinlich. Demnach gelange ich zu dem Gutachten: Der Thatbestand des § 224 des Reichsstrafgesetzbuchs kommt bei dem Gemeindebeamten X. nicht in Frage. In Folge dieses Gutachtens nahm der Staatsanwalt von der Erhebung der öffentlichen Klage Abstand und verwies den Beschädigten auf den Weg der Privatklage. So weit ich es durch Rückfrage feststellen konnte, ist letztere nicht erfolgt, wie ja recht häufig, wenn der erste Zorn verraucht ist, die private Verfolgung derartiger kleinlicher Streitigkeiten unterbleibt. Der Verletzte überlegt sich, wenn er erst die Sache ruhig abwägt, dass er durch sein Verhalten Mitschuld an dem Vorfälle hat und dass es besser ist, wenn sein Antheil an der Sache vor Gericht nicht erst kritisirt wird. Ausserdem ist ein Strafantrag sehr bequem, eine Privat¬ klage erfordert Zeit, Umstände und baare Auslagen. Ferner bedenke man den Unterschied in der Strafhöhe. Auf Verletzungen aus § 224 steht Zuchthaus bis zu fünf Jahren bezw. Gefängniss nicht unter einem Jahre, bei mildernden Um¬ ständen Gefängniss nicht unter einem Monat. Eine einfache Körperbeschädigung ohne Waffe auf dem Wege der Privat¬ klage verfolgt, hätte dem Thäter vielleicht 15 bis 30 Mark Strafe gekostet. Nach alledem glaube ich nicht zu viel gesagt zu haben, wenn ich meine, dass die strafrechtliche Sühne in solchen Fällen mit dem vom eignen Wollen unabhängigen Ausgange eines Glücksspiels eine verzweifelte Aehnlichkeit hat. — Dies leuchtet auch der Rechtswissenschaft ein und moderne Strafgesetzbücher sind daran gegangen, gerade bei der vor¬ liegenden Strafthat die Erfolgshaftung auszumerzen. So lautete der Art. 66 des Vorentwurfs zu einem schweizerischen Strafgesetzbuch. „Hat die Körperverletzung eine schwerere Folge als der Thäter wollte oder voraussehen konnte, so wird ihm die Folge zugerechnet, die er verursachen wollte oder voraussehen konnte. “ In Deutschland ist es namentlich die internationale kriminalistische Vereinigung, welchedieFrage derErfolgs- haftung zu prüfen beginnt und in der diesjährigen Landesver¬ sammlung in Strassburg, auf welche in dieser Zeitschrift noch zurückgekommen werden soll, stellte Seuffer t (Bonn) folgende Leitsätze auf: „1. Die Abstufung der Strafen nach dem Erfolge ohne Rück¬ sicht auf Verschulden ist zu verwerfen. 2. Insbesondere ist eine Straferhöhung wegen schwerer Körperverletzung oder wegen tötlichen Verlaufes einer Ver¬ letzung nur dann zu rechtfertigen, wenn diese Folgen vom Thäter vorausgesehen werden konnten.“ Wünschenswert wäre es, wenn Aerzte und vor allem reichlich beschäftigte Geriohtsärzte mehr als bisher kasuistische Beiträge zum § 224 des R. St. G. zusammentrügen. Dann würden die Mängel dieses Theiles der Gesetzgebung deutlicher werden. Strychninvergiftung durch Syrup. hypophosph. Fellows. Von Dr. Otto Jonas-Düsseldorf. Strychninvergiftungen, besonders arzneiliche, sind in Deutsch¬ land bei der geringen Verwendung des Strychnins als Heil¬ mittel ziemlich selten. In der Litteratur seit 1887, so weit sie mir zugänglich war, fand ich nur vier Fälle beschrieben, von Cohn in den Therapeutischen Monatsheften 1887, von Honigmann (aus der Giessener Klinik) in der Deutsch, med. Wochenschrift 1889, aus demselben Jahr von Prinzlng im Württemb. Correspondenzblatt, endlich von Wachholz in der Vierteljahrschr. f. ger. Med. 1894; dazu kann ferner ein von Habel 1898 in der München, med. Woch. aus der Zürcher Klinik mitgetheilter Fall gerechnet werden. Viermal lag Selbstmord-, einmal Mordversuch vor; der Tod trat einmal ein. Arzneivergiftungen, durch Verwechslung oder durch falsche Dosirung, waren nicht darunter. Auch aus dem Aus¬ land fand ich in den „Therap. Monatsheften“ und in „Schmidt’s Jahrb.“ nur fünf Fälle referirt; ausserdem waren in der „med. Bibliographie“ der letzteren im ganzen seit 1887 noch 26 Fälle, fast ausnahmslos nichtdeutsche, verzeichnet. Von allen diesen Vergiftungen, soweit ich die Origi¬ nalien oder Referate einsehen konnte, war keiner durch irr- thümlich zu starke Dosirung einer strychninhaltigen Arznei herbeigeführt. Es wird Bich daher die Mittheilung des fol¬ genden Falles um so mehr rechtfertigen, als er durch ein Digitized by Google 300 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 15. Mittel verursacht wurde, von dem ich schädliche Wirkungen nirgends berichtet finden konnte. Das 21/4 Jahre alte Kind des Arbeiters W. hatte am 18. Januar 1900 von seinem vierjährigen Brüderchen in einem un¬ bewachten Augenblick aus einer fast gefüllten Flasche „Fellows’ Compound Syrup of Hypophosphites“, die von einem Kollegen für den halbwüchsigen Bruder verordnet war, etwa zwei Thee- löffel voll, mit der gleichen Menge Wasser verdünnt, erhalten; der Magen des Kindes war vermuthlich, es war kurz vor dem Mittagessen, ziemlich leer. Als die Mutter, die angeblich nur auf zwei bis drei Minuten das Zimmer verlassen hatte, wieder eintrat, fand sie das Kind in heftigen Krämpfen. Eine Vier¬ telstunde später sah ich es. Der Körper der kleinen Patien¬ tin wurde von ausserordentlich heftigen, kaum unterbroche¬ nen klonischen Zuckungen der gesammten Muskulatur, sowohl der Gliedmassen wie des Rumpfes und Gesichts, erschüttert; zuweilen krümmt er sich in tetanischem Krampfe zu einem fast halbkreisförmigen nach hinten offenen Bogen, wobei eine Drehung um die Längsachse des Körpers (Torsion) be¬ sonders auffallend ist. Die Kraft der Muskelkontraktionen ist so gross, dass es nur mit äusserster Mühe gelingt, die Zahn¬ reihen ein wenig von einander zu bringen. Die Hautfarbe ist cyanotisch, die Pupillen sind vollständig erweitert; der qual¬ volle Gesichtsausdruck und das Verhalten des Kindes in den spärlichen Pausen zwischen den Anfällen lassen auf voll er¬ haltenes Bewusstsein schliessen. Zu einer eingehenderen Unter¬ suchung blieb bei dem bedrohlichen Krankheitsbilde keine Zeit. Nachdem der Versuch, mittelst eines elastischen Katheters den Magen zu entleeren und auszuspülen, sich als ganz un¬ ausführbar erwiesen hatte, auch nachdem die Oeffnung des Mundes gelungen war, wurde Patientin bis zur Ankunft arznei¬ licher Mittel in ein warmes Bad gesetzt, in welchem die Krämpfe nach ca. 10 Minuten etwas nachliessen. Alsdann wurde 0,1 g Cupr. sulf. in einprozentiger Lösung dreimal in viertelstündlichen Zwischenräumen per os gereicht und ge¬ schluckt, mit der gewünschten Brechwirkung; zugleich wurde 0,1 g Chlor, hydr. als Klystir verabfolgt. Dadurch liessen die Krämpfe so weit nach, dass nunmehr der Magen genügend ausgespült werden konnte. Endlich wurde, um auch den Darm schnell zu entleeren, 0,1 g Kalomel gegeben — später nochmals ebensoviel. Bald trat als Wirkung des Chloralhydrats Schlaf ein, während dessen die Krämpfe ganz aufhörten, abgesehen von einzelnen blitzartigen Zuckungen, die den Körper durchliefen; dabei war deutlich die auslösende Wirkung äusserer Reize, z. B. lauten Sprechens, Erschütterung des Fussbodens, zu bemerken. Die weitere Behandlung bestand in der Abhaltung dieser Reize und zweistündlichen Gaben von 0,02 g Chloral. hydrat. per os. Um 6 h Nachmittags war das Befinden andauernd befriedigend: nach dem Erwachen aus dem Chloralschlaf waren die Krämpfe bis auf die erwähnten blitzschnellen Zuckungen fortgeblieben, es war mehrmals reichlicher* Stuhlgang eingetreten. Die Pupillen sind normal; Fusssohlenreflexe deutlich gesteigert, Fus8klonus leicht auslösbar. Dagegen fehlt der Patellarreflex — eine Beobachtung, die ich nur noch von Honigmann 1. c. er¬ wähnt finde; an den folgenden Tagen hingegen war er — ebenfalls entsprechend dem H.’schen Falle 1 ) — bedeutend ge¬ steigert; auch Fusssohlen- und Bicepsreflexe sowie Fussklonus waren noch zwei Tage später sehr leicht zu erzielen; die allgemeinen Zuckungen dagegen waren ganz geschwunden. Leider war es nicht möglich, den Rest des Medikaments 0 H. bringt das Auftreten des verstärkten Patellarreflexes nach anfänglichem Fehlen in Zusammenhang mit dem verabfolgten Chlo- ralhydrat; in unserem Falle kann dieser Zusammenhang nicht ange¬ nommen werden, da noch fünf Stunden nachher der Reflox fehlte. Anm. d. Verf. oder den Mageninhalt auf den Strychningebalt zu untersuchen; ersterer war schon vor meinem ersten Besuch fortgegossen worden, und letzterer wurde entgegen meiner Anordnung ebenfalls beseitigt. Ein Zweifel an der Aetiologie kann dennoch nicht walten bei dem ganzen so überaus charakteristischen Krankheitsbild. Nach Angabe der Fabrikanten enthält ein Theelöffel des Syrup. hypophosph. 0,001 g Strychnin, das Kind hätte also danach, eine gleichmässige Verkeilung vorausgesetzt — es sei nochmals ausdrücklich bemerkt, dass die Flasche fast gefüllt war, der „Bodensatz“ also nicht die Schuld tragen konnte — ca. 0,002 g Strychnin erhalten. Die Maximalgabe für Erwachsene beträgt 0,01 g, die tödtliche Gabe 0,05—0,1 g. Zu bemerken wäre noch, dass die Patientin Zeichen einer mittel- schweren, doch anscheinend überstandenen, Rhachitis aufwies; die grosse Neigung zu Konvulsionen, welche diese Krankheit mit sich bringt, ist vielleicht nicht ohne Einfluss auf die starke Wirkung des Strychnins gewesen. Was unseren Fall besonders beachtenswert!) macht, ist, dass die Vergiftung durch eine Arznei hervorgerufen wurde, die, wie ich von den Apothekern erfahre, neuerdings bei uns sehr viel gebraucht und wohl meist mehr als harmloses Ro- borans denn als starkwirkendes Gift angesehen wird — sehr erklärlich bei einem Mittel, dass „bei allen Schwächezuständen durch hohes Alter, Klimakterium, Wochenbette, schwere Krank¬ heiten, bei Neurasthenie, Hysterie und nervöser Erschöpfung, bei Anämie und Chlorose, bei Heiserkeit, Bronchitis, Lungen- und Kehlkopftuberkulose, Skrophulose, Rhachitis, als Schutz bei Influenza und anderen Epidemien“ seine Wirkung entfalten soll. In den Apotheken wurde mir mitgetheilt, dass das Prä¬ parat, nachdem es ein Mal verordnet war, oft im Handverkauf verlangt —und anstandslos abgegeben wird! Jedenfalls ist das Publikum bei dergleichen, nicht in Rezeptform „verschriebe¬ nen“ Mitteln sehr geneigt, es weniger genau mit der Aufbe¬ wahrung und Anwendung zu nehmen, nach Analogie mit anderen, ähnliche Wirkung bezweckenden, aber harmloseren „Kräftigungsmitteln“. Zudem ist die kumulative Wirkung des Strychnins bei längerem Gebrauch, der durch die 275 resp. 550 g fassenden Originalflaschen und die Möglichkeit, sie im Hand¬ verkauf zu erhalten, sehr begünstigt wird, wohl zu beachten. Es dürfte daher angebracht sein, mit der Verordnung und bei der Verordnung dieses Präparates grosse Vorsicht walten zu lassen, im besonderen auch die Kranken vor unvorsichtiger Handhabung und zu starker Dosirung, sowie vor eigenmässiger Fortsetzung des Gebrauchs mithinlänglichem Nachdruck zu warnen — wenn anders man auf dieses „Allheilmittel“ nicht lieber ganz verzichten will. Referate. Allgemeines. Neuere Arbeiten zur gerichtsärztlichen Blutuntersuchung. Sammelbericht. I. Seitdem Kratter und Hammerl nach gewiesen haben, dass konzentrirte Mineralsäuren — nach Szigeti auch reine Karbolsäure — aus Blut, mag es selbst verfault oder ange¬ brannt sein, einen noch in geringster Menge spectroskopisch nachweisbaren Farbstoff, das Haematoporphyrin, gewinnen lassen, hat der Nachweis von Blut durch den Gerichtsarzt an Sicherheit viel gewonnen. Dies bestätigen in neueren Ar¬ beiten u. A. Ipsen und Dwornitschenko. Wenn sich durch die Einwirkung der Säure auch nur ein kleines granatrothes Flöckchen mit durchscheinendem Rande bildet, das man auf¬ fangen und zwischen zwei Objektträger klemmen kann, so ge¬ nügt das schon, um die beiden kennzeichnenden Streifen im Spectrum erkennen zu lassen: Einen schmalen blässeren links Digitized by Google 1. August 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 301 von der Frauenhoferschen Linie D und einen breiten gesättig¬ teren rechts von derselben. Ipsen geht in der Empfehlung der Probe noch weiter als ihr Urheber. Während Letzterer sie als nicht anwendbar bei flüssigem oder halbflüssigem Blut bezeichnet, meint I., dass man in solchen Fällen das Blut einfach eintrocknen lassen kann. Störend sollen organische Stoffe wirken, die von der Säure bekanntlich verkohlt werden und dann die Lösung dunkel färben. Aber auch dem lässt sich nach I. begegnen. Die Verkohlungserzeugnisse lösen sich nämlich sehr rasch, zu einer Zeit, wo der Blutfarbstoff noch ungelöst bleibt. Wenn man also die Säure abgiesst, solange sie sich noch dunkel färbt, so kann man mit den Rückständen ohne weiteres die Haematoporphyrinprüfung anstellen. Eine lehrreiche Versuchsreihe Ipsens knüpft an die Thatsache an, dass auch verkohltes Blut meist nicht soweit zerstört wird, um die Darstellung des Haematoporphyrins un¬ möglich zu machen. Er untersuchte nämlich verkohlte Leichen- theile daraufhin, ob ihr gewöhnlicher Blutgehalt schon zur Anstellung der Kratter'sehen Probe genüge. Bei Milz, Leber, Lungen, Muskeln, Nieren war das der Fall, beim Gehirn nur ausnahmsweise, bei der Haut und dem Unterhautzell¬ gewebe nie. Nun untersuchte I. verkohlte Haut, die von einer im Leben erworbenen Wunde herrührte, vor dem Tode also blutig durchtränkt war, und siehe da — sie gab das Haematoporphyrinspektrum, während die übrigen Hautstückchen von derselben Leiche versagten. So ermöglicht also die Krattersche Probe unter Umständen die ungemein wichtige Entscheidung, ob eine Verletzung bei einem Verbrannten vor oder nach dem Verbrennungstode erfolgt ist. (Nebenbei ge¬ stattet die Schwefelsäure, selbst aus ganz verkohlten Theilen noch besser als man denken sollte, unzerstörte Gewebstheile heraus¬ zubekommen, die mikroskopisch untersucht werden können.) Trotz dieser Vortreflflichkeit des Haematoporphyrinnach¬ weises hat I. sich bemüht, noch weitere Methoden zum Nach¬ weis von Blut in sehr kleiner Menge, besonders in sehr alten Spuren auszubilden. Es ist ihm dies schon früher mit ge¬ röstetem schwefelsaurem Kupfer bei Gegenwart von Alkohol gelungen; doch versagt dieses Mittel bei frischerem Blut, wenn man nicht dem Reagens von vornherein 1 bis 2 Tropfen reine Schwefelsäure zusetzt. Sehr sichere Erfolge soll man erzielen, wenn man den zu untersuchenden Gegenstand mit 5 bis 10 gr essigsaurem Kali und 100 gr reinem Alkohol bei 38 bis 40 Grad Celsius mehrere Tage stehen lässt. Dann geht Haematin in Lösung, das in starker Lösung bei auf¬ fallendem Licht braunroth, bei durchfallendem granatroth bis olivgrün, in dünner Lösung strohgelb erscheint. Dies hat be¬ kanntlich ein besonderes bezeichnendes Spectrum, wenn man es durch Zusatz von Schwefelammoniumlösung zu reduzirtem Haematin umgewandelt hat. Bei sehr kleinen Mengen des zu untersuchenden Stoffes empfiehlt Dwornitschenko folgendes Verfahren: Das zu untersuchende Bröckchen wird auf ein Objektglas mit einem Tropfen Kalilauge (1 Theil Aetzkali und 2 Theile Wasser) ge¬ bracht und mit einem Deckglas bedeckt. Nach einer halben Stunde kann man mikroskopisch auf Blutkörperchen unter¬ suchen. Einerlei, wie die Untersuchung ausfällt, wird nun das Präparat ganz vorsichtig über der Spirituslampe erwärmt, bis — gewöhnlich nach 1 bis 2 Minuten — die Masse hell- roth mit einem Stich ins gelbliche oder purpurroth wird und ihre Ränder sich abrunden. Ob das der Fall ist, muss von Zeit zu Zeit mit Vergrösserung über weissem Papier geprüft werden. Ist der Zeitpunkt erreicht, so sieht man sich das Präparat spectroskopisch an und findet, wenn Blutfarbstoff vorhanden, die beiden Linien des reduzirten Haemat ins zwischen D und E. Ist die Masse auf dem Gläschen zu dick, so muss man sie etwas auseinander pressen. Die alte Blutprobe durch Darstellung der Haemin- krystalle ist in neuerer Zeit sehr in den Hintergrund ge¬ treten. Nur der Vollständigkeit halber führt man sie neben der Spectraluntersuchung aus. Richter macht über den Werth der Haeminprobe eine Reihe von Angaben auf Grund sorgfältiger Untersuchungen. Unter 50 positiven Blutproben, die im Wiener gerichtlich-medizinischen Institut untersucht wurden, ergaben nur 36 Haeminkrystalle. Waren die Spuren auf Eisen oder Messing angetrocknet, so gelang die Darstellung der Krystalle nicht (3 Fälle). Die mehrfach abgeleugnete Be¬ hauptung, dass Metall die Probe beeinträchtigt, scheint danach richtig zu sein. Dagegen scheint der schädliche Einfluss einer Beimengung von Fett sehr übertrieben worden zu sein. Ein Unterschied, je nach der Art des Gewebes, konnte bei Blut¬ spuren auf Stoffen nicht festgestellt werden. Die Gegenwart von Anilinfarben scheint die Reaktion stören zu können. Wenn die Herstellung der Haeminkrystalle gelingen soll, so muss, theoretisch betrachtet, 1. Blutfarbstoff in Lösung gehen, 2. der Blutfarbstoff in Gestalt des Haematins vorhanden sein oder in diese übergehen, 3. das Haematin sich mit Chlor ver¬ binden und 4. die krystallische Form desChlorhaematins(Haemins) entstehen können. Jede dieser vier Entwickelungsstufen der Teichmann’schen Krystalle könnte irgendwie gehindert werden. Ad 1. Es stellte sich heraus, dass von den 50 Blutproben nur 33 in Wasser lösliches Hämatin enthielten: von den übri¬ gen 17 versagten thatsächlich bei der Untersuchung 13. Die Unlöslichkeit des vorhandenen Farbstoffs merkt man bei der Teichmannschen Probe gewöhnlich schon daran, dass sich der Eisessig, der benützt wird, nicht bräunt. Auf diese Weise sind 13 Misserfolge in der obigen Versuchs¬ reihe erklärt, der eine, der noch unerklärt bleibt, beruht wahr¬ scheinlich auf Färbung des betr. Gewebsstoffes mit einer Anilinfarbe. Ad 2. Bei Zusatz des Eisessigs geht manchmal der Blut¬ farbstoff gleich in reduzirtes Hämatin über, das keine Kry¬ stalle giebt. ln diesem Falle braucht man die Lösung nur 12—24 Stunden stehen lassen, dann hat sich wieder gewöhn¬ liches Hämatin gebildet, und die Probe gelingt. Ad 3. Die Chlorirung gelingt wohl immer. Ad 4. Die Hindernisse für die Krystallbildung sind sicher in der Praxis nur gering. Man muss nur vorsichtig sein. Weder darf man das Präparat zu stark erhitzen, nur knapp bis zum Sieden, noch darf man zu wenig Säure zusetzen. Am besten benützt man daher statt des flachen einen hohl ge¬ schliffenen Objektträger oder ein Uhrglas. II. Alle bisher besprochenen Untersuchungen haben ledig¬ lich die Anwesenheit von Blutfarbstoff überhaupt zum Gegen¬ stand. Viel schwieriger ist es, zu bestimmen, ob das Blut vom Menschen oder irgend einem Thiere herrührt. Vögel, Fische und Amphibien sind am ehesten auszuschliessen. Sie haben kernhaltige rothe Blutkörperchen, die Kerne lassen sich, wenn man die Blutspur mit 5 prozentiger Essigsäure be¬ handelt, oft nachweisen. Aber schon dies gelingt nicht immer, da Spaltpilze an feuchtem Orte die Kerne zerstören. Was nun die Unterscheidung des menschlichen vom Thierblute be¬ trifft, so hat man geglaubt, dass die durch neutrale Farbstoffe färbbaren Körnchen der weissen Blutkörperchen nur dem Menschen eigen sind — das hat sich nicht bestätigt. Man hat ferner die rothen Blutkörperchen der verschiedenen Thierarten gemessen. Hierbei ist nun zunächst zu berücksichtigen, dass Zusatzflüssigkeiten die Grösse der Körperchen beeinflussen. Däubler hat neuerdings festgestellt, dass, wenn man frisches oder auf durchsichtiger Unterlage angetrocknetes Blut hat, in Digitized by Google 302 Aerztllohe Sachverständigen-Zeitung. No. 15. dem völlig unversehrte Körperchen zu sehen sind, und wenn man eine grosse Menge von Körperchen misst, zwischen Men¬ schen einerseits, Kaninchen und Meerschweinchen andrerseits bestimmte Unterschiede zu finden sind, zwischen Menschen und Hunden aber nicht, wahrscheinlich dagegen wieder zwischen Negern und Weissen (Genaueres muss im Urtext nachgelesen werden). Aus Blut, das an Geweben, Holz oder dergleichen angetrocknet ist, messbare Blutscheiben zu gewinnen, ist D. nicht gelungen. Für aussichtsvoller hält Dwornitschenko die Darstel¬ lung der Hämoglobinkrystalle — nicht zu verwechseln mit Häminkrystallen! — von verschiedenen Thieren. Die Hämo¬ globinkrystalle des Menschen sollen rechtwinklig sein, was D. bei Thieren nie gefunden haben will. Um sie darzustellen, löst man die Blutspur in möglichst wenig Wasser, überträgt einen Tropfen auf den Objektträger und lässt ihn trocknen. Ist der Rand eingetrocknet, so legt man ein Deckgläschen auf, unter dem die Krystallisirung vor sich geht. Erfolgt keine Krystallbildung, so bedeutet dies, dass kein reduzirtes Hämo¬ globin vorhanden ist, man muss dann die Lösung erst ein paar Tage stehen lassen, damit der Blutfarbstofi Sauerstoff abgiebt. Natürlich bedürfen diese Angaben der Nachprüfung. III. Zur Untersuchung des Blutes auf Kohlenoxyd hatte Ipsen 1898 eine neue Methode ausgegeben. Dieser gegen¬ über hält Wachholz den grösseren Wert der alten, von ihm etwas verfeinerten Tanninprobe aufrecht. Literatur. 1. C. Ipsen. Ueber den Werth der Haematoporphyrinprobe für forensischen Blutnachweis. Vierteljsehr. f. ger. Med. 1900. H. 3. 2 Dwornitsch enko: Einige Beobachtungen über die Unter¬ suchung von Blut- und Saraenflecken. Ebenda. 3. M. Richter: Ueber Häminkrystalle. Ebenda. 4. C. Däubler: Ueber die Untersuchung menschlichen und hierischen Blutes durch Messung von Grössenunterschiedon rother Blut¬ körperchen. Vierteljschr. f. ger. Med. 1899 H. 4. 5. L. Wach holz: Ueber die neueste Methode zum chemischen Nachweis von Kohlenoxydblut. Chirurgie. Weitere Erfahrungen über traumatische Wirbel* erkrankungen (Spondylitis traumatica) und die diesen rerwandten Affektionen der Wirbelsäule. Von Dr. J. Schulz. (Beiträge für klinische Chirurgie von v. Bruns, Bd. 27, Heft 2, S. 363.) Die Arbeit ist das Resultat der Beobachtungen der letzten 5 Jahre in der Kümmellschen Abtheilung. Von 30 Patienten, die unter der Diagnose Spondylitis traumatica eingingen, konnten 21 Fälle als typisch reine Fälle abgesondert werden, den Rest bildeten Hypochonder, Hysteriker oder Simulanten. In der Mehrzahl der Fälle handelte es sich um verhältniss- mässig leichte Insulte (Heben schwerer Balken, Sturz aus un¬ bedeutender Höhe etc). Das charakteristische der Spondylitis traumatica ist: „der Gibbus und seine Begleiterscheinungen überraschen uns resp. den Verletzten dann, wenn der Unfall fast vergessen ist“. Schulz wendet sich gegen die Auffassung, dass alle diese Fälle als Wirbelfrakturen schlechthin bezeichnet werden. „Wir haben es mit einem genau präzisirten, streng typisch verlaufenden Krankheitsbilde zu thun, das sich doch wohl in keinem einzigen Falle mit dem Begriffe des akuten Wirbelbruchs deckt. In diesem Sinne wurde es denn auch von der Mehrzahl erfahrener Begutachter aufgefasst und als ein wesentlicher Fortschritt in der Beurtheilung Unfallverletzter auf dem Gebiete der traumatischen Wirbelsäulenerkrankungen anerkannt.“ Der Name Spondylitis ist nicht glücklich gewählt, da es sich ja nicht um eine Entzündung handelt. Es ist nicht zu bezweifeln, dass meist auch an der aus schwammiger Knochenmasse bestehenden Wirbelkörpern eine Infraktion, eine Kompression, Fissur, eine unvollkommene Fraktur als isolirte Verletzung Vorkommen kann. Wirbelverlagerung und periostale Wucherungen können Kompressionsneuritis machen; Markkompression ist gewiss nur selten. Die Verschiebung des Körperschwerpunktes und der Schmerz in der Wirbelsäule machen Mobilitätsstörungen; das lange Kranksein setzt Reiz¬ barkeit des Centralorgans: Neurasthenie, psychische Depression. Guder. Ueber Spondylitis typhosa. Von Dr. A. Schanz. (Archiv f. klin. Chirurgie, Bd. 21, H. L) Seit der Mittheilung Quinckes über ein bis dahin unbe¬ kanntes Krankheitsbild, das er als Spondylitis typhosa be- zeichnete und zweimal beobachtet hatte, ist von Könitz er ein dritter und jetzt von dem Verfasser ein vierter Fall beobachtet worden. Der erste Quincke'sehe Fall, welcher einen leichten Typhus durchgemacht hatte, klagte am 34. Krankheitstage über Schmerzen in der Lumbalgegend; im zweiten traten die Kreuz¬ schmerzen 15 Wochen nach Beginn des Typhus und zehn Wochen nach der Entfieberung auf. Im Falle Konitzer’s war ein schwerer Typhus ausserhalb des Krankenhauses voraus¬ gegangen, der Patient verrichtete seine Thätigkeit als Schmied wieder, bis sich plötzlich, nach leichten vorangegangenen Schmerzen, die Erkrankung der Wirbelsäule einstellte. In dem Falle Schanz’s wurde bei der Aufnahme der Pa¬ tientin in die innere Klinik ein schwerer Typhus festgestellt. Roseolen waren vorhanden und die später vorgenommene Ag- glutinationsprohe ergab ein positives Resultat. Ausserdem be¬ stand eine leichte, rechtsseitige Ohreiterung. Vier Tage später stellte sich am rechten Auge eine entzündliche Affektion mit Chemosis und Vortreibung des Augapfels ein: Nach 14 Tagen brach hinter dem Limbus an der Schläfenseite ein Abscess durch; es bildete sich schliesslich ein „bulbus phthisicus dolorosus“. In der dritten Krankheitswoche spürte Patientin zum ersten Male blitzartige Schmerzen und Zuckungen im rechten Bein, in der fünften Woche traten spannende Schmerzen in der Kreuz¬ gegend hinzu. Von ihrem Typhus geheilt, suchte Patientin ihr Elternhaus auf, woselbst die Kreuzschmerzen dauernd Zu¬ nahmen, so dass sie meist liegen musste. Die Diagnose auf typhöse Wirbelentzündung wurde jetzt drei Monate nach dem Beginn des Typhus von Schanz gestellt, als er die Patientin bei der Entfernung des Augapfels zum ersten Male sah. Die eigentümliche Weise, in der sie sich auf den Ope¬ rationstisch legte, liess ihn eine Spondylitis vermuten. Es fand sich jetzt eine Druckempfindlichkeit des letzten Lenden¬ wirbeldornfortsatzes. Beim Beklopfen desselben empfand Pa¬ tientin dumpfe Schmerzen in der Tiefe des Beckens. Bei allen Bewegungen des Körpers zeigte Patientin die den Spondyliti- kern eigene Steifigkeit der Wirbelsäule durch Muskelzug. Eine Formveränderung oder eine Schwellung waren nicht vorhanden. Patientin wollte sich nicht sofort der vorgeschlagenen Behand¬ lung unterwerfen, was zur Folge hatte, dass sich in den zwei folgenden Wochen ihr Zustand so verschlimmerte, dass sie absolut unbeweglich wurde. Es wurde dann auf dem Nebel- schen Schrägschwebelagerungsapparat ein Gipsbett angefertigt und Patientin in dieses tags darauf gelegt. Die Schmerzen waren jetzt mit einem Schlage beseitigt, ihr Aussehen und ihr Wesen wechselten ganz plötzlich. Nach kurzer Zeit ver¬ ursachte auch das Umbetten der Patientin keine Schmerzen mehr und nach vier Wochen konnte man ihr im Beely’schen Rahmen einen Modell-Gipsverband anfertigen, nach welchem Digitized by Google 1. August 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 303 ein Leder-Drell-Corsett hergestellt wurde. In letzterem wurde sie sechs Wochen nach ihrer Aufnahme zunächst stunden¬ weise, dann immer länger in einen Lehnstuhl gesetzt. All¬ mählich begann sie Steh- und Qehübungen zu machen. Vier Monate nach ihrer Aufnahme konnte sie ohne Schmerzen und ohne einen pathologischen Befund geheilt entlassen werden. Das Corsett trug sie aber noch aus Vorsicht und des Nachts schlief sie iu dem Gipsbett. Schanz bezweifelt, dass der erste Quincke’sehe Fall thatsächlich eine Spondylitis gewesen sei, weil bei ihm eine Empfindlichkeit der Wirbelsäule nur vorübergehend konstatirt wurde und weil diese Empfindlichkeit in einerWeise wechselte, wie das bei einer Spondylitis kaum denkbar ist. Ich muss Sch. hierin vollständig zustimmen. Nach Ausschaltung dieses Falles entwirft Schanz auf Grund der anderen Fälle folgendes Bild der Spondylitis typhosa: Die Zeit ihrer Entwicklung wird in den gleichen Zeiten eintreten, wie die typhösen Knochenerkrankungen überhaupt. D. h. es wird Fälle geben, die schon früh, noch in der Fieber¬ periode des Typhus einsetzen und andere, in denen die Wirbel¬ entzündung erst sehr spät einsetzt. Die letzteren werden am meisten Aehnlichkeit mit der Spondylitis tuberculosa habeu. Es wird entsprechend der relativen Gutartigkeit typhöser Knochenerkrankungen überhaupt, auch meistens die posttyphöse Spondylitis einen leichten Verlauf nehmen. Daun wird eine rasch vorübergehende Schmerzhaftigkeit bei Bewegung des Rumpfes im Fieberstadium oder kurz nach demselben, das einzige Symptom sein. Die chronisch verlaufenden Fälle mit langer Latenz werden eine noch geringere Neigung zur Aus¬ bildung von Difformitäten haben, wie die tuberkulöse Spon¬ dylitis beim Erwachsenen sie schon hat. Die typhöse Spon¬ dylitis kann aber ebenso gut, wie die tuberkulöse zur Abscess- bildung führen. Der akute Beginn der Erkrankung wird zunächst die typhöse von der chronisch beginnenden tuberkulösen Spondy¬ litis unterscheiden. Der zeitliche Zusammenhang mit dem Typhus wird dann eine grosse Bedeutung für die Diagnose haben. Das erste Krankheitszeichen wird hervorragende Schmerzhaftigkeit sein. Ist die Entzündung im Wirbelkörper intensiv, so wird sich ein starkes entzündliches Oedem bilden, das zu einer schwereren Schädigung des Rückenmarkes und zur Erzeugung spinaler Symptome führen wird. Die Schwel¬ lung wird andererseits zur Körperoberfläche dringen können und dort eine Vorwölbung bedingen. Sie wird nicht gleich¬ bleibend und meist nur von kurzer Dauer sein. Einen längeren Bestand werden dagegen die spinalen Symptome besitzen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die akuten Fälle häufig mit Fiebererscheinungen einhergehen. Eine Eigenthümlichkeit der Spondylitis typhosa ist es, dass neben dem Herd in der Wirbelsäule, sich noch weitere Herde bilden, wie es bei typhösen Knochenerkrankungen in 40 Prozent der Fälle zu sein pflegte. Dies Verhalten zeigte auch die Erkrankung in dem Falle von Schanz, bei welchem gleichzeitig noch ein Herd am Auge und ein zweiter in der Schulter bestand. Die Nebenherde können von ausschlag¬ gebender Bedeutung für die Diagnose sein, besonders wenn man ihnen zur Untersuchung Entzündungsprodukte entnehmen kann. Für die leichtesten Fälle wird es meist genügen, die Pa¬ tienten in Rückenlage zu halten und fieberwidrige und schmerzstillende Mittel soweit in Anwendung zu bringen, als es ohne einen zu häufigen Lagewechsel der Kranken möglich ist. Man muss bemüht sein, die Lagerung so vorzunehmen, dass die Wirbelsäule möglichst lordotisch steht, weil die da¬ durch erzielte Streckung in der Wirbelkörperreihe gut schmerz¬ stillend wirkt. Für die schwereren Fälle sind das Gipsbett und Stütz¬ korsett nothwendige und vortreffliche Hilfsmittel. Zu dieser aktiveren Therapie muss man übergehen, sobald der Fall ein bedenklicheres Aussehen annimmt; denn einen zu langen Aufschub der Behandlung kann der Kranke mit grossen Schmerzen büssen müssen. Stabei. Ueber die Tuberkulose der Knochen und Gelenke des Fusses. Auf Grund von 704 Fallen der von Bruns’schen Klinik. Von Dr. Otto Hahn. (Beitrfige *ar klinischen Medizin von Bruns. Bd. 26. Heft 2. 8 525.) Die Arbeit umfasst alle Fälle aus den letzten 50 Jahren: 685 Kranke mit Fusstuberkulose, und da 19 an beiden Füssen litten, 704 Krankheitsfälle. Die Tuberkulose der Knochen und Gelenke des Fusses verhält sich ebenso wie die Tuberkulose anderer Knochen und Gelenke hinsichtlich der Vertheilung auf das Geschlecht — die Männer zu 62 Prozent betroffen — die Bevorzugung des jugendlichen Alters, insbesondere die Puber¬ tätszeit, ferner im Hinblick auf Heredität, auf die Beeinflussung durch die Berufsthätigkeit, durch die soziale Lebensstellung überhaupt. Die Entstehung des Leidens ist in 13 Prozent der Fälle auf ein vorausgegangenes Trauma als Gelegenheitsursache zurückzuführen. Es haudelte sich 33 mal um Kontusionen und 54mal um Distorsionen, lmal um eine Schussverletzung und 2 mal um Frakturen. Die Kontusionen waren meist Folgen eines Schlages oder Trittes auf den Fuss, oder durch das Auf¬ fallen eines schweren Gegenstandes verursacht. Die häufigste Veranlassung für Distorsionen bot das einfache Uebertreten des Fusses. „Die direkten Folgen des Traumas bestanden in Schmerz¬ haftigkeit und Schwellung und zwar hört letztere in 2 / 3 der Fälle unmittelbar nach der Verletzung auf, die übrigen Male erst nach einer bis mehreren Wochen. Es ist schon die Forderung erhoben worden, es müsse eine verbindende Brücke vorhanden sein, die von dem Unfälle bis zum Auftreten der Tuberkulose hinüberführe; doch ist dies schwer durchführbar, oft ganz unmöglich. Es lässt sich keine Schablone aufstellen, jeder Fall muss für sich geprüft werden. So traten in 10 Fällen unmittelbar nach dem Unfall Schmerzen und Schwellung ein, die sich iin Laufe einiger Tage bis mehrerer Wochen wieder verloren, um nach einigen weiteren Wochen scheinbarer Wieder¬ genesung sich aufs neue einzustellen. Oder es kam überhaupt nicht zu einem Rückgang der Erscheinungen, es sei denn zu einem kaum nennenswerthen, sondern im Anschluss an das Trauma entwickelte sich mehr oder weniger akut das Bild der Knochen- und Gelenktuberkulose. In einer weiteren Reihe von Beobachtungen waren die Folgen der Verletzung bereits ganz oder grösstentheils verschwunden, bis durch erneuten Unfall die erstmaligen Beschwerden wieder auftraten und dann rasch an Intensität Zunahmen. Bei 7 Fällen drängte sich die An¬ nahme auf, dass zur Zeit des Unfalles die Tuberkulose am Fusse bereits lokalisirt war, ohne bis dahin erkannt worden zu sein oder auch nur Beschwerden gemacht zu haben, wobei einige- male schon vorher eine Schwellung vom Patienten beobachtet worden war. Hierher rechnen möchte man die Fälle, wo ein kaum nennenswerthes Trauma, das jedenfalls bei einem Ge¬ sunden keine Folge gehabt hätte, schwere Erscheinungen un¬ mittelbar hervorruft, und wo die weitere Entwickelung so rasch und intensiv ist, wie wir es sonst bei der Tuberkulose nicht zu sehen gewohnt sind. In diesen Fällen wäre also die Ver¬ letzung nicht Gelegenheitsursache, sie würde vielmehr nur die schnellere Propagation eines schon bestehenden Prozesses be- Digitized by Google 304 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 15. wirken. Es macht geradezu den Eindruck, als ob eine durch ein Trauma gereizte Tuberkulose einen malignenen Charakter annähme.“ Von 90 Kranken waren 74 angeblich vorher gesund, 16 zeigten bereits anderorts manifeste Tuberkulosen. „Eine wesentliche Zunahme der auf einen Unfall zurückgeführten Erkrankungen seit Einführung des Unfallversicherungsgesetzes ist nicht aus den Fällen zu entnehmen (12 : 14 %). — Bezüg¬ lich des Sitzes der Tuberkulose an den einzelnen Fussabschnitten nimmt die Häufigkeit der Erkrankung bei den einzelnen Knochen und Gelenken ab, je weiter distalwärts vom Fussgelenk die¬ selben gelegen sind. Die Frequenz nimmt ab — im Gegen¬ satz zur Belastungstheorie — mit der Menge der Spongiosa. —- Von den einzelnen Knochen ist am häufigsten der Calcaneus erkrankt, der überhaupt eine gesonderte Stellung unter den Fusswurzelknochen beansprucht; er ist in 339 Fällen, also fast in der Hälfte der Fälle betheiligt. Dem folgt der Talus mit 291, sodann das Cuboides mit 154. — Von den grösseren Gelenken ist das Fussgelenk am häufigsten erkrankt, dann folgt das Chopart’sche und Lisfranc’sche Gelenk. — In 31 Prozent der Fälle handelte es sich um primären Synovialfungus, in 69 Pro¬ zent um einen primären Knochenherd. G. Epiphysenlösung am Ellbogen. Von J. F. Co t ton-Boston. (Bost. med. and surg. Journ. 2>\/VI. 19Expeditiv.n von Rudolf Mosse Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und Unfall-Heilkunde. Herausgegeben von Dr. L. Becker Br. A. Leppmann Br. F. Leppmann Geh. San) lütt rat b, Könlgl. Phyaikus, Vertrauensarzt SanitKtsr-ith, Königlicher Ptay-ikn«, Arzt der Heobachtungsanstalt für geiales. prakt. Arzt von Bsrufsgenossenschaften und Schiedsgerichten. kranke Gefangene in Moabit-Berlin, Spczialarzt fUr Nerzen- u. Geisteskranke. 1 Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstrasse 36. VI. Jahrgang 1900. M 16. Ansgegeben am 15. August. Inhalt: Origlnalien: Ga rein, Riss in der grossen Körperschlagader nach Unfall. 8. 317. Wolff, Akuter Gelenkrheumatismus und Trauma. S. 320. Referate: Chirurgie. Loos, Zur Statistik des Lippenkrebses. S. 321. Respinger, Angebliche Contagiosität des Erysipels. S. 321. Rammstedt, Traumatische Muskelverknöcherungen. S. 322. Lauenstein, Zwei rätselhafte Frakturenbefunde. S. 323. Nieberg all, Entstehung der Leistonbrüche. S. 323. Harrington, Karbol-Gangraen. S. 323. Innere Medizin. Wulff, Aneurysma der Carotis interna nach Ton- sillarabscess. S. 324. Honigmann, Seltene Formen von Blutbrechen. S. 324. Wuhrmann, Pathologie und Diagnose der Ren mobilis, S. 324. Lobstein, Wandernieren und Hydronephrosen. S. 325. Neurologie und Psychiitrle. Erb, Frühdiagnose der Tabes. S. 325. Förster, Sensibilitätsstörungen bei Tabes dorsalis. S. 326. Seiffer, Migraine mitrecidivirender Augenmuskellähmung. S. 326. Kobler, Giebt es ein »hysterisches Fieber“ ? S. 324. Ballot und Bernhardt, Diffuse Muskelatrophicen. S. 327. Näcke, Sexuelle Perversitäten. S. 328. Vergiftungen. Ilenschen, Phosphorneuritis. S. 328. Gynaecologisches. Rodrigues, Des forraes de Thymen et de leur röle dans la rupture de cette membrane. S. 328. Ohren. Eitelberg, Agoraphobie bei gewissen Erkrankungen des Gehörorganes. S. 328. Andrews, Trockene Luft bei der Behandlung der Mittelohr¬ eiterung. S. 329. Riss in der grossen Körperschlagader nach Unfall. Tod nach 6 Wochen. Von Dr. Garcin-St. Amarin. Der in No. 14 der „Aerztlichen Sachverständigen-Zeitung“ von Dr. F. Leppmann veröffentlichte Artikel „Wann sind Zer- reissungen der grossen Körperschlagader als Unfallfolgen zu betrachten“, bietet mir Veranlassung, den unten näher be¬ schriebenen Fall zu publiziren. Der 36jährige Kaufmann J., den ich seit bald 10 Jahren kenne, aber nie eigentlich zu behandeln hatte, fiel am 25. Mai 1899 in Folge Ausgleitens rücklings flach mit solcher Gewalt auf den Cementboden des Magazins, dass er nur mit Hülfe von 4 Personen wieder aufstehen konnte und zuerst einige Zeit an der Unfallstelle sitzen bleiben musste, bis er sich zu Bette legen konnte. Ueber Nacht machte er kalte Umschläge, da aber die Schmerzen in der linken Schulter, die besonders hart aufgefahren war, immer stärker wurden, wurde ich anderen Tags gerufen. Patient klagte über einen heftigen Schmerz an der linken Schulter in der Höhe der Spina scapulae, die Gegend war geschwollen und bei Druck sehr schmerzhaft. Ich nahm, da | die Bewegungen im Schultergelenk frei waren und nur bei | Noltenius, Vibrationsmassage. S. 329. Allport, Fraktur d. Hammers u. d. Annulus tympanicus. S.329. Hygiene. Flachs, Zur Impftechnik. S. 329. Gärtner und Frankel, Gesandheitsschädlichkeit von Kinder¬ spiel waaren. S. 329. Aus Vereinen und Versammlungen. Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. (Versammlungs¬ bericht.) — Sociöte de mödecine lögale de Franco. M. Dufour: De Tinfanticide par Strangulation ä Taide du cordon ombilical. S. 330. Gerichtliche Entscheidungen: Aus demReicbs-Versicherungs-Amt: Tod durch Ueberfahren und nicht in Folge eines Gehirnschlages. — Eine wesentliche Besserung liegt vor, weil der Schwindel und das taube Gefühl in den Beinen nachgelassen hat. — Ursäch¬ licher Zusammenhang zwischen Fussleiden und Unfall verneint. — Rentenberechnung bei Verstümmelung zweier Zehen. S. 331. Aus dem Kammergoricht: Die Honorarfrage als öffentliche Angelegenheit. S. 334. Aus dom Ober-Verwaltungsgoricht: Konflikt des Ministers zu Gunsten eines Arztes. S. 334. BQcherbesprechungen u. Anzeigen: Schlockow-Roth-Lcppraann, Der Kreisarzt. — Heerraann, Die Syphilis in ihren Beziehungen zum Gehörorgane. — Liebmann, Vorlesungen über Sprach¬ störungen. S. 334. Tagesgeschichte: Richter und Sachverständiger. — Aus dem Jahresbericht der Gewerbe - Inspektoren für das Jahr 1899. — Zum ärztlichen Studium der Frauen. — Ein Pestfall in Deutschland. S. 335. grösserer Exkursion Schmerzen verursachten, an, es handle sich um einen partiellen Bruch des Schulterblatts und stellte in dem Sinne auch ein Attest für eine Unfallversicherung aus. Der Arm wurde in eine Bandage gelegt und zuerst Eis applizirt, dann zwei Tage später ein Verband aus gestärkten Binden angelegt. Vom 8. April wurde der Arm nur noch in der Schlinge getragen und nach 3 Wochen fing Patient wieder an, sich seines Armes zu bedienen. Etwas Massage und ent¬ sprechende aktive und passive Bewegung hoben bald die be¬ ginnende Muskelatrophie. Am 3. Mai untersuchte ich den Patienten nochmals, um das Schlussattest auszustellen und fand den Herrn an der Arbeit munter und wieder kräftig. Anderen Tags, am 4. Mai, wurde ich Nachmittags zu ihm schleunigst gerufen. Er lag zu Bett, klagte laut über heftige Leibschmerzen. Er erzählte, er hätte gegen Mittag plötzlich einen heftigen Schmerz wie einen Hexenschuss im Rücken verspürt. Bald darauf seien Koliken eingetreten sowie Brechen von Ueberresten seines Frühstücks (Milchkaffee mit 2 weichen Eiern). Mittags habe er nur etwas Fleischsuppe nehmen können und auch diese wieder kurz nachher erbrochen. Während meines Besuchs wand sich Patient vor Schmerz im Bette hin und her und schwitzte stark. Der Puls war | regelmässig, etwas frequenter wie normal, kein Fieber, Stuhl- | gang ist seit gestern noch nicht erfolgt. Bei Druck ist die Digitized by Google 318 Aerzt liehe Sachverständigen-Zeitung. No. 16. Magengegend allein schmerzhaft, der Leib aber nicht aufge¬ trieben. Ich machte eine Morphiumeinspritzung (0,015) liess warme Breiumschläge auf den Leib machen, verordnete Eispillen. Abends 8V2 Uhr fand ich den Kranken ganz ruhig und so zu sagen ohne Schmerzen. Dieselben waren auf die Einspritzung nach und nach gewichen und nicht wiedergekehrt. Patient war noch leicht im Schweisse, fühlte sich abgeschlagen und müde, hatte aber guten regelmässigen Puls. Beim Harnlassen hatte es etwas lange gedauert bis der Strahl erfolgte. Das Brechen hatte auf Eis abgenommen, war aber noch nicht ganz gehoben, bei Druck auf den Unterleib war die Ileocoecal- gegend etwas empfindlich. Am anderen Morgen (5. Mai) früh um 5 Uhr wurde ich in aller Eüe gerufen und fand den Kranken todt. Die Ehe¬ frau erzählte mir, dass nach verhältnissmässig guter Nacht ihr Mann gegen 4 Uhr Morgens Milch begehrt hatte und bald hierauf etwas Limonade, worauf bald Brechen erfolgte. Sie hatte sich eben wieder zu Bette im selben Zimmer gelegt und mit ihrem Manne gesprochen, der sich über ein dumpfes Qefühl unter dem Brustbein, „wie wenn etwas ihm hinaufstiege“ beklagte, als sie Röcheln vernahm, aufsprang und gerade noch einige letzte Athemzüge bei ihrem schon besinnungslosen Manne wahrnehmen konnte. Nach einigen Sekunden war der Tod bereits eingetreten. Auf. meine Veranlassung wurde am 6. Mai Morgens die Sektion durch Collegen F. in Anwesenheit eines verwandten Arztes gemacht Das Resultat der Sektion war: Ziemlich korpulenter, grosser Herr, starker Fettreichthum des Netzes, sonst nichts Abnormes im Bauch. Bei Eröffnung des Brustraumes findet man beiderseits im Brustfellsack ca. 1 Esslöffel voll röthlich gefärbter Flüssigkeit. Der Herzbeutel ist mit einer dicken Fettschicht bedeckt, nach Lospräpariren derselben erscheint er sehr gross und breit, mit bläulichem Schimmer und so prall gefüllt, dass mit der Pinzette keine Falte aufgehoben werden kann. Nach Einschnitt strömt aus demselben flüssiges Blut in grosser Menge, nach Erweiterung der Oeffnung werden noch 4 Trinkgläser voll flüssigen Blutes und zwei solche ziemlich fester Gerinsel ent¬ fernt. Das Herz war in seiner ganzen Umgebung mit einer fortlaufenden Gerinselschicht bedeckt. Das Herz selbst ist gross, breit, schlaff und eingesunken mit einem grossen Sehnenfieck auf der Vorderseite. Bei Er¬ öffnung der Vorhöfe und Kammern findet man dasselbe so gut wie leer, nur einige kleine unbedeutende frische Gerinsel. Der schlaffe Herzmuskel erscheint dünn, besonders rechts, doch gesund. Die Herzklappen sind normal. Nach Eröffnung der Hauptschlagader mit der Darm- scheere findet man auf der hinteren rechten Seite derselben 4—5 cm oberhalb der Klappe, also im aufsteigenden Theile des Bogens, einen der Achse der Gefässe ungefähr parallel verlaufenden ca. 2 cm langen geradlinigen Riss der inneren Gefässwand, der in einen ca. hühnereigrossen Sack führt, der mit etwas helleren, ziemlich fest haftenden Blutablagerungen spärlich bedeckt ist, es findet sich darin nur ein kleines dunkles freies Gerinsel. Der Sack verläuft an der Aorta von vorn rechts nach hinten links und von oben nach unten. Bei genauerer Untersuchung findet man hinter dem Anfänge der Aorta an der Grenze des linken Vorhofes eine fetzige rund¬ liche Rissstelle, wodurch sich der Sack in den Herzbeutelraum entleert hatte. Die Wurzel der linken Lunge ist weithin mit Blut infiltrirt. Die Aorta selbst weist keine Verkalkungen, sondern nur wenige sehr oberflächliche Verfettungen auf. Bei der grossen Wichtigkeit der Sache und dem Interesse, das der Fall bot, wurden die Lungen vorläufig intakt gelassen und Herz, Lungen, Luftröhre und Speiseröhre im Zusammenhang herausgenommen und meinem früheren Lehrer Prof, von Recklinghausen in Strassburg noch am selben Tage durch den verwandten Arzt überbracht Die Untersuchung der übrigen Organe ergiebt ausser grösserem Fettreichthum nichts Abnormes. Im Toraxraume wird linkerseits nichts Besonderes entdeckt Bei Eröffnen des linken Schultergelenks findet man dasselbe ohne besonderen Inhalt. Auf der Gelenkfläche des Schulter¬ blatts aber fällt oben und innen eine ca. Fruchtkerngrosse gelbliche verfettete Stelle des Knorpels auf, mit leichter Ein¬ senkung am Rande. Nach Abpräpariren aller Muskeln findet man auf der inneren Fläche des Schulterblatts an der Basis des Rabenschnabelfortsatzes eine gegen die Gelenk¬ fläche fast senkrecht verlaufende unebene ca. 1—2 mm dicke bis 3—4 mm breite Leiste von weichem, rothem, frischem Knochengewebe. Bei einem Längsdurchschnitt an dieser Stelle findet man, dass die kompakte äussere Knochenlamelle ge¬ trennt ist und der hintere Theil in die spongiöse Knochensub- stanz eingedrückt worden ist. Callusmassen haben die Bruch¬ stelle geebnet und überwölbt. Mein Gutachten lautete dahin, dass der Tod durch Bersten eines dissecirenden Aneurysmas in den Herzbeutel erfolgt sei Bei dem früheren vorzüglichen Gesundheitszustände des Herrn, und dem Fehlen gröberer Erkrankung der Hauptschlag¬ ader neige ich zu der Ansicht, dass der Riss an der Aorta in mittelbaren Zusammenhang mit dem Unfall vom 25. Mai zu bringen sei, obgleich der Zustand des Aneurysmas nur auf einen Bestand von 1—2 Tagen schliessen lässt. Prof, von Recklinghausen wurde seinerseits um ein Gutachten duroh die Unfallversicherungs-GesellBohaft ersucht Auf meine Anfrage hat mir derselbe gestattet, dies inter¬ essante Gutachten hier wörtlich folgen zu lassen, wofür ich ihm hiermit bestens danke. Es lautet wie folgt: Zunächst kann ich die thatsächlichen Angaben über die bei der Autopsie von den Herren Aerzten Dr. G. in St. A. und Dr. F. in F. erhobenen Befunde zu Folge der von mir wieder¬ holt ausgeführten Nachuntersuchung in allen wesentlichen Punkten, wie sie das Gutachten des Herrn Dr. Garein vom 23. Mai 1899 darlegt, durchaus bestätigen, insonderlich trete ich seinen Schlussfolgerungen: „1. dass der Tod des Herrn F. J. durch das Bersten des dissecirenden Aneurysmas der Brustaorta erfolgt ist, und zwar mittelst der plötzlichen Füllung des Herz¬ beutels mit austretendem Blute, 2. dass das Aneurysma nur etwa 24 Stunden in der für dieses schliessliche Bersten erforderlichen Ausdehnung bestanden haben wird“, bedingungslos bei. Ich behaupte in Uebereinstimmung mit mehreren Fachgenossen, welche über dieses Bersten derartiger Arterienerweiterungen in den Herzbeutel hinein in den ver¬ gangenen Jahren geschrieben haben, dass dieser Ausgang des¬ wegen unvermeidlich war, weil sich kein zweiter Einriss an der Aortenwand gebildet, kein Ventil entstanden war, durch welches das hochgespannte Blut des Aneurysmasackes den Weg zurück in die alte Blutbahn der Aorta gefunden hätte. Wegen dieses Fehlens einer Oeffnung für den Rückfluss des Blutes, sowie ferner bei dem Mangel jeglichen Zeichens dafür, dass die Rissflächen der Aortenwand sich mit neuem Gewebe bekleidet hätten, erscheint die Behauptung 2, dass das Zer¬ reissen der Aortenwand am letzten Lebenstage etwa mit dem Beginne der heftigen Leibschmerzen eingetreten ist, vollkom¬ men gerechtfertigt. Wäre junges Gewebe auf der Rissfläche auch nur mikroskopisch zu finden gewesen, so liesse sich ein Digitized by Google 15. Augnst 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 319 längeres Bestehen des abnormen, innerhalb der Schichten der Aortenwand gebildeten Kanals mit Sicherheit behaupten. Aus eigener Erfahrung, wie auch nach der Schilderung anderer Forscher kenne ich solche Fälle mit längerem Bestände, ja sogar eine Art Heilung wird alsdann einem dissecirenden Aneurysma zugesprochen. In derartigen Fällen von geheiltem „ Aneurysma dissecans“ ist es in der Pathologie seit der Untersuchung Boström’s im Jahre 1888 Gebrauch geworden, den meistens an Aortenbogen oder in dem aufsteigenden Theile gelegenen ersten Einriss, von welchem aus das dissecirende Aneurysma zu Stande kommt, die primäre Ruptur zu nennen und das Hauptinteresse der Frage zuzuwenden, wie diese zu Stande kommt, ob die Ge- fässwand einreisst, weil sie durch schleichende Erkrankung immer brüchiger und widerstandsunfähiger geworden ist, oder ob irgend ein plötzliches Ereigniss, eine äussere Gewaltein¬ wirkung, namentlich ein Trauma, wie es die Medizin nennt, die eigentliche Veranlassung des ersten Einrisses abgegeben hat. Ist einer seit Langem bestehenden Veränderung der Aor¬ tenwand, nämlich der mittleren Schicht, einer Mesarteriitis, die bisweilen nachgewiesen wurde, die Schuld beizumessen, oder ist in der Hauptsache, vielleicht gar einzig und allein, die durch ein intensives Trauma herbeigeführte momentane Er¬ höhung des Blutdrucks in den Blutgefässen als Ursache des dissecirenden Aneurysmas in Anschlag zu bringen? Boström’s Worte lauten in der Beziehung: „Ich muss naoh meiner Er¬ fahrung annehmen, dass die allermeisten, wenn nicht alle Fälle von Aneursyma dissecans auf ein Trauma zurückgefübrt werden müssen.“ Ein Autor aus neuester Zeit. Herr Tschermack (Virchow’s Archiv, 160. Band) äussert sich dahin: „Gerade für diese Fälle dissecirender Aneurysmen liegt die Ursache in einem intensiven Trauma meist klar zu Tage.“ Indem ich mich diesen Anschauungen über den Zusammenhang einer Aneurysmabildung mit einem vorausgegangenen Trauma aus eigener Erfahrung und Beobachtung auschliessen muss, ge¬ lange auch ich in dem vorliegenden Falle des Herrn J. zu der auch im Gutachten Dr. G.’s geäusserten Annahme, dass der am 25. März erlittene schwere Unfall die Bildung des disseci¬ renden Aneurysmas vorbereitet hat und wenigstens als eine indirekte Ursache des 6 Wochen später eingetretenen Todes bezeichnet werden kann. Zur Begründung führe ich folgende Erwägungen auf: 1. Aus der Krankengeschichte, der mehrwöchentlichen Gebrauchsunfähigkeit und der Anwesenheit von Knochenneu¬ bildungen an dem verletzten linken Schulterblatt, wie sie der Obduktionsbericht schildert, ergiebt sich, dass die Gewaltwir¬ kung, obwohl der Geschädigte nur auf flachen Cementboden gestürzt war, eine recht schwere gewesen sein muss. Hatte sie auch eine grössere Fraktur des Schulterblatts, welche der behandelnde Arzt vermuthete, nicht zur Folge gehabt, so hatte sich doch eine ungewöhnlich starke Allgemeinwirkung, nament¬ lich eine grosse Schmerzhaftigkeit auf der getroffenen Körper¬ seite eingestellt, und das Athmen war beeinträchtigt worden, sicherlich war bei dem Beschädigten, der als ein ziemlich korpulenter, grosser Herr mit starker Fettleibigkeit bezeichnet werden muss, durch den Unfall unmittelbar eine psychische Erregung eingetreten, welche notorisch eine excessive Steige¬ rung des Blutdrucks so plötzlich herbeiführte, dass die Arterien¬ wand unter der starken Spannung, welcher sie dabei ausge¬ setzt wird, einen Einriss bekommen kann und zwar erfahrungs- gemäss gerade an der aufsteigenden Aorta und am Aorten¬ bogen, meistens an derjenigen Stelle, wo auch hier die Ein¬ gangsöffnung des dissecirenden Aneurysmas nachgewiesen wurde. Dieser ungefähr 4—5 cm oberhalb der Klappen (spe¬ ziell oberhalb der rechten Aortenklappe) gelegene, etwas schräg zur Achse des Gefässes verlaufende Riss der inneren Gefässwandschichten darf sicherlich als die primäre Ruptur¬ stelle bezeichnet werden. 2. Dieser Schlitz, der schon, als mir das Präparat vorge¬ legt wurde, fast 3 cm lang erschien und die innere und die mittlere Gefässschicht etwas schief durchsetzte, hat innerhalb der letzteren rauhe Ränder, während die innere Schicht, die mit mehreren fettigen Rändern versehen ist, sich etwas ab¬ gehoben hat. Der obere Rand des Schlitzes erscheint umge¬ bogen, leicht eingekrempelt, wie man es an derartigen pri¬ mären Rupturen zu finden pflegt, wenn sie längere Zeit be¬ standen haben. Freilich machen die Rissränder wegen der genannten Rauhigkeit den Eindruck, als ob der Riss noch frisch, nur Tage alt wäre. Auch lieferte die mikroskopische Untersuchung der mittleren Gefässschicht den Beweis, dass neben den Rissrändern keine grössere Anhäufung von jungen Zellen, wie an den entfernter liegenden Abschnitten der ge¬ spaltenen Gefässwand aufzufinden war, von einer beginnenden Ueberhäutung der Rissflächen der Aortenwand konnte selbst in der Nachbarschaft des Schlitzes nicht die Rede sein. Den positiven Beweis dafür, dass diese primäre Ruptur schon Wochen alt, habe ich mittelst der anatomischen Untersuchung nicht in wünschenswerther Deutlichkeit führen können. An¬ derseits muss ich hervorheben, dass ich auch in einem gewiss mehrere Woohen alten Aneurysma dissecans der absteigenden Aorta, welches ich zum Vergleich untersuchte, nicht grössere nachträgliche Veränderungen an der Rissstelle nachweisen konnte, wie in dem Falle des Herrn J. Wahrscheinlich bedarf es mehrerer Monate, wenn nicht Jahre des Bestandes, bis sich die neuen Gewebsschichten, welche die Ueberhäutung der Rissstellen, die sogenannte Heilung des dissecirenden Aneu¬ rysmas besorgen, zur vollen, wenn auch nur mikroskopischen Deutlichkeit entwickeln. Trotzdem ein Zeichen des grösseren Alters nioht aufgefunden wurde, bleibt die Annahme, dass vor mehreren Wochen wenigstens ein Einbruch der inneren Aor¬ tenschichten entstanden sei, vollkommen zulässig. 3. Dass sich aus kleinen Rupturaneurysmen, ja auch aus einfachen Einrissen der inneren Wandschichten späterhin grosse dissecirende Aneurysmen in Folge irgend einer weiteren Ver¬ anlassung und Einwirkung enwickeln können, ist eine allge¬ mein anerkannte Thatsache. Die Schilderung des Krankheits¬ verlaufs am letzten Lebenstage (4. Mai) ergiebt keine Auf¬ klärung darüber, wodurch die plötzlichen Leibschmerzen ver¬ anlasst wurden, welche die bevorstehende Katastrophe an- zeigten! Ueber die nächste Ursache dieser Steigerung des Aneurysmas bis zur gefährlichen Grösse bleiben wir in dem vorliegenden Falle ebenso im Dunkeln, wie bei vielen andern Fällen von dissecirendem Aneurysma hinsichtlich ihrer ganzen Veranlassung. In solchen unklar gebliebenen Fällen, in denen diese Zerspaltung der Wand der grossen Hauptschlagader des Körpers gewöhnlich erst bei der Obduktion aufgefunden wurde, um so mehr als ein überraschender Befund, weil von einer äusseren Gewalteiüwirkung nichts bekannt geworden war, hat man nach Wand Veränderungen gesucht und die alsdann nach¬ weisbaren Erkrankungen derselben als die eigentliche Veran¬ lassung dissecirenden Aneurymas angesprochen, selbst wenn sie nur mikroskopisch nachweisbar waren. Und auch dieser Nachweis ist oft genug nicht in befriedigender Weise gelungen. Bei Tausenden von Aorten älterer Menschen finden sich die¬ selben Erkrankungen, die Entzündungen der inneren Arterien¬ häute viel stärker und doch fehlen die Aneurysmen gänzlich, In der vorliegenden mikroskopischen Untersuchung konnte ich an der ganzen Brustaorta innerhalb der äusseren Schichten der mittleren Aortenhäute ungewöhnlich reichliche Rundzellen, lager längs der kleinen Wandgefässe, am Abschnitte des Aor- Digitized by Google 320 Aerztliche Sachverständigon-Zeitung. No. 16. tenbogens auch kleine Blutungen in dem die Gefässe einschei¬ denden Bindegewebe nachweisen, somit diejenigen Befunde er¬ heben, welche auf eine ältere, der Aneurysmabildung voraus¬ gehende Entzündung, auf eine Mesarteriitis bezogen werden. Im Ganzen waren indess diese Befunde nur sehr massig, für die Erklärung des entstandenen Aneurysmas, selbst der ersten Ruptur, deshalb nicht in die Waagschaale zu werfen, weil sie in der mittleren und der äusseren Wandschicht der Aorta von Individuen des mittleren Lebensalters nicht selten erhoben werden, sogar in weit grösserer Evidenz, ohne dass ein sog. spontanes Aneurysma entstanden wäre. Für das Lebensalter, welches Herr J. erreicht hat, nämlich 36 Jahre, waren die Verdickungen der inneren Arterienhaut allerdings ungewöhn¬ lich stark entwickelt, stärker auch die fettige Veränderung derselben ausgebildet, wie sonst bei Vierzigern. Indessen sind diese Befunde in den grossen Schlagadern der Menschen, welche die Fünfzig passirt haben, etwas so Gemeines, dass sie mit den so seltenen dissecirenden Aneurysmen der Aorta in eine ursächliche Beziehung nicht gebracht werden können. 4. Laut der Krankengeschichte und den Ergebnissen der Obduktion sind keinerlei sonstige Momente namhaft zu machen, welchen ein Einfluss auf die Entstehung des dissecirenden Aneurysmas bei dem Herrn J. zugeschrieben werden könnte. In der grossen Mehrzahl der Fälle von dissecirenden Aneurysmen der Aorta fehlen in ganz derselben Weise alle sonstigen Ursachen, welche in Anschlag gebracht werden könnten für die Blutdrucksteigerung, welche die Ruptur der Gefässwand schafft; die anatomischen Momente ergeben fast regelmässig keinen Anhaltungspunkt, um auf diese den Schwer¬ punkt zu verlegen. Es bleiben nur die raschen oder gar plötz¬ lichen Störungen der Thätigkeit des Herzens und der Schlag¬ adern, momentane Hindernisse für den Verlauf des Blutes im Gefässsystem, sogenannte funktionelle Störungen, die am Blut¬ gefässapparat in weiter Verbreitung einmalig oder wiederholt auftreten, übrig, um das Einreissen der Gefässwand, welches das Aneurysma bewerkstelligt, zu erklären. Da nun in vielen Fällen von disseoirenden Aneurysmen einzig und allein ein vorausgegangenes Trauma als das ur¬ sächliche Moment angeschuldigt werden konnte, so bin ich in Zusammenfassung aller Erwägungen, auch mit voller Berück¬ sichtigung des Umstandes, dass die anatomische Untersuchung für die Schätzung des Zeitpunktes, in welchem der erste Ein¬ riss der Gefässwand eintrat, nichts Sicheres ergeben hat, ver¬ anlasst, die mir gestellte Frage nach dem Zusammenhänge des Todes mit dem Unfälle dahin zu beantworten, dass das den Tod des Herrn J. unmittelbar veranlassende disse- cirende Aneurysma nicht nur möglicher, sondern wahrscheinlicherweise in seiner ersten Anlage von dem früher erlittenen Unfälle abzuleiten ist. Die An¬ nahme eines mittelbaren Zusammenhanges zwischen dem Unfall und dem Tode kann meines Erachtens nicht abgewiesen werden. Durch Vermittlung eines Rechtsanwalts erlangte darauf die Wittwe des Herrn J. in Folge eines Vergleiches mit der Unfallversicherungs-Gesellschaft etwas über 3 / 4 der versicherten Summe. Akuter Gelenkrheumatismus und Trauma. Kasuistische Mittheilung von Dr. Wolff-Danzig. Mit dem Begriff des Unfalls hat sich ein ätiologisches Moment eingebürgert, das eine täglich sich steigernde Bedeu¬ tung annimmt. In diesem Rahmen sind neue Krankheitsbe¬ griffe, wenn auch nicht neue Krankheitsbilder entstanden, — ich erinnere nur an die vielumstrittenen Unfall-Neurosen, — und immer weiter wird der Kreis der Erkrankungen, welche mit dieser Aetiologie in Verbindung gebracht werden. Als neuestes Glied in dieser Kette erscheint der akute Gelenkrheumatismus. Man bezieht sich hierbei auf die Analo¬ gie mit Osteomyelitis oder Gelenkstuberkulose, indem man die heute besonders betonte Anschauung zu Grunde legt, dass der akute Gelenkrheumatismus eine Infektion mit „weniger viru¬ lenten Eiterkokken" darstellt. Allerdings ist diese Zugehörigkeit noch ebensowenig sicher¬ gestellt wie die Beziehungen des Gelenkrheumatismus zum Trauma, und es wird noch mancher Beweisführung bedürfen, um speziell die letztere, praktisch so überaus wichtige Frage, nach der einen oder anderen Richtung hin definitiv zu beant¬ worten. Dass bei der grossen Neigung der interessirten Kreise, alles und jedes zu einem Unfall zu gestalten, was in ihre Körperunversehrtheit eingreift, gerade bezüglich einer so ausserordentlich häufigen Erkrankung die grösste Vorsicht schon bei der Erwägung der Frage an sich geboten erscheint, bedarf keiner besonderen Betonung. Und man wird wohl ohne weiteres Becker, der in No. XII/1900 der „Aerztl. Sachverst.- Zeitung" die bisher publizirten Fälle zusammenstellt und einer kurzen Kritik unterzieht, in seiner Schlussbemerkung bei¬ stimmen: „Ein wichtiges Moment bei der Beurtheilung dieser Fälle bietet endlich auch noch die Zeitfolge zwischen Gelenk¬ trauma und sich anschliessender Polyarthritis rheum. Je kürzer diese Zeit, desto wahrscheinlicher scheint mir der Kausalnexus, je länger, desto unwahrscheinlicher." Dieser Wink kann nicht genügend Beherzigung finden. Denn wenn der akute Gelenkrheumatismus eine akute Infektionskrankheit darstellt, so muss er nach der Analogie mit diesen Erkran¬ kungen ein Inkubationsstadium haben. Dieses ist ja nun, vielleicht deshalb, weil an sich verschiedene, in ihren Aeusse- rungen ähnliche Krankheitsbilder unter jenen Begriff zu¬ sammengefasst werden, für den akuten Gelenkrheumatismus noch nicht bekannt. Aber wenn man einwandsfreien Auf¬ zeichnungen, wo sich z. B. nach Erkältungen fast unmittelbar, zuweilen nach noch nicht eintägigem Intervall, der akute Gelenk¬ rheumatismus einstellte, Rechnung zu tragen geneigt ist, dürfte diese Inkubationsdauer nicht gerade allzulange bemessen wer¬ den. Durch möglichst zahlreiche Beobachtungen kann es viel¬ leicht gelingen, das hier noch herrschende Dunkel zu zer¬ streuen. In diesem Sinne gestatte ich mir die Mittheilung folgender Krankengeschichte: Am 24. April er. wurde die 25jährige Wirthschafterin M. B. von der Landesversicherungsanstalt Westpr. dem hiesigen Zander-Institut zur Nachbehandlung überwiesen. Sie giebt an, dass ihr Vater im Alter von 54 Jahren an einem Kehlkopfleiden (?) gestorben wäre, die Mutter ist gesund, ebenso ihre Geschwister. Ein Fall von Rheumatismus ausge¬ prägten Charakters existirt in der Familie nicht. Sie selbst sei stets gesund gewesen, habe vor allem nie an Rheumatis¬ mus gelitten. Fluor habe nie bestanden. Am 14. August 1899 wollte sie auf einer Trittleiter Gar¬ dinen anstecken. Hierbei fiel sie herunter, und zwar, wie sie ausdrücklich angiebt, auf die rechte Seite, und ganz besonders auf das rechte Knie. Am Tage arbeitete sie weiter. Des Nachts spürte sie jedoch heftiges Reissen im rechten Knie und der rechten Schulter. Tags darauf stellte der Arzt Tem¬ peratursteigerung fest. Ob bereits Schwellung vorhanden war, weise sie nicht anzugeben. Sie erhielt Salicyl und blieb 14 Tage bei ihrer Dienstherrschaft liegen. Als sich der Zu¬ stand jedoch verschlimmerte, wurde sie nach dem Kranken¬ hause geschafft. Dort wurde Schwellung in allen grossen Digitized by LjOOQie 15. August 1900. Aerztliche Sachverständig en-Zeitung. 821 Körpergelenken festgestellt. Sie blieb vier Monate im Kran¬ kenhause und wurde schliesslich mit steifem rechten Knie entlassen, während die übrigen Gelenke mittlerweile abge¬ schwollen und frei beweglich geworden waren. Bei der Aufnahme am 24. April zeigte sich das rechte Knie spindelförmig verdickt, leicht gebeugt, Kniescheibe massig verschieblich, Kapsel verdickt, kein Flüssigkeitserguss nach¬ weisbar, in der Kniekehle ein vergrösserter, aber nicht druck¬ empfindlicher Schleimbeutel. Beweglichkeit sehr gering, an¬ scheinend schmerzhaft, sehr erhebliche Atrophie, besonders des Quadriceps. Alle übrigen Gelenke frei beweglich, auch ohne Geräusche. Im Uebrigen ist die B. ein sehr korpulentes, etwas anä¬ misches Mädchen. Herz ohne Abweichung, ebenso die Lungen. Fluor wird geleugnet. Durch Heissluftbäder, Stauung, Massage etc. gelang es nach einigen Wochen, die Beweglichkeit des Kniegelenks zu steigern und vor Allem schmerzfrei zu gestalten. Die Atro¬ phie verminderte sich mit Zunahme der Beweglichkeit. Als mit zunehmender Besserung die Aussicht auf die erhoffte In¬ validenrente immer mehr schwand, entzog sich die B. weiterer Behandlung. Dass das Mädchen eine Polyarthritis durchgemacht, unter¬ liegt keinem Zweifel. Ob es ein „reiner“ Gelenkrheumatismus oder ein gonorrhoischer gewesen ist, vermag ich nicht zu ent¬ scheiden. Für unsere Betrachtung ist es aber heute noch ziemlich belanglos, ob nach einem Trauma eine Infektion des betreffenden Gelenks, und von da aus eine Ausbreitung über die übrigen Gelenke mit „weniger virulenten Eiterkokken“ oder mit Gonokokken stattgefunden hat. Dass aber das Trauma der Erkrankung voraufgegangen ist, muss man wohl annehmen. Denn hätte die B. schon vor dem fraglichen Tage Schmerzen in dem rechten Kniegelenk verspürt, so bin ich, wie ich die Person kenne, fest überzeugt, dass sie nun und nimmermehr eine Leiter bestiegen hätte. Mir aber und den anderen Aerzten vorzureden, dass die Erkrankung sich gerade an ein Trauma angeschlossen, lag gar keine Veranlassung vor, da die p. B. einerseits nicht unfallversichert war und die Invaliditätsversicherung andererseits darauf keine Rücksicht nimmt. Ich meine demnach, dass man die obige Darstellung gelten lassen kann. In diesem Falle aber hätten wir Trauma und Erkrankung in so unmittelbarer Aufeinanderfolge, wie wir es thatsächlich zuweilen bei Erkältungen und Durchnässungen beobachten. In dieser Hinsicht steht unser Fall mit seiner an das exakte Experiment erinnernden Folge von Ursache und Wir¬ kung, soweit ich die Literatur kenne, ziemlich vereinzelt da. Allerdings beweist ein Fall noch nichts. Aber er ist doch immerhin geeignet, der oben citirten Ansicht Beckers zur Stütze zu dienen. Referate. Chirurgie. Zur Statistik des Lippenkrebses auf Grund von 565 Fällen aus der von Brnns’schen Klinik. Von Dr. Loos. (Beiträge «ur klinischen Chirurgie von P. v. Bruns. 27. Bd. 1. Heft. S. 57.) Von diesen 1843—1898 in der Tübinger Klinik beobach¬ teten 505 Lippenkrebsen fallen 534 d. i. 94,5% auf die Unter¬ lippe und nur 31 d. i. 5,5% auf die Oberlippe, 483 d. i. 85,5% auf das männliche und 82 d. i. 14,5% auf das weibliche Ge¬ schlecht, bei Berücksichtigung des Unterlippenkrebses allein 87,4% auf Männer und 12,6% auf Frauen. Betheiligt ist über¬ wiegend die landwirtschaftliche Bevölkerung, doch ist daraus nicht etwa auf eine besondere Disposition zu schliessen. Sucht man nun nach gemeinsamen Ursachen für die Prädisposition jener Stände, so könnte als das für alle zutreffende Moment der Aufenthalt in freier Luft geltend gemacht werden. Ent¬ sprechend den so häufigen Rhagaden an Lippen und Mund¬ winkeln werden auch in den Anamnesen als Beginn der Krebs¬ vertreibung öfters angegeben: „Schrunden, Risse, die nicht heilen wollten,“ sonstige Folgen von Witterungseinfiüssen (wie Erfrieren), einmal auch direkt „der Aufenthalt im Freien“ von einem Waldschützen. Aber welch' geringe Rolle spielen diese Zahlen gegenüber den Fällen, wo keine Ursache angegeben werden konnte. Und wenn überhaupt diesen Angaben der Kranken wenig \yerth beizumessen ist, so sind auch kleine Traumen fast ebenso oft angegeben worden, wie obige Ursachen. Bei 25 Fällen ist ausdrücklich eine vorausgegangene kleine Verletzung beschuldigt: kleine Risswunde, Reiben eines Zahnes, Gegenfliegen eines Holzstückes, Stich mit einem schartigen Löffel, mit einer Stahlfeder, Schnitt beim Rasiren, Kratzen eines auf dem Arme getragenen Kindes an der Lippe der Trägerin, Gegenfliegen einer Erdscholle. Ferner ist einmal der Berat als Flötenspieler und Waldhornbläser als Entstehungsursache ange¬ geben. Ohne nun diesen Angaben im einzelnen allzugrossen Werth beizumessen, so liegt doch das Gemeinsame darin, dass unmittelbar der Verlust der Epitheldecke das Eindringen der Noxe erleichtern, oder auch die entsprechende Entzündung der Infektion durch Krebs begünstigen, also den Boden für seine Entwicklung gewissermassen präparireu kann.“ — Ein näherer Zusammenhang zwischen Pfeifenrauchen und Lippencarcinom besteht nicht. — Als Ausgangspunkt der mit Defekten in der Epithelbedeckung beginnenden Krankheit wird immer dasLippen- roth genannt, nur vereinzelt die nächste Umgebung. — Die durchschnittliche Krankheitsdauer sämmtlicher Fälle bis zur Operation betrug 1 Jahr 672 Monate. Die geringe Neigung des Lippenkrebses, entferntere Metastasen zu bilden, wird be¬ stätigt. Von den Operirten erkrankten 33% wieder; eine nennenswerthe Heilungsdauer folgt auf die Operation mehr¬ facher Recidive nicht. Von den 1843—1885 beobachteten Fällen endeten günstig 51,6%, ungünstig 48,4%, von den 1885 bis 1896 günstig 66%, ungünstig 35%. Guder. Untersuchungen über die angebliche Contagiosität des Erysipels. Von Dr. Respinger. (Beiträge inr klinischen Chirurgie von v. Bruns. Bd. 26, Heft 2, S. 261.) „Die Erysipelen werden vielerorts auf die interp medizini¬ schen Absonderungsabtheilungen gelegt; in der Privatpraxis werden sie auch wie andere kontagiöse Krankheiten, so gut es geht, isolirt; es besteht in gewissen Städten (z. B. in Basel) die Anzeigepflicht für den Arzt, welche ja eben auch den Zweck hat, gegebenen Falles staatliche Massregeln gegen die Aus¬ breitung der Krankheit zu ermöglichen und also auf die An¬ nahme der Contagiosität gegründet ist. — Weder Schuppen noch getrockneter Blaseninhalt sind im Stande eine Contagion zu vermitteln. Da sie aber das Einzige sind, das die unver¬ letzte Erysipelfläche in flüssige Form verlässt, ergiebt sich der Schluss, dass der Erysipel keine kontagiöse Krankheit ist. Auch die Gefahr der Uebertragung darf unter den heutigen Verhält¬ nissen nicht mehr hoch angeschlagen werden. Das Sekret der Eingangspforte ist allerdings sehr infektiös; aber die Verbrei¬ tung desselben in die Umgebung kann ja sehr leicht vermieden werden. Je kleiner die Wunde ist, um so geringer die Gefahr der Verschleppung. Der Erysipel ist viel natürlicher und zwang¬ loser in eine Kategorie mit den übrigen Wundinfektionskrank- Digitized by Google 322 Aerztliche 8aohverständigen-Zeitung. No. 10. heiten (Phlegmone, Lymphangoitis, Pyaemie etc.) zu bringen. Die Infektiosität einer Streptokokkenphlegmone mit eröffnetem Abscess ist eine unendlich viel grössere als diejenige z. B. eines Gesichtserysipels. Die Zweckmässigkeit der Anzeige¬ pflicht fällt mit der Ablehnung der Contagiosität, denn mit dem gleichen oder grösseren Recht wie die Erysipelfälle müsste jeder phlegmonöse Prozess angezeigt werden. G. Veber traumatische Muskelverknöcherungen. Von Dr. C. Rammstedt. (Archiv f. klin. Chirurgie, Bd. XXI, H. 1.) Abgesehen von den Muskelverknöcherungen in nächster Nachbarschaft von Muskelinsertionspunkten, bei denen durch die Gewalteinwirkung des Traumas kleine Periosttheilchen mit der Sehne des betreffenden Muskels abreissen und die Veranlassung zur Knochenbildung geben, kommen auch fern von den Insertionspunkten im Anschluss an meist schwere, einmalige Traumen Muskelverknöcherungen vor. Besonders bevorzugt ist hierbei die Streckmuskulatur des Oberschenkels und Oberarms. R. konnte nur 12 derartige Fälle in der Lit- teratur eingehend beschrieben finden, obwohl doch derartige Knochenbildungen relativ häufig sind. Er selbst hat in den letzten zwei Jahren in der Hallenser Klinik zwei ganz analoge Fälle beobachtet. Der erste betrifft einen 25jährigen Leutnant, welcher einen Hufschlag gegen den linken Oberschenkel erhalten hatte. Es bildete sich noch an demselben Tage eine ziemlich be¬ deutende Anschwellung und nach einigen Tagen blaue und grüngelbe Flecke in der Haut. Erst drei Wochen später merkte er an der Stelle der Verletzung eine Verhärtung inner¬ halb der Muskulatur, die langsam zunehmend bei Bewegungen schmerzte und schliesslich die Beweglichkeit des Kniegelenks beeinträchtigte. Der klinische Befund war folgender: Die Anschwellung liegt innerhalb der Streckmuskulatur, ist von Knochenhärte und lässt sich in zwei Abschnitte differenziren. Der ober¬ flächlichere lässt sich etwas auf der Unterlage verschieben, während der tieferliegende, aber mit dem ersteren zusammen¬ hängende Theil, dem Knochenschaft fest aufsitzt. Bei stärkerem Druck und gewaltsamen Bewegungen im Kniegelenk werden lebhafte Schmerzen geäussert. Das Kniegelenk kann nicht völlig gebeugt und aktiv auch nicht ganz gestreckt werden. Die Diagnose lautete: Verknöcherung des Muscul. vastus internus. Bei der Operation kam man nach Durchtrennung der oberflächlichen Rectusschichten auf eine Knochenschale von U/2 cm Dicke und 15 cm Länge. Die Muskelfasern des Rec- tus und des Vastus internus gingen direkt in dieselbe über, so dass sie scharf herauspräparirt werden musste. Durch eine Schicht mehr oder weniger veränderter Muskulatur ge¬ trennt, fand sich darunter eine zweite Knochenschale, welche dem Schaft in einer Ausdehnung von 6 cm fest aufsass und nur mit dem Meissei entfernt werden konnte. Der zweite Fall bezieht sich auf einen 18jährigen Knecht, der ebenfalls einen Hufschlag gegen den linken Oberschenkel erhalten hatte. Trotzdem arbeitete er, erst 14 Tage später bekam er beim Tragen schwerer Säcke und Treppensteigen heftigere Schmerzen im linken Oberschenkel und einige Tage später Behinderung in der Beweglichkeit des linken Knie¬ gelenks. Er wurde in die Klinik geschickt und bot jetzt fol¬ genden Befund: Im linken Oberschenkel befindet sich auf seiner vorderen Fläche eine buckelförmige Vorwölbung. Die Betastung ergiebt unterhalb der überall verschieblichen und nicht infiltrirten Haut, innerhalb der Muskulatur des Vastus eine knochenharte, walzenförmige Geschwulst, die ungefähr 20 cm lang, 8 cm breit ist. Die Beweglichkeit des Knie¬ gelenks ist behindert, indem Streckung und Beugung be¬ schränkt und, forcirt, mit Schmerzen an der Geschwulst ver¬ bunden sind. Die Diagnose Verknöcherung im Vastus internus wird durch das Röntgenverfahren bestätigt, man sieht die matten, aber deutlichen Umrisse eines Tumors, welcher direkt auf dem Oberschenkelknochen liegt, während die Umrisse des letzteren vollkommen scharf und unverändert sind. Der Tumor wird an seinem Innenrande durch einen Parallel8chnitt zum Aussenrande des Sartorius nach Durch¬ trennung des Rectus femoris und der oberflächlichen Fasern des Vastus medius freigelegt. Wegen seines innigen Zu¬ sammenhanges mit der Muskulatur kann er nur scharf aus¬ gelöst werden. Um die Dicke der Knochenplatte zu ergründen, wird an deren oberer Fläche eingeschnitten, es findet sich ein regelrechter, überall von Knochen umgebener Hohlraum, aus welchem sich circa 100 ccm einer rothgelben, klaren Flüssigkeit entleeren. Besonders an der unteren Spitze der Geschwulst müssen zahlreiche Gefässe durchtrennt und unter¬ bunden werden, dort endet auch ein starkes Gefäss blind. Au der Basis ist die Knochenneubildung an ihrem oberen Ende in einer Ausdehnung von 4 cm Länge und kaum 1 cm Breite mit dem Schenkelknochen verwachsen, lässt sich aber ohne Meissel mühelos abheben. Der Knochen war in derselben Aus¬ dehnung von der Knochenhaut entblösst — einzelne Rauhigkeiten iu der Umgebung, geringe Knochenneubildungen wurden noch mit dem Meissel entfernt. Die Wunde wurde genäht nach Anlegung eines Gegeneinschnitts zur Drainage nach der Aussen- seite. Die Heilung erfolgte glatt. Von den 14 bekannten Fällen betreffen 11 den Vastus femoris, 1 den Triceps brachii, 1 den Brachialis internus und 1 den Glutaeus maximus. Sämmtliche sind nach einem einmaligen, heftigen Trauma entstanden, 9 nach einem Huf¬ schlage. Sicher handelt es sich in der Mehrzahl um sub¬ kutane Zertrümmerung der Muskulatur, Zerreissung von Ge- fässen mit Bildung eines grösseren Blutergusses oder blutiger Durchtränkung der gequetschten Gewebe. Aeussere Zeichen der Entzündung sind in keinem Falle beobachtet. In der Form stellen sie meistens flache, bis zu 20 cm lange und meist 1, 2 bis höchstens 3 cm dicke Knochenplatten oder -Spangen dar. Besonders interessant ist das im zweiten Falle der Hal¬ lenser Klinik gewonnene Präparat. Dasselbe ist 15 cm lang und bis zu 6 cm breit; es stellt einen vollkommen abge¬ schlossenen Hohlraum dar mit knöchernen Wänden von einer durchschnittlichen Wandstärke von 4—5 mm. Es fragt sich nun, von wo diese Osteome ihren Ausgang nehmen. Ob sie primär in der Muskulatur entstehen und erst in Folge ihres Wachsthumes mit dem Skelett in Verbindung treten oder ob sie ihren Ursprung dem Periost verdanken. Löste Berthier bei Kaninchen Periostfetzen vom Knochen ab und brachte sie in innige Berührung mit Muskelfasern, so konnte er dadurch wahre Verknöcherungen erzeugen. Zweifel¬ los muss man deshalb für manche Fälle einen periostalen Ursprung anerkennen. Von den beschriebenen 14 Fällen waren aber 10mal die Verwachsungen zwischen Osteom und Femur nur sehr lose und in einem Falle gar nicht vorhanden. Dies und ihre Aus¬ dehnung im Faserverlauf des Muskels sprechen für einen mus¬ kulären Ursprung. Ebenso der mikroskopische Befund des zweiten Falles der Hallenser Klinik: 1. eine überaus charakteristische schichtweise Anordnung der Knochenneubildung, Digitized by Google 15. August 1900. Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. 323 2. alle diese Knoehenschichten sind deutlich trennbar und verlaufen parallel den erhaltenen Muskelfasern, 3. die innerste Schicht enthält die kompaktesten Knochen¬ spangen, während nach aussen feinere Knochenbälkchen, dann sogar eine Schicht mit metaplastischer Bildung des Knochens aus Knorpel und am weitesten aussen wohl Knorpelbildung, aber noch keine weitere Neubildung zu erkennen ist. 4. In den verschiedenen Bindegewebsschichten finden sich Reste von Blutungen ganz verschiedener Zeit Dem Innenraum der Cyste am nächsten gelegen finden sich die am meisten vorgeschnittenen Umwandlungsstufen der einstigen Blutung in ausgedehnter Pigmentbildung, während mehr aussen noch ziemlich unveränderte Blutreste angetroffen werden. Durch diese Thatsachen ist bewiesen, dass wiederholte Blutungen stattgefunden haben und dass immer eine spätere Blutung in einer der folgenden Muskelschichten zu einer neuen und späteren Knochenneubildung geführt hat. Dass ferner die Blutungen innerhalb der Muskulatur, die folgende Binde- gewebswucherung und die weitere Umwandlung des Binde¬ gewebes in Knorpel und Knochen in einem untrennbaren ur¬ sächlichen Zusammenhänge stehen. Die Behandlung hängt von den Beschwerden der betroffenen Patienten ab. Sind Schmerzen und zunehmende Bewegungs¬ störungen in den benachbarten Gelenken vorhanden, so ist man stets berechtigt, die Verknöcherung auf blutigem Wege zu entfernen. Helferich verlangt, dass der betreffende Muskel in ganzer Dicke exstirpirt werde, mindestens aber soweit, als derselbe verändert erscheint; er verlangt ferner eine Abtragung der Knochenhaut 1 cm weit in der Umgebung des Ansatzes der Ge¬ schwulst und Abmeisselung der oberflächlichen Rindenschicht des benachbarten Knochens. Obwohl ein so radikales Vor¬ gehen gewiss vor Rückfällen schützt, kann man erfahrungs- gemäss doch auch bei weniger eingreifendem Verfahren gute Ergebnisse erzielen. Da die Geschwülste an sich gutartig sind, ist man um so mehr berechtigt, schonender vorzugehen, als die Funktion des Gliedes um so besser wird, je weniger von der Muskulatur geopfert wurde. In den beiden neuen Fällen wurde die Geschwulst eben¬ falls auf das Genaueste aus der Muskulatur herauspräparirt, aber von der letzteren nur das weggenommen, was in inniger Verbindung mit dem Tumor stand. Vom Knochen wurde nur die verdickte Knochenhaut an der Ansatzstelle und einige osteo- phytischen Auflagerungen daselbst entfernt. Obwohl beide Fälle glatt heilten, wurde beide Male in den ersten 4—8 Wochen nach der Operation unterhalb der Narbe in der Muskulatur, ein schwieliges, derbes Infiltrat beob¬ achtet, welches unter vorsichtiger Bewegung und Massage bis auf einen geringen Rest dicht am Knochen vollständig zurück ging. Stabei. Zwei räthselhafte Frakturenbefunde. Aus der chirurgischen Abtheilurg der Diakonissen- und Heilanstalt Bethesda zu Hamburg. Von Oberarzt Dr. Karl Lauenstein. (Deutsche Aerste-Zeitang. Heft 12, 1900.) Das Besondere, was die vom Verfasser mitgetheilten beiden Fälle bieten, besteht darin, dass ganz unerwartet schwere Zertrümmerungsbrüche gefunden wurden. In dem einen Falle handelte es sich um einen Trinker, der wegen einer schweren Zellgewebsentzündung des linken Unter¬ schenkels, die, von einer diffusen Schwellung und Rötbung der ganzen Fussgelenk-, Sprungbeingelenk- und Fusswurzel- gegend ausgehend, sich bis an das Knie hinauf erstreckte, in Behandlung kam. Bei der Operation fand sich eine voll¬ kommene Zertrümmerung des Fersenbeines in etwa zehn Stücke; Zeichen einer frischen Blutung fehlten ebenso, wie Spuren einer äusseren Verletzung. Wenn der Kranke von einem Unfall nichts zu berichten wusste, so erklärt sich dieser Um¬ stand wahrscheinlich mit seinem Potatorium. In dem anderen Falle aber handelte es sich um einen durchaus nüchternen Mann, der mit einer bereits seit sechs Wochen bestehenden eitrigen Entzündung des rechten Ellbogens zur Behandlung kam. Hier fand sich bei der Operation eine vollständige Zer¬ trümmerung des Ellbogenknochens; in dem entleerten Eiter waren charakteristische Gonokokken nachweisbar. Erst später ergab die genauere Nachforschung, dass sich der Kranke etwa acht Tage vor Beginn seines Leidens mit dem Dreschflegel gegen den rechten Ellenbogen geschlagen, aber ruhig weiter¬ gearbeitet hatte. Dann bekam er einen Furunkel in den Nacken und nun begann die Entzündung im Ellbogengelenk. Es ist also wahrscheinlich auf metastatischem Wege die Ver¬ eiterung des Ellbogenbruchs zu Stande gekommen, der seiner¬ seits durch jenen Unfall hervorgerufen wurde. —y. Beitrag zur Entstehung der Leistenbr&che. Von General Oberarzt Niebergall-Flensburg. (Dtsch. mil.-ärztl. Zeitschr., XXIX. Jahrg., Heft 6.) Die Frage nach den näheren Vorgängen bei der Ent¬ stehung von Leistenbrüchen ist seit der Einführung der Un¬ fallversicherungs-Gesetzgebung nicht nur für den Militärarzt, sondern für jeden praktischen Arzt, insbesondere aber für den ärztlichen Sachverständigen von hohem Interesse. Wiederholt ist auf Aerzte- und Naturforscher-Versammlungen darüber de- battirt worden. Zwei Punkte sind es hauptsächlich, um die sich noch der Streit der Meinungen dreht. Einmal fragt es sich, ob Leistenbrüche im Allgemeinen plötzlioh oder allmählich entstehen, und zweitens handelt es sich darum, ob bei der Entwickelung des Uebels der innere Leistenring eine grössere Rolle spielt als der äussere. Auf Grund anatomischer Unter¬ suchungen, die zunächst die Thatsache feststellen, dass es einen eigentlichen Leisten-„Kanal“ im Sinne eines offenstehen¬ den Weges mit eigenen Wandungen und einer gegebenen Eingangs- und Ausgangsmündung garnicht giebt, kommt Verf. zu dem Ergebniss, dass ständig gegen den inneren Leistenring andringende Eingeweide auf die Dauer wohl im Stande sind, hier eine Verbreiterung der Bahn nach und nach zu Stande zu bringen, womit die Wichtigkeit der jeweiligen anatomischen Beschaffenheit gerade der inneren Leistenpforte dargethan ist. Verf. zieht aus seinen Darlegungen folgende interessante Schlussfolgerungen: 1. Soweit nicht angeborene Bruchsäcke vorhanden sind, also in fast s / 4 aller Bruchfälle, geht die Ausbildung des Leistenbruches allmählich vor sich. 2. Da bei dem meist allmählichen Entstehen des Uebels die Anfänge der Bruchbildungen von dem Träger oft garnicht bemerkt werden, so genügt, sobald die Bauchgeschwulst in den vorderen Abschnitt des Leistenkanals gedrungen ist, oft eine verhältnissmässig geringfügige Veranlassung, um den Bruch zum Vorschein zu bringen. ' 3. Massgebend für Entwickelung von Leistenbrüchen sind in erster Linie die anatomischen Verhältnisse am inneren Leistenringe, der äussere spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Richard Müller. K&rbol-Gangraen. Von Francis B. Harrington. (Amer. Joorn. of med. Sc. 1900 Jaly.) Die Arbeit enthält keine neuen wissenschaftlichen That¬ sachen, sie wiederholt im Wesentlichen nur die immer noch Digitized by Google 324 Aerztliche Sachverständigen- Zeitung. No. 16. nicht überflüssige Warnung vor dem „Hausmittel“ der Karbol¬ umschläge. 18 Fälle von Karbolbrand hat H. persönlich beobachtet, die Verordnung des schädlichen Stoffes war meist von Apo¬ thekern gegeben. Wem irgend die Arbeit im Urtext zugänglich ist, der wird mit Bewunderung die beigegebenen Abbildungen betrachten, die auf 3 trefflich ausgeführten Tafeln erst einen brandigen Finger, dann das mikroskopische Durchschnittsbild desselben und endlich eine ganze Sammlung von durch Karbolbrand ver¬ krüppelten Fingern darstellen. Solche Bilder wirken mehr als alles Reden. Innere Medizin. Ein Fall von einem Aneurysma der Carotis interna nach Tonsillarabscess. Heilung durch Unterbindung der Carotis communis. Von Dr. P. Wulff, Ass. am Isr. Krankenhaus zu Hamburg. (M. M. W. 1900 No. 20.) Ein acht Jahre altes Kind hatte eine gewöhnliche follicu- läre Mandelentzündung durchgemacht. Kurz darauf zeigte sich, während das Allgemeinbefinden schlecht war, eine wall¬ nussgrosse Anschwellung der linken Mandelgegend, die für einen Abscess gehalten wurde und geschnitten werden sollte. Vor dem Einschnitt aber sollte der Rachen von Schleim gereinigt werden. Als ein Tupfer eingeführt war und das Kind stark würgte, quoll plötzlich ein mehrere Finger dioker Blutstrahl aus dem Munde. In drei Stössen verlor das Kind mehr als einen halben Liter Blut. Es wurde ohnmächtig, kam aber wieder zu sich, die Blutung stand. Nach zwei Wochen schwoll dieselbe Mandel wieder an, diesmal wurde von einem andern Arzte durch Einschnitt reiner Eiter entleert. In den nächsten Wochen entwickelte sich eine pulsirende Geschwulst, die aus dem Nasenrachenraum von der hinteren Wand herabhing, und aus der sich auf Einstich mit feiner Hohlnadel helles Blut entleerte. Drückte man die Halsschlag¬ ader zusammen, so hörte die Pulsation auf. Mit dem Ohr nahm man über der Halsschlagader ein systolisches Ge¬ räusch war. Da das Aneurysma der Carotis interna, das somit bestand, an der Kuppe schon sehr verdünnt und das Kind sehr elend war, wurden nicht erst verschiedene andere Behandlungs¬ weisen versucht, sondern bald die Unterbindung und zwar zur Sicherheit die der gemeinsamen Halsschlagader vorgenommen. (Es war nicht ganz auszuschliessen, dass der Blutsack von der aus der Carotis externa kommenden pharyngea ascendens ausging.) Der Erfolg war gut, die Geschwulst verschwand, die Heilung wurde nur durch einen Abscess in der Ohr¬ speicheldrüsengegend etwas verzögert, der nach dem Gehör- gang durchbrach. Wir wollen nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, dass dieser Fall so recht zeigt, wie die durch unscheinbare Eite- rimgen hervorgerufenen Aneurysmen nicht nur für den Kran¬ ken, sondern auch für den Arzt recht gefährlich sind. Hätte der erste Arzt erst durch Einschnitt die Blutung hervorgerufen, so wäre voraussichtlich das Kind gestorben und der Doktor zum mindesten in Voruntersuchung gekommen. Zur Kasuistik seltener Formen von Blutbrechen. Von Dr. G. Honigmann -Wiesbaden. (Zeitschrift für prftkt. Aente No. 10, 1900.) Welche Schwierigkeiten in diagnostischer Hinsicht oft bei Entleerung von Blut aus dem Munde entstehen können, erhellt aus dem vom Verfasser mitgetheilten Falle, der wegen eines eigenartigen Verlaufes von Interesse ist: Bei der zuerst auf¬ tretenden Blutung (reichlich helles, schaumiges Blut) entstand die Vermuthung eines Lungen-Blutsturzes, die rechte Lungen¬ spitze wies eine Dämpfung auf. Am nächsten Tage aber schon wurde diese Annahme widerlegt, als Patient ein ca. 9 cm langes, kleinfingerdickes Blutgerinnsel aushustete, das am Ende sich in zwei dünne Aeste gabelte, als ob es auf der Gabelung der Luftröhre geritten hätte. Das Krankheitsbild wurde noch verdunkelt durch das Auftreten von Schüttelfrösten und eine starke Milzschwellung. Am Brustbein war über dem Schwertfortsatz ein geringes Oedem in Ausdehnung eines Fünfmarkstüokes vorhanden. Erst die Sektion brachte die Aufklärung des Falles; es lag eine Milzblutung vor, die durch eine wahrscheinlich von einem peptischen Geschwür der Speise¬ röhre verursachte Durohbruchsstelle Eingang in die Speise¬ röhre gefunden hatte. Ob der Milzabszess primär entstanden oder durch das durchgebrochene Geschwür veranlasst worden, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. — y. Zur Pathologie and Diagnose der Ben mobilis. Von Wuhrmann. (Deutsche Zeitschrift f. Chir. Bd. 63. Heft 1720 Während man meistens die Untersuchung der Wander¬ niere in Rüoken- oder Seitenlage ausführt, ist von vornherein anzunehmen, dass das Leiden, welches gewöhnlioh nur in aufrechter Stellung des Patienten diesem Beschwerden macht, auch in dieser Stellung am leiohtesten zu diagnostiziren sei. Der Palpationsbefund ist im Liegen oder Stehen durch¬ aus verschieden. Untersucht man in Rücken- oder Seitenlage, so findet sich die Niere bald mehr, bald weniger nach unten innen gerutscht, ja nach der Exkursionsfähigkeit des Organes und je nachdem sich der Patient langsam oder schnell hin¬ gelegt hat. Im letzteren Falle wird sie gleichsam an ihren normalen Standort zurückgeschleudert. Untersucht man dagegen den Kranken im Stehen, so erhält man immer dieselbe und zwar die maximale Nieren¬ wanderung. Je nach dem Grade ihrer Beweglichkeit, findet man die Niere dann knapp am unteren Rippenrande oder tief unten in der Fossa iliaca. Man konstatirt ferner in dieser Stellung leicht eine Drehung der Wanderniere um ihren frontalen Quer-Durch- messer, sodass Nieren- und Körperlängsaxe annähernd einen rechten Winkel zu einander bilden. Diese Drehung tritt mit grosser Regelmässigkeit schon im Beginn des Leidens ein, wenn die Niere kaum am Rippenrande zu palpiren ist. Die Diagnose wird neben den allgemein diagnostischen Merkmalen, wie glatte Oberfläche des TumorB bei relativ harter Consistenz und einem eigentümlichen, charakteristischen Druckschmerz gerade dadurch gesichert, dass der Tumor sich mit seiner Längsaxe in die senkrechte Stellung zurückdrehen und an den normalen Nierenstandort hinaufschieben oder schnellen lässt. W. klemmt bei der Untersuchung, während er sitzt, den Patienten zwischen seinen Knieen ein, wodurch derselbe so bedeutend au Halt gewinnt, dass er in der Spannung der Bauchdecken nachlässt, andere lassen den Kranken seinen Oberkörper vorn überbeugen. Hat man den Patienten mehrere Wochen zu Bette liegen lassen, dann ändert sich die Drehung der Niere nicht, aber die Exkursionsweite nach unten ist vermindert und erreicht erst nach einigen Tagen ihre frühere Grösse. Die Drehung der Nierenlängsaxe aus der senkrechten in die horizontale Lage kommt dadurch zu Stande, dass sich für gewöhnlich der obere Nierenpol nach vorn neigt. Es ist beim stehenden Patienten leicht zu konstatiren ob die Drehung in dieser Richtung erfolgt ist oder nicht. Die Hand, Digitized by Google 15. August 1900. Aerztliohe Saohverstttndigen-Zeitung. 825 welche den Bauchdecken aufruht, hat nur nöthig, den ihr zu¬ gekehrten Nierenpol nach oben zu drehen und die Niere zu reponiren. Gelingt dies, so ist der Beweis geliefert, dass der obere Pol nach vom gedreht war; lässt sich dagegen die Niere auf diese Weise nicht zurückdrehen und entstehen bei diesem Manöver grosse Schmerzen, so sucht man den zuge¬ wandten Pol nach ab- und rückwärts zu drehen; dann hat der untere Pol vorn Vorgelegen und der obere Nierenpol war nach rückwärts gesunken. Wie verhält sich die Drehung der Niere unseren thera¬ peutischen Eingriffen gegenüber? Man hat die Bauch wand als eine Bandage, die Baucheingeweide als eine elastische Pelotte für die Niere bezeichnet. Eine Leibbinde wird die Funktion der Bauchwand verstärken und namentlich bei beginnender Wanderniere die Drehung verhindern. Deshalb hindert sie auch zuweilen die Beschwerden. Selbstverständlich muss die Binde im Liegen angelegt werden, wenn die Niere ihre mög¬ lichst normale Stellung inne hat, in welcher sie doch erhalten werden soll. Dass dagegen die Nierensenkung durch eine Leibbinde verhindert werden kann, hält W. für ausgeschlossen. Dagegen hält W. die Nephroraphie für absolut sicher voraus¬ gesetzt 1. dass die Niere in ihrer ganzen Länge und 2., dass die Niere nicht zu hoch an die Leber hinauf angenäht werde. Obwohl die beiden letzten Punkte gewiss von grösster Be¬ deutung sind und dabei oft vernachlässigt werden, so kann doch Niemand, der Gelegenheit hatte, eine grössere Anzahl von hervorragenden Chirurgen operirter Wandernieren einer Nachuntersuchung zu unterwerfen, dem Autor darin beistimmen, dass die Nephroraphie eine absolut siohere Heilung verbürge. Im Gegentheil, es giebt bei dieser Operation sehr zahl¬ reiche Misserfolge. Die Drehung der beweglichen Niere ergiebt sich aus der Lage der Niere zu ihren Nachbarorganen. Die normal fixirte Niere erstreckt sich nach oben bis zum unteren Rande des XI. Brustwirbels, liegt also mit ihrem oberen Pol der Pars lumbalis des Zwerchfells an. Da der Komplementärraum aber bis zum unteren Rande des XII. Brustwirbels herabreicht, muss der obere Nierenpol bei tiefer Inspiration nach vorn und unten geneigt werden. Die Leber liegt hinten direkt dem rechten Nierenpol an und wird bei jeder Inspiration durch das Zwerohfell nach hinten getrieben. Sie folgt also einer Re¬ sultante, die nach dem Zwerchfellnierenwinkel gerichtet ist. Wenn daher der obere Nierenpol oder die ganze Niere auf der Unterlage locker wird, fasst der hintere Leberrand den oberen Nierenpol von hinten, dreht die Niere und löst sie durch Hebelwirkung immer mehr. Das Ueberwiegen rechtseitiger Wandernieren erklärt sich einerseits durch das grössere Volumen und Gewicht der Leber gegenüber der Milz, andererseits durch die stärkere Fixation der linken Niere. Es entsteht die mobile Niere in drei Etappen. Zuerst erfolgt die Lockerung der Niere auf ihrer Unterlage. Als Ur¬ sachen hierfür sind anzuführen: Schwangerschaft, Geburt, Abort, Punktion von Ascites, Exstirpation grosser Abdominaltumoren; Vorfall von Blase, Scheide, Uterus und Uterusknickung; Fett¬ schwund; Vermehrung des Nierengewichtes durch Tumoren etc.; Zwerchfellinsulte auf der Niere und Traumen. Als zweite Etappe haben wir die Drehung und beginnende Senkung der Niere. Diese wird verursacht durch Schnüren, starkes Trauma, Zwerchfellinsulte (Häufige Hustenstösse, häufiges Erbrechen, Pressen, Wehen, schweres Heben) und einmalige starke Muskel¬ kontraktion. Die dritte Etappe, die Senkung der beweglichen Niere wird dann durch das Eigengewicht des Organes allein veranlasst. Die bedeutend seltenere Art der Wanderniere, dieAnte- versio des unteren Poles kommt wohl so zustande, wie sie schon Herz erklärte, indem die durch das Schnüren empor- gedrändte Unterfläche der Leber den oberen Nierenpol nach hinten unten drückt, während der Schnürdruok von hinten der Niere die Weichtheile als Hypomoohlion entgegen drückt. Stabei. Die Wandernieren und Hydronephrosen der Heidelberger Klinik. Von Ernst Lobstein. (Beiträge anr klinischen Chirurgie 27. Bd. I. Heft. 8. 251.) Von *1883 bis jetzt kamen 23 reine Wandernieren zur Anheftung und zwar 20 mal die rechte, 3 mal die linke. Die Mortalität betrug 8,7%, doch sind die 2 Todesfälle nicht der Nephroraphie zuzurechnen. Von 18 Fällen zeigten 11=61,5% völliges Verschwinden der Beschwerden und Ausbleiben eines Rückfalles, in 3 Fällen trat erhebliche Besserung ein, in 2 Fällen wurde keine Besserung erzielt, in 1 Falle traten nach starkem Influenzahusten 1 Jahr nach der Operation wieder Beschwerden auf. Bei einer Patientin wurde die Nephropexie beiderseitig ausgeführt. Von Hydronephrosen wurden 11 operirt, darunter 7 mit Exstirpation, 4 mit Nephrotomie, von diesen letzteren endete 1 nach 5 Wochen an Funktionsstörung der anderen Niere tödtlich. Von den 7 Exstirpationen heilten 4, von den 3 Ge¬ storbenen erlag einer nach 6 Wochen der Pyaemie, einer der Sepsis infolge septischer Thrombose der Vena renalis, einer durch Anurie infolge von Atrophie der anderen Niere. G. Psychiatrie und Neurologie. Zur Frühdiagnose der Tabes. Von Prof. Dr. W. Erb-Heidelberg. (M. m. W. 1900, No. 29.) Es giebt Fälle von Rückenmarksschwindsuoht, welohe die klassischen objektiven Erscheinungen vermissen lassen und daher dem Untersucher eine äusserst schwierige, manchmal unlösbare Aufgabe stellen. Fünf derartige Fälle werden mitgetheilt. Wir geben als Beispiel den ersten wieder: Der Kranke ist ein dreiunddreissig- jähriger studirter Mann, der vor 9 Jahren Syphilis erworben hat, aber seit 6 Jahren verheirathet ist und 3 gesunde Kinder hat, der ferner eine körperlich ermüdende Thätigkeit ausübt und sich geistig viel anstrengt. Seit 5 Jahren leidet er an scharfen, bohrenden, stechenden, sohiessenden Schmerzen an verschiedenen Stellen, die in Anfällen von verschiedener Dauer oft sehr heftig auftreten. Dazu ist seit einem Jahr Ver¬ taubungsgefühl an den Sohlen, später auch an anderen Körper¬ teilen gekommen. Es besteht Ermüdbarkeit, grosse Reizbar¬ keit und gedrückte Stimmung. Die Potenz ist etwas vermin¬ dert, die Blase etwas träge. Die einzigen objektiven Erschei¬ nungen beziehen sich auf die Empfindungssphäre. An den Fusssohlen und einer kleinen Stelle neben der rechten Brust¬ warze wird Berührung, an den Beinen Schmerz in vermindertem Masse, Kälte am Rumpf übermässig empfunden. Später bil¬ dete sich noch ein gegen Berührung überempfindlicher gürtel¬ förmiger Bezirk über den Brustwarzen. Bei dem zweiten Fall ist objektiv nur leichtes Schwanken bei Augenschluss, bei dem dritten Starre einer Pupille, beim vierten beiderseitige Enge und Starre der Pupillen, beim fünften etwas mehr, nämlich Verschiedenheit und Lichtstarre der Pu¬ pillen, verminderte Schmerzempfindlichkeit an den Beinen, leb¬ hafte Sehnenreflexe, zu finden. Digitized by Google 326 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 16. Nirgends Ataxie, Westphalsches Zeichen, überall früher Syphüis! Erb fragt: Ist das schon Tabes? Bezw. wird es sich zur vollen Tabes entwickeln? und er antwortet: Wahrscheinlich ja. Freilich, ganz sicher kann man es nicht wissen. Er geht, wenn er auch die Pupillenstarre für sehr gravirend hält, nicht so weit wie Möbius, sie allein als beweisend für Tabes anzu¬ sehen, aber in Verbindung mit den blitzartigen Schmerzen fällt sie denn doch sehr stark in die Wagsohale. Besonders bedeu¬ tungsvoll ist die Thatsache der vorausgegangenen Syphilis. Gegenüber den Fällen mit lediglich subjektiven Erschei¬ nungen giebt es nun wieder solche, bei denen die vom Kranken selbst wahrzunehmenden massgeblichen Zeichen des Leidens gänzlich fehlen, die objektiven desto deutlicher sind, und auch hiervon kann E. eine Anzahl mittheilen. Besonders wichtig ist es, die Krankheit richtig zu erkennen, wenn nur Eingeweidekrisen vorhanden sind. Sehr häufig werden solche Kranke als Magenleidende behandelt. E. erzählt den Fall eines Offiziers mit früherer Lues, der 1894 flüchtiges Doppelsehen, beiderseitige lähmungsartige Schwäche des sechsten Hirnnerven und Pupillenstarre neben rheumatischen Schmerzen im Rumpf, 1897 leichte Blasenträgheit, 1898 nach voraufgehen¬ dem Sodbrennen und geringem Magenschmerz eine richtige Krise mit heftigen Schmerzen, Erbrechen, Durchfall und starker Abgeschlagenheit hatte. Vier mal haben sich die Krisen wieder¬ holt, ohne dass andere als die genannten objektiven Erschei¬ nungen vorhanden wären. Noch hat der Kranke gute Patellar- reflexe, keine Ataxie — und doch hat er eine schwere Tabes mit schlechten Verlaufsaussichten. Zum Schlüsse warnt E. vor dem Schematisiren in der Nervenheilkunde, insbesondere vor allzu sicheren Schlüssen aus pathologisch-anatomischen Erörterungen auf das Wesen einer Krankheit. Die Hauptsache bleibt die klinische Beobach¬ tung, und diese lehrt, dass, wie viele andre Rückenmarkskrank¬ heiten, so auch die Tabes mannigfaltiger in ihren Erscheinungs¬ formen sein kann als die doch vorläufig noch reoht groben Vorstellungen, die wir von den anatomischen Veränderungen haben, vermuthen lassen. Untersuchungen über die Storungen der Sensibilität bei der Tabes dorsalis. Von Dr. Frenkel und Dr. Förster (Heiden i. d. Schweiz). (Arch. f. Psyob. Bd. 33 H. 1 and 2.) Das Material zur vorliegenden Arbeit lieferten 49 Rücken¬ marksschwindsüchtige, sämmtlich bis auf einen auf der¬ jenigen Entwicklungsstufe der Krankheit, die man die atakti¬ sche nennt. Die Empfindungsfähigkeit der Gelenke war in allen Fällen gestört, meist an einem Bein mehr als am andern, und zwar in dem Sinne, dass auf der Seite der gröberen Ge- fühlsstörung auch die Ataxie stärker war. Am deutlichsten pflegte die Störung in den Zehengelenken und im Fussgelenk zu sein. Weniger stark als in der unteren, aber in der Mehr¬ zahl der Fälle gleichfalls erkennbar, waren die Gelenkempfin¬ dungsstörungen in der oberen Gliedmasse. Das Muskelgefühl, d. h. die Wahrnehmung der Muskel¬ zusammenziehung, wurde nur an fünf Fällen geprüft und herabgesetzt gefunden. Wahrscheinlich rührt daher das in einer Reihe von Fällen beobachtete Fehlen des Ermüdungsgefühls. Mit den Störungen des Gelenk- und Muskelsinns steht die Ataxie in ursächlicher Beziehung. Die Hautempfindung war in keinem Falle normal. Im Gesicht war hie und da eine Unterempfindlichkeit vorhanden, theils an der äusseren Haut, theils an der Augen¬ bindehaut oder Hornhaut. Der Rumpf war 45 mal betheiligt. Hier ist die typische Ausdehnungsform der Störung ein Gürtel, der etwas über Achselhöhe beginnend bis Nabelhöhe reicht. Freilich unter¬ liegt Breite und Lage dieses Gürtels mannigfachen Schwan¬ kungen, in seltenen Fällen werden nur ovale Felder, etwa in der Gegend der Brustwarzen gefunden, die aber später, wie an einem Kranken beobachtet wurde, zur Gürtelform zu- sammenfliessen können. Ausnahmsweise kommen Bezirke vor, deren Form sich in kein Schema eingliedern lässt. An der oberen Gliedmasse erstreckt sich die, 37 mal gefundene, Gefühlsstörung, meist doppelseitig, im Bereich eines Streifens an der Innenseite des Arms, der oft auf den Ober¬ arm beschränkt bleibt, meist aber auf den Vorderarm und manchmal noch auf den IV. und V. Finger übergreift. Einen Ausnahmefall stellt das Mitbetroffensein der ganzen Hand dar. An den unteren Gliedmassen, die 44mal betroffen waren, gab den häufigsten Sitz der Störung die Fusssohle ab, die Anfangs fleckweise, dann vollkommen und auch wohl ein- schliessslich des Zehenrückens und des äusseren Abschnitts vom Fussrücken unempfindlich gefunden wurde. Des weiteren kann der ganze Fuss, die äussere Hälfte des Unterschenkels, die ganze Gliedmasse gefühllos sein. Nicht selten ist die Störung grade in der Umgebung des Afters zu finden. Das wären so die Typen der Ausbreitung der Gefühls¬ störungen. Durchweg gütige Gesetze stellen sie nicht dar, Ausnahmen kommen immer vor. Jedenfalls beweist aber die Anordnung, dass die Störung nicht von einer Erkrankung der peripheren Nerven, sondern von einer Schädigung der hinteren Wurzeln herrührt. Was die Art der Störung betrifft, so ist am Rumpfe oft nur die Berührungsempfindung, seltener bezw. später erst und in geringerer Ausdehnung die Schmerzempfindung ver¬ mindert, sehr regelmässig und oft in grosser Ausbreitung ist die Kälteempfindung übermässig stark. Einige Male wurde neben mangelhafter Berührungsempfindung übermässigeSchmerz- empfindung festgestellt. Aehnlich wie der Rumpf verhält sich die obere Gliedmasse, anders jedoch die untere: Hier ist ziem¬ lich regelmässig die Herabsetzung der Schmerzempfindung räumlich ausgebreiteter als die der Berührungsempfindung, und die Störungen der Temperatursinne sind selten. Meist sind mehrere Gebiete — Rumpf und Arm, Arm und Bein u. s. w. — gleichzeitig befallen. Die Bezirke der Störung an Rumpf und Arm stellen oft ein wirklich zusammenhängen¬ des Gebiet dar, sonst aber sind die Störungsgebiete, die gleich¬ zeitig bestehen, von einander unabhängig. Ein Beweis dafür, dass die Entartung im Rückenmark gleichzeitig fleckweise an mehreren verschieden hohen Stellen entsteht. Keineswegs fand sich eine regelmässige Uebereinstimmung zwischen objektiven Empfindungsstörungen und subjektiven Gefühlen (Kriebeln, Vertaubung, blitzartige Schmerzen). Viel¬ mehr wiesen die vergleichenden Beobachtungen darauf hin, dass entweder im Verlaufe der Erkrankung dieselbe Gegend, die anfangs schmerzhaft war, später gefühüos wurde, oder bei starker Schmerzhaftigkeit gleichzeitig die Tastempfindung er¬ loschen war oder an Stellen verminderter Empfindung nie sub¬ jektive Beschwerden bestanden hatten. Auch die Ataxie, die im allgemeinen mit den Störungen der Hautempfindung zeit¬ lich parallel geht, hängt mit ihnen nicht ursächlich zusammen. Ueber Migraine mit recidivirender Augenmuskel lähmung. Von Dr. W. Sei ff er, Ass. d. Kgl. Nervenklinik zu Berlin. (B. kl. w„ 1900 No. 3.) Möbius hat das Vorkommen von Augenmuskellähmungen auf dem Boden der echten Migraine bestritten. Er ist der Digitized by Google 15. August 1900. Aerztliche Sachverständigen- Zeitung. 827 Meinung, dass es sich in den so gedeuteten Fällen vielmehr um Krankheitsherde in der Gegend der Augenmuskelkerne handelt, von denen aus ein Reiz auf die Wurzel des fünften Hirnnerven übergreift und so in dessen Bereich Schmerz er¬ zeugt. Dieser unechten Migraine soll das fehlen, was die echte kennzeichnet: gleichartige Vererbung, erbliche Belastung überhaupt, Vorgefühl des nahenden Anfalls, Wiederholung der Anfälle in regelmässigen Zwischenräumen, verhältnissmässig kurze Dauer des einzelnen und gleich lange Dauer der ver¬ schiedenen Anfälle. S. meint, die gleichartige Vererbung für die echte Mi¬ graine nicht fordern zu dürfen, es genügt neben den soeben beschriebenen Kennzeichen der Anfälle und dem Fehlen der Anzeichen für die gewöhnlichen organischen Hirnkrankheiten das Vorhandensein nervöser Belastung überhaupt. Von diesem Gesichtspunkte betrachtet, giebt es aber thatsächlich, wenn auch selten, eine Migraine, die zu Augenmuskelläbmungen führt. Gin 49jähriger Mann, dessen Mutter geisteskrank, dessen Vater ein mässiger Trinker war, und von dessen Kindern zwei an gleichmässig wiederkehrenden, eins an unregel¬ mässigen Kopfschmerzen leiden, hat seit seinem 8. Jahre an¬ fallsweise linksseitiges Kopfweh. Es kam alle 4—5 Wochen, immer sehr heftig. Einen Tag vor dem Anfall verspürte er stets eine eigenthümliche Trägheit im Körper und eine sehr gesteigerte Esslust. Der Anfall dauerte 2—3 Tage und ging mit völliger Appetitlosigkeit, Verstopfung, Erbrechen, Schwindel, Frostgefühl, Thränenlaufen und Flockensehen einher. Nach dem Anfall fühlte der Kranke sich stets „wie neugeboren“. Blieb ausnahmsweise der Anfall 6 oder 8 Wochen aus, so war er dann um so stärker. Seit 10 Jahren nun war eine Zeit lang bei jedem Anfall die Fähigkeit, das obere Lid der linken Seite zu heben, ver¬ ringert. Mit der Zeit hat diese Schwäche, die aber ausser¬ halb der Anfälle ganz verschwand, zugenommen. Seit etwa 8 Jahren gesellte sich dazu ein ebenfalls Anfangs auf die An¬ fälle beschränktes Doppelsehen. Seit 6 Jahren ist die Lähmung des linken Augenbe¬ wegungsnervs dauernd und vollständig. Das obere Lid ist völlig herabgesunken, der Augapfel ist durch den vom VI. Hirn¬ nerven versorgten seitlichen Muskel ganz nach aussen gedreht, die Pupille ist erweitert und starr. An dem ganzen Kranken finden sich weder Seitens der inneren Organe noch Seitens des Nervensystems irgendwelche anderen Abweichungen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass hier wirklich die Migraine mit Veränderungen einhergegangen ist, die mit der Zeit zur Augenmuskellähmung geführt haben, die bei dem nachweislich grossen Einfluss der Migraine auf die Muskulatur, besonders die Gefässmuskulatur der kranken Seite nicht wunderbar ist. Man wird allerdings zugeben müssen, dass wohl beim Einzelnen besondere, unbekannte Bedingungen eine Rolle spielen, da in so vielen Fällen schwerer Migraine die Augenmuskellähmung fehlt. Giebt es ein „hysterisches Fieber“? Von Dr. G. Ko bl er- Sarajewo. (Wiener raed. Wocb. 1900, No. 26) Es giebt ein hysterisches Fieber. Die Antwort wird die¬ jenigen, welche den beweiskräftigen Meissen’schen Fall (Ref. Jahrg. 1898, S. 471) kennen, nicht überraschen. Folgendes sind die beiden Belegfalle K.’s. Ein 21 jähriger Bäckergeselle hatte täglich, fast immer zu gleicher Zeit, Krampfanfälle mit krampfhaftem Augenschluss, langen Athempausen und Kreisbogenstellung. Hierbei ging die Temperatur bei Aohselhöhlenmessung bis 42 Grad. Zwischen¬ durch traten Schlingkrämpfe auf. Das Heilmittel von unmittelbarem Erfolg war die Aufstel¬ lung einer Wanne eiskalten Wassers neben dem Bette, in die nach dem Anfall der Kranke gelegt werden sollte. Er hatte von diesem Augenblick ab keinen richtigen Anfall mehr, nur noch ein paar mal sonderbare Anwandlungen: Erbrechen, taumelnder Gang, Athmungstörung wie bei Luftröhrenenge — nach wenig mehr als 14 Tagen war er geheilt. Im zweiten Fall handelte es sich um einen elfjährigen Knaben, der als sehr fleissig, wohlerzogen und körperlich ge¬ sund, aber allerdings hastig und leidenschaftlich bekannt war. Im Anschluss an einen Darmkatarrh stellte sich ein seltsames Leiden ein. Jeden Abend, fast mit dem Glockenschlag 6, schrie das Kind hell auf, hatte heftige auf Druck nicht schlimmer werdende Schmerzen in der Blinddarmgegend und war stumm, der Anfall dauerte 3—4 Stunden; die Temperatur stieg sofort auf 39,8, selbst auf 41 Gr. Dies drängte die sofort auftauchende Vermuthung der Hysterie in den Hintergrund. Aber gegen Malaria sprach das Fehlen von Schüttelfrost vor, Schweissaus¬ bruch nach dem Anfall, und von Milzschwellung, gegen einen eitrigen Vorgang in der Bauchhöhle der mangelnde Druck¬ schmerz, die stets unverfänglichen Ergebnisse der Durchtastung. Die Aerzte standen, da der Begriff des hysterischen Fiebers ihnen noch nicht geläufig war, rathlos. Einem bekannten Kli¬ niker gelang es dann, in seiner Klinik durch Ankündigung einer Operation und ähnlicher schmerzhafter Eingriffe die Krankheit wie durch einen Zauber zu bannen. Diffnse Muskelatrophieen infolge von leichten Verletzungen an den Endabschnitten der Gliedmassen. Von Gilbert Ballet und Henry Bernard. (Archive gln<§ral de Mdd. Mal 1900.) Nach verhältnissmässig leichten Verletzungen an Händen oder Füssen, bei denen vermutlich kleine Nervenäste durch¬ trennt wurden, sah Verf. mehrmals eine Muskelschwäche mit mässiger Abmagerung in der gesammten Gliedmasse auftreten, die zwar zur Herabsetzung der faradischen Erregbarkeit, nie aber zur Entartungsreaktion führte. Es handelte sich immer um früher gesunde Leute, z. B. um solche, die ohne nachhal¬ tige Schädigung ähnliche Verletzungen früher schon erlitten hatten. Hysterische Merkmale fehlten. Störungen des Hautgefühls waren nur in einem Theil der Fälle vorhanden, und zwar waren bei dem einen Kranken die Empfindungsvermögen für Schmerz und Temperatur an dem ganzen Gliede aufgehoben, bei einem andern waren kleine schmerz-unempfindliche Zonen, bei einem dritten — wohl als unmittelbare Folge der Nervenverletzung — ein Gefühlsverlust an der Hand von der Narbe ab vorhanden. Zweimal war ferner die Gliedmasse kühler als die ander¬ seitige, einmal waren die Reflexe an der kranken Seite ver¬ mindert. Die Schwäche der Muskeln konnte, ohne entsprechend starke Abmagerung oder elektrische Störung, einen derartigen Grad erreichen, dass einer der Verletzten am Dynameter gar keinen Ausschlag mit der kranken Hand bewirken, ein andrer sogar selbständig überhaupt kaum eine Bewegung mit derselben ausführen konnte. Subjektiv bestanden in einem Falle krampfartige Anfälle von Schmerzen, Vertaubung und Ameisenlaufen in regelmässig wiederkehrender Reihenfolge. Die Verflf. sind der Ansicht, dass die von ihnen auf¬ geführten Fälle zusammengehören und Beispiele einer eigen¬ artigen Störung sind. Sie gliedern ihnen noch einen andern Digitized by Google 828 Aerztlicho 8 ach verständigen-Zeitung. No. 16. an; bei dem die Stelle der ursächlichen Verletzung durch eine Gelenkentzündung vertreten war. Um eine aufsteigende Nervenentzündung oder Entartung der Axencylinder kann es sich nach Meinung der Verff. nicht handeln, eben so wenig um eine Neurose, vielmehr ist eine leichte Schädigung der Vorderhörner des Rückenmarks an¬ zunehmen. Die sexuellen Perversitäten in der Irrenanstalt. Von Oberarzt Dr. P. Näcke-Hubertus bürg (Sachsen). (Wiener klinische Rundschau No. 27— 30, 1899.) Aus den Beobachtungen, die Verfasser an dem Material der Heil- und Pflegeanstalt Hubertusburg in Bezug auf die sexuellen Perversitäten machen konnte, ergiebt sich Folgendes: Alle Perversitäten treten sehr wahrscheinlich bei den Männern häufiger auf, als bei den Frauen. An der Spitze der sexuellen Perversitäten steht die Onanie; sie bildet auch fast ohne Aus¬ nahme zu allen anderen Abnormitäten die Vorstufe. Am häufigsten war die Onanie bei den Männern unter den Idioten und Imbecillen anzutreffen, am seltensten unter den Paralytikern; das Umgekehrte fand bei den Frauen statt, während die mit einfacher Seelenstörung Behafteten eine Mittelstellung ein- nahmen. Exhibitionismus war nur selten und bei Frauen etwa doppelt so häufig, wie bei den Männern. Auffällig selten waren die schweren sexuellen Abnormitäten, die homosexuellen; am häufigsten ist noch die mutuelle Onanie, aktive Päderastie fand sich nur bei einem Prozent der Männer. Einen ver¬ schlimmernden Einfluss der Onanie auf den Verlauf der Psychosen hat Verfasser niemals feststellen können. Am Schlüsse seiner Arbeit giebt Verfasser einige therapeutische und vor allem prophylaktische Winke. —y. Vergiftungen. Ueber Pfaosphorneuritis. Von Prof. Dr. P. E. Henschen-Upsala. (Neurol. Centr. 1900 No. 12.) Nachdem Verf. 1898 einen in No. 1 Jahrgang 1899 dieser Zeitschrift referirten Fall von Phosphorlähmung mitgetheilt hat, ist er dieser scheinbar seltenen Vergiftungsfolge weiter nachgegangen und konnte bei 7 genauer untersuchten Phosphor¬ vergifteten während der Jahre 1898 und 99 6 mal Nerven¬ entzündungen nachweisen. Der siebente Fall verlief im Ganzen sehr mild. Bei einer Vergifteten, die am Tage nach der Aufnahme starb und nicht eingehend untersucht werden konnte, gelang es wenigstens, festzustellen, dass an den Gliedmassen eine ausgedehnte Ueberempfindlichkeit bestand. Bei den andern bestanden zum grösseren Theil rein sub¬ jektive Störungen, Schmerzen, Ueberempfindlichkeit besonders in der Gegend der Nervenstämme, später Vertaubung, Ameisen¬ kriechen; dazu kam einmal lähmungsartige Schwäche in den Armen. In schweren Fällen, deren der Verf. einen sehr genau beschreibt, kommt es später zu wirklichen Lähmungen der Hautempfindung, die fleckweise auftreten. Mit dem massig gestörten Tastgefühl vereinigte sich bei der betreffenden Kranken ein ausgeprägter Mangel des Wärmesinns mit deut¬ licher Abgrenzung nach einzelnen Nervengebieten; der Kälte¬ sinn war in geringerem Umfang und anderer Ausbreitung ge¬ schädigt. Schliesslich erfolgte vollkommene Heilung. Gynäkologie. Des formes de Thymen et de lenr röle dans la ruptnre de cette membrane. Par le Dr. Nina Rodrigues. (Annales d'hygifene et de mddeclne legale XUII, No. 6, p. 481.) Das normale Verhalten und das Aussehen des Hymens, schreibt Haberda in seiner Arbeit in der Monatsschrift für Geburtshülfe und Gynäkologie, weist so zahlreiche Varietäten auf, dass eine erschöpfende Darstellung derselben kaum mög¬ lich ist und thatsächlich auch in den besten und ausführlich¬ sten Handbüchern der gerichtlichen Medizin und der Gynä¬ kologie kaum zu finden ist. Der Verfasser beginnt mit Laz- zaretti’s Ausspruch: Es giebt keinen typischen Hymen; jede Frau hat den ihrigen, wie ihn die Natur gegeben hat, und kommt nach längeren Erörterungen, in der die forensische Litteratur der Deutschen, Franzosen und Italiener gut benützt, aber Dohm z. B. nicht erwähnt wird, zu folgenden Schlüssen: Der Hymen kann verschiedene Formen und Konfigurationen haben, die in eine gewisse Zahl von Typen eingetheilt werden können, die aber ihrerseits grossen individuellen Verschieden¬ heiten unterworfen sein können. Die Form oder Konfigura¬ tion des Hymens macht nicht den alleinigen Faktor aus in dem Widerstande, den der Penis beim Eindringen in die Va¬ gina findet, oder von dem die anatomischen Zeichen der De¬ floration herrühren müssen. Die Struktur, gewisse Formen des Hymens, seine Situation, die Dimensionen des Orificium vulvae, die Dimensionen des Penis und seine Energie, die Umstände beim Coitus üben ebenso ihren Einfluss aus. Da¬ her kommt es, dass die Defloration anatomische Zeichen hinter¬ lassen kann, aber sie nicht hinterlassen muss, dass es nicht immer leicht ist, gewisse Einrisse von ähnlichen angeborenen Kerben zu unterscheiden und dass kein ursächlicher Zusam¬ menhang zwischen der Form des Hymens und seinem Ein- reissen besteht, derart, dass man erschliessen könnte, ob die Zusammenhangstrennungen normal oder traumatisch sind. In vielen Fällen ist jedoch eine sichere Diagnose möglich, be¬ sonders unmittelbar nach dem Coitus, leider sind jedoch die Untersuchungen sehr selten so frühzeitig. G. Ohren. In welcher Beziehnng steht die Agoraphobie (Platz¬ angst) zu gewissen Erkrankuugen des Gehörorganes l Von Dr. A. Eitelberg-Wien. (Wiener med. Presse, XLI. J&hrg., 1900, No. 28.) Verf. kommt auf Grund zweier Krankengeschichten, die er mittheilt, zu dem Ergebnis, „dass zwischen den Erkrankungen des Gehörorganes und der Agoraphobie nur ein lockerer Zu¬ sammenhang existirt.“ Der Zusammenhang liegt in der Haupt¬ sache darin, dass Platzangst — nach Verf.’s Ansicht — immer nur bei gleichzeitigem Verfall des Gesammtorganismus beob¬ achtet wird, und dass Ohrenleiden den Organismus im Allge¬ meinen nicht selten übel beeinflussen; darum kann dann zu Ohrenkrankheiten auch einmal Platzangst hinzutreten. Dieser Zusammenhang muss in der That mehr als locker bezeichnet werden; der zweite vom Verf. geschilderte Fall legt dem gegenüber doch den Gedanken nahe, ob nicht Ohrenleiden an sich, sofern sie mit Schwindelanfällen verbunden sind, direkt dadurch, dass der Kranke die üblen Folgen eines ihn auf freiem Platze ereilenden Schwindelanfalls fürchtet, zur Ago¬ raphobie führen können. Richard Müller. Digitized by Google 15. August 1900, Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 329 Trockne Luft bei der Behandlung der Mittelohreiterung. Von Dr. I. A. Andrews-New-York. (Zeitechr. f. Ohrenheilk. XXXVI. Bd., 4. Heft) Ausgehend von der Thatsache, dass ein trockener Nähr¬ boden für das Wachsthum der Mikroorganismen ungünstig ist, hat Verf. ein pulverbläserähnliches Instrument konstruirt, mittels dessen er heisse Luft in das eiternde Mittelohr ein¬ bläst. An einem Metallcylinder befindet sich ein Doppel-Luft- gebläse; während dieses vom Patienten selbst in Thätigkeit gebracht wird, hält der Arzt den Metallcylinder über eine Spiritusflamme und dirigirt die hierdurch erhitzte Luft in das Mittelohr. Gegen Ueberhitzung ist Vorsicht nothwendig. Der Verf. benutzt das Instrument seit 66 (?) Jahren und hat gute Erfolge damit erzielt. Die dem Verfahren zu Grunde liegende Idee ist nicht a limine als falsch von der Hand zu weisen und die Nachprüfung dieser Behandlungsart mittels des leicht zu handhabenden Instruments daher wohl zu em¬ pfehlen. R. M. Beitrag zur Yibrationsmassage. Von Dr. Noltenius-Bremen. (Zeitschr. f. Ohrenheilk., XXXVI. Bd., 4. Heft.) Zur Behandlung der Schwerhörigkeit, verbunden mit lästigem Ohrensausen bei trocken entzündlichen Prozessen im Mittelohr, ist in jüngerer Zeit die sogenannte Vibrations¬ massage in Anwendung gebracht worden. Diese besteht da¬ rin, dass man mittels einer durch einen Elektromotor ge¬ triebenen kleinen Luftpumpe in rascher Aufeinanderfolge Luftverdichtungen und -Verdünnungen im äusseren Gehör- gang herbeiführt. Verf. hat nun gefunden, dass, während man im Allgemeinen den hierbei erforderlichen Trichter luft¬ dicht in das zu massirende Ohr einsetzt, ein nicht ganz luft¬ dicht abschliessender Trichter genügt, um ebenfalls eine ge¬ wisse, wenn auch etwas weniger kräftige Massage des Trommel¬ fells zu bewirken. Den nicht ganz luftdichten Abschluss kann man — anstatt lockeren Einführens des Trichters ins Ohr — auch dadurch erreichen, dass man in den Trichter seitlich oder in die ihn hinten abschliessende Platte ein kleines Loch macht. Verf. hat hierdurch die Wohlthat dieser Massage einer Patientin zugängig gemacht, die vorher infolge grosser Empfindlichkeit diese Behandlung nur ganz kurze Zeit und daher in unzureichendem Masse vertrug. R. M. Fraktur des Hammers und des Annulus tympanicus. Von Dr. Frank Allport, Chicago. (Zeitschr. f. Ohrenheilk., XXXVII. Bd., 1. Heft.) Ein 40jähriger Herr wird aus dem Wagen geworfen. Be¬ wusstlosigkeit, Blutung aus dem linken Ohr. Ohrenärztliche Untersuchung nach 14 Tagen: hochgradige Schwerhörigkeit links, Schwindelgefühl, Sausen und dumpfes Gefühl im linken Ohr. Hammergriff zerbrochen, Bruchlinie deutlich zu sehen, das untere Bruchstück nach innen verlagert. Obere und hin¬ tere Partie des Annulus tympanicus gleichfalls gebrochen. Für den Leser unseres Blattes ist von besonderem Interesse an dem Fall der Umstand, dass der Verletzte nach einem halben Jahre links fast wieder normal hörte und nur noch über zeit¬ weiliges Gefühl von Dumpfheit und Taubheit im Ohr klagte. R. M. Hygiene. « Zur Impftechnik. Von Dr. Flachs-Dresden. (Deutsche med. Woohenschr. No. 7, 1900.) Abgesehen von ästhetischen Gründen hält Verfasser den Oberarm für eine wenig geeignete Stelle zur Impfung; der Oberarm ist leichter Insulten ausgesetzt, die Reibung der Impf¬ stelle ist in Folge der Beweglichkeit eine grössere, der Ver¬ band muss daher, wenn er gut sitzen soll, ein sehr umständ¬ licher sein. Es wird deshalb für die Impfung eine andere Stelle in Vorschlag gebracht. Verfasser legt die Impfschnitte im Bereiche einer Fläche an, welche ungefähr begrenzt wird durch eine horizontale Linie, die zwei Finger breit unter der Brust¬ warze verläuft, durch die Sternallinie und durch eine der letz¬ teren parallel verlaufende Linie, zwei Finger breit ausserhalb der Brustwarze. Unten wird dieses Viereck durch den Rippen¬ rand begrenzt. Die Vortheile dieser Impfstelle sind: ihre ge¬ ringe Beweglichkeit und die leichte Anlegung des Verbandes (Heftpflaster). Seitdem Verfasser diese Impfstelle benutzt, hat er Entzündungserscheinungen und Anschwellungen der Lymph- drüsen weit seltener auftreten sehen. —y. Sind die Kinderspiel- (Puppen-) Service zn den Ess-, Trink- und Kochgeschirren zn rechnen, und sind sie als gesundheitsschädlich anzusehen ? Von Prof. Dr. A. Gärtner-Jena. (Zeitschr. f. gerichtl. Med., 1899 H. 4.) Ueber die Gesundheitsschädlichkeit von Kinderspiel' waaren — Puppengeschirren — mit hohem Bleigehalt. Von Prof. Dr. C. Fränkel - Halle. (Zeitsohr. f. gerichtl. Med., 1900 H. 2.) Die blühende Spielwaaren - Industrie in Bayern und Thü¬ ringen ist in den letzten Jahren stark beunruhigt und ge¬ schädigt worden, indem von amtlicher Seite eine strafrecht¬ liche Verfolgung des Handels mit Puppengeschirren, die über 10% Blei enthalten, angeordnet worden ist. Es könnte hier in Betracht kommen entweder § I des Ge¬ setzes von 1887, welches verbietet, Ess-, Trink- und Koch¬ geschirre aus Blei oder stark bleihaltigen Mischungen anzu¬ fertigen, oder wohl richtiger § 2 des Nahrungsmittelgesetzes, welches eine Strafandrohung u. a. auch gegen derartige Her¬ stellung von Spielsachen, dass der bestimmungsmässige oder vorauszusehende Gebrauch derselben gesundheitsgefährlich wäre, enthält. Beide Paragraphen sind gelegentlich gegen Spielwaarenhändler ins Feld geführt worden. Gärtner, dessen Arbeit zunächst dem mehr juristischen Theil der Puppengeschirr-Frage gewidmet ist, beweist in sehr gründlicher Weise, mit zum Theil recht ergötzlichen, darum aber nicht minder schlagenden Gründen, dass es auf keinen Fall angeht, die Kinderspielwaaren als „Ess-, Trink- oder Kochgeschirre“ unter das Zinkbleigesetz zu bringen. Das er- giebt sich übereinstimmend aus dem Augenschein, aus den allgemeinen, ausnahmslosen Anschauungen des Publikums, aus denen der Steuerbehörde und aus der Analogie mit anderen Spielwaaren (z. B. denkt kein Mensch daran, auf Dampf¬ maschinen für Kinder die Dampfkesselvorschriften anzu¬ wenden). Es käme also nur noch das Nahrungsmittelgesetz in Frage, und dieses setzt einen Thatbestand voraus, den nur die Er¬ fahrung des Chemikers und Arztes entscheiden kann: Ist der bestimmungsgemäs8e oder vorauszusehende Gebrauch der Kinderservice mit starkem Bleigehalt geeignet, die mensch¬ liche Gesundheit zu schädigen? Es existirt in der ganzen Literatur kein Fall von akuter Bleivergiftung durch Ess-, Trink- oder Kochgeschirre über¬ haupt. Im Ganzen 6 Mal ist nach gewohnheitsmässigem Ge¬ nuss von Speisen aus bleihaltigen Tellern oder Kesseln chroni¬ sche Bleivergiftung beobachtet. Durch eigens dazu angestellte Versuche kouute nachge¬ wiesen werden, dass durch manche, besonders durch saure Digitized by Google 330 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 16. Speisen und Getränke etwas Blei aus Spielservicen gelöst werden konnte, aber erst nach längere Zeit andauerndem Verweilen, und sehr selten über 2 mg. Da nun aber die Kinder höchst ausnahmsweise mit stark sauren Speisen spielen dürften, die Spielgeschirre auf niedrigem Wärmegrade bleiben und zu „nassen Spielen“ nur selten, in grossen Pausen oder für kurze Zeit verwandt werden — so ist eine chronische Bleivergiftung durch solche Spielsachen unmöglich. Durch Literaturdurchsicht und Umfragen konnte G. denn auch keinen einzigen Fall von Bleivergiftung durch Spiel¬ service erfahren. Es ist ihm auch nicht gelungen, durch regelmässige Fütterung von 14 neugeborenen Hühnchen und vier ganz jungen Kätzchen mit feuchten Speisen, die in Puppen¬ schüsseln von starkem Bleigehalt fast 24 Stunden gestanden hatten, jemals eine Vergiftung zu erzielen. Fränkel hat Thierversuche auch bei den für Blei sehr empfänglichen Mäusen angestellt. Er liess Apfelmus und sauer gewordene Milch, also zwei bleilösende Nahrungsmittel 24—48 Stunden in den Spielgeschirren stehen und verfütterte sie an Mäuse in jedesmal dreitägigen Pausen — weil sonst die Thiere solche ungewohnte Kost überhaupt nicht vertragen — bis zu 5 Wochen lang ohne Schaden für die Gesundheit der Thiere. In Uebereinstimmung mit Gärtner hält Fränkel das Verbot starker Bleilegirungen für Kinderspielgeschirre vom Standpunkte der Gesundheitspflege für überflüssig, von dem der Volkswirtschaft für verderblich. Aus Vereinen und Versammlungen. Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. Originalbericht der Aerztlichen Sachverständigen-Zeitung. Sitzung vom 9. Juli. Tagesordnung. 1. Koenig stellt ein lOjähr. idiotisches Mädchen vor, bei welchem durch Myxoedem ein Zustand von „Allge¬ meiner Starre“ vorgetäuscht wird. Bei mehrwöchent¬ licher Fütterung des Kindes mit Thyreoidin verschwand nicht nur der athletische Charakter der Muskulatur, sondern auch die brettartige Härte bei aktiven Bewegungen. Bei Röntgendurch- strahlung des Handskeletts ergab sich ferner das Fehlen irgend welcher Epipbysenkerne. In der Handwurzel sind bisher nur das 08 hamatum und capitatum durch Kerne angedeutet, was unter normalen Verhältnissen einem Lebensalter von 6—8 Monaten entsprechen würde. 2. C. Benda und Lilienfeld: Fall von multipler me¬ tastatischer Carcinose der Nervenund der Hirnhäute. Es handelt sich um eine Dame mit hysterischem Krank¬ heitsbild, beider, abgesehen von fehlenden Kniereflexen und motorischer Schwäche in den Beinen, nichts auf die organische Natur des Leidens während des Lebens hingewiesen hatte. Sie war an einem apoplectiformen Anfall mit Hemiplegie ge¬ storben. Die Sektion ergab multiple Carcinome der Nerven und der Hirnhäute, welche sich als metastatische erwiesen und in ihrem Bau mit Krebsknoten in verschiedenen Lymphdrüsen des Körpers übereinstimmten, während als primäre Krebsge¬ schwulst ein kleiner scirrhöser Tumor auf der grossen Curvatur des Magens gefunden wurde. B. geht auf interessante Einzelheiten der mikroskopischen Untersuchung ein. Abge¬ sehen von einigen Stellen, wo eine Arrosion von Nervenmasse durch das Carcinom zu erkennen war, hätten die Nervenfasern bei ihrem Durchtritt durch die Geschwulstknoten keine Dege¬ neration erlitten. Aus diesem Befunde erkläre es sich wohl, dass klinißch keine Erscheinungen eine Lokalisation er¬ möglichten. In der Diskussion giebt Benda auf eine Anfrage von Bernhardt au, dass sich keine Herderkrankung im Gehirn als Grundlage für die Hemiplegie gefunden hat. Oppenheim hat auf das Vorkommen von Hirnherdsymptomen bei Carci- nomen ohne entsprechenden Befund schon früher aufmerksam gemacht und sie als ein toxisches Symptom gedeutet, während Sänger feinere histologische Veränderungen als Grundlage dafür gefunden habe. 3. Martin Brasch. Krankenvorstellung. Spastische Lähmung nach Unfall. (Autorreferat). Der 42jähr. Patient verunglückte im Jahre 1898, indem ihm Eisentheile im Gewicht von 50—60 Pfund auf den Kopf fielen. Es entstand eine 4—5 cm lange Riss- und Quetsch¬ wunde an der Stirn, z. T. bis auf den Knochen gehend. Dieser blieb unverletzt. Nach Heilung der Wunde klagte der Kranke noch lange Zeit über Beschwerden, welche in Abwesenheit aller objektiven Krankheitszeichen und auch ihrer Art wegen als neurasthenisch gedeutet werden mussten (Mattigkeit, Kraft¬ losigkeit, Schmerzen im ganzen Körper u. s. w.) Plattfüesig war Pat. von Jugend auf. Dupuytrensche Kontrakturen in beiden Handflächen führte er zwar auch auf den Unfall zurück, aber dieser Zusammenhang musste abgelehnt werden. Der Verletzte erhielt eine Rente von 20 Proz. und gab sich zwei Jahre lang damit zufrieden. Dann stellte er wegen Verschlechte¬ rung seines Befindens höhere Ansprüche. Als ich ihn darauf weiter untersuchte, konnte es wegen paretischer Zustände in dem linken Bein und auch in dem linken Arm und wegen be¬ deutend gesteigerter Reflexthätigkeit schon zweifelhaft sein, ob man es noch mit einem funktionellen Leiden zu thun hätte und jetzt vollends besteht klinisch das typische Bild der spasti¬ schen Spinalparalyse (spastische Lähmung, gesteigerte Reflexe) und zwar in durchaus reiner Form. Der Fall ist ausgezeichnet durch die Schnelligkeit der Entwicklung, durch die grosse Aehnlichkeit in seinen Anfängen mit einem funktionellen Leiden und schliesslich durch seine Beziehungen zu dem vorangegan¬ genen Trauma. Auf die Frage, ob man berechtigt ist, die spastische Spinalparalyse als eine Krankheit sui generis zu betrachten, soll hier nicht eingegangen werden. Thatsächlich lässt sich klinisch an diesem Fall nichts anderes feststellen, als ein Zustand von spastischer Lähmung in ihrer reinsten Erscheinung. Schwierig ist aber die Frage, ob das Trauma diesen Zustand hervorgerufen hat und wie man sich dann die anatomischen Verhältnisse zu denken hat. Die bisherigen Er¬ fahrungen darüber lassen fast gänzlich im Stich; wenn es über¬ haupt erlaubt ist, in solchen Fällen Analogien zu konstruiren, so könnte man an die Littlesche Krankheit denken, bei welcher öfter z. B. meningeale Blutungen zu spastischen Lähmungen führen. Die forensischeBeurtheilung solcher Fälle ist schwierig; in dem vorliegenden habe ich für Erhöhung der Rente plaidirt, aber es bleibt doch zu erwägen, ob wirklich die sogenannten Sklerosen des Rückenmarks durch Kopftraumen entstehen können. Oppenheim knüpft an die Thatsache an, dass hier das Bild einer organischen Erkrankung, des spastischen Symptomen- komplexes vorliegt. Man müsse diese Erscheinung auf ihre Grundlage zurückzuführen suchen. Die Erfahrung lehre, dass die Krankheit, welche sich häufig darunter verberge, die mul¬ tiple Sclerose ist, und dass diese sich zweifellos an Traumen anschliesst. Bekannt wäre ja das längere Bestehen dieser Krankheit unter unscheinbaren Symptomen, bis sie sich schliess¬ lich scheinbar akut entwickelt. Den Vergleich mit der Little- sohen Krankheit hält 0. nicht für angezeigt. Digitized by Google 15. August 1900. Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. 331 Rothmann fragt nach dem Verhalten des Babinskischen Zehenreüexes zur Unterscheidung von funktioneller und orga¬ nischer Lähmung. Schuster hat bei traumatischen Nervenfällen, in denen er an Hysterie dachte, bei Untersuchung des Augenhinter- grundes mehrere Male temporale Abblassung der Papillen ge¬ funden. Einige Eälle erwiesen sich später als multiple Scle- roße, andere als eine mit multiplen Herden einhergehende E ncephalomyelitis. König fragt nach psychischen Symptomen, bei deren Ab¬ wesenheit er nicht an die Analogie mit der Littleschen Krank¬ heit glaube. Brasch: Schlusswort (Autoreferat). Gewiss ist daran zu denken, dass sich in diesem Falle ein bekanntes organisches Leiden hinter dem Symptomen- komplex der spastischen Lähmung versteckt, aber gegen¬ wärtig fehlt es an allen solchen Anzeichen dafür, und der Fall verlangt doch schon gegenwärtig eine Beurtheilung. Der Hinweis auf die Little’sche Krankheit war nur mit aller Re¬ serve gemacht. Das Babinskisohe Symptom besitzt, wie be¬ kanntlich in neuerer Zeit besonders von amerikanischen For¬ schem berichtet wird, keineswegs den Werth eines differential¬ diagnostischen Zeichens zwischen organischer und funktioneller Läsion. Hier fehlt es übrigens, aber die Sohlenreflexe sind überhaupt nicht sehr ausgeprägt, vielleicht wegen der stark vorhandenen Epidermis. Der Augenhintergrund ist normal be¬ schaffen. Psychische Störungen fehlen durchaus. Nach der Tagesordnung demonstrirt zunächst Seiffer einen Fall von Thomsen’scher Krankheit. Es handelt sich um ein 16jähriges geistig und körperlich zurückgebliebenes Mädchen, dessen Bruder an derselben Krank¬ heit leidet Seit dem 13. Jahre etwa bemerkte die Patientin, dass sie die Hand nicht mehr auf bekommt, wenn sie sie ener¬ gisch geschlossen hat. Die tonische Spannung der Flexoren von Hand und Finger dauert nach energischer Kontraktion ziemlich lange und dies nimmt nur allmählich nach öfterem Wiederholen derselben Bewegung ab. Die Kranke war da¬ durch am Nähen und dergleichen behindert, ln der Kälte trat die Erscheinung bei beiden Geschwistern stärker hervor. Das Besondere des Falles liege darin, dass 1. die myotoni- schen Erscheinungen nur in einem ganz bestimmten Gebiete sich lokalisiren, 2. dass trotz der sehr deutlichen myotonischen Erscheinungen auf den Willensimpuls jede myotonische Reak¬ tion auf den elektrischen Reiz fehlt, obwohl 3. auf den mecha¬ nischen Reiz nicht nur in den Flexoren der Hand und Finger, sondern auch in den Extensoren und in einigen Muskeln des Oberarms eine deutliche myotonische Reaktion, d. h. eine langsame tonische Anspannung des betr. Muskels mit Nach¬ dauer der Kontraktion vorhanden ist. An der Diskussion nehmen Toby Cohn, Brasch und Seiffer Theil. Gumpertz stellt einen Fall von Brown-Sequard- scher Lähmung vor. (Autoreferat.) Pak war vor vier Jahren kopfüber gefallen, zeigte dann Lähmung der rechten Körperhälfte; man nahm Verletzung der Halswirbelsäule an. Jetzt besteht Abflachung der rechten Wade um 2 cm; motorische Schwäche des r. Arms und Beins, Rigidität des letzteren, von der Hüfte abwärts r. Hyperästhesie, 1. Hypästhesie (kein dissociirter Typus), Lagegefühl bds. intakt. Ab und zu treten tonische Krämpfe in den gelähmten Mus¬ keln auf. G. nimmt eine Blutung in das Halsmark an; der eigentliche hemisecirende Herd liege wahrscheinlich im Len¬ denmarke. M. E. Sociötö de mädecine lögale de France. Sitzung vom 11. Juni 1900. (Annales d’hygifene publique et de mddecine legale, XLIV, No. 1, p. 89.) M. Dufour. De l’infanticide par Strangulation ä l’aide du cordon ombilical. Diese Art des Kindsmordes ist sehr selten. Seit Tardieu sind, selbst von Brouardel nicht, neue Fälle nicht publizirt worden. Dufour untersuchte ein ausgetrageues Kind, dessen nicht unterbundene Nabelschnur um den Hals eine Schlinge bildete, und deren Druck auf der Haut einen pergamentartigen Streifen erzeugt hatte. Die Lungen hatten geathmet und des¬ halb nahm Dufour eine Erdrosselung durch die Nabelschnur an. Auch die verhaftete Mutter gestand, das Kind so getödtet zu haben. Später bei der Verhandlung leugnete sie, und dem Vertheidiger gelang es, die Geschworenen durch Devergies Ansicht irre zu machen. Devergie behauptete nämlich, dass bei umschlungener Nabelschnur eine Zahl von Athemzügen stattfinden könnten, während Tardieu behauptete, dass, wen*' der Tod durch Umschlingungen der Nabelschnur erfolg das Kind nicht athmen kann. Die Frau wurde freige»^ oclieiL Gerichtlich Entscheidungen, aem Reichs-Yersichernngsamt. Tod durch Ueberfahren und nicht in Folge eineo Goblrnoehlagea. Rek. - Entscheidung vom 31. März 1900. C. B. hat am 15. April 1898 einen Unfall der Art erlitten, dass er von einem mit Steinen beladenen Wagen herabgefallen und von dem Wagen überfahren worden ist. Am folgenden Tage ist B. gestorben und hinterliess eine Wittwe, welche Ansprüche auf Bewilligung einer Rente auf Grund des Unfall¬ versicherungsgesetzes zunächst bei der Fuhrwerks-Berufs - genossenschaft mit der Behauptung erhob, dass der Tod ihres Ehemannes in Folge der bei dem Unfälle erlittenen inneren Verletzungen eingetreten sei. Dieser Ansicht ist anfangs auch Dr. K. in R. gewesen. Nachträglich hat aber derselbe Arzt erklärt, dass B. vielleicht in einem Schwindelanfalle vom Wagen gefallen und dass dies der Vorbote eines Gehirnschlages ge¬ wesen sein könnte, dem B. erlegen wäre; vor seinem Tode habe B. öfters über Schwindelanfälle geklagt. Die Fuhrwerks- Berufsgeuossenschaft lehnte jede Rentenzahlung ab, weil der Verunglückte an einer Krankheit und nicht an den Folgen eines Betriebsunfalls verstorben sei. Ferner aber glaubte die Fuhrwerks - Berufsgenossenschaft keinerlei Verpflichtung zur Entschädigung zu haben, weil sich der Unfall am 15. April 1898 nicht im Fuhrwerksbetriebe, sondern im Steinbruchsbetriebe des Scholtiseibesitzers P. in H. ereignet habe, zumal der be¬ treffende Wagen mit Steinen aus dem Steinbruch beladen worden sei. Die Steinbruchs-Berufsgenossenschaft lehnte es aber eben¬ falls ab, der Wittwe eine Rente zu zahlen, da B. nicht im Stein¬ bruchsbetriebe verunglückt sei. Gegen die Bescheide beider Genossenschaften hatte die Wittwe B. Berufung eingelegt. Um zu ermitteln, ob die Todesursache des B. durch nachträgliche Sektion der Leiche nach erfolgter Ausgrabung noch festgestellt werden kann, ist ein Gutachten des Professor Dr. J. in B. noch eingeholt worden. Letzterer machte unter Anderem Folgendes geltend: Nach den Akten verunglückte B. am 15. April 1898 und starb am folgenden Tage. Er fiel von der Deichsel eines Wagens auf der er sass, herab, und der Wagen ging ihm über den Bauch. Beim Auffinden gab er klare Auskunft über den Unfall und klagte darüber, dass ihm alles weh thue und er sehr friere. Da die Leiche gegen neun Monate in der Erde Digitized by Google 332 Aer ztliohe Sachv er ständigen -Zeitung. lieg© und der Einwirkung der Sommerwärme des Jahres 1898 ausgesetzt gewesen sei, so könne mit Sicherheit angenommen werden, dass das Qehirn zerstört und eine frühere Gehirn¬ blutung nicht mehr nachgewiesen werden könne. Die Be¬ hauptungen des Dr. K. seien sehr unwahrscheinlich. Es sei der gewöhnliche Hergang, wenn Menschen durch Ueberfahren- werden tötliche innere Verletzungen erleiden, dass sie sofort oder in den nächsten Tagen sterben, ohne dass bedeutende äussere Verletzungen gefunden werden. Ein mit Steinen be¬ ladener Wagen, der über den Bauch rolle, müsse gewaltig auf die Bauchorgane einwirken. Der Tod trete gewöhnlich sofort ein, wenn die Blutung aus den verletzten Eingeweiden eine gewisse Grenze überschreite. Im anderen Falle werde das Ende durch die nachfolgende akute Entzündung in der Bauch¬ höhle in kurzer Zeit herbeigeführt. Für die Annahme eines Gehirnschlages seien keinerlei Grundlagen vorhanden. Der Tod sei mit grösster Wahrscheinlichkeit auf eine schwere Ver¬ letzung der Eingeweide durch Ueberfahren zurückzuführen, ^^s Schiedsgericht erachtete aber die Berufung für unbegründet, da ^ u n f a ii gjch im Steinbruchsbetriebe zugetragen habe. Vor dem ^jchs-Versicherungsamte suchte Geschäftsführer Z. nachzuweisen, die Steinbruchs-Berufsgenossenschaft haft¬ bar sei. Das Reichs^ersicherungsamt unter dem Vorsitz des Präsidenten G. schloss sicn dieser Auffassung an und führte unter Anderem Folgendes aus: Dt* Scholtiseibesitzer P. in H. unterhielt von einander getrennt und j* hei einer anderen Berufsgenossenschaft versichert, einen Fuhrwerksu^trieb, einen Steinbruchsbetrieb und einen landwirtschaftlichen Betrieb. Bor Kutscher C. B. wurde in jedem dieser drei Betriebe zur Aus¬ führung von Fuhren verwendet. Am 15. April 1898 fuhr er im Aufträge seines Arbeitgebers mit dessen Gespann aus dessen Steinbruch Steine ab, welche für die Provinzialchaussee be¬ stimmt waren. Bei dieser Thätigkeit erlitt er, wie aus seinen den Zeugen W. und H. gemachten Angaben hervorgeht, dadurch einen Unfall, dass er von dem mit Steinen beladenen Wagen herunterfiel und überfahren wurde. Am 16. April 1898 starb er. Er hat offenbar bei dem Unfall schwere innere Verletzungen davongetragen. Dafür spricht schon allein der Umstand, dass nach seiner dem Zeugen H. unmittelbar nach dem Unfälle ge¬ machten glaubhaften Angabe der schwere mit Steinen beladene Wagen über seinen Bauch hinweggefahren ist. Das Rekurs¬ gericht ist nun auf Grund des Gutachtens des Königl. Polizei- Stadtphysikus, Sanitätsraths und Professors Dr. J. in B. vom 17. Januar 1899 zu der Ueberzeugung gelangt, dass B. in Folge dieser Verletzungen gestorben ist. Die Annahme, dass B. in Folge eines Schwindelanfalles vom Wagen gefallen und an einem Gehirnschlage gestorben sei, entbehrt der Begründung, weil B., als er von den Zeugen W. und H. auf der Landstrasse aufgefunden wurde, bei voller Besinnung war und nicht einmal nachgewiesen ist, dass er vor dem Unfall an Schwindelanfällen gelitten hat. Steht hiernach der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Tode des B. fest, so fragt es sich nur, welche Berufsgenossenschaft die Klägerin für die Folgen dieses Unfalles zu entschädigen hat. Bei der Fuhrwerks- Berufsgenossenschaft war nur der gewerbsmässige Fuhrwerks¬ betrieb des Unternehmers P. versichert. Der Begriff des ge¬ werbsmässigen Fuhrwerksbetriebes erfordert aber, dass das Fuhrwerk als unmittelbare Einnahmequelle zu Zwecken des Erwerbes betrieben, dass also aus dem Fuhrwerksbetriebe als solchem ein Gewerbe gemacht wird. Soweit das Fuhrwerk des P. nicht zur Ausführung von Lohnfuhren für Dritte gegen Entgelt Verwendung fand, sondern von P. für die Zwecke seines Steinbruchbetriebes oder seines landwirtschaftlichen Betriebes benutzt wurde, war ob daher nicht bei der Fuhrwerks-Berufs¬ genossenschaft, sondern bei derjenigen Berufsgenossenschaft No. 16. versichert, welcher der jeweils betheiligte andere Betrieb zu¬ gehörte. Da nun B. die unfallbriugende Fuhre unzweifelhaft im Interesse des bei der Steinbruchs-Berufsgenossenschaft ver¬ sicherten Steinbruchsbetriebes seines Arbeitgebers ausgeführt hat, so ist die Steinbruchs-Berufsgenossenschaft entschädigungs¬ pflichtig. M - Eine wesentliche Besserung liegt vor, weil der Sohwindel und das taube Gefühl in den Beinen nachgelassen hat. Rek. vom 16. Juni 1899. Infolge Verunglückung des Olaf J. in T. am 20. De¬ zember 1897 wurde demselben von der Fuhrwerks-Berufs¬ genossenschaft vom Tage der Entlassung aus dem Kranken¬ haus© (2. Mai 1898) durch Bescheid vom 24. Juni 1898 eine Rente nach 50 Prozent Erwerbsbeschränkung bewilligt. Die Berufung wurde vom Schiedsgericht am 15. Oktober 1898 zurückgewiesen. Inzwischen war durch Bescheid der Berufs¬ genossenschaft die Rente mit dem 1. September 1898 auf 25. Prozent der Vollrente herabgesetzt. Diese Entscheidung focht der Verletzte ebenfalls durch Berufung an und beantragte die Belassung der bisherigen Rente. Oberarzt Dr. K. hatte im April 1898 die Erwerbsbeschränkung des Klägers auf 50 Prozent geschätzt. In einem ferneren Gutachten desselben Arztes vom Mai 1898 wird bemerkt, dass nach Ablauf von 3 Monaten vom Tage der Entlassung des Klägers aus dem Krankenhause (2. Mai 1898) volle Erwerbsfähigkeit des Ver¬ letzten zu erwarten sei. Zufolge eines vom Schiedsgericht eing^aogpnen Gutachtens des Kreisphysikus Dr. H. in W. vom 3. November 1898 eraohtete dieser den Kläger eher um weniger als um mehr als 25 Prozent in seiner Erwerbsfähigkeit noch beschränkt. Das Schiedsgericht wies sodann die Berufung des Klägers ab. Diese Entscheidung focht der Kläger durch Rekurs beim Reichs-Versicherungsamt an, welches indessen den Rekurs für nicht begründet erklärte und u. A. ausführte: Nach dem Gutachten des Dr. K. vom 3. April und 26. Mai 1898 war der Kläger bei seiner am 2. Mai 1898 erfolgten Ent¬ lassung aus dem Krankenhause durch die vom Anfalle zurück¬ gebliebenen Beschwerden (Kopfschmerzen, Schwindel, taubes Gefühl in den Beinen) noch um 50 Prozent in seiner Erwerbs¬ fähigkeit beschränkt. Der Sachverständige sprach sogleich die Erwartung aus, dass der Kläger binnen 3 Monaten seine völlige Erwerbsfähigkeit wieder erlangen werde. Hat sich nun auch diese Erwartung nicht erfüllt, bo ist doch durch die Atteste des Dr. S. und Kreisphysikus Dr. H. er¬ wiesen, dass in dem Zustande des Klägers eine wesentliche Besserung insofern eingetreten ist, als der Schwindel und das taube Gefühl in den Beinen nachgelassen haben. Den Grund der noch vorhandenen Erwerbsunfähigkeit des Klägers schätzten Dr. S. auf 25 Prozent und Dr. H. eher niedriger als höher. Mit Recht hat daher die Berufsgenossenschaft in An¬ wendung des § 65 des Unfallversicherungsgesetzes die Rente von 50 auf 25 Prozent herabgesetzt. M. Ursächlicher Zusammenhang zwischen Fussleiden und Unfall verneint. Rek. Entsch. vom 23. Februar 1900. Der am 25. Februar 1899 verstorbene K. hatte bei der Fuhrwerks-Berufsgenossenschaft Anspruch auf Unfallrente er¬ hoben, weil er angeblich am 15. September 1896 bei dem Be¬ steigen des Kutscherbocks mit dem linken Fusse gegen den Nabenring geschlagen ist und hierbei eine Verletzung des linken Knöchelgelenks erlitten hat. Der Anspruch ist mittelst Bescheides vom 20. Januar 1899 abgewiesen worden, weil es sich nach den Bekundungen des Dr. H. um ein älteres Leiden Digitized by Google 15. August 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 333 handelte, welches mit dem angeblichen Unfälle in keiner Be¬ ziehung stand. Hiergegen hat K. rechtzeitig die Berufung eingelegt und nach seinem Tode ist seine Wittwe in die Rechte ihres Ehemannes eingetreten. Das Schiedsgericht er¬ kannte jedoch auf Abweisung der Berufung. Gegen diese Entscheidung haben die Erben des Unfallverletzten rechtzeitig Rekurs eingelegt mit dem Anträge auf Bewilligung der ent¬ sprechenden Unfallrente bis zum Tode ihres Erblassers und auf Erstattung sämmtlicher Kosten. Die Rekurskläger bean¬ tragten, nochmals den Dr. L. zu hören, der bezeugen könne, dass durch den Unfall das Leiden des Erblassers verschlim¬ mert und der Tod dadurch herbeigeführt worden sei. Der Geschäftsführer Z. hat unter Bestreiten der gegnerischen An¬ führungen auf Zurückweisung des Rekurses angetragen. Dem entsprechend erkannte auch das Reichs-Versicherungsamt, in¬ dem u. A. Folgendes angeführt wurde: Die Gutachten des Dr. L. und des Dr. H. ergeben im Zusammenhalt mit einander, dass die zum Tode führende Krankheit nicht von einem am 15. September 1897 erlittenen Unfall herrühren kann. Dr. L. hat den F. K. zum ersten Male bei der Aufnahme in seine Klinik am 20. Oktober 1897 gesehen; ihm ist die Vorge¬ schichte der Krankheit nicht hinreichend bekannt, sonst könnte er nicht zu der Annahme gelangen, dass eine am 15. September 1897 erlittene Verletzung des linken Fusses die Krankheit verursacht haben könne. Denn an dem bezeich- neten Tage ist K. zu Dr. H. — wie dieser in seinem Gut¬ achten bezeugt — in die Sprechstunde gekommen mit einer offenbar schon seit längerer Zeit eiternden Wunde am linken und einer ebensolchen am rechten Fusse. Dah^ j.mr'ef'von einem Unfall, der i hm bbt und dem er das Leiden zuschreibe, weder an diesem Tage, noch während der Zeit der Behandlung irgend etwas erwähnt. Es kann nicht ge¬ glaubt werden, dass die eiternde Wunde am linken Fuss von einer Verletzung von demselben Tage, die das gleiche Bild bietende Wunde am rechten Fuss aber von einer anderen Ur¬ sache herrührte. Danach und unter Berücksichtigung des von Dr. H. schon im August 1897 behandelten Fussübels des K. (bestehend in Erweiterung starker Schwielen an den Zehen) erlangt das Rekursgericht in Uebereinstimmung mit Dr. H. die Ueberzeugung, dass das Leiden des K. nicht die Folge eines Betriebsunfalles war, sondern dass bei dem Verstorbenen die Berufstätigkeit als Droschkenkutscher durch den dabei zu erduldenden andauernden Druck harten Schuhwerks die von Dr. H. konstatirten, enorm verhornten Hautstellen an den Füssen verursachte, und dass aus diesen unter Hinzutritt der Altersveränderungen der Gefässe und der Zuckerkraukheit, an welcher K. unzweifelhaft litt, die zum Tode führende Erkran¬ kung sich entwickelt hat. Andererseits ist auch eine Ver¬ schlimmerung des bestehenden Leidens durch einen am 15. Sep¬ tember 1897 eingetretenen Unfall, wie das Gutachten des Dr. H. überzeugend ausführt, deswegen als ausgeschlossen anzu¬ sehen, weil damals und in der nächsten Zeit die Erkrankung des nicht verletzten rechten Fusses sich als die schwerere darstellte. Hiernach besteht ein ursächlicher Zusammenhang des Todes des K. mit einem Unfälle nicht. Dazu kommt aber noch, dass der Unfall selbst keineswegs erwiesen oder er¬ weislich ist. Die von dem damaligen Arbeitgeber und die vom Sohne des K. bezeichneten Zeugen sind bei einem Un¬ fälle der behaupteten Art nicht zugegen gewesen. Nur ein¬ zelnen der Zeugen hat der Verstorbene einmal mitgetheilt, dasB er sich am Unterschenkel verletzt habe. Der Beweis, dass am 15. September 1897 K. sich den* Fuss am Nabenring der Droschke gestossen habe, ist dadurch nicht erbracht. Rentenbereobnung bei Verstümmelung zweier Zehen. Entsch. vom 5. Januar 1900. Am 26. Juli 1898 erlitt der Bergarbeiter Andreas U. auf der Zeche Julia einen komplizirten Bruch der ersten und zweiten Zehe des rechten Fusses. Vom Beginn der 14. Woche nach dem Unfälle ab erhielt der Verletzte eine Rente von 20 Prozent, welche mit dem 12. April 1899 zur Einstellung gelangte, weil nach ärztlichem Gutachten die Erwerbsfähig¬ keit in Folge der Verletzung nicht mehr beeinträchtigt sei. Mit der hiergegen erhobenen Berufung abgewiesen, legte U. Rekurs ein und beantragte Weitergewährung der bisherigen Rente, da er in seiner Erwerbsfähigkeit noch in hohem Masse beschränkt wäre. Zur Begründung seiner Behauptung legte der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Rekurs¬ gericht das Gutachten des Dr. St. vor, von folgendem Inhalt: Ich stellte am rechten Fusse eine Verstümmelung der grossen Zehe und ein vollständiges Fehlen der folgenden fest. Da der rechte Fuss als Stütze des ganzen Körpers dient und hauptsächlich dazu benutzt wird, wenn es nothwendig ist, sich einen festen Halt zu geben, so ist es natürlich, dass i^g^Qtirt Beziehung eine Herabsetzung der LeistungsfähLrJ^^ 3 . .. und ebenso, dass das Gehörvermögen sowpP , , . i . ,. . ^ . Jwffltige Einschränkung keit als auch in der Dauer einp^\ v , , . - em Verletzten unter Zuer- erfahren hat. Das R.-V C A^~ . u "“ , kennung von 10 ju^mssergenchtUchen Kosten eine Rente von 10 J*-— »4 imd selbst den Beweis seiner Brauchbarkeit und Zweckmässigkeit geliefert nat, ©o bodarf es einer kriti¬ schen Besprechung bei seinem Neuerscheinen nicht mehr und der Referent kann sich darauf beschränken, die Thatsache der neuen Auflage bekannt zu geben und die Veränderungen, die bei dieser Gelegenheit vorgenommen worden sind, kurz zu würdigen. Solche Veränderungen haben nun dieses Mal in sehr er¬ heblichem Umfange Btattgefunden. Es sind zunächst die wesentlichen neuen sicheren Errungenschaften der Wissen¬ schaft aufgenommen worden, so beispielsweise die Unter¬ suchungen über die Haematoporphyrinprobe, über die epiduraleu Pseudohaematome bei Verbrennung u. a. m. Grössere Umwälzungen sind nothwendig geworden durch die inzwischen erfolgte Einführung des Bürgerlichen Gesetz¬ buchs und der dazu gehörigen Einzelgesetze. Die hieraus sich ergebenden Aenderungen in den Aufgaben des Gerichtsarztes finden sich im vorliegenden Werke in ebenso erschöpfender als klarer Weise dargestellt. Sie sind bekanntlich auf psychia¬ trischem Gebiete umfangreicher als in den übrigen Gebieten der gerichtsärztlichen Thätigkeit und so hat denn speziell jenes Kapitel eine Umarbeitung erfahren müssen, die uns be¬ sonders wohlgelungen erscheint; wir machen zumal auf die bedeutsamen Ausführungen über die Pflegschaft aufmerksam. Bei aller Anerkennung der Arbeit der Verfasser und der sie unterstützenden Kollegen, unter denen R. Schulz im Vor¬ wort persönlich namhaft gemacht wird, wollen wir doch auf das Recht des Kritikers zu moniren nicht ganz verzichten und den verdienten Autoren noch einen kleinen Wunschzettel zur Berücksichtigung bei der gewiss baldigen 6. Auflage unter¬ breiten. Wir bitten also zunächst um Abstellung des Druck- oder Schreibfehlers, der S. 36 das Methaemoglobinspektrum zwischen E (statt C) undD verlegt. Im Kapitel von den Haaren hätten wir gern auch die wichtigen Arbeiten über das Verhalten der¬ selben bei Kopfhiebwunden berücksichtigt gesehen. Digitized by Google 15. August 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 335 Zu S. 63 ad f möchten wir bemerken, dass die schwere Körperverletzung des § 224 vor der Strafkammer und nicht vor den Geschworenen verhandelt wird. Bei der Angabe über die tödtliche Gabe des Karbol folgt der Verfasser von Hof¬ mann und setzt dieselbe mit 20—30 gr., unserer Meinung nach um 100 pCt. zu hoch an. Wenn ebenfalls v. Hof mann als Quelle dafür citirt wird, dass bei der Arsenvergiftung der Dünndarm mit wässrigem Inhalt gefüllt ist, so möchten wir im Interesse der historischen Gerechtigkeit hervorheben, dass schon lange vor v. Hofmann, Virchow (Archiv Bd. 47) auf diese auch anatomische Uebereinstimmung von Cholera und Arsenvergiftung aufmerksam gemacht hat Wir meinen ferner, dass der Gerichtsarzt nicht stets das Ergebniss der Analyse des Chemikers abwarten muss, um eine bestimmte Vergiftung zu diagnostiziren, sondern dass er häufig genug schon auf Grund der Sektion mit Sicherheit eine Ver¬ giftung durch Karbol, Cyankali, Kohlenoxyd u. a. m. diagnosti- ziren kann und möchten ihm nicht wie der Verfasser es thut (S. 20, 110) hiervon abrathen, zumal eine Stärkung der Stel¬ lung des Gerichtsarztes gegenüber dem Gerichtschemiker in den Augen der Juristen dringend geboten ist. Umgekehrt glauben wir im Gegensatz zum Verfasser uns nicht dafür aussprechen zu dürfen, dass der Befund einer Gonorrhoe bei einem Kinde mit allergrösster Wahrscheinlichkeit ein Stuprum beweist, nachdem sich neuerdings die Erfahrungen über anderweitige Infektion von Kindern so sehr gehäuft haben. Referent will mit der Hervorhebung der obengenannten Punkte seine Anerkennung des ganzen Buches nicht ein¬ schränken, sondern glaubt nur auch an seiner Stelle dasyj^bf^' tragen zu sollen, dass dasselbe der^rstj^ht^^ Jlxw * ,crII,r ®®^ mög¬ lichst nahe gehwwu^ wu d. " P. Strassmann. Heermann, Dr. G., Privatdozent in Kiel. Die Syphilis in ihren Beziehungen zum Gehörorgane. Sonderabdruck aus Bresgen's Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Ohren- etc. Krankheiten. IV. Bd., Heft 2/3. Halle a. S. 1900. Verlag von Carl Marhold. 53 S. Der Verf. schildert der Reihe nach die syphilitischen Er¬ krankungen des Integuments des Ohres, der Schleimhaut des Ohres, der knöchernen Bestandtheile des Gehörorgans, der nervösen Elemente (Labyrinth, N. acusticus, Acusticuskeme) des Ohres und schliesslich die gleichzeitigen syphilitischen Affektionen verschiedener Gewebseinheiten des Ohrs. Ein Schlussabschnitt ist den hereditärsyphilitischen Erkrankungen des Gehörorgans gewidmet. — Verf. hält unsere Kenntnisse über die syphilitischen Affektionen der Haut des Ohres für abgeschlossen, während ihm die spezifischen Schleimhaut- und Nervenerkrankungen noch sehr des eingehenden Studiums in anatomischer, wie in klinischer Beziehung zu bedürfen scheinen. R. M. Liebmann, Dr. Albert, Arzt für Sprachstörungen zu Berlin. Vorlesungen über Sprachstörungen. 5. Heft. Uebungstafeln für Stammler, sowie für hörstumme und geistig zurückgebliebene Kinder. Berlin 1900. Verlag von Oskar Coblentz. 48 S. Pr. 1,20 M. Die theoretischen Grundlagen der Uebungeu finden sich in dem 2. und 3. Hefte der Vorlesungen des Verf. (über Stam¬ meln und Hörstummheit). Darum giebt die Einleitung des vorliegenden Heftes nur eine kurze Darstellung der Indika- tiouen und der Anwendungsweise der Uebungstafeln, worauf sofort die Uebungen selbst folgen. Diese sind eingetheilt in Silben- und Wortübungen; in einem besonderen Abschnitt ist das Sprechen von Sätzen erörtert. Den Schluss büden Lese-, Rechen- und Schreibübungen für geistig zurückgebliebene Kinder. Die Schrift gewährt einen interessanten Einblick in das Mühevolle derartiger Uebungen, die gelegentlich auch für den ärztlichen Sachverständigen von Werth sein können. R. M. Tagesgeschichte. Richter und Sachverständiger. Um die Mitte des Jahres 1898 wurde in dieser Zeitschrift im Anschluss an einen bestimmten Pall die Präge erörtert, ob es wünschenswerth sei, den Richter in seinem Urtheil vom ärztlichen Sachverständigen gegebenenfalls unbedingt abhängig zu machen. Diese Frage wurde verneint. Im dritten Bande des Archivs für Kriminalanthropologie hat neuerdings Naecke dasselbe Thema wieder aufs Tapet gebracht und ist zu einer Anzahl Thesen gelangt, deren erste lautet: Da der Sachverständige zweifellos mehr in seinem Fache weiss als der Richter, so hat sich letz¬ terer seinem Urtheile im Allgemeinen unbedingt zu fügen. N. bemerkt ausdrücklich: das gilt für alle Arjgptfen Sachverständigen, wenn er auch persönlich Irrenarzt im Auge hat ^r^n ausgesprochenen Es ist nicht unsere Absjcfc^ infJ Peld TO führen( die ^^p ieg e aus zwingen, ihn abzu- j^viirWir erinnern nur daran, dass es sich um die wich¬ tigste Errungenschaft der modernen Rechtspflege, die freie Beweiswürdigung, handelt und rathen Allen, die an dieser freien Beweiswürdigung rütteln wollen, sich die kriminalistische Ka¬ suistik der Zeit, bevor jener Grundsatz Geltung gefunden hatte, durchzulesen. Aber der Naecke’sche Aufsatz enthält nach einer andern Richtung viel Interessantes, dessen Erörterung geeignet ist, die Sachlage für uns Aerzte zu klären. Er begnügt sich nicht mit der allgemeinen Phrase, sondern zeigt auch, wie sich logi¬ scher Weise bei der Durchführung jenes Grundsatzes das ärzt¬ liche Sachverständigenwesen gestalten müsste. Wenn der Gutachter für den Richter die massgebliche Autorität sein soll, so kann es nicht jeder beliebige Arzt sein, sondern er muss auf dem betreffenden Gebiete eine besondre Erfahrung und daneben womöglich noch eine wissenschaftliche Bedeutung haben. Für irrenärztliche Gutachten kommen weder gewöhnliche Aerzte noch Bezirksärzte, sondern nur „Fachleute“, Direktoren und Aerzte an Irrenanstalten, namentlich solche, die wissenschaftlich bekannt sind, und Professoren der Psy¬ chiatrie, in Betracht. Es giebt auch Spezialfragen, z. B. über Hypnose, geschlechtliche Verkehrtheiten u. s. w., die nur einige wenige Sonder-Fachleute am besten beurtheilen können. Soweit Naecke. Von seinem Standpunkte aus hat er ganz Recht. Eine besondere Gewähr für die Tüchtigkeit des Gut¬ achters muss gegeben sein — ergo wird in Ermangelung andrer Kennzeichen der Sachverständige auf Grund seiner offiziellen Stellung und wissenschaftlichen Bekanntheit gewählt. In den Händen einiger Weniger wird die gerichtliche Medizin mono- polisirt. Nicht die Fähigkeit, „praktisch“ klar zu denken und zu sprechen, sondern der Titel Direktor oder Professor oder dgl. und die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen be¬ rechtigt zur Aufnahme in die geforderte „offizielle Liste der Sachverständigen.“ Man wende nicht ein, dass etwa nur für schwierigere Fälle die „höhere Autorität“ herangezogen werden soll. Das meint N. nicht, und das kann er auch gar nicht meinen. Denn ob Digitized by LjOOQie Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 16. 836 ein Fall schwierig ist, kann in den meisten Fällen erst der tüchtige Sachverständige entscheiden. Es sei gestattet, hier einen Seitenblick auf die von N. nicht berührte Frage zn werfen: Wie würde es bei N.’s System mit der gerichtsärztlichen Ausbildung der künftigen Gut¬ achter stehen? Das Studium der gerichtlichen Medizin soll ja angeblich nächstens für die Studenten der Medizin obligatorisch werden. Das wäre aber nur eine unnütze Grausamkeit bei der so wie so bestehenden Ueberlastung der Medizinbeflissenen mit Lernstoff, wenn zur praktischen Ausübung der gerichtlichen Medizin doch nur ein verschwindend kleiner Bruchtheil der Gesammtheit später zugelassen würde. Widerwillig würden die Studenten das Nothdürftigste lernen, auch das Wenige würde ihnen mangels praktischer Uebung nach dem Examen rasch entschwinden. Wenn einige nachher dann, vermöge ihrer Verdienste auf andern Gebieten, glücklich zu der Stellung der für die Sachverständigenthätigkeit Auserwählten vorge- drangen sein würden — wer weiss, ob sie dann als Gutachter das leisten würden, was ein weniger spezialistisch gebildeter, aber in der gerichtlichen Praxis erfahrener und im formellen Denken geübter Gerichtsarzt der jetzigen Schule leistet. Aber hören wir weiter, was nach Naecke geschehen soll, T 5 gmi der Richter von der Richtigkeit des Gutachtens nicht über- veraehm5to nn hann er noch einen oder mehrere Sachverständige geklagten od^r des-ögtN- P^elbe soll auf Wunsch des An¬ gesetzlich festzulegenden FaMf'i!* ° der endI “ h m ‘““deren, Experten widersprechen? .Dann entscföSlL. 6n ^'j e das Medizinalkollegium.“ Das ist der weitere Ausbaum*.^ medizinischen Werthordnung: zwei Autoritäten widersprechen sich, eine beliebige dritte, die zufällig die Ehre hat, Referent im Medizinalkollegium zu sein, trifft die unfehlbare Entscheidung! Und so stellt sich uns bei Durchführung der scheinbar unserer Standeswürde so wohlangemessenen Abhängigkeit der Richter von den ärztlichen Sachverständigen folgendes Zukunfts¬ bild unseres Standes vor Augen: Die grosse Masse der Praktiker und Medizinalbeamten wird völlig abgedrängtvon der gerichtlichen Medizin, in der sie keine Rolle zu spielen berechtigt sind. Die wissenschaftlichen Grössen werden genöthigt, mit ihren gewöhn¬ lich recht grossen anderen Lasten zusammen auch noch die der gesammten Sachverständigenthätigkeit zu tragen, zu welchem Zwecke sie natürlich auch auf den Dörfern herumfahren, Sek¬ tionen machen, in Privatanstalten Geisteskranke untersuchen müssen. Dann treten sie vor das Forum und schreiben dem Richter sein Urtheil vor — um freilich, wenn das Medizinal¬ kollegium nicht ihrer Meinung ist, sich widerspruchslos zurück¬ zuziehen. Wahrlich, das Bild, das wir von der künftigen Entwicklung haben, ist ein anderes: wir sehen einen immer grösseren Kreis von Aerzten bemüht, in der gerichtlichen Medizin, insbesondere der Irrenheilkunde ausreichende Kenntnisse zu erwerben und sich gleichzeitig formelle Logik in genügendem Maasse anzueignen, um den Richter von ihrer Meinung zu über¬ zeugen. Wir sehen die Sachverständigen in freiem Wettstreit vor den Richter treten, dem gegenüber das Mitglied des Medizinalkollegiums vor dem einfachen Gerichtsarzt, der ordentliche Professor vor dem Privatdozenten nur dann den Vorrang hat, wenn er besser zu überzeugen weiss. Und wir sehen andererseits den Stand der Rechtsgelehrten immer engere Fühlung mit dem der Aerzte gewinnen, ernstlich bemüht, die ärztlichen Auseinandersetzungen zu verstehen, um sie, wie jedes andere Beweismittel, frei zu würdigen. Dies Ideal halten wir für erstrebenswert!!. Aus dem Jahresbericht der Gewerbe-Inspektoren für das Jahr 1899 entnehmen wir der „Zeitschr. d. Centralstelle f. Arbeiter wo hl- fahrtseinrichtungen“ einige interessante Einzelheiten. Die Sterblichkeit der Cigarrenarbeiter an Lungen¬ tuberkulose im GroBsherzogthum Baden betrag 2,08 Prozent im Durchschnitt der Jahre 1887—1899, während in derselben Zeit im ganzen Lande nur 0,28 Prozent der Bevölkerung der Schwindsucht erlagen. Doch hat sich seit 1894 die Sachlage gebessert, der Prozentsatz ist auf 1,61 Prozent zurückgegangen. Vermutblich ist dies auf die jetzt durcbgesetzte Fernhaltung der Altersklassen zwischen 12 und 13 und grösstentheils auch der zwischen 13 und 14 Jahren zurückzuführen. Im Steinhauergewerbe, dessen Gefahren so gross sind, dass die Lebensversicherungen keine Steinhauer aufnehmen* wurde versucht, billige Respiratoren aus Celloidin einzubür¬ gern. Aber trotz sichtlichen Erfolges der Apparate fanden sie bei den Arbeitern keinen Anklang, alle Versuche, ihren Ge¬ brauch durchzuführen, misslangen. Bei den Nitrirarbeitem stellt sich durch die Säuredämpfe eine Zerstörung der Schneidezähne ein. Diese scheint am besten durch Geschlossenhalten des Mundes verhütet zu wer¬ den. Die Aerzte empfehlen auch das Tabakkauen als Verhü¬ tungsmittel. In Oesterreich wurden bei Arbeitern in einer Calcium¬ car bi dfabrik bestimmte Krankheitserscheinungen (welche?) beobachtet. Man nimmt an, dass sie auf die hohe Tempera¬ tur, insbesondere auf die Btrahlende Hitze im Reduktionsraum . beziehen sind. Ferner rief der elektrische Lichtbogen beim «i ner Walze mittelst elektrischen Stromes heftige Augenentzündungen bei drei dü%wk s ton hervor. Zum ärztlichen Studium der Frauen. Auf Grand der Bestimmungen des § 29 der Gewerbeord¬ nung hat der Bundesrath beschlossen, den Reichskanzler zu ermächtigen, in Uebereinstimmung mit der zuständigen Landes¬ behörde bei reichsangehörigen weiblichen Personen, die vor dem Sommerhalbjahr 1899 Bich dem medizinischen Studium an einer Universität ausserhalb des Deutschen Reichs gewidmet haben, zur Zulassung zu den ärztlichen Prüfungen die Vorlegung des Zeugnisses der Reife von einem humani¬ stischen Gymnasium mit Rücksicht auf ein ausländisches Reife- zeugniss zu erlassen und das medizinische Universitätsstudium, das sie nach einer im Auslande bestandenen Prüfung vor dem Winterhalbjahr 1900/1901 zurückgelegt haben, auf die in der Bekanntmachung über die ärztliche Prüfung vom Jahre 1883 erforderten vier Halbjahre medizinischen Universitätsstudiums anzurechnen. (Voss. Ztg.) Ein Pestfall in Deutschland. Der Stewart eines von La Plata mit längerem Aufenthalt in Cardiff zurückgekehrten Schiffes wurde bei der gesundheits¬ polizeilichen Untersuchung im Hafen zu Hamburg krank ge¬ funden und, da Typhusverdacht vorlag, in das Alte allgemeine Krankenhaus gebracht. Nach einigen Tagen begann jedoch die Krankheit pestverdächtig zu erscheinen, der Kranke wurde nach einer Isolirbaracke des Eppendorfer Krankenhauses über¬ führt, wo thatsächlich durch bakteriologische Blutuntersuchung und Thierversuche Pest festgestellt wurde. Alle Vorsichts- massregeln sind getroffen. Der Kranke ist inzwischen ge¬ storben. Alle Andern, die mit ihm in Berührung gekommen sind, befinden sich laut offizieller Angabe wohl. Verantwortlich für den Inhalt: Dr.P. Leppmann in Berlin. — Verlag and Bigenthum ron Richard öchoeta in Berlin. — Druck von Albert Damcke, Berlin-Schöneberg. Digitized by Google Die „ A entliehe SecljTerettndlfen-SSeltoiif 0 erscheint monatliefc zweimal. Dieeelbe lat an beslehen durch den Bnobhendel, die Poet (No. 8fi) oder dnreh die Verlagsbuchhandlung ron Richard Sehoets, Berlin NW., Lnlsenstr. 86, snm Preise ron Mk. ft.— pro Vierteljahr. Aerztliche ▲Ile Manuskripte, Mitteilungen nnd redaktionellen Aniregen beliebe man au eenden an Dr. P. Leppmann, Berlin W M KurfBr a t e n st r . No. 8. Korrekturen, Reaenalons-Exemplare, Bonderabdrflcke an die Verlagsbuchhandlung, Inserate und Beilagen an die ▲nnonceo-Expedltion ron Rudolf Moese. Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene nnd UnfaH-Heilknnde. Herausgegeben Dr. L. Becker Geh. Sanitltsretb, ESolgl. Phjslkus, Vertrauensarzt ▼on Berufbgenossensohalten nnd Sohtedagsrichten. Dr. A. Leppmann SanltXtsrath, Königlicher Physikus, Arst der Beobacktnngsanstalt für gelstea- kranke Gefangene in Moabit-Berlin, Speslalant für Narren, u. Geisteskranke. Dr. F. Leppmann prakt. Arst. Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Lnisenstrasse 36. VI. Jahrgang 1900. M 17 . Ansgegeben am 1. September. Inhalt: Originalton: Landau, Zwei Todesfälle nach Ausschabung der Ge¬ bärmutter. Fahrlässige Tötung? 8. 337. Gollmer, Lebensversicherung nnd Ohr. 8. 844. Referate: Allgemeines. Hartmann, Kasuistisches zum Hungertod. S. 346. Messerer, Erstickung durch Einwirkung auf den Hals. S. 346. Chirurgie. Koch, Akute Osteomyelitis. 8. 347. Hämig and 8ilberschmidt, „Gangräne foudroyante“, 8. 347. Hämig, Fettembolie des Gehirns. 8. 347. Zotos, Beitrag zn den Harnsteinen. 8. 348. Innere Medizin. Leichtenstern und Welscher, Kehikopferkran- kungen im Verlaufe des Diabetes. 8. 348. Bruggisser, Postikuslähmung im Anschluss an einen Fremd¬ körper im Larynx. 8. 349. Hirsch, Diagnose der Zwerchfellhernie. 8. 349. Neurologie. Gowers, Epilepsia minor. 8. 350. Guttmann, Gehirnlähmungserscheinungen nach Influenza. 8.350. Gymecologisches. Kr ohne, Antiseptik in der Gobnrtshilfe. 8. 351. Ohren. Müller, Indikationen zur operativen Behandlung der Mittelohreiterungen. 8. 351. Müllor, Indikationsstellung für Mastoidoperationen. 8.352. Fink, Subjektive Gehörswahrnehmungen. 8. 85*2. Hygiene. Möblns, Verbreitung des Weichselzopfes. 8. 353. Förster, Versuche über Wäschedesinfektion. S. 353. Aus Vereinen und Versammlungen. Ans den Sitzungen des Inter¬ nationalen Medizinischen Kongresses. Sektion für innere Medizin. — Ordentliche Sitzung des Vereins der Bahn- nnd Kassenärzte für den Eisenbahndirektionsbozirk Erfurt. (Versammlungsbericht.) S. 353. GeriohtlioheEntscheidungen: Aus demReichs-Versicherungs-Amt: Lungenleiden als Folge einos Betriebsunfalls. — Tod durch Lungen¬ entzündung. Betriebsunfall liegt nicht vor. — Tod in Folge einer durch Infektion des Blntes hervorgerufenen Lungenentzündung. Verneinung der gesetzlichen Entschädigungspflicht. 8. 355. Ans dem Ober-Verwaltungsgericht: Ist einem medizinischen Laien die Erlanbniss znr Errichtung einer Krankenanstalt unter der Bedingung ertheilt worden, dass die Anstalt von einem appro- birten Arzt geleitet werde, so kann die Erlaabniss zurückgenom- raen werden, wenn diese Bedingung nicht erfüllt wird. 8. 857. BOoherbespreohnngen u. Anzeigen: Müller, Was müssen die Berufs- genossonschaften von den Aerzten verlangen? — Kafemann, Rhinopharyngologische Operationslehre mit Einschluss der Elek¬ trolyse. — Kafemann, Lebensversicherung nnd sogenannte pri¬ märe Kehlkopftuberkulose. 8. 357. Tagesgeaohlohte: Stadtärzte. — Unfallverhütungskommission in Oester¬ reich. — Natürliche oder künstliche Mineralwässer. — Eine Sta¬ tistik der gewaltsam herbeigeführten Todesfällo in den Vereinigten Staaten. — Dor Jahresbericht der Knappschafts-Berufsgenossen- schaft. — Der Pestfall. — Naturforscherversammlung zu Aachen. — Die zweite Versammlung der deutschen Krankenpfleger, Massöre und Hoilgehilfen. — Eine Allgemeine Deutsche Ausstellung für Sanitäts- und Rettungswesen, Kranken- und Gesundheitspflege. 8. 359. Zwei Todesfälle nach Ausschabung der Gebärmutter. Fahrlässige Tötung? Zwei Gutachten von Prof. Dr. L. Landau-Berlin. Einleitung. Der Abdruck nachstehender vor ca. 6 Jahren erstatteter Gutachten soll nicht blos einen Beitrag zur gerichtlich-frauen- ärztlichen Kasuistik darstellen, sondern auch durch Beschrei¬ bung zweier drastischer Fälle zeigen, wie gefährlich die Aus¬ schabung der Gebärmutter ist und wie gut die Aerzte thun würden, wenn sie die Anzeigen für deren Ausführung be¬ schränkten. Zwar haben sich in den letzten Jahren die An¬ schauungen mancher Gynaekologen bezüglich der Anzeige und Ausführung der Ausschabung im konservativen Sinne ge¬ ändert, aber immer noch hat man nur allzu häufig Gelegen¬ heit, sich zu überzeugen, wie gross und wie häufig der Schaden ist, welchen die Kranken durch Auskratzung erleiden. Nicht alle Fälle gelangen glücklicherweise durch den Tod der Betroffenen oder durch die Denunziation der Leidtragenden oder von freundlichen Kollegen vor das Gericht; diese sind verschwindend gegenüber der Zahl derjenigen, welche auf andere Weise bekannt werden und bei welchen die Aus¬ kratzung gerade nicht den Tod, aber langdauernde Krankheit in nicht allzu seltenen Fällen lebenslängliches Siechthum im Gefolge hat. Durch die Mittheilung der folgenden beiden Fälle, welche typisch für eine grosse Anzahl gleichartiger Fälle sind, soll aber auch darauf hingewiesen werden, dass es gar nicht schwer und nicht einmal kostspielig wäre, zahlreichen Indivi¬ duen ihre Gesundheit zu erhalten, wenn der Staat Veranlassung nähme, die Medizin Studirenden auf der Universität zweck¬ mässiger unterrichten zu lassen. Dass der Unterricht speziell in Geburtshilfe und Gynaekologie theoretisch ein ausreichen¬ der ist, wird Niemand bestreiten, aber praktische Eingriffe sind nicht durch theoretische Unterweisungen zu erlernen, sondern es muss der Staat besondere Veranstaltungen treffen, die Kenntnisse eines unter Umständen doch lebensrettenden Eingriffes praktisch zu verbreiten. Es ist jedoch hier nicht der Platz, auf die Mittel hinzu¬ weisen, die mit Leichtigkeit in diesem Punkte eine Besserung herbeifübren könnten. In rein gerichtsärztlicber Beziehung haben beide Gutachten etwas grundsätzlich Wichtiges gemeinsam: Zwei Aerzte sind angeklagt, fahrlässig gehandelt zu haben. Ich komme jedoch zu der Ueberzeugung, dass nicht Fahrlässigkeit, son¬ dern nur entschuldbare Kritiklosigkeit und mangelnde Uebung Digitized by Google 338 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 17. den unglücklichen Ausgang der Fälle herbeigeführt haben. Möge sich der Gutachter stets vor Augen halten, dass eine derartige „aetiologische“ Betrachtung manchen „Kunstfehler“ in milderem Lichte erscheinen lässt! Ich gebe die beiden Gutachten ohne weiteren Kommentar wieder. I. Die 30 Jahre alte Frau N. war im vierten Monat der Schwangerschaft und litt an Blutungen. Zwei anfangs zuge- zogene Aerzte waren der Meinung, dass es sich um eine nicht normal verlaufendeSchwangerschafthandle(Blasenmole? Abort?), glaubten aber, da die Blutung nicht bedrohlich war, noch ab- warten zu können und gaben der Frau dementsprechend Be¬ scheid. Darauf konsultirte Frau N. den Angeschuldigten, welcher die möglichen Gefahren eines sich selbst überlassenen Abortes fürchtend, zu einer Ausräumung der Gebärmutter rieth. Die Diagnose eines Aborts ergab sich für ihn aus den bereits in der Scheide liegenden Eihautfetzen und der vorangegangenen Blutung. Der Angeklagte nahm unter Zuziehung einer Hebamme ohne Narkose eine Auskratzung der Gebärmutter vor. Nach Desinfektion der Hände und 10 Minuten langer Auskochung der Instrumente, Anhakung der vorderen Muttermundslippe mit der Kugelzange, Einführung eines Spekulums führte er zuerst eine breite stumpfe Kürette ein, die leicht eindrang und holte unter massig starker Blutung die Nachgeburt in einzelnen Fetzen heraus. Der Angeklagte merkte nichts von einer Zer- reissung der Gebärmutter und machte nach Beendigung der über 30 Minuten währenden Operation eine Ausspülung mit lproz. Lysollösung. Nach der Operation wurde Frau N. blass, aber nicht bewusstlos, so dass der Arzt die Kranke bei nach seiner Ansicht nicht schlechtem Allgemeinbefinden verliess. Ebenso ging die Hebamme kurze Zeit darauf fort. Als der Angeschuldigte nach IV 2 Stunden eiligst zu der Frau N. ge¬ rufen wurde, welche nach seiner Verordnung bis kurz vor ihrem Tode noch Wein, Kaffee, Cognac und Ergotin genommen hatte, fand er die Frau im Todeskampfe; bald nach seiner Ankunft starb sie. Die Leiche wurde von dem Kreisphysikus Herrn Dr. Z. und Herrn Dr. A. obduzirt. Dieselben fanden Zeichen innerer Verblutung, einen Gebärmutterriss und einen in die Bauch¬ höhle ausgetretenen, etwa viermonatlichen, übrigens missgebil¬ deten Foetus. Die Obduzenten gaben ihr Gutachten dabin ab: 1. der Tod ist eingetreten an innerer Verblutung, 2. diese innere Verblutung ist Folge einer Zerreissung (Perforation) der Gebärmutter, 3. die Gebärmutterzerreissung ist zweifellos nicht spontan entstanden, sondern durch einen äusseren, mechanischen Eingriff verursacht worden. In dem motivirten Gutachten legt der Kreisphysikus Herr Dr. Z. des Näheren dar, dass der tödtliche Riss in der Gebär¬ mutter unzweifelhaft durch die Ausführung der Auskratzung und durch die Handhabung mit dem scharfen Löffel ent¬ standen ist. Jedes Kennzeichen einer spontanen Zerreissung fehlte; die Gebärmutterwandung war keineswegs abnorm ver¬ dünnt, vielmehr U /2 cm dick und zugleich ziemlich derb in ihrem Gefüge. Auch sonst war sie in ihrem Gewebe nicht ge- schwürig oder sonstwie krankhaft entartet. Dagegen war die Innenfläche nicht glatt und eben, son¬ dern rauh und höckrig, wie angefrischt, überall, namentlich an der Hinterwand, deutlich die Spuren des schabenden und kratzenden Instruments zeigend. Selbst an der Leibesfrucht waren die unzweideutigsten Merkmale der geschehenen Aus¬ kratzung am Kopf und an den Rippen vorhanden. Durchlöche¬ rungen der Gebärmutter können zwar selbst bei geübten frauenärztlichen Operateuren zuweilen Vorkommen und können entschuldbar sein, wenn die Wandung und das Gewebe der Gebärmutter krankhaft verändert, verdünnt, erweicht sei, so dass auch bei vorsichtigstem, schonendstem Verfahren der scharfe Löffel eine kleine Durchlöcherung an der betreffenden Wandstelle machen könne, aber die Zerreissung bei vollkommen normaler, dicker und fester Wand sei auf keinen Fall ent¬ schuldbar, da sie eine höchst gewaltsame und unvorsichtige Aus¬ führung der Operation beweise. Nur bei grösster Ungeübtheit und Unerfahrenheit könne es Vorkommen, bei normaler, dicker und fester Wand solange und gewaltsam zu kratzen, bis in die U /2 cm dicke Wandung ein grosser, tödtlicher Riss hinein¬ gekratzt ist. Dass der Operateur über das, was er eigentlich unter dem scharfen Löffel hatte, so wie darüber, was, wo und wie tief zu kratzen war, nicht hinreichend genug orientirt war, beweist ja auch der Umstand, dass die Frucht an- und theil- weise aufgekratzt war.“ — Die Grösse des Gebärmutterrisses ist mit 4 cm Länge und 2 cm Breite keineswegs reichlich, son¬ dern eher etwas klein bemessen, bot er doch einer Frucht von 20 cm Länge (und allerdings mangelhafter sonstiger Entwicke¬ lung) Raum zum Durchtritt . . . Als einen besonders erschwerenden Umstand sieht dann der Sachverständige noch an, dass die Operation überhaupt nicht indizirt war. Ausser einer operativen Ungeschick¬ lichkeit (allerdings höchsten und bedenklichen Grades) hätte sich der Angeschuldigte eines bedauerlichen Mangels ärzt¬ lichen Wissens und ärztlicher Einsicht schuldig gemacht, der schlechterdings nicht zu rechtfertigen sei. Auch wäre es ihm doch nicht einmal gelungen, die Frucht überhaupt zu ent¬ fernen. Nach Lage der Dinge habe der Angeklagte diese tödtliche Verletzung durch kunstwidriges und fahrlässiges Ver¬ halten herbeigeführt. Auch der zweite Begutachter, Herr Geh. Medizinalrath Prof. Dr. B., ist der Meinung, dass der Tod der Frau S. durch Verblutung in die Bauchhöhle und diese durch Zerreissung der Gebärmutter zu Stande gekommen ist. Auch für ihn ist ein Grund zur Ausschabung der Gebärmutter nicht ersichtlich; wenn aber, so hätte der Angeschuldigte den Finger und nicht die Curette zur Ausräumung des 4 monatlichen Eies zu Hilfe nehmen sollen. „Aber auch bei Anwendung der Curette durfte eine Zerreissung der Gebärmutter mit Austritt des Fötus in die Leibeshöhle nicht Vorkommen. Bei den gesunden und im 4. Monat der Schwangerschaft auch noch verhältnissmässig dicken Gebärmutterwänden könne eine Zerreissung der Gebär¬ mutter ohne grosse Gewalt nicht entstehen. Auch die Ver¬ letzungen der Frucht sprächen für die blind gewaltsame Art des Eingriffs.“ Dass der Angeklagte den Fötus im Mutterleib gelassen, müsse als ein durchaus zweckloses und falsches Ver¬ halten bezeichnet werden. Durch kunstwidriges und fahr¬ lässiges Verfahren habe der Angeklagte den Tod der Frau S. herbeigeführt. Auf Grund dieser beiden Gutachten wurde gegen den An¬ geschuldigten das Hauptverfahren wegen fahrlässiger Tödtung eröffnet. Bei der mündlichen Verhandlung gab ich mein Gut¬ achten dahin ab: 1. Der Angeschuldigte hat durch sein Verhalten den Tod der Frau S. herbeigeführt, indem er die Gebärmutter durch¬ gekratzt und hierdurch eine tödtliche innere Verblutung er¬ zeugt hat. 2. Nach meinen Grundsätzen kann ich im vorliegenden Falle das aktive Vorgehen des Angeschuldigten nicht billigen, doch kommen hier soziale Verhältnisse in Betracht, welche ein aktives Verfahren erklärlich erscheinen lassen. Den Ge¬ brauch der Curette halte ich für fehlerhaft und zweckwidrig. 3. Die Ausführung der Ausschabung war von dem Ange- Digitized by Google 1. September 1900. Aerztliohe Saohverst&ndigen-Zeitung. 339 klagten nach den üblichen Regeln vollzogen; selbst etwaige Fehler dabei dürften dem Anfänger nicht als Fahrlässigkeit an¬ gerechnet werden, da er auf der Universität nicht Gelegenheit hat, diese und ähnliche gynäkologische Handleistungen auszu¬ führen und zu üben. Der praktische Arzt ist andererseits oft nicht in der Lage, sich gewisser Handleistungen, die er auf der Universität nicht praktisch gelernt hat, zu enthalten, da er durch die Unterlassung derselben unter Umständen Menschen¬ leben gefährden würde. Fehler, welche ihm bei dem Eingriff Vorkommen, seien im höchsten Grade bedauerlich, aber müss¬ ten als Unglücksfälle angesehen werden, sofern er sich zu dem betreffenden Eingriff für verpflichtet und berechtigt fühlte. 4. Der Angeschuldigte sei im Uebrigen das Opfer einer weit verbreiteten gewaltsamen, operationssüchtigen Richtung. Nicht er sei besonders brutal verfahren, sondern die Aus¬ kratzung sei ein zwar unter Umständen segensreiches, jedoch an und für sich rohes Verfahren. Durch Beschluss der Strafkammer wurde ich zur Abstattung eines schriftlichen Gutachtens veranlasst: I. Ob die von dem Angeklagten bewirkte Aus¬ kratzung der Gebärmutter an sich durch die Sach¬ lage indizirt war; II. ob sie sachgemäss ausgeführt ist; und im Verneinungsfalle III. ob es eine angesehene medizinische Schule giebt, nach deren Lehren das Verfahren des Ange¬ klagten an sich zu billigen ist. I. War die von dem Angeklagten bewirkte Auskratzung der Gebärmutter an sich durch die Sachlage angezeigt? Die Gefahr eiues jeden Aborts besteht in lebensgefähr¬ licher Blutung, Fäulniss der Nachgeburt, Sepsis, Wochenbettfieber. Zeigen sich diese Gefahren, so unterliegt es keinem Zweifel, dass die sofortige Ausräumung der Gebärmutter, d. h. Entfer¬ nung von Frucht und Nachgeburt angezeigt ist. Anders, wenn die Erscheinungen des Aborts nicht bedrohlich sind, und der etwaige Eingriff zur Entfernung des Eies selbst gefährlicher Natur ist; hier ist es geboten, sich abwartend zu verhalten. Da im vorliegenden Falle bedrohliche Erscheinungen nicht vor¬ handen wareu, kein Fieber bestand etc., andererseits der Muttermund noch nicht so erweitert war, dass man bequem mittelst des Fingers, der ungefährlichsten Methode, die Aus¬ räumung hätte vornehmen können, musste abgewartet werden. Auch nach meinem Dafürhalten war weder ein aktives Vor¬ gehen, noch der Gebrauch der Curette, objektiv betrachtet, angezeigt. Andererseits darf man jedoch nicht verkennen, dass bei der Behandlung von Kranken der rein medizinische und kli¬ nische Standpunkt allein nicht massgebend ist. Wer seine Kranken wegen ihrer günstigen materiellen Verhältnisse in augezeichneter Pflege, Abwartung und Obhut, oder auf der Ab¬ theilung eines Krankenhauses unter ständiger Aufsicht von Arzt und Wärterin weiss, hat von einem abwartenden Ver¬ halten keinerlei Nachtheile zu fürchten. Der praktische Arzt aber hat oft Kranke in solchen Verhältnissen zu behandeln, welche sich in Rücksicht auf mögliche Gefahren notorisch nicht die nöthige Ruhe gönnen oder gönnen können, welche trotzdem ihrer Arbeit nachgehen und so sich grossen Gefahren aussetzen. Er muss deshalb darauf bedacht sein, diesen ihm bekannten Gefahren vorzubeugen. Unter diesen Umständen, wie sie auch hier Vorlagen, ist es zu entschuldigen, wenn ein Arzt den Ablauf des Aborts zu beschleunigen und den hier so leicht eintretenden Gefahren von bedrohlicher Blutung etc. vorzubeugen sucht. In der That glaubten auch die beiden anderen Aerzte, welche die Frau N. vor dem An¬ geschuldigten gesehen hatten, an einen drohenden Abort, ja sie waren sogar der Meinung, dass die Frau an sich schon patho¬ logisch schwanger sei, insofern sie das Vorhandensein einer Blasenmole für möglich hielten. Der Angeschuldigte selbst giebt an, den Abort in einem vorgerückteren Stadium, als seine Vorgänger gefunden zu haben, da er Eihäute aus dem Muttermund hervorragen fühlte. Hierzu kam noch, dass die Kranke durch die Aussagen der beiden anderen Aerzte darüber unterrichtet war, dass sie nicht austragen würde, so dass sie selbst, durch diesen Gedanken in höchstem Grade beunruhigt, auf die Entfernung der Frucht drängte. Man kann verstehen, dass der Angeklagte bei dieser Sachlage und im Bewusstsein, dass bedrohliche Blutung oder Sepsis sich einstellen konnten, sich zum aktiven Vorgehen entschloss. Aus dem aktiven Vorgehen an sich, welches, wie ich wiederhole, nach blosser Würdigung des Befundes an den Genitalien allerdings nicht indizirt war, ist dem Angeklagten in Würdigung der Nebenumstände — abortirende blutende Frau in einer gesellschaftlichen Stellung, welche ihr Ruhe und Pflege unmöglich machte, in seelischer Verstimmung, weil sie wusste, dass sie doch nicht austragen würde — ein Vorwurf nicht zu machen. Eine andere Frage ist die, ob die Art seines aktiven Vorgehens, d. h. die vorgenommene Ausschabung eine nur durch grobe Unwissenheit zu erklärende Massnahme war. Diesen Punkt werde ich später bei der Beantwortung der Frage 3 ausführlich erörtern. Natürlich würde aber auch eine Bejahung dieser Frage noch nicht den Schluss zulassen, daBS der Angeklagte durch Fahrlässigkeit den Tod der Frau N. herbeigeführt hat Denn an sich war auch durch den nicht indizirten Gebrauch des scharfen Löffels oder der Kürette der Tod der Frau noch nicht besiegelt. Es fragt sich daher, ob der Tod der Frau N. durch eine vorschriftswidrige Ausführung der Auskratzung bewirkt worden ist, indem der Angeklagte zu der Aufmerksamkeit, welche er aus den Augen setzte, vermöge seines Berufes besonders verpflichtet war. Hierdurch komme ich zur Beantwortung der Frage II. War die Auskratzung vom Angeklagten sachgemäss ausgeführt? Diese Frage muss ich, soweit es sich um die von dem Angeklagten geübte Technik handelt, bejahen. Er hat nach¬ weislich vor der Auskratzung eine antiseptische Ausspülung der Scheide gemacht, die Instrumente gekocht, ein Spekulum eingeführt, die vordere Muttermundlippe mit einer Kugelzange angehakt, ja, man muss sogar dem Angeklagten das Zeugniss ausstellen, dAss er die Ausräumung der Nachgeburt leider nur zu vollkommen gemacht, denn wie die Obduktion ergab, waren nur unbedeutende Theile derselben zurückgeblieben. Allerdings ist, wie die Obduktion gezeigt hat, bei seinem Verfahren die hintere Uteruswand durchlöchert und hierdurch die tötliche Blutung erzeugt worden. Die nicht sachgemässe, also kunstwidrige Ausführung der Auskratzung wird nun von den Sachverständigen und der Anklage im Wesentlichen aus der Verletzung selbst erschlossen, ohne dass der Nachweis geführt wurde, daBS der Angeklagte bei der Ausführung kunst¬ widrig vorgegangen wäre. Freilich werden einige anatomische Momente angeführt, welche, ohne diesen Nachweis, an sich die fahrlässige Ausführung beweisen sollen. Als ein solches besonderes Moment, welches die höchst gewaltsame und unvor¬ sichtige Ausführung der Operation, beziehungsweise Hand¬ habung des scharfen Löffels darthun soll, wird angeführt 1. dass es nur bei grösster Ungeübtheit und Unerfahren¬ heit Vorkommen kann, bei normaler, dicker und fester Wand so lange und gewaltsam zu kratzen, bis in die iy 2 cm dicke Wandung ein langer, tötlicher Riss hineingekratzt ist. Diese Dicke von iy 2 cm Wanddurchmesser und die Digitized by Google 840 Aerztliche Saohverständigen-Zeitung. No. 17. Festigkeit wird von den Obdueenten und der Anklage wieder- holentlich als ein besonders gravirender Beweis für die Roheit der Handtirungen des Angeklagten angeführt, während es in den Gutachten der Sachverständigen durchaus entschuldigt wird, wenn es einem gynäkologischen Spezialisten passirt, an einer verdünnten und erweichten Stelle ein kleines Loch zu schaben. Und doch haben die Obduzenten und der eine Begut¬ achter übersehen, dass die Wanddicke der Gebärmutter zwar an der Leiche l 1 ^ cm betrug, dass aber in der zu der Zeit der Operation ausgedehnten, mit Nachgeburt und Frucht erfüllten Ge¬ bärmutter naturgemäss die Dicke der Wand eine erheblich ge¬ ringere war, als später, nachdem die Gebärmutter nach Ent¬ leerung ihres Inhalts (Nachgeburt nach aussen, Frucht nach innen) sich zusammengezogen hatte. Dass die Gebärmutter ihre Gestalt und damit auch ihre Wanddicke nach der Operation geändert haben muss, ist ja schon daraus ersichtlich, dass die Gebär¬ mutterhöhle bei der Obduktion eine Länge von 9 cm besass, während sie zur Zeit der Operation einen 20 cm langen foetus (natürlich in zusammengekauerter Haltung) und noch die Nach¬ geburt beherbergte. Zum exakten Nachweis der Nicht-Uebereinstimmuug des Obduktionsbefundes mit den Verhältnissen, wie sie zur Zeit der Operation thatsächlich Vorlagen, habe ich Messungen an anatomi¬ schen Präparaten vorgenommen und festgestellt, dass eine normale Gebärmutter im vierten Monat der Schwangerschaft, die nur noch die Frucht und Nachgeburt, aber kein Frucht¬ wasser mehr enthielt, also die gleichen Bedingungen darbot, wie sie der Angeklagte bei der Operation vor sich hatte, eine Wanddicke von 1 cm und eine Länge von ld 1 ^ cm an der Innenfläche gemessen, besitzt. Ausser der Dicke wird auch die besondere Festigkeit der Gebärmutterwand, wie sie bei der Obduktion gefunden wurde, als ein Moment angeführt, das die fahrlässige Ar) des Vor¬ gehens seitens des Angeklagten beweise. Auch hier haben die Sachverständigen den Leichenbefund an der zusammen¬ gezogenen Gebärmutter irrthümlich zum Beweise ihrer Be¬ hauptung verwerthet. Denn es ist bekannt, dass gerade das Gefüge einer schwangeren Gebärmutter wegen der enormen Blutfülle und lymphatischen Durchtränkung ein ganz be¬ sonders weiches ist. Aus dem Durchstossen einer schwangeren, ausgedehnten Gebärmutter an sich würde ich den Vorwurf eines besonders gewaltsamen Vorgehens nicht folgern. 2. Auch daraus, dass der Operateur nicht gewusst hat, was er unter dem scharfen Löffel hatte, was die ausgekratzte Frucht beweisen soll, wird die unBachgemässe Ausführung der Auskratzung geschlossen. Und dooh ist es wiederholentlich geübten Gynäkologen passirt, dass sie trotz energischer Aus¬ kratzung von der Anwesenheit einer Frucht in der Gebärmutter, auf der sie ja auch herumgekratzt haben mussten, keine Kennt- niss erhielten. Man kann dies aber auch bei unerweitertem Muttermund unter Umständen um so leichter übersehen, als das weiche Gewebe deB Foetus, wenn man nicht direkt auf einem blossgelegten Knochen mit der Curette herumkratzt, das gleiche weiche Gefühl für die die Curette führende Hand des Operateurs darbietet, als die weiche Gebärmutterwand oder der Mutterkuchen. Es ist daher nicht angängig, eine beson¬ dere Sorglosigkeit des Angeklagten aus der Zerkratzung der Frucht abzuleiten. 8. Die Grösse des Gebärmutterrisses ist mit 4 cm Länge und 8 cm Breite angegeben, und es wird auch die Grösse dieser Verletzung, ebenso wie der Austritt der 20 cm langen Frucht aus diesem Loch, als gleichfalls beweisend für die ge¬ waltsame Ausführung der Operation angeführt. Dagegen fehlt der Nachweis, dass nicht die ursprünglich vielleicht kleinere Oeffnung durch das Hindurchpressen des Foetus erst bis zu dieser Grösse weitergerissen ist, was ich indessen für die Be- urtheilung der Fahrlässigkeit des Angeklagten für unerheblich halte. Generell möchte ich hervorheben, dass es nicht an¬ gängig erscheint, etwa gemachte Fehler in der Diagnose und Therapie ohne Weiteres nach dem bei der Obduktion er¬ hobenen Befunde zu beurtheilen. Die Handlungsweise des An¬ geklagten darf vielmehr nur von dem klinischen Standpunkt aus beurtheilt werden, welchen der praktische Arzt dem lebenden Kranken gegenüber einnimmt So ist es zum Beispiel leicht, au dem Kadaver nachzuweisen, dass die Frucht dem vierten Monat der Schwangerschaft entsprach, während einem Arzte, der bei Lebzeiten eine Schwangerschaft von 8 oder 5 Monaten angenommen hätte, nicht der Vorwurf grober Unwissenheit gemacht werden kann. Was die Auskratzung selbst betrifft, so bemerke ich, dass dieselbe an sich schon kein zarter, sondern ein gewaltsamer Eingriff ist, zumal da, wo wie hier, es sich darum handelt, nicht bereits gelöste Partikel, sondern eine fest und innig der Uteruswand aufsitzende Nachgeburt durch Auskragung zu ent¬ fernen. Mit geburtshilflichen Eingriffen theilt auch dieser die Eigenschaft, dass er nur bei Anwendung mehr oder weniger erheblicher Gewalt zum Ziele führt. Macht doch ein be¬ kannter Autor den Anfängern gerade den Vorwurf, dass sie durch ihr schüchternes Abkratzen die ganze Methode der Aus¬ kratzung kompromittiren (Dührssen). Dass das Mass der Gewalt hier überschritten worden ist, beweist zwar nicht die Verletzung des Foetus, der dem schabenden Löffel wegen seiner Weich¬ heit keinen Widerstand entgegensetzen konnte, aber die ge¬ schehene Perforation. Indessen, für die Bemessung dieser Gewalt giebt es, ausser der Uebung, keinen Massstab. Jede Ausschabung ist fernerhin nicht nur eine gewaltsame, sondern auch eine blinde, da unser Auge nicht dahin reicht, wo wir schaben und kratzen. Es trifft also der Vorwurf der blinden Art und Weise der Auskratzung nicht den Angeklagten, sondern das Verfahren. Der Angeklagte hat nun weiter, nachdem er mit grosser Mühe die Placenta entfernt hatte, wie er nachträglich sagt, die Aus8 tossung des Foetus der Natur überlassen wollen. Auch ich muss dieses Verfahren als ein ungewöhnliches be¬ zeichnen. Nach der üblichen Vorschrift hätte er, wenn er überhaupt gewusst hat, dass noch ein Foetus im Uterus be¬ findlich sei, denselben entfernen müssen. Allein hierzu stand ihm nach seinen Kenntnissen und dem Mangel jeglicher Assistenz bei der nicht narkotisirten Frau ein ungefährliches Mittel nicht zu Gebote. Die Herausholung mittelst der Finger fürchtete der Angeklagte, da er sie nie geübt hatte und von anderen Fällen, wobei mit dem Finger der Uterus perforirt wurde, Kenntniss hatte. In der That wäre der Foetus von einem unverletzten Uterus höchstwahrscheinlich bald auf dem natürlichen Wege ausgestossen worden, um so eher, als der Angeschuldigte durch Ausstopfung der Scheide nicht bloss einer Nachblutung vorzubeugen, sondern hierdurch auch Wehen anzuregen beabsichtigte. Die geschehene Verletzung der Gebärmutter und den Aus¬ tritt des Foetus in die Leibeshöhle hat der Angeklagte nicht bemerkt. Wäre dies aber auch der Fall gewesen, so war bei der Sachlage eine Rettung der Frau kaum möglich; denn ehe die zu einer Operation nöthigen Instrumente und Assistenz zur Stelle gewesen wären, oder der Transport in ein Kranken¬ haus hätte erfolgen können, wäre die Kranke an innerer Ver¬ blutung, wie geschehen, gestorben. Dass die unterlassene Entfernung einer in die Leibeshöhle durch einen Gebärmutter¬ riss ausgetretenen Frucht ihrerseits, wenn die Patientin nicht an Verblutung gestorben wäre, gleichfalls den Tod der Frau Digitized by Google 1. September 1000. Aerztliohe Sachverständlgen-Zeitüüg. 041 zur Folge gehabt hätte, kann man wohl mit Bestimmtheit be¬ haupten. Indessen hat die Kranke die eventuelle Folge dieser Unterlassung nicht mehr erlebt, sondern ist an den unmittel¬ baren Folgen der Qebärmutterzerreissung gestorben, so dass die Frage nach der Fahrlässigkeit des Angeklagten, welche er etwa nach geschehener Perforation zu Tage gelegt habe, nicht aufgeworfen zu werden braucht. Im Uebrigen hatte derselbe von der geschehenen Perfora¬ tion keine Kenntniss. Darin aber, das* er die Durchschabtmg der Gebärmutter und den Austritt des Foetus durch die ge¬ machte Oeffnung nicht selbst bemerkte, können wir eine be¬ sondere Fahrlässigkeit oder grobe Unwissenheit nicht er¬ kennen, da ja gerade die Curette bei der Durchschabung nur um wenige Millimeter tiefer eindringt, als sie soll, und nicht etwa, wie die Sonde, mit der man gleichfalls den Uterus leicht perforiren kann, um viele Centimeter. Ich resümire: Der Angeklagte hat die Auskratzung an sich nach den üblichen Regeln vorgenommen; wenn er dabei die tödtliche Verletzung verursacht hat, so liegt der Grund zum Theil in ungenügender Uebung und Erfahrung, zum Theil in der dem Verfahren selbst wegen seiner Gewaltsamkeit inne¬ wohnenden Gefährlichkeit. III. Giebt es eine angesehene medizinische Schule, nach deren Lehren das Verfahren des Angeklagten an sich zu billigen ist? Die Behandlung der Aborte hat zu allen Zeiten geschwankt; auch jetzt sind feste Grundregeln, welche schablonenhaft auf jeden Abort anzuwenden wären, nicht aufzustellen. Die Schwierigkeiten liegen zunächst darin, dass die Behandlung je nach dem Zeitpunkt der Schwangerschaft eine verschiedene sein muss. Als Regel gilt es, dass man Aborte in den ersten drei Monaten anders behandeln kann und soll, als Aborte in späteren Monaten. Schon hier ergiebt sich für den, der sich an diese Regel hält, die Schwierigkeit, zu bestimmen, ob eine Abortirende sich im dritten bis vierten oder gar späteren Monat der Schwangerschaft befindet. Es giebt Zustände, wie z. B. Blasenmole oder Hydramnion, in welchen ein zwei- bis dreimonatliches Ei für ein vier- bis fünfmonatliches im- poniren kann, und wiederum andere Schwangerschaften, in welchen das Ei erheblich kleiner ist, als dem Alter der Frucht nach zu erwarten ist, oder in denen der Uterus nach Abgang des Fruchtwassers durch sein vermindertes Volumen einen früheren Schwangerschaftsmonat vortäuscht. Die Schwierig¬ keiten in der Diagnose werden auch von der Schule aner¬ kannt, ein festes Prinzip, welches vorschreibt, dass dieser oder jener Eingriff gerade nur von einem scharf präzisirten Zeit¬ punkt an bis zu einem genau bestimmten Termin der Schwanger¬ schaft auszuführen ist. wird nirgends gegeben. Vielmehr werden die Grenzen im Zeitpunkt, der die oder jene Massnahme er¬ heischt, innerhalb einer gewissen Breite gezogen. Niemals kann daher eine Behandlungsweise, welche z. B. für den dritten Monat empfohlen wird, im vierten Monat als voll¬ kommen fehlerhaft erscheinen und umgekehrt. Es kann meine Aufgabe hier nicht sein, die Ansichten der verschiedenen Schulen über alle Einzelheiten der Abort-Behand¬ lung zu erörtern. Hier will ich nur die Prinzipien im Allge¬ meinen in Betracht ziehen, welche bei einzelnen Schulen für die Behandlung eines Aborts von drei bis vier Monaten mass¬ gebend sind und im Besonderen soll die Rolle hervorgehoben werden, welche der scharfe Löffel und die Curette d. h. die sogenannte Auskratzung in den Lehren einzelner Schulen spielt. Im Allgemeinen muss man die Ausstossung des Eies, d. h. der Frucht und Nachgeburt, durch die Kräfte der Natur, und wenu Kunsthilfe nothwendig ist, die Entfernung desselben auf nicht instrumentellem Wege, mittelst des Fingers, für die zweok- mässigste halten. Allein in noch viel zahlreicheren Fällen, als dies bei der Geburt eines ausgetragenen Kindes nothwendig ist, ist die Kunsthilfe des Arztes bei dem Abortus erforderlich. Wenn Blutungen bedrohlicher Art, Fäulniss und Infektion von Seiten der Nachgeburt schon vorhanden sind oder befürch¬ tet werden, ist das Einschreiten des Arztes nothwendig. Bis vor etwa 22 Jahren versuchte man in solchen Fällen durch Wehenmittel (Medikamente) oder durch Tamponade der Scheide und hierdurch bewirkte Erregung von Wehen, eventuell durch Einführen eines Pressschwammes oder Laminaria-Stiftes, bei uueröffaetem Muttermund die Ausstossung des Eies zu beför¬ dern. War der Muttermund für zwei bis drei Finger durch¬ gängig, so wurde auf manuellem Wege Frucht sowie Nach¬ geburt entfernt. Wegen der damals ungenügenden Antiseptik war jedoch auch dieses Verfahren, wie sich leicht feststellen lässt, ein nicht ungefährliches. Viele Frauen erkrankten an Entzündungen, einige starben an Infektion. Eine neue Wendung in der Abortbehandlung trat ein, als mit der Einführung der Antiseptik in die Geburts¬ hilfe und Gynäkologie Instrumente in Gebrauch gezogen wurden, welche gestatteten, ohne die für die Entfernung der Stücke im Ganzen nöthige Erweiterung der Gebärmutter, den Inhalt aus deren Höhle zu entfernen. Es waren dies der Bcharfe Löffel und die Curette. So emphatisch auch angesichts der Abkürzung und der glücklichen Beendigung mancher Aborte in früheren Monaten die Anwendung des scharfen Löffels oder der Curette begrüsst wurde, so fehlte es doch nicht an Stimmen, welche vor seiner Anwendung hier und in gynäkologischer Beziehung warnten und vorschlugen, lieber Mittel anzuwenden,, welche diese blinde und gewaltsame Manipulation des Ausschabens und Auskratzens verdräagen sollten. Diese Stimmen verhallten im Ganzen frucht¬ los. Als ich im Jahre 1888 empfahl, 1 ) die Gebärmutter durch Einführung von Jodoformgaze zu erweitern, und mich gegen die Schnelldiagnostik und Scbnelltherapie mittelst des scharfen Löffels wandte, wies ich darauf hin, dass der Uterus hierbei sehr häufig durchgeschabt werde. Dem wurde jedoch von vielen Seiten widersprochen und die Gefahr des scharfen Löffels bei unerweitertem Uterus, ebenso die Thatsache, dass die Gebär¬ mutter häufig beim Auskratzen durohgekratzt wird, geleugnet. Inwieweit angesehene Autoren, zumeist Universitätspro¬ fessoren den schonenden Weg der Abortbehandlung, manuelle Ausräumung nach vorheriger Erweiterung der Gebärmutter, verwerfen und für den Gebrauch des scharfen Löffels, be¬ ziehungsweise der Curette eintreten, mögen folgende Citate erläutern, welche zum Theil aus Lehrbüchern, zum Theil aus angesehenen Fachzeitschriften, zum Theil aus Debatten in an¬ gesehenen medizinischen Gesellschaften entnommen sind. Prof. Dr. Dührßsen sagt in einer ausführlichen Arbeit „Zur Pathologie und Therapie des Abortus: 2 ) In den ersten beiden Monaten der Schwangerschaft genügt die Curette voll¬ ständig zur Entfernung des Eies. Da nun die Einführung des Fingers und das Manipuliren mit demselben im Uteruscavum viel schmerzhafter ist, als das Curettement und in manchen Fällen die Narkose erfordert, so empfehle ich für die zwei ersten Monate der Schwangerschaft, den Uterus nur mit der Curette auszuräumen. Auch bei Aborten im dritten Monat giebt es seltene Fälle, in denen man behufs Ausräumung des Uterus nur mit der Curette zu arbeiten gezwungen ist . . . Durch diese Art des Vorgehens erspare ich der ! ) Zeitschrift für Geburtsh. und Gynäkol. Band XIV. S. 680. Diskussion in der Berliner geburtshilfl. Gesellschaft *) Archiv für Gynäkologie, Band 31. pag. 173. Digitized by Google 342 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 17. Patientin und mir die Unbequemlichkeit einer langwierigen und nicht ungefährlichen Dilatation des Cervikalkaüals. In seinem sehr weit verbreiteten »Geburtshilfliches Vade- mecum für Studirende und Aerzte“, welches bei der mangel¬ haften Ausbildung der Studirenden auf der Universität der einzige Räthgeber für eine grosse Anzahl von Aerzten ist, und auch dem Angeklagten als Leitfaden diente, sagt Professor Dr. Dührssen: (S70.) Wenn der drohende Abort nicht mehr auf¬ zuhalten ist, hat man für eine völlige Ausstossung säinmtlicher E!itheile zu sorgen. Nach Beschreibung der Scheidentamponade fahrt er fort: »Rationeller ist daher in diesen Fällen die Aus¬ räumung des Uteruscavum, welche bei antiseptischem Vorgehen, Desinfektion der Hände und Instrumente, präliminare Scheiden- und Uterusausspülung absolut gefahrlosist. Die Ausräumung darf im Allgemeinen nur bis zur Mitte des dritten Monats mit derCurette allein geschehen: in späterer Zeit nur dann, wenn der Eisack im Cervikalkanal liegt und nur noch mit dem unteren Theil der Decidua vera am Uterus adhärirt. (Ceivikalabort.) Der Gebrauch derCurette allein erspart das Eingehen mit dem Finger, ist also lange nicht öo schmerzhaft, und macht die Narkose überflüssig.“ Ein anderer, als Fachmann bekannter, ausländischer Gynä¬ kologe berichtet in seinen »Beiträgen zur Abortbehandlung“, 1 ) dass er in den ersten sechs Wochen der Schwangerschaft exspektativ verfährt. »War Temperaturerhöhung vorhanden oder hatte die Schwangerschaft über sechs Wochen gedauert, so haben wir sofort die Entfernung der Nachgeburt oder der zurückgebliebenen Eihäute vorgenommen. Wenn der Mutter¬ mund für zwei Finger zugänglich war, so entfernten wir die¬ selben mit den Fingern. Liess der Muttermund nur die Curette durch, dann haben wir nach gründlicher Ausspülung der Scheide ohne Speculis den Uterus ausgekratzt. Die Auskratzungen nahmen wir in der Weise vor, dass wir dort anfingen, wo sich am leichtesten abkratzen liesB, und langsam nach rechts oder links weitergingen; sobald wir dorthin gekommen, wo sich an scheinend die Curette verwickelt oder leicht abglitt, kratzten wir an den Rändern dieser Stelle, d. h. rechts und links und oben. In dieser Weise ist es uns immer gelungen, alles zu entfernen, was nothwendig war. Niemals haben wir irgend einen Nachtheil dabei beobachtet. Wir empfahlen stets, nur die scharfe Curette zu gebrauchen, weil unserer Erfahrung ge¬ mäss sie allein sicher alle Eihäute- und Placeutareste entfernt.“ Ein ebenso energisches Vorgehen räth Harris in seinem Aufsatz: »Abort in einer Stunde“. 2 ) Derselbe vertritt ein mög¬ lichst aktives Verfahren der Abortbehandlung und will dahin streben, dass der Arzt, ausgerüstet mit Durchschnittsgeschick¬ lichkeit, gleich bei dem ersten Besuch einen Abort zu beenden im Stande ist. (Ja, wenn der Muttermund dilatirt, oder wenig¬ stens dilatirbar sei, also in der Mehrzahl, bedürfe man zu seiner Beendigung nur eine Stunde. Er räth, das Ei mit Hilfe von Uhrfederschlingen herauszuholen, die gleichzeitig, wenn sie allseitig gedreht werden, als Curette wirken. Selbstver¬ ständlich ist die strengste Antisepsis geboten.“) Noch weiter geht ein französischer Autor, Dr. Pucet, 3 ) indem er die von dem Angeklagten eingeschlagene Therapie direkt zur Methode erhebt und vorschlägt, zum Zwecke eines künstlichen Aborts, also noch ehe der Uterus durch irgend welche Wehenthätigkeit eine Erweiterbarkeit vorbereitet hat, die schwangere Gebärmutter auszukratzen. Er räth in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft sich der Auskratzung zu bedienen, welche ein wirksames und gefahrloses Mittel sei, J ) Jer. Grigoriantz. Centralblatt f. Gynäkologie. 1891. No. 43. *) Central bl att für Gynäkologie 1893 No. 14. 3 ) Annal de gyn. et d’obstetr. Aoüt 1895. um den Uterus seines Inhalts zu entleeren, und rühmt an seiner Methode die Schnelligkeit des Verfahrens und die Blut- ersparniss, welche für die Patientin daraus resultirt. Prof. Dr. Martin erwähnt in einer Diskussion, 1 ) betreffend die Perforation des Uterus durch Kornzange, ausdrücklich als Vortheil der Roux’schen Curette, welche nach fast überein¬ stimmendem Urtheil anderer Gynäkologen, und meines Er¬ achtens mit Recht, für das gefährlichste aller Auskratzungs- Instrumente gilt, das gerade in solchen Fällen, wo der Uterus erst dilatirt werden müsste, dieses Instrument für die Aus¬ schabung ohne Erweiterung ganz besondere Vortheile darbiete. Wie wenig M. den Gebrauch von unbiegsamen Instrumenten bei der Abortbehandlung widerräth, beweist sein lebhaftes Ein¬ treten für den Gebrauch der Kornzange nach Loslösung der Nachgeburt mittelst des Löffels. In derselben Diskussion wurde von einem Vortragenden ein Fall von Perforation des Uterus mit Vorfall des Darmes und Einklemmung desselben nach Curettement erwähnt. Vier andere Redner theilten so¬ fort je einen gleichen Fall mit. Und während diese fünf Un¬ glücksfälle im Anschluss an Auskratzung im Wesentlichen nur dem Gebrauch der Kornzange zugeschrieben wurden, miss¬ billigte Niemand die Ausschabung als solche: nur von Einzel¬ nen wurde der Gebrauch gerade des Roux'sehen Löffels ge¬ tadelt. Ueberhaupt werden fast von allen Seiten die Gefahren des scharfen Löffels und insbesondere die Gefahr einer Per¬ foration unterschätzt, sodass Anfänger, welche nach den Vor¬ schriften ihrer Lehrer die Curettage in Anwendung ziehen, zur Ueberzeugung kommen müssen, dass auch eine Perforation nicht viel auf sich habe und somit der Löffel, beziehungs¬ weise die Curette ein völlig unschädliches Instrument sei. So sagt Prof. Dr. Martin in seinem Lehrbuch 2 ): »Dass gelegentlich mit der Curette auch Schaden angerichtet werden kann, ist nicht in Abrede zu stellen. Die in der puerperalen Umbildung begriffene Uteruswand ist besonders nach andauern¬ den Blutungen gelegentlich so weich, dass auch dem vorsich¬ tigsten Operateur eine Durchschabung oder Durchbohrung der Wand nicht erspart bleibt. Sobald diese Komplikation erkannt (aber wie?) und von jeder weiteren Schabung Abstand ge¬ nommen wird, ist daraus wohl noch nie eine Beschädigung der Frau hervorgegangen. Wenn aber weiter gearbeitet wird, die Zerstörung der Wand des Uterus durch Verletzung der Därme und Liquor ferri Einspritzung in die Bauchhöhle kom- plizirt wird, dann kommt es allerdings zu sehr bedenklichen Folgen: wer will diese aber der Methode der Ausschabung zu Lasten schreiben?“ In seinem schon früher citirten Vademecum sagt Prof. Dr. Dührssen ferner bei der Schilderung der Technik der Auskratzung (S. 70): »Hierbei muss natürlich die Curette gegen die Uteruswand in gewissem Masse angedrückt werden. Nach abwärts darf man kräftig schaben, nach oben muss die Curette sanft zurückgeführt werden. Uebrigens schadet eine mit einem aseptischen Instrument ausgeführte Perforation des Uterus nichts, falls man nicht hinterher Liquor ferri oder ein anderes Aetzmittel injicirt und falls keine infektiösen Keime im Uterus vorhanden waren.“ In einer Debatte über intrauterine Behandlung sagt Geh. Mediz.-Rath Prof. Dr. Olshausen 3 ): »Wir wissen schon lange, dass auch ohne jede Kraftanstrengung unter Umständen der Uterus mit der Sonde durohbohrt werden kann. Soll dies mit l ) Zeitschr. f. Geburtsh. und Gynäkol. Band 30 S. 302. s ) Pathologie und Therapie der Frauenkrankheiten 1893 S. 29. 8 ) Verhandl. der Berlin. Geseich, für Geburtsh. und Gynäkol. 1894 II p. 224. Digitized by LjOOQLe 1. September 1900. Aerztliohe Sachverständigen“Zeitung. 343 der Curette geschehen, so setzt dies freilich schon mehr Un¬ geschick oder unzartes Manipuliren voraus. Immerhin ist es nicht als unmöglich zu bezeichnen, dass auch einem geübten Operateur dies in einem besonders schwierigen Fall einmal passiren kann. Glücklicherweise hat die Perforation mit der Sonde und selbst diejenige mit der immerhin breiteren Curette fast nie schlimme Folgen, wenn die Läsion sogleich wahrge¬ nommen wird (wodurch?), wenn man nur jede Fortsetzung der Be¬ handlung unterlässt und für einige Tage Bettruhe der Kranken sorgt. Wir sehen solche Fälle bisweilen, da die in den gynä¬ kologischen Kursen von noch Ungeübten ausgeführten Aus¬ schabungen uns dieselben öfter zuführen. Aber die Läsion geht regelmässig ohne weiteren Unfall vorüber. “ Bei derselben Debatte bemerkte Herr Prof. Dr. D ührssen 1 ) im Gegensatz: Es hat sich eine gewisse Missstimmung gegen das Curettement geltend gemacht, und es ist ja richtig, dass durch das Curettement recht viel Schaden angerichtet wird. .Als eine solche Ursache möchte ich zunächst das un¬ vollständige Curettement betrachten.Ferner sieht man, wenn man Studirende und Aerzte in der Technik des Curette- ments zu unterrichten hat, dass dasselbe viel zu zaghaft aus¬ geführt wird, dass aus Angst vor Perforation die Curette gar nicht an die Uterus wand angedrückt wird.Ferner be¬ merkt derselbe: „Was die Perforation beim Curettement anbe¬ langt, so möchte ich noch einmal hervorheben, dass die Per¬ foration an sich kein Kunstfehler ist. Es giebt solche Uteri, besonders puerperale, wo längere Blutungen dagewesen sind, wo die Curette wie durch Butter hindurchgeht. Man muss eben nur die Perforation erkennen (aber wie?) und wenn man aseptisch vorgegangen ist, so schadet sie auch nichts.“ Dieselbe Ansicht über das Curettement, speziell über die Perforation, spricht auch Herr Prof. Dr. Veit 2 ) aus; er sagt: Die Gefahr bei dem Gebrauch der Kornzange besteht darin, dass man bei unbemerkter Perforation nothwendiger Weise den Darm fassen muss. Während die Perforation mit den anderen Instrumenten (Sonde, Curette, Löffel) nur bei Infek¬ tion oder nachfolgender Injektion differenter Flüssigkeit ver¬ derblich werden dürfte. Aehnlich äussert sich Herr Prof. Dr. Martin über die Perforation des Uterus 3 ): Selbst wenn, was ihm selbst und seinen Gehilfen unter Tausenden von Auskratzungen 3 mal begegnet ist, der puerperale Uterus unter leisestem Druck mit Sonde oder Curette perforirt war, und nun bei dem vor¬ sichtigen Tasten eine durch die lädirte Uteruswand herunter¬ gedrängte Darmschlinge gefasst worden war, wurde diese Komplikation unmittelbar erkannt, und die Gefahr durch das Oefifnen der Kornzange beseitigt. Der nicht lädirte Darm glitt zurück; seine Patientinnen genasen. Ich könnte die Zahl der Belege auB neuerer und neuester Zeit noch durch viele Stellen aus Aufsätzen, Diskussionen und Lehrbüchern vermehren, allein schon die angeführten Stellen dürften genügen, um zu zeigen, dass es eine Reihe autori¬ tativer Stimmen giebt, welche eine aktive Behandlung der Aborte und speziell das Curettement dabei sehr lebhaft em¬ pfehlen, und selbst den ungeahntesten Unglücksfall dabei, die Perforation, für unschädlich erklären. Nicht mit einem ein¬ zigen Wort findet man die Gefahr hervorgehoben, welche, allerdings nicht häufig, nach Perforation des Uterus droht und die im vorliegenden Fall einer Frau das Leben gekostet hat: die Verblutung aus dem Gebärmutterriss. Immer und immer wird hervorgehoben, die Perforation ! ) Ibidem I. S. 2*23. 2 ) Zeitschr. für Geburtsh. und Gynäkol., Band. 30, S. 299. 3 ) Zeitschr. für Geburtsh. und Gynäkol., Band 30, S. 302. schadet nichts, wenn man sie bemerkt und aseptisch vorge¬ gangen ist. Man muss jedoch betonen, dass ob leider kein Zeichen giebt, an dem der Operateur in jedem Fall bemerken kann, dass er die Gebärmutterwandung mit der Curette durch¬ bohrt hat. Mit der Sonde ist dies einfach: hierbei dringt das eingeführte Instrument, wenn es eine Perforation bewirkt hat, nur ein grosses Stück nach oben vor und man fühlt eventuell den Sondenknopf dicht unter den Bauchdecken; mit der Cu¬ rette werden jedoch nur kleine Exkursionen in der Richtung von oben nach unten vorgenommen und bei dem jedesmaligen Wiederhinaufführen braucht das Instrument durchaus nicht den Weg durch die Perforationsöffnung nach der Leibeshöhle einschlagen, sondern kann ebenso leicht an der verletzten Stelle vorbeigeführt werden. Unter solchen Umständen bietet sich dem Operateur gar kein sicheres Anzeichen der ge¬ schehenen Verletzung. Aber selbst wenn das Instrument durch die Oeffnung in der Gebärmutterwandung hindurch an andere Organe gelangt, so wird nur ein sehr geübter Arzt und vielleicht auch dieser nicht in jedem Falle den falschen Weg bemerken. Den besten Beweis für diese Behauptung liefern ja die oben in der Diskussion der gynäkologischen Gesellschaft in Berlin angeführten Bemerkungen des Herrn Prof. Dr. Martin, der selbst mit seinen Assistenten 3 mal die geschehene Perforation an dem mittelst der Kornzange hervorgezerrten Darm erkannte. Gäbe es für alle Fälle ein sicheres Zeiohen, um die ge¬ schehene Perforation zu erkennen, so hätte eB für die ge¬ nannten Fachmänner nicht erst des Erfassens, HerabziehenB und Ansehens der erfassten Darmschlingen bedurft, um ihnen die geschehene Perforation zum Bewusstsein zu bringen. Das¬ selbe Ereigniss ist übrigens auch anderen sehr geübten Ope¬ rateuren zugeBtossen. Entsprechend den theoretischen Empfehlungen der Autoren wird von der Ausschabung mittelst Curette uud scharfen Löffels in der Praxis der ausgedehnteste Gebrauch gemacht, nicht bloss von den praktischen Aerzten, sondern auch von vielen Fachleuten. Man sehe nur, wie in den verschiedenen gynäko¬ logischen, staatlichen und privaten Polikliniken die Ausschabung, man möchte sagen, bei fast jedem sich darbietenden Falle und dazu ambulatorisch gehandhabt wird. Sehen dies Studenten und Aerzte, so muss sich ihnen nothwendiger Weise der Ge¬ danke aufdrängen, dass die Auskratzung zu den nützlichsten und harmlosesten Eingriffen gehört. Dazu kommt aber, dass den Studirenden selbst in der Regel die Gelegenheit vollständig fehlt, die Technik des Auskratzens zu erlernen, geschweige denn zu üben. Aus den obigen Anführungen geht hervor, daBS es ange¬ sehene medizinische Schulen giebt, die einer sehr aktiven Behandlung des Aborts das Wort reden und nach deren Lehren das Verfahren des Angeklagten zu billigen wäre, wenn die Frau N. sich im dritten Monat der Schwangerschaft be¬ funden hätte. Wie aber aus der Obduktion ersichtlich, befand sich die Frau im vierten Monat und so hat der Angeklagte bei seinem Vorgehen zeitlich die von der Schule gezogene Grenze überschritten. Aber eine Btreng sachliche Differenz zwischen den Empfehlungen des Auskratzens im dritten und im vierten Monat der Schwangerschaft ist nicht vorhanden, denn der Grund für die Vorschrift, dass die Auskratzung nur bis zum dritten Monat vorgenommen werden soll, ist in der Annahme gelegen, dass die eigentliche Nachgeburt sich erst im dritten Monat der Schwangerschaft bildet. Es ist jedoch gegen diese Vorschrift, welche die Indikation des Operations¬ verfahrens von dem Zeitpunkt der Schwangerschaft abhängig macht, eiuzuwenden, dass einmal die Zeitdauer derselben nicht immer scharf zu bestimmen ist, — Irrthümern über drei bis vier Wochen ist auch der Geübteste ausgesetzt. — dann ist Digitized by Google 844 Aerztliohe Saohverständigen-Zeitung. No. 17. die Placenta selbst unter Umständen schon nach acht Wochen fertig gebildet und endlich besteht durchaus kein Zusammen¬ hang zwischen der Zeitdauer der Schwangerschaft überhaupt und der Gefahr einer Gebärmutterverletzung durch das Aus¬ kratzen. Meines Erachtens ist das Auskratzen einer schwan¬ geren Gebärmutter ohne vorherige Erweiterung gleichmässig gefährlich, ob sie sich im dritten oder vierten Monat der Schwangerschaft befindet Ich würde daher dem Angeklagten wegen des zeitlichen Ueberschreitens der von angesehenen Schulen aufgesteliten Indikation den Vorwurf der Fahrlässig¬ keit nicht machen. Nach alledem gebe ich mein Gutachten dahin ab: 1. Die Anwendung der Curette war objektiv in dem vor¬ liegenden Falle nicht angezeigt. Nach Lage der Sache aber konnte der kritiklose, unerfahrene, in verba magistri schwörende Angeklagte die Anwendung derselben für angezeigt und unge¬ fährlich halten. 2. Die Ausführung der Operation an sich war eine sach- gemässe. In dem blinden und gewaltsamen Verfahren der Aus¬ kratzung einerseits, in der Weichheit und Lockerheit der schwangeren Gebärmutterwandung andererseits ist es begründet, dass dieser bedauerliche Unglücksfall sich ereignet hat. Der angeklagte Arzt wnrde freigesprochen. Lebensversicherung und Ohr. Einige Bemerkungen zu dem unter gleichem Titel in No. 12 dieser Zeitung von Dr. Felix Peltesohn veröffentlichten Artikel. Von Dr. GeHmer, Ant der Lebeneyersicheranssbank in Gotha, Peltesohn hat sich auf Grund der im letzten Dezennium in der Ohrenheilkunde namentlich nach der therapeutischen Seite zu verzeichnenden grossen Fortschritte veranlasst ge¬ sehen, im Interesse sowohl der Versicherungskandidaten, als auch der Lebensversicherungsanstalten neue Grundsätze für die Beurtheilung der Ohrenaffektionen, insbesondere der chronischen Mittelohreiterung zu fixieren. Er verlangt, kurz gesagt, vor allem, dass mit letzterer behaftete Antragsteller in Zukunft nicht mehr definitiv abgewiesen werden, sondern von den einzelnen Anstalten die Anweisung erhalten sollen, sich unverzüglich in spezialistische Behandlung zu begeben, um dann je nach deren Erfolge vielleicht schon nach Ablauf eines Jahres und je nachdem, ob die gleichzeitige Trommel¬ fellperforation mit zum Verschluss gekommen ist oder nicht, ohne bezw. mit erhöhter Prämie anstandslos Aufnahme fiuden zu können. P. schliesst seinen Artikel mit der Hoffnung, dass die Versicherungsgesellschaften, ihre Vertrauensärzte und die zu versichernden Personen sich die neuen Grundsätze zu eigen machen und danach handeln werden. Dieser Appell ist, soweit er an die Vertrauensärzte ge¬ richtet ist, insofern völlig zwecklos, als diese bei keiner Ver¬ sicherungsanstalt mit der eigentlichen Begutachtung von Antragstellern auf ihre Versicherungsfähigkeit etwas zu thun, sondern ausschliesslich den Gesundbeitsstatus zu ermitteln haben, — eine Funktion, für die in Peltesohn’s Augen die meisten von ihnen überhaupt unqualifiziert sind, und der selbst die im Untersuchen geübteren nicht einmal soweit gewachsen sein sollen, um im gegebenen Falle unterscheiden zu können, ob im Gehörgange vorhandene flüssige Massen von schlechtem Geruch das Produkt einer chronischen Mittelohreiterung seien oder nur von einer durch Einwirkung äusserer Schädlichkeiten bedingten Beizung und Entzündung der Gehörgangshaut her¬ rühren. Der Peltesohn’sche Appell geht daher, soweit die Partei der Versicherer dabei in Betracht kommt, nur die Lebensversioherungsgesellschaften oder, richtiger gesagt, die am Sitze jeder einzelnen als medizinische Berather fungirenden Bank- bezw. Gesellschaftsärzte an und bedeutet für diese nicht mehr und nicht weniger als einen indirekten Vorwurf der Rückständigkeit auf dem Gebiete der Ohrenheilkunde. Ein derartiger Vorwurf ist jedoch, soweit er gegen die Lebens¬ versicherungsgesellschaften im Allgemeinen gerichtet ist, nichts weniger als berechtigt. Was die Gothaer Lebensversicherungsbank anlangt, so hat dieselbe nach Ausweis der Akten schon im Januar 1869 von dem bekannten Würzburger Otologen v. Troeltsch ein Gut¬ achten über die Beurtheilung der chronischen Mittelohreiterung eingeholt Dieses Gutachten ist als solches zwar nicht mehr vorhanden, wird aber in einem Briefe erwähnt, welcher von demselben Autor kurz darauf an die Bankverwaltung auf deren Anfrage in Betreff eines ganz speziellen Falles gerichtet wurde. Was darin allgemein interessirt, ist vor allem v. Troeltsch’s Warnung vor der so verbreiteten Anschauung, „nur von der Karies des Felsenbeins, nicht aber schon von der einfachen Otorrhoe oder eitrigen Entzündung der Weichtheile des Ohres Schlimmes zu fürchten. 0 Bemerkenswerth sind darin aber auch seine Bedenken, es möchten sehr viele Laien und selbst Aerzte bei der bisherigen Frage im Formulare für vertrauens¬ ärztliche Zeugnisse: „Wie sind die Sinnesorgane beschaffen? 0 nicht daran denken, dass hier eine Ohreiterung eine besondere Erwähnung verdiene, und schliesslich sein nochmaliger Hin¬ weis, die Frage nach dem Zustande des Ohres in der früher von ihm schon empfohlenen Weise zu präzisiren. Wie in der Folge bei Behandlung der Ohrenfälle den Direktiven v. Troeltsch’s Rechnung getragen wurde, lässt sich nicht so ohne Weiteres eruiren. Es würde dazu erst einer um¬ ständlichen und zeitraubenden Durchmusterung aller in jene Zeit fallenden nach vielen Tausenden zählenden Anträge be¬ dürfen. Dass aber nach dieser Richtung noch ganz besondere Hindernisse obgewaltet haben müssen, geht schon daraus her¬ vor, dass die bis dahin allgemein gefasste Frage nach der Beschaffenheit der Sinnesorgane bis zum Jahre 1886 unver¬ ändert fortbestand. Zur Aenderung des bisherigen Verfahrens bedurfte es erst eines besonderen Anlasses, und dieser wurde durch 2 Sterbefälle gegeben, die Ende 1885 kurz hintereinander bei der Gothaer Bank zur Anmeldung kamen, und in denen chronische Mittelohrentzündung mit ihren Folgen nach drei- bezw. fünfmonatlicher Versicherung die Todesursache war. Beide Male war das genannte Obrenleiden von den zuständigen Vertrauensärzten bei der Aufnahme theils ganz übersehen, theils als vollständig abgelaufen bezeichnet worden. Auf An¬ regung des Verfassers wurde jetzt allen Vertrauensärzten, die sich mit den speziell auf das Ohr bezüglichen Untersuchungs- methoden nicht genügend vertraut fühlten, aufgegeben, fort¬ an in jedem nicht ganz klaren Falle von Mittelohrkatarrh eine spezialärztliche Untersuchung zu veranlassen, und wo diese unterblieb, wurde sie bankärztlicherseits nachgefordert. Gleichzeitig erfuhr bei der nächsten Neuauflage der genannten Formulare noch in demselben Jahre die bisherige Frage: „Wie sind die Sinnesorgane beschaffen? 0 den Zusatz: „Iusbesondere: Ist oder war Ohrenfluss, ist eine Trommelfelllücke vorhanden? 0 Und um daB bankärztliche Interesse an einer sorgfältigen Er¬ mittlung des Ohrenbefundes noch mehr zu bekunden, wurden schliesslich 1894 zwei besondere Unterfragen, wie sie noch heute bestehen, formulirt: a) „Ist Ohrenfluss, ist eine Trommel¬ felllücke vorhanden? 0 und b) „Hat jemals Ohrenfluss bestanden und wann? 0 Nach diesen geschichtlichen Daten ist also bei der Gothaer Bank seit 1886 gegenüber der Mittelohreiterung ein Auslese- Digitized by Google 1. September 1000. Aerztliche Sachverständig en-2eitung. verfahren üblich, das sich bisher nicht am wenigsten auch für die Antragsteller durchaus bewährt hat. So wurden beispiels¬ weise in den letzten vier Jahren 1896—1899 unter ca. 26000 Versicherungskandidaten 820 ermittelt, bei denen früher Mittelohrkatarrh bestanden hatte und nachgewiesenermassen bis auf eine persistente vorwiegend einseitige Trommelfell¬ perforation in 121 Fällen geheilt worden war. Sie wurden alle je nach der Lage des einzelnen Falles unter den ge¬ wöhnlichen oder unter erschwerenden Bedingungen Ohne weiteres versichert. 114 Antragsteller aber, die zur Zeit der Untersuchung mit Otorrhoe behaftet gefunden wurden oder den Verdacht erweckten, dass eine solche noch nicht genügend lange geheilt sei, wurden abgewiesen. Und was die Otorrhoe als Todesursache unter den Versicherten anlangt, so ist dieselbe im Laufe der Jahre so selten zur Beobachtung gekommen, dass es sich garnicht lohnen würde, davon besondere Notiz zu nehmen. Und wie die Gothaer Bank, so verfahren vermuthlich schon längst auch alle anderen Lebensversicherungsanstalten gegenüber der Mittelohreiterung, ja sie können diese gar nicht anders bewerthen, um bei dem grade auf dem Gebiete der Lebensversicherung sich immer schwieriger gestaltenden Kampfe ums Dasein überhaupt konkurrenzfähig zu bleiben. Und dass auch schon bei anderen Anstalten das Interesse für die Ohrenkrankheiten, wie bei „Gotha“ frühzeitig rege gewesen ist, beweist beispielsweise die im Jahre 1880 er¬ schienene, von der „Viktoria“ angeregte und von Professor Trautmann verfasste kleine Broschüre „über die Bedeutung vorhandener oder überstandener Ohrenleiden gegenüber Lebensversicherungsgesellschaften.“*) Sie sollte für Ver¬ trauensärzte eine Instruktion bei der Untersuchung des Ohres sein und kann auch heute noch trotz der seitdem vergangenen 20 Jahre zu diesem Zwecke als vollkommen mustergültig an¬ gesehen werden. Bedeuten nun die von Peltesohn empfohlenen neuen Grund¬ sätze speziell in Bezug auf die Beurtheilung der chronischen Mittelohreiterung etwas Anderes, als was bisher in der Lebens¬ versicherungspraxis schon längst gäng und gäbe war? Nicht im Mindesten. Auch Peltesohn will alle mit Otorrhoe behaf¬ teten Antragsteller abgewieBen wissen. Wenn das aber nur auf Zeit (bis zur endgiltigen Heilung) geschehen und den ein¬ zelnen Versicherungsanstalten dabei die Rolle zufallen soll, die betreffenden Antragsteller zu einer möglichst bald einzu¬ leitenden spezialärztlichen Behandlung anzuhalten, so beweist diese Forderung vollends, dass Peltesohn in das Getriebe bei der Lebensversicherung nicht genügend eingeweiht ist. Er berücksichtigt nicht genug, dass die Personen, die sich mit einem durchaus heilbaren Leiden, wie die chronische Mittel¬ ohreiterung, bis ins Mannesalter herumschleppen, allermeist messerscheu oder indolent sind, lieber erst bei einer Anstalt nach der anderen eventuell mittelst falscher Deklaration ihr Heil versuchen und sich die Chancen, versichert zu werden, vollends verscherzen, als sich der erforderlichen ärztlichen Behandlung zu unterziehen. Vor Allem aber hat Peltesohn dabei ganz ausser Acht gelassen, dass nach den Beschlüssen des deutschen Aerztetages von 1894 weder den Vertrauens¬ ärzten, noch den Lebensversicherungsanstalten das Recht zu¬ stehen soll, Antragsteller selbst von Krankheitszuständen, die der Heilung zugänglich Bind und darum eventuell nur vorüber¬ gehend zur Lebensversicherung untauglich machen, in Kennt- niss zu setzen. Jedenfalls können also die Lebensversiche- rungsanstalten prinzipiell nicht berufen sein, jeden mit Mittel¬ ohrkatarrh behafteten Antragsteller darauf hinzuweisen, dass die Versicherung von der Heilung dieses Katarrhs abhängig sei. *) Berlin 1880. Druck von Ernst Siegfried Mittler und Sohn. 846 Will Peltesohn sein Interesse an dem materiellen Wohle der Ohrenkranken in die That umsetzen, bleibt meines Er¬ achtens kein anderer Ausweg, als auf das grosse Laienpubli¬ kum direkt einzuwirken und die Kenntniss nicht nur von den leiblichen Gefahren der Mittelohreiterung, sondern auch von ihren eventuell unliebsamen Folgen auf die Betätigung der Fürsorge für die Familie, wie es die Lebensversicherung ist, zu verbreiten zu suchen. Sollte es auf diese Weise ge¬ lingen, die Zahl derer, die alljährlich wegen Mittelohrkatarrhs abgewiesen werden müssen, zu mindern, so wäre das ein Er¬ folg, mit dem zufrieden zu sein die einzelnen Lebensversiche¬ rungsanstalten nicht in letzter Linie alle Ursache haben würden. Hierzu bemerkt Herr Dr. Felix Peltesohn Folgendes: Der obige Artikel erweckt den Anschein, als wenn ich gegen die bei einer Lebensversicherungsgesellschaft als medi¬ zinische Berater angestellten Aerzte irgend welche Vorwürfe erhoben hätte. In meinem Artikel findet sich jedoch nur der Ausdruck „Vertrauensarzt“, und so heissen alle diejenigen vielen Aerzte, die einen Antragsteller auf seine Aufnahmefähigkeit zu untersuchen und ihren Befund in die vorgeschriebenen Frage¬ bogen einzutragen haben. Von diesen war allein die Rede. Davon, dass diese Vertrauensärzte, zu denen in Berlin viele meiner Freunde zählen „zur Ermittelung des Gesundheitsstatus überhaupt unqualifizirt“ sind, steht in meinem Artikel über¬ haupt Nichts drin. Dass „die meisten Aerzte, also auch die Vertrauensärzte, gar nicht im Stande sind, sich ein Urtheil über den wahren Zustand des Gehörorgans eines Antragstellers durch eigene An¬ schauung und Prüfung zu verschaffen“, halte ich auch noch heute aufrecht und weise mich in dieser Anschauung mit an¬ deren Ohrenärzten einig. Ich, erinnere nur an den von mir angezogenen Artikel Koerners in der Zeitschrift für Ohren¬ heilkunde. Der Herr Verfasser scheint entrüstet zu sein, dass ich den Vertrauensärzten nicht einmal ein sicheres Urtheil darüber zu¬ traue, ob z. B. im Gehörgange vorhandene flüssige Massen von schlechtem Geruch aus dem Mittelohr stammen und das Pro¬ dukt einer chronischen Eiterung sind oder ob sie nur von der Rei¬ zung und Entzündung der Gehörgangshaut herrühren, die vielleicht dem Eindringen von schmutzigem Badewasser, dem Eingiessen von ranzigem Oel und dem zufälligen Vorhandensein von Pilzen ihr Dasein verdankt. Ich versichere aber den Herrn Verfasser, dass diese Unterscheidung sehr schwierig werden kann, wenn es sich z. B. um eine Eiterung im Kuppelraume handelt mit einer ganz kleinen Fistel am oberen Pol. Für den Fall, dass sich der Herr Verfasser sicher genug fühlt, diesen Unterschied in jedem Falle genau zu beurtheilen, so bemerke ich meiner¬ seits, dass man, um zu einer Sicherheit des Urtheils bei Ohrenkrankheiten zu kommen, nicht nur gelegentlich, son¬ dern täglich Ohren untersuchen muss. Herr Dr. G. glaubt, dass ich „in das Getriebe bei der Lebensversicherung nicht genügend eingeweiht“ bin. Ich habe mir jedoch eine ausreichende Kenntniss dieses Getriebes er¬ worben in früheren Jahreu, wo ich als einziger Arzt in einer kleinen Stadt für die verschiedensten Lebensversicherungs¬ gesellschaften Untersuchungen gemacht habe und in späteren Jahren als Ohrenarzt, wenn ich zu Obergutaohten herangezogen wurde. Diese letztere Thatsache führt mich zu den Bemer¬ kungen des Herrn Verf. über, dass die Gesellschaften und ihre Aerzte weder berechtigt noch berufen seien, Aufklärungen über den Abweisungsgrund zu geben oder Rathsohläge zu ertheüen, wie man durch Heilung von Schäden aufnahmefähig gemacht Digitized by Google 846 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 17. werden könne. Diese Bemerkung verräth eine Härte in der Auffassung von dem Wesen der Lebensversicherungsgesell¬ schaften, wie sie in Wirklichkeit gar nicht existirt. Die Lebens¬ versicherungsbanken sind nicht blos Geldinstitute, die möglichst hohe Dividenden herauszuschlagen bemüht sind, sondern haben eine grosse soziale Aufgabe zu erfüllen und in diesem Sinne auch stets gewirkt. Die Gellschaften finden, wenn sie wollen, immer eine legale Gelegenheit Rathschläge in meinem Sinne zu ertheilen, und ich habe selbst mehrfach Gelegenheit gehabt zeitlich abgewiesene und zur Heilung ihrer Obrenkrankheit an¬ gehaltene Antragsteller zu behandeln. Daher rührt auch meine Kenntniss der einschlägigen Materie und daraus gewann ich die Anregung zu meinem Artikel. Herr Dr. G. bemüht sich unnöthigerweise zu beweisen, dass seine Lebensversicherungsbank und „vermuthHch“ auch andere den Erkrankungen des Gehörorgans grosse Aufmerk¬ samkeit geschenkt hat. Ich habe ja gar nicht das Gegentheil behauptet. Das Vorhandensein eineB Gutachtens von dem grossen Ohrenarzte v.Tröltsch und eine vor zwanzig Jahren erschienene Broschüre Trautmanns beweisen gar NichtB für den Verfasser, sondern zeigen nur, dass mein Artikel am Platze war. Wenn Herr Dr. G. meinen durchaus anspruchslosen Artikel noch einmal seine ira et Studio lesen will, so wird er bei gutem Willen doch einiges Neue und für die Lebensversicherung Werthvolle finden. Ich erinnere namentlich nur an die ganz flüchtig zum Schluss gemachte Bemerkung über die Vorsicht, deren sich Lebensversicherungsgesellschaften bei akuten Ohren¬ entzündungen zu bedienen haben werden: Die Thatsache, dass Monate nach vollkommener Restitution des Gehörs, Wiederkehr aller Kontouren des Trommelfells und absoluter Schmerzfrei¬ heit namentlich nach der Invasion von Pneumokokken noch Abscesse im Warzenfortsatze und an der Öura Mater Vorkommen können, ist so neu und überraschend, dass sie sicher weder im Gutachten von Tröltsch noch in der Broschüre Traut¬ mann Vorkommen dürften. Ich betrachte hiermit die vorliegende Angelegenheit als beendigt und werde mich nicht mehr dazu äussern. Referate. Allgemeines. Kasuistisches zum Hungertod. Von Dr. Hartmann. Kgl. Bezirksarzt in Pfaffenhofen. (M. M. W. 1900. No. 320 Die genau beschriebenen Fälle von Hungertod sind in der ärztlichen Litteratur selten, jede einzelne Beobachtung verdient daher veröffentlicht zu werden. In einem rauhen ärmlichen Dorfe hart am Böhmerwald lebte ein über 70jähriger Greis, der seit längerer Zeit kindisch und schwerfällig war, im Armenhause, wohin ihm von den verschiedenen Gemeinde¬ mitgliedern sein Essen geschickt wurde. Vom 21. September 1899 ab ist der alte Mann von seinen Ernährern einfach ver¬ gessen worden. Am 5. Oktober fand man ihn tot in seinem Bett. Die Leichenöffnung ergab folgenden Befund: Leichenstarre ist nicht mehr vorhanden, Totenflecke fehlen. Fäulniss- oder Verwesungsgeruch ist nicht warzunehmen. Das Fettpolster ist einen halben Centimeter und darüber dick. Der ganze Körper ist sehr blutleer. Nur in den grossen Gefässen des Rumpfes, in den Vorhöfen und in der rechten Herzkammer findet sich etwas dunkles flüssiges Blut. Blutige Durch¬ tränkungen irgendwelcher Körpertheile fehlen. Alle Schlag- Kadern sind verfettet und zum Theil verkalkt. Nirgends aber gelingt es, eine Zerreissung oder Verstopfung zu finden. Im Hinterhauptstheil des Grosshirns besteht eine haselnussgrosse Cyste mit wasserklarem Inhalt. Ein paar sehr kleine Blutungen enthält der Magengrund. Der untere Theil des absteigenden Dickdarms wird von einigen festen grünschwarzen Kot¬ bröckeln ausgefüllt. Sonst ist der ganze Magendarmkanal leer. Die Harnblase enthält eine massige Menge nicht übel¬ riechenden Harns. Die Zeugenaussagen Hessen an der Thatsache des Hunger¬ todes keinen Zweifel. Im Einklang damit steht die Leere des Verdauungskanals, das Vorhandensein sogenannten Hunger¬ kots und die Blutleere, welche Letztere aber auch theilweise durch die Greisenhaftigkeit des Verstorbenen erklärt wird. Jedenfalls hätte der Mann unter seinen gewöhnlichen Er¬ nährungsverhältnissen noch eine Zeit lang leben können. Nach dem Zustande der Leiche kann der Tod erst kurz vor der Auffindung des Toten erfolgt sein. Zwölf Tage lang hat also ungefähr der gebrechUche Alte die vöUige Entziehung von Speise und Trank ertragen. Offenbar war er ein gewisses Maas von Hungern gewöhnt Merkwürdig ist das Erhaltensein einer ziemHch bedeutenden Fettschicht im Unterhautzellgewebe. Verf. macht sich Rind¬ fleisches Erklärung zu eigen. Nach einer gewissen Zeit des Hungerns sinkt bei dem ohnehin siechen Manne die Lebens¬ energie derartig, dass die bei rüstigen Menschen in solchem Falle hülfreich eintretende „Selbstverzehrung“, das Zehren vom eigenen körperHchen Bestände, ausbleibt und die tödtliche Erschöpfung daher verhältnissmässig schnell eintritt. Veber den Befand bei Erstickung durch Einwirkung auf den Hals. Von Prof. Dr. Messerer. (M.M.W. 1900 No. 21.) Der Haupttheil der ausführlichen Arbeit bietet eine über¬ sichtliche Darstellung bekannter Thatsachen über den Er- hängungs- und Erdrosselungstod. Wir beschränken uns auf Wiedergabe der an wichtigen Einzelheiten reichen Beschreibung eines bestimmten Rechtsfalls.' 1896 wurden in München die Bewohner eines verschlossenen 3. Stockwerks, eine Dame von 79 Jahren, deren kränkliche 52jährige Tochter und die gleichfalls leidende 55jährige Köchin tot aufgefunden. Die Leichen waren vollständig bekleidet Bei allen dreien fanden sich Erwürgungsspuren. Bei der Tochter, J. R., zeigte der Hals in Kehlkopfhöhe Hnks eine braunrothe bandförmige Hautvertrocknung, darunter noch zwei runde Vertrocknungsstellen von je Pfennig-Grösse. An den entsprechenden Stellen im UnterhautzeUgewebe be¬ standen starke Blutergüsse. Ein solcher erstreckte sich in der Scheide der linken grossen Halsgefässe abwärts, ein kleiner Einriss bestand in der inneren Wand der Halsschlagader. Die Hautabschürfungen sind typisch. Sie sind die Spuren von Fingereindrücken. Da der Mörder meist mit der rechten Hand zugreift, müssen sie links liegen. Bei Frau R. fehlen diese Hautabschürfungen. Nur dicht an den Schlüsselbeinen waren Blutergüsse im Bindegewebe vorhanden. Wiederum war die Innenhaut der Unken Hals¬ schlagader, sogar an 3 Stellen, eingerissen. Das Fehlen der Schürfungen ist hier sehr erklärlich: der Griff war an einer bekleideten Stelle erfolgt. Sehr deutUch waren neben den inneren Zeichen der Erstickung die äusseren eines stattgehabten Kampfes: eine grosse Beule an der Stirn, eine kleine Blut¬ unterlaufung am Unken Augenbrauenbogen, eine solche auf der Unken Wange und drei Hautschürfungen an der rechten Hand. Die Köchin G. bot einen eigenartigen Befund infolge eines Cystenkropfs, den sie rechterseits hatte: Die Cyste war mit frischem Blut gefüUt, das Drüsengewebe in ihrer Umgebung Digitized by Google 1. September 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 347 mit geronnenem Blut durchsetzt. Ausserdem war das rechte Zungenbein vorn an seinem Ursprung abgebrochen, ohne dass hier die Spur eines Blutaustritts zu sehen war. Das ist ein Beispiel von während des Lebens erfolgter Verletzung ohne vitale Reaktion. Es ist dahin zu erklären, dass im selben Augenblick, wo die Verletzung entstand, die Blutzufuhr durch dieselbe äussere Gewalt abgesperrt worden ist. Bei der G. waren auch die äusseren Erstickuogszeichen am stärksten: Neben Blaufärbung und zahllosen punktförmigen Blutaugen der Haut auch Einklemmung der Zunge zwischen die Zähne. Als Zeichen des vorausgegangenen Kampfes trug die G. Blut¬ unterlaufungen am linken Unterarm und rechten Unterschenkel. An den Sachverständigen wurde die Frage gerichtet, ob ein einzelner Mensch den dreifachen Mord ausgeführt haben konnte. Sie war, da es sich um schwache, kränkliche Frauen handelte, zu bejahen. Verf. nimmt an: Der der That verdächtige und trotz seines Leugnens schliesslich verurtheilte Maurer B. hat vorgegeben, an der Wasserleitung des Aborts etwas ausbessern zu müssen. Er hat wahrscheinlich die ihm vorangehende G. mit der linken Hand fest am linken Oberarm gepackt, mit der rechten von hinten gewürgt (Hautveränderungen rechts am Halse!). Frau v. R. dürfte dazugekommen sein und mit dem B. gekämpft haben, bis sie unterlag. Diese beiden Leichen wurden auf dem Abort gefunden. Zuletzt, meint M., wird B. im Wohn¬ zimmer Fräulein R. erwürgt haben (sie wurde dort aufgefunden). Hierbei ist es freilich zunächst unklar, dass Frau R. bei dem offenbar gehabten Kampfe nicht um Hilfe gerufen und ihre Tochter dadurch herbeigelockt haben sollte. Vielleicht hat B. zunächst der Frau R. nur die Luftröhre zusammengedrückt oder sie sonst am Schreien verhindert, ohne ihre anderen Abwehrbestrebungen gleich unterdrücken zu können. Chirurgie. Zur Kennlniss der akuten Osteomyelitis. Aus dem Luisen-Hospital in Aachen. Von Dr. E. Koch, eh. Ass. (Münchener medizinische Wochenschrift No. 25, 1900.) Das Krankheitsbild der akuten Osteomyelitis ist in den letzten zehn Jahren erheblich geklärt worden. Das gilt be¬ sonders in Bezug auf diejenigen Fälle, in welchen das Krank¬ heitsbild solche Knochenstellen befallen hat, die nahe an Ge¬ lenken oder Körperhöhlen gelegen sind. Manche früher dunkle Gelenkerkrankung ist auf kleine primäre Herde von akuter Osteomyelitis in den Epiphysen zurückzuführen. Kleine akute Rippenherde können rasch schwere Empyeme der Brust¬ höhle verursachen, akute Abscesse im Schädelinneren verdecken durch die Schwere der hervorgerufenen Krankheitserschei¬ nungen eine primäre Osteomyelitis des Schläfenbeines. Mit der akuten Osteomyelitis der Wirbelsäule wurde vor zehn Jahren kaum gerechnet; neuerdings hat man gelernt, dass schwere akute, scheinbar primäre spinale Erkrankungen, ver- hältnissmässig oft mit tödtlichem Verlauf, auf kleine akute ostitiBche Wirbelherde zurückzuführen sind. Aehnlich liegen die Verhältnisse bei der akuten Ostitis des Brustbeines, einer Erkrankung, die zwar nicht häufig ist, die aber wegen der diagnostischen Schwierigkeiten und der durch die Nähe des Mediastinums und der Brusthöhlen bedingten Verwickelungen besonderes Interesse für sich in Anspruch nehmen darf. Verfasser theilt einen derartigen, glücklich verlaufenen Fall ausführlicher mit. Der erblich in keiner Weise belastete Kranke, ein 30jähriger Mann, war plötzlich unter hohen Fiebererschei¬ nungen und heftigen Schmerzen in der Magengegend er¬ krankt. Erst am achten Krankheitstage lokalisirte sich der Schmerz in der Brustbeingegend, die Haut röthete sich und es kam nach einigen Tagen zu einem Abscess, dem bald die Entwickelung eines zweiten folgte. Beim Aufschnei¬ den derselben entleerte sich dicker grüner Eiter mit Blut untermischt. Es wurden allmählich aus beiden Incisionswun- den Fisteln, welche bald stärkere, bald geringere Eitersekre¬ tion unterhielten. Der Kranke kam immer mehr herunter, so dass zu einem gründlichen Eingriff geschritten werden musste. Dabei erwies sich der ganze Körper des Brustbeines als eiterig-sulzig infiltrirt, der grösste Theil des Perikards war gleichfalls dick mit schmierigen Granulationen bedeckt; auf der hinteren Seite des Brustbeines fanden sich mehrere von selbst gelöste Sequester von echt akut osteomyelitischem Ge¬ präge. Nach gründlicher Entfernung aller erkrankten Theile ward die Wundhöhle mit Jodoformgaze ausgefüllt. Die Heilung ging verhältnissmässig schnell von statten, der Kranke wurde vier Wochen nach der Aufnahme mit einer Gewichtszunahme von 24 Pfund entlassen. —y. Klinisches und Bakteriologisches über „Gangrfene foudroyante“. Ans der chirurgischen Klinik und dem Hygiene-Institut der Universität Zürich. Von Dr. G. Hämig und Dr. W. Silberschmidt. (KorrespondensbL f. Schweizer Aercte No. 12, 1900.) Im Anschluss an zwei ausführlicher mitgetheilte Fälle von foudroyanter Gangraen erörtert Verfasser einige bakterio¬ logische und klinische Fragen, die sich auf dieses Krankheits¬ bild beziehen. Der Bacillus des malignen Oedems, der in beiden Fällen vorgefunden wurde, ist jedenfalls nicht die alleinige Ursache der schweren Wundinfektion; wahrscheinlich ist dabei auch noch ein anderer Mikroorganismus im Spiele und handelt es sich um eine Doppelinfektion. In therapeutischer Beziehung kommt nur die möglichst frühzeitige Amputation in Frage. Von grosser Wichtigkeit ist die Prophylaxe. Ebenso wie der Arzt in jedem Falle von noch so leichter Verletzung und Infektion der Wunde mit Erde, Holzsplitter etc. an Tetanus denken muss, ebenso sehr ist es angezeigt, bei schweren komplizirten Frakturen die Möglichkeit einer Gasgangraen im Auge zu behalten. Mit chemischen Desinfektionsmitteln allein ist kaum etwas zu erreichen; immerhin kann man einen Ver¬ such mit 1—3 Prozent-Lösungen von Wasserstoffsuperoxyd machen. —y. Ueber die Fettembolie des Gehirns. Von Dr. Hämig. (Beiträge s. klln. Chir. von v. Bruns, Bd. 27, H. 2, 8. 383.) In der Zeit vom Mai 1898 bis Dezember 1899 wurden in der Züricher chirurgischen Klinik 5 tödtliche Ausgänge nach Fettembolien beobachtet. In dieser Zeit wurden 377 Patienten mit Frakturen aufgenommen, von denen etwa 40 starben. 176 Kranke wiesen subkutane Frakturen der langen Extre¬ mitätenknochen auf, 43 offene, davon starben 9 und zwar 5 mit subkutanen, 4 mit offenen Frakturen. In 5 Fällen, die sich nach an sich nicht lebensgefährlichen Verletzungen er¬ eigneten, konnte als Todesursache nur ausgedehnte Fettembolie konstatirt werden. Alle wiesen neben der Fettembolie der Lungen diese auch in den Organen des grossen Kreislaufes, insbesondere in Herz und Gehirn auf. Die Symptome weisen bei allen auf Hirnstörungen. Für die letal endende Hirnfettem¬ bolie wäre das Bild folgendes: Ein Individuum erleidet irgend ein das Knochensystem in Mitleidenschaft ziehendes Trauma; abgesehen von der Verletzung ist das Befinden zunächst un¬ gestört, erst nach Stunden oder Tagen traten theils mit, theils ohne Fieber auf Gehirnstörungen weisende Symptome auf Digitized by Google 848 Aerztliche Sachverst&ndigen-Zeitung. No. 17. selten isolirte Lähmungen, Brechen oder spastische Zustände meist mit vorangehenden oder fehlenden Delirien zunehmen¬ des Coma, in dem die Patienten zu Grunde gehen. — Das freie Intervall beträgt 6 Stunden bis 9 Tage und bängt wahrscheinlich mit dem schnellen oder langsamen Durchtreten des Fettes durch die Lunge zusammen. Das Vorhandensein des Fettes in den Gehirngefässen braucht durchaus keine Störun¬ gen zu machen. Die Gehirnerscheinungen werden wahrschein¬ lich erst ausgelöst durch die embolischen Hämorrhagien und Thrombosirungen. Warum diese in diesem oder jenem Falle auftreten oder ausbleiben, warum früher oder später, ist nicht bekannt. — Payr’s Status thymicus sive lymphaticus konnte in den 5 Fällen Hämig’s nicht gefunden werden. — Die Kör¬ pertemperatur bei letaler Fettembolie ist verschieden, einige Fälle zeigen Fieber, andere Temperaturerniedrigungen. Hä- mig’s Fälle weisen sämmtlich hohes Fieber auf, bei 2 Fällen mag eine beginnende lobuläre Pneumonie die Temperatur be¬ einflusst haben, bei den andern fehlt jedes Fieber machende Moment. In einem Fall steigerte sich die Temperatur von 42,7° post mortem auf 44° und fiel erst nach 6 Stunden auf 42°. — Das selten beobachtete und noch nicht hinreichend erklärte Delirium nervosum bei Frakturkranken kann als eine sekundäre Wirkung der Fettembolie des Gehirns aufgefasst werden. Auch dürfte in der durch Fettembolie veranlassten Alteration des Gehirns die Thatsache eine Erklärung finden, dass bei Potatoren viel häufiger Delirien auftreten nach Frak¬ turen, als nach WeichtheilVerletzungen oder Operationen. — Auch die Temperatursteigerungen nach subcutanen Frakturen, die man auf Resorptionsvorgänge bezog, möchte H. für einen Theil der Fälle aus der Fettembolie des Gehirns herleiten. — Payr schlug vor, 2 Formen von Fettembolie zu unterscheiden, eine respiratorische und eine cerebrale. Hämig’s Fälle ge¬ hören zur 2. Gruppe. — Diagnostisch ist es sehr schwer, eine schwere Fettembolie des Gehirns und eine intrakriurielle Blu¬ tung auseinander zu halten. In beiden Fällen kann eine pri¬ märe Bewusstseinsstörung da sein oder fehlen, das freie Inter¬ vall ist bei beiden schwankend, isolirte Lähmungen sind auch bei Fettembolie beobachtet, während die Mehrsahl der intra¬ kraniellen Flutungen nur diffuse Gehirnsymptome zeigt, Tem¬ peratursteigerungen sind in beiden Fällen möglich. Noch schwieriger ist die Unterscheidung, wenn gleichzeitig mit der Fraktur eine Kopfverletzung erfolgt. G. Ein Beitrag zu den Harnsteinen. Von Dr. Zotos-Kischinew. (Centr. f. Chlr. 1900 No. 31.) Ein 45jähriger Mann tritt wegen Schmerzen im unteren Theil des Hodensacks in Behandlung. Er giebt an, nie eine andre Krankheit als eben diese Schmerzen gehabt zu haben. Genauer gesagt: Seit seiner Kindheit bilde sich ab und zu unter Schmerz ein Abscess am Hodensack, der auf breche; dann habe er wieder eine Zeit lang Ruhe. Die Harnröhre und Blase sollen immer schmerzfrei, der Harn nie blutig gewesen sein. Gefunden wird ein steinharter Körper, der den Hodensack ausfüllt, jedoch für die Hoden beiderseits hinten oben Platz lässt. Zwei Fisteln führen in der Mittellinie in die Tiefe und entleeren einen Theil des Urins, daneben besteht ein eigrosser Abscess. Der Urin ist klar, aber alkalisch. Die Einführung des Katheters begegnet keiner Schwierigkeit, der Urin wird theilweise mühelos durch die Harnröhre entleert. Nach Aufschneiden des Abcesses und der Fisteln gelingt es, aus dem Hodensack einen Stein von 345 Gramm zu entfernen, der 9:8:6 cm misst. Nach dem Eingriff entleerte sich der grössere Theil des Harns durch die Wunde, allmählich wurde sie kleiner, der Kranke liess sich nachher nicht mehr im Krankenhause halten. Die Deutung ist klar. Der Stein ist in der Kindheit ent¬ standen, von der Blase aus in die Harnröhre eingekeilt worden, hat diese in der Mittellinie durchbrochen und ist durch Auf¬ lagerung phosphorsaurer Salze allmählich im Hodensack ge¬ wachsen. Innere Medizin. Ueber Kehlkopferkranknngen Im Yerlanfe des Diabetes (Laryngitis diabetica). Von weiland Otto Leichtenstern-Köln a. Rh., herausgegeben von Dr. Th. Welscher, Assistenzarzt. (Münchener med. Wochensohr., 1900. 47. Jahrg., Heft 16/17.) Aus den nachgelassenen Papieren des verdienstvollen Kölner Klinikers veröffentlicht Weischer einige seltene Beobachtungen über Kehlkopferkrankungen bei Diabetes, die, obwohl über zehn Jahre zurückliegend, heute noch, und zwar auch für den Nichtlaryngologen, oder gerade für diesen erst recht, von Inter¬ esse sind. L. schildert vier Fälle, in denen ganz im Beginn eines Diabetes mellitus, zu einer Zeit, wo noch keine anderen Zeichen desselben die Aufmerksamkeit des Patienten und des Arztes erregten, gewisse relativ unbedeutende Beschwerden von Seiten des Kehlkopfes und des Rachens auftraten und ihre Erklärung erst dadurch fanden, dass sich bei der Untersuchung des Urins reichliche Mengen von Zucker in diesem nachweisen Hessen. Auffallend rasches Trockenwerden der Kehle beim lauten Sprechen, rasches Versiegen der Stimme, Eintreten von Heiser¬ keit und das Gefühl anhaltender Trockenheit im n Halse* waren die Symptome, welche die Kranken veranlassten, den Kehl- kopfspezialisten au/zusuchen. Der einzige abnorme objektive Befund war ein auffaUend trockener Glanz der Stimmbänder, welche wie lackirt aussahen; die Rachenschleimhaut sah wie mit einem Goldschlägerhäutchen bedeckt aus: Siccitas laryngis oder Laryngoxerosis diabetica nennt L. diesen Zustand; es handelt sich dabei seiner Meinung nach um eine Sekretions- anomalie, und zwar um eine Hyposekretion und dadurch be¬ dingte Neigung zum Trockenwerden der Stimmbänder, welche dadurch bewirkt wird, dass in Folge des Diabetes einmal die Sekretion im Kehlkopf, sodann vielleicht auch der durchschnitt- Hche Wassergehalt der Stimmbänder auf einer gewissen niedri¬ gen Stufe sich bewegt, so dass die gesteigerte Wasserabgabe, welche mit jedem anhaltenden Sprechen einhergeht, alsbald einen solchen Grad erreicht, dass die Schwingungsfähigkeit der Stimmbänder darunter leidet. Es liegt also nicht ein ent- zündHcher Vorgang zu Grunde,, sondern eine für Diabetes aetiologisch-spezifische Trockenheit der Stimmbänder. Die Ur¬ sache für diese Erscheinung sucht L. in einer nervösen Störung, in einer Art Lähmung oder Ausserfunktiönsetzung der nervösen Centren für die absondernde Thätigkeit der Schleimdrüsen des Kehlkopfes. Im Anschluss hieran wird ein Fall von Furunculosis laryngis diabetica eingehender geschildert; wiederholt rückfällige Abszess¬ bildung unterhalb der „Commissura anterior“ der Stimmbänder, jedesmal mit Heiserkeit einhergehend, auf diabetischer Grund¬ lage, war das hier im Vordergrund stehende Symptom. Die interessanten Beobachtungen legen es nahe, bei der¬ gleichen Störungen im Kehlkopfe immer an eine konstitutio¬ nelle Ursache des Leidens, und zwar speziell an den Diabetes zu denken, wiewohl Verf. selbst bervorhebt, dass die mitge- theilten Fälle grosse Seltenheiten darstellen. Richard Müller. Digitized by Google 1. September 1900. Aerztliehe Sachverständigen-Zeitung. 819 Postikuslähmung im Anschluss an einen Fremdkörper im Larynx. Von Dr. Walter Bruggisser-Wohlen. (Correspondenibl. f. Schweiaer Aente No. 15, 1000.) Fälle von traumatischer Postikuslähmung sind nicht gar so selten, doch verdient der vorliegende Fall seines eigenartigen Verlaufes wegen besonderes Interesse. Ein bis dahin gesunder, kräftiger Mann erwacht eines Morgens mit den Erscheinungen eines akuten Kehlkopfkatarrhes. Bei der Untersuchung mit dem Kehlkopfspiegel wird unerwarteter Weise folgender Be¬ fund erhoben: Die Schleimhaut ist stark geröthet; direkt über den Stimmbändern liegt quergestellt und mit den spitzigen Klammern in die Schleimhaut eingekeilt eine Zahn¬ prothese mit zwei nach oben gerichteten Zähnen. Es gelingt leicht, dieselbe mit einer Kornzange zu fassen und heraus- zuziehen. Bemerkenswerth ist, dass Pat. beim Hinuntergleiten des Gebisses in den Kehlkopf während der Nacht keinen Er- stickungsanfall hatte, und dass auch keinerlei Athem- beschwerden nachher auftraten. Letzterer Umstand erklärt sich dadurch, dass die Prothese quergestellt war, und durch die Einkerbungen am Rande die Luft genügenden Zutritt hatte. Nach einigen Tagen waren alle Erscheinungen ge¬ schwunden, der Kranke fühlte sich vollständig wohl, bis plötzlich wieder Heiserkeit, heftige Schmerzen im Kehlkopf und starke Athembeschwerden auftraten, die sich schliesslich zu Erstickungsanfällen steigerten, sodass der Luftröhren¬ schnitt gemacht werden musste. Die nachträgliche Kehl¬ kopfuntersuchung ergab folgenden Befund: Schleimhaut des Pharynx und Larynx von gewöhnlicher Farbe, keine Em¬ pfindungsstörungen; der Zugang zum Kehlkopf zeigt nichts Besonderes; die Stimmbänder sind an einander gerückt, sodass die Stimmbandritze in eine schmale Spalte verwandelt ist, die aber bei jeder Einathmung sich noch weiter verengt. Durch Katheterismus wurde ^eine Verengerung des Kehlkopfes aus¬ geschlossen und eine Lähmung der Glottisöffner festgestellt. Dieselbe ist ohne Zweifel durch den von der Prothese auf die Nervi laryngei inf. ausgeübten Druck zustande gekommen. Auffallend ist nur, dass die Wirkung des Druckes erst nach 14 Tagen zur Geltung kam: Die Voraussage wurde gleich un¬ günstig gestellt, da eine Heilung der traumatischen Postikus¬ lähmung in den bisher veröffentlichten Arbeiten nicht ver¬ zeichnet ist. In der That konnte sich Verfasser nach vier Jahren davon überzeugen, dass der Zustand in jeder Be¬ ziehung derselbe geblieben ist. Dem Kranken wurde das Zeugniss ausgestellt, dass er 75 Proz. seiner Arbeitsfähigkeit eingebüsst hat. — y. Zur klinischen Diagnose der Zwerchfellhernie. Von Privatdozent Dr. Karl Hirsch-Leipzig. (Münchener raed. Wochenschrift 1900, No. 29.) Eine so seltene Erscheinung der Zwerchfellbruch auch ist, so beansprucht er doch die Aufmerksamkeit des ärztlichen Sachverständigen schon deshalb, weil die meisten Zwerchfell¬ brüche Unfallfolgen darstellen. Es ist daher gerechtfertigt, den von Hirsch beschriebenen Fall an dieser Stelle zu besprechen, obgleich es sich bei ihm nicht um eine Verletzungsfolge, sondern um einen angeborenen Bruch handelt. Der Kranke, ein 34jähriger Mann, hat seit früher Kind¬ heit häutig Magenbeschwerden, meist kurz nach dem Essen, gehabt. Er hat sich viel in Krankenhäusern aufgehalten, wo sein Leiden bald als Verlagerung des Herzens nach rechts, bald als Rippenfellschwarte der linken Seite, bald als frische Rippenfellentzündung, bald als Nervenschwäche und bald als vorgetäuscht gedeutet wurde. Eines Tages bekam dieser Mann plötzlich heftiges Stechen auf der linken Seite und gleichzeitig Athemnoth, Schwindel¬ gefühl und Erbrechen. Dabei sah diese ganze Seite des Brust¬ korbes dicker als die rechte aus. Diese Beschwerden hielten drei bis vier Tage an, liessen dann nach, hörten aber nicht völlig auf. Neun Tage später wurde der Kranke mit der Diagnose Pneumothorax in die leipziger medizinische Klinik eingeliefert. Thatsächlich waren die üblichen Zeichen von Lufteintritt in den Brustkorb mit aller Deutlichkeit vorhanden. Die linke Seite war aufgetrieben, hatte in ihren unteren Theilen Paukenschall, man hörte klingendes Rasseln und Plätscher¬ geräusch. Aber diese Erscheinungen waren auffallend wech¬ selnd und das Befinden des Kranken merkwürdig gut. Die Athmung war nicht beschleuiiigt. Eine Abgrenzung der Lungen gegen den Magen konnte durch Beklopfen nicht erzielt werden, weil die Schallarten allmählich in einander übergingen. Die Stäbchen-Plessimeter-Beklopfung ergab links unten deutlichen Metallklang. Das Herz lag rechts in genau der Ausdehnung in der es sonst links liegt. Es bestand weder Fieber noch Athemnoth. Nach diesem Befunde war es klar, dass in dem normaler Weise von dem Herzen und dem unteren Theil der Lungen ausgefüllten Theil des Brustkorbes ein zusammenhängender, mit Luft gefüllter Hohlraum bestehen musste. Aber um einen Lufteintritt in die Brustfellhühle konnte es sich bei dem wechselnden, zur Zeit verhältnissmässig guten Befinden des Kranken nicht wohl bandeln. Berücksichtigt musste ferner die Möglichkeit werden, dass durch eine Schrumpfung der linken Lunge das Zwerchfell in die Höhe gezogen und nun Magen und Darm an dieser Stelle nach oben getreten seien. Aber nach Schrumpfungsvorgängen hätte die linke Brusthälfte eingesunken sein müssen, während sie in Wirklichkeit vor¬ gewölbt war. So kam Verfasser denn auf den Gedanken, dass ein Ztferchfeübrucb,» ein Durchtritt von Eingeweiden durch eine Lücke im Zwerchfell, vorliegen könnte. Er wurde hierin bestärkt durch die Unabhängigkeit der klingenden Geräusche von der Athmung, durch die Zunahme aller Erscheinungen nach den Mahlzeiten. Um sich der Sache zu vergewissern, führte er nunmehr einen Magenschlauch ein und blies durch denselben Luft in den Magen. Hierbei blieb die eigentliche Magengegend ganz unverändert, während die Auftreibung der linken Brusthälfte zunahm. Wenn man das Ohr an die letztere legte, hörte man das Einblasegeräuscb, der Schall wurde bis zur dritten Rippe vorwiegend pauken¬ artig, deutliche Plätschergeräusche liessen sich vernehmen, wenn der Kranke jetzt Wasser trank, und die dem auf¬ genommenen Wasser entsprechende Dämpfung, die beim Sitzen eine Fortsetzung der Milzdämpfung bildete, änderte vollkommen frei ihren Platz, wenn der Kranke seine Lage wechselte. Nun konnte kein Zweifel mehr bestehen, dass der Magen durch einen Zwerchfellbruch in die Brusthöhle eingedrungen ist, und diese klinische Diagnose fand ihre volle Bestätigung durch eine Roentgen-Aufnahme, nachdem ein mit Queck¬ silber gefüllter weicher Gummischlauch in den Magen eingeführt war. Man sieht auf einem beigegebenen Bilde den Schlauch ganz deutlich als schwarzes Band neben der Wirbel¬ säule im Bogen nach links oben bis über die Höhe der durch eine Bleiplombe markirten Brustwarze emporsteigen, sich schlingenartig umbiegen und wieder in die Nähe der Wirbel¬ säule zurückkehren. Die Verlagerung des Herzens nach rechts ist wahrschein¬ lich dadurch entstanden, dass in frühester Kindheit die durch die angeborene Zwerchfelllücke tretenden Baucheingeweide das Herz verdrängt haben. Verfasser schliesst mit den gerade bei so schwierigen Digitized by Google 850 Aerztliche Saohverst&ndigen-Zeitung. No. 17. und so selten richtig erkannten Fällen wohlberechtigten Worten: In dem „Darandenken“ und in der wiederholten Untersuchung liegt auch hier das Geheimniss einer richtigen Differential¬ diagnose. Neurologie. Ueber Epilepsia minor. Von Sir W, Gowers, Arzt am Nationalkrankenhans für Paralytiker und Epileptiker in London. (Wiener med. Pr. 1900 No. 29.) Als Epilepsia minor wird diejenige Form der Fallsucht bezeichnet, bei der es nicht zu ausgebildeten Krampfanfällen kommt. Ihre zwar nicht häufigste, aber typischste Unterart äussert sich ausschliesslich in Anfällen von Bewusstlosi gkeit. Oft dauert die letztere so kurze Zeit, dass der Kranke sie überhaupt nicht bemerkt Er unterbricht plötzlich irgend eine Thätigkeit, nimmt sie dann gleich wieder auf, und nur der Zuschauer hat den Anfall wahrgenommen. Sehr deutlich werden dem Befallenen aber auch die kürzesten Anfälle, wenn sie mit Muskelerschlaffung einhergehen, dann stürzt er eben sofort zusammen. So fiel ein Herr, der eben gebadet hatte, schon angezogen im Anfall in die Wanne zurück, stieg, noch bewusstlos, heraus, und merkte beim Erwachen an seinen nassen Kleidern, was geschehen war. Häufiger freilich geht auch bei solchen kurzen Anfällen ein Vorgefühl voraus. Bei diesen ganz kurzen' Anfällen sind Gesichtsfarbe und Pupillen kaum verändert, höchstens tritt eine leichte Blässe ein. In einigen Fällen wandte G. während des Anfalls den Augen¬ spiegel an und konnte feststellen, dass die Netzhautgefässe ihr Kaliber nicht veränderten. Man kann also aus der äusseren Blässe auf Hirnblutarmuth nicht etwa schliessen. Statt durch das Zusammenstürzen können ganz kurze, leichte Anfälle auch durch Harnabgang bemerklich werden. Bei mehr allmählich einsetzenden Anfällen können allerlei Gefühle dem Anfall vorausgehen oder ihn begleiten. Ja diese Empfindungen können sogar den wesentlichsten Theil des Anfalls bilden, die Bewusstseinsstörung tritt dann nicht nur in den Hintergrund, sondern fehlt sogar gelegentlich ganz. Den die Anfälle begleitenden Empfindungen ist ein be¬ sonderer Abschnitt der Arbeit gewidmet. Am häufigsten kommt irgend eine Art von Schwindel vor. Subjektiv kann das Gefühl bestehen, als fiele man nach irgend einer Seite oder sinke in die Erde. Hierbei besteht gelegentlich die fürchterlichste Angst. Objektiven Schwindel nennt G. die Empfindung, als bewegten sich die Gegenstände in irgend welcher Linie, fast immer im Sinne des Uhrzeigers, oder als zitterte alles. Manchmal stürzt der Kranke beim subjektiven Schwindel thatsächlich nach der Richtung, in der er sich zu bewegen glaubt; selbst wirkliche Drehbewegungen kommen zu stände, sie sind aber bei Epilepsia minor seltener als im Vorstadium der grossen Epilepsie. Nie ganz frei von Bewusstseinsstörung ist die sogenannte Traumempfindung, das oft unangenehme, oft geradezu angenehme Gefühl, als sei man im Traume. Es ist seltsamer Weise oft mit schmatzenden Lippenbewegungen verbunden. Sehr ähnlich ist das Gefühl, als ob das eben Erlebte sich früher schon mal in gleicher Weise zugetragen hätte. Dass dieses Gefühl auch viele Gesunde kennen, wird nachdrücklich betont. Selten sind bei Epilepsia minor Sinnestäuschungen, die bestimmte Gegenstände vorspiegeln. Dagegen werden Licht- erscbeinungen gelegentlich vorgetäuscht, andererseits kann vorübergehendes Dunkelwerden vor den Augen das sogar ein¬ zige Zeichen des Anfalls sein. Von Gehörstäuschungen wird die Wahrnehmung eines einzelnen, oft eines musikalischen Tons erwähnt, Geruchs- täuschungen sind meist unangenehmer Art, im übrigen ver¬ schieden, Geschmackstäuschungen selten. Häufig sind Allgemeinempfindungen: Ein plötzlicher Schauer, eine Erschütterung des ganzen Körpers, ein Gefühl von Blut wallung nach oben, dem Bewusstlosigkeit folgt, sobald die Wallung den Kopf erreicht. Gelegentlich werden die Anfälle von plötzlichen Erregungen, z. B. Furchtgefühlen, begleitet Die schwächste Form des Anfalls ist eine plötzliche zuckende Bewegung ohne Bewusstseinsverlust, sei es dass z. B. bloß die Hand eine Schleuderbewegung ausführt, oder dass der Kranke ein ganzes Stück läuft. Bereits angedeutet wurde die gegenteilige Erscheinung: eine plötzliche Muskel¬ erschlaffung. Nach dem Anfall kehrt das Bewusstsein oft erst all¬ mählich zurück. Anfangs wissen die Kranken noch nicht recht, in welcher Lage sie sich gerade befinden. Vielleicht ist ein Gefühl von Unbehagen und Mattigkeit daran Schuld, dass manche Kranke in diesem traumhaften Abklingungszustande ohne Rücksicht auf ihre Umgebung anfangen, sich auszu¬ kleiden. Andre wieder stecken automatisch irgend etwas, was sie erreichen können, in die Tasche und bringen sich in den Verdacht des Diebstahls. Wieder andre bekommen einen Heiss- bunger und erstaunen beim völligen Erwachen darüber, dass sie einen Bissen im Munde haben. Länger ausgedehnte Dämmerzustände lassen wie bei der grossen Epilepsie ganz verwickelte, scheinbar wobldurchdacbte Handlungen begehen, auch solche, die verbrecherischen Charakter tragen. Sehr wichtig ist die Thatsache, dass an echte Anfälle von Epilepsia minor schwere hysterische Krämpfe unmittelbar anknüpfen können, die nach schweren Fallsuchtattacken nie Vorkommen. So sind manche Fälle zu deuten, in denen an¬ geblich nur ganz leichte Anfälle in der Kindheit, sehr schwere von den Entwickelungsjahren ab beobachtet werden. Erbrechen ist nach leichten Anfällen selten, Uebelkeit häufiger. Bedenklich ist das Abwenden des Gesichts nach dem Anfall. Es ist schon vorgekommen, dass Leute im Bette nach leichten Attacken das Gesicht in die Kissen drückten und so erstickten. Die Diagnose wird ermöglicht durch das plötzliche Ein¬ treten, die kurze Dauer der Anfälle und das Fehlen äusserer Ursachen. Gegenüber der Ohnmacht ist die Unterscheidung dadurch gegeben, dass der Bewusstseinsverlust hier ein all¬ mählicher, dort ein plötzlicher, das Erwachen hier von einem Schwäche-, dort von einem Verwirrungsgefühl begleitet ist. Auch ist bei Epilepsia minor der Puls unverändert. Andre Schwindelformen Bind mit länger dauernden örtlichen Leiden, besonders am Gehörorgan, verbunden. Ueber Oehlrnlähmungserscheinnngen nach Influenza. Von Dr. Guttmann, Nervenarzt in Halberstadt u. Wernigerode. (Nenr. Centr. 1900. No. 15.) Ein 17 jähriger Arbeiter, welcher weder erblich belastet ist, noch persönlich ungünstigen Einflüssen unterlegen hat, machte im Januar d. J. eine Influenza durch, bei der er 4 Wochen arbeitsunfähig war. Als er seine Thätigkeit wieder aufnahm, bemerkte er eine Schwäche in den rechten Gliedmassen, beson¬ ders im Bein. Erst Ende März ging er zum Arzte, weil die be¬ treffenden Gliedmassen auch schmerzhaft wurden. Es wurde aber immer schlimmer. Nach weiteren vier Wochen hatte die Schwäche beide Beine ergriffen, die Waden- muskeln wurden immer schlapper, der Gang unsicher und tau¬ melnd. Unaufhörlich bestand Schwindelgefühl und zeitweise Digitized by Google I. September 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 351 ein dumpfer, bohrender Kopfschmerz. Erbrechen soll nur in der ersten Zeit nach der Influenza vorgekommen sein, übel werde ihm aber auch noch jetzt zeitweise. Objektiv ist die auffallendste Erscheinung eine Art zu gehen, wie sie sonst wohl Betrunkenen eigen ist. Es gelingt dem Kranken durchaus nicht, die gerade Linie inne zu halten. Er taumelt immer nach der Seite herüber, meist nach der rechten, selbst wenn man ihm einen Stock als Stütze giebt Auch der Kopf ist wackelig, er neigt sich fast stets nach links und dreht sich derartig, dass die linke Seite höher steht als die rechte. Das rechte Auge schielt nach innen. Es ist fast völlig unbe¬ weglich. Aber auch der linke Augapfel ist in seiner Beweg¬ lichkeit nicht genügend ausgiebig, insbesondere ist die Thätig- keit des vierten und sechsten Hirnnerven auch links nur sehr gering. Die rechte Pupille ist kleiner als die linke und reagirt in jeder Beziehung träge. Die mimischen Gesichtsmuskeln sind sämmtlich rechts bedeutend schwächer. Die grobe Kraft der rechten Gliedmassen ist geringer, als die der linken. An beiden Händen besteht ein Zittern, das beim Ergreifen von Gegenständen bedeutend verstärkt wird. Auch diese Erscheinung ist rechts ausgeprägter. Beiderseits lässt sich Knie- und Fuss- zitterkrampf auslösen,links aber schwerer. Die Verstandeskräfte sind völlig ungestört. In den ersten 5 Wochen der Behandlung besserte sich die Augenmuskellähmung sehr, während sich allerdings ein deutliches Zittern beider Augäpfel einstellte. Nachher wurde auch die Gehstörung geringer. Alle Krankheitserscheinungen weisen auf Entartungsvor¬ gänge im Gehirn hin. Die Gleichgewichtsstörung ist die für Herde im Kleinhirn bezeichnende. Das Zittern bei gewollten Bewegungen findet man bei Herden im Klein- oder Mittelhirn. Die Reflexsteigerungen sprechen für Entartung der Seiten¬ stränge. Bei beiderseitigen Lähmungen der Augenmuskeln muss man an eine Schädigung der Gegend denken,' wo die Ursprungs¬ stellen der betreffenden Nerven nahe bei einander liegen, also an den oberen Theil des verlängerten Marks, allenfalls auch an die Vierhügel, die gleichfalls zu Augenmuskel-Lähmungen in Beziehung stehen. Das gleichzeitige Auftreten aller der beschriebenen Stö¬ rungen würde sich am ungezwungensten erklären, wenn man einen einzigen Herd annähme. Thatsächlich ist dies möglich. Es dürfte sich unter dem Bilde der Influenza eine Gehirnent¬ zündung an der Stelle wo Kleinhirn und Brücke zusammen- Btossen, abgespielt haben. Der Befund und der Rückgang der Erscheinungen lassen andere Herderkrankungen mit einiger Sicherheit ausschliessen. Die Heilungsaussichten sind nicht schlecht. Minder beweiskräftig ist ein zweiter Fall: Bei einer 54jäh- rigen Frau haben sich in unmittelbarem Anschluss an die In¬ fluenza Sprachstörungen im Verein mit zunehmender Schwäche der rechten Gliedmassen eingestellt. 3—4 Monate später ist allmorgendliches Erbrechen, nach weiteren 2 Monaten heftiger Kopfschmerz dazugekommen. G. sah die Frau völlig halbseitig gelähmt und fast unfähig zu sprechen. Etwa 14 Tage später verfiel sie in Bewusstlosigkeit und starb nach 3 Tagen. Auch hier glaubt Verf. an einen Entzündungsprozess im Gehirn als Folge der stattgehahten Influenza. Gynäkologie. Zur Antiseptik in der Geburtshilfe. Von Dr. Kr ohne- Gross-Kamsdorf. (D. Med. W. 1900 No. 32.) Der bekannte Standpunkt Hofmeiers, dass das Unter¬ lassen einer Scheidendesinfektion vor irgend einem geburts¬ hilflichen Eingriff ein Kunstfehler ist und den Tbatbestand des § 222 des Strafgesetzbuches erfüllt, wird vom Verf. scharf bekämpft. Auf Grund eigener Erfahrungen und der Literatur legt er dar, dass das Scheidensekret wahrscheinlich normaler¬ weise Krankheitskeime zu töten im Stande ist, dass aber auch die ausreichende Säuberung der Scheide im Sinne völliger Keimfreimachung mechanisch unmöglich ist. Die Scheiden¬ desinfektion sei aber nicht blos überflüssig, sondern gradezu schädlich. Aufnahme von Giftstoffen in den Kreislauf und örtliche Schädigung der Gewebe sei ihre Folge. [Es mag noch manches Jahr vergehen, bis die Frage der geburtshilflichen Antiseptik endgiltig gelöst ist. Aber in einem Punkte wird jeder, der den Standpunkt des praktischen Arztes zu würdigen weies, dem Verf. Recht geben: in der Bekämpfung des Bestrebens, immer neue „Kunstfehler* aufzustellen. Immer wieder muss laut dagegen protestirt werden, dass irgend ein Forscher auf Grund seiner persönlichen Ueberzeugung, mag sie noch so fest und begründet sein, die in der Praxis be¬ findlichen Schüler andrer Lehrer, denen eine gegenteilige Meinung plausibel gemacht worden ist, oder die aus eignem Denken Anhänger einer andern Anschauung sind, eines Kunst¬ fehlers zeiht. Mit einem Vorwurf, der einem Collegen Ehre und Existenz rauben kann, sollte doch möglichst sparsam um¬ gegangen werden. Ref.] Ohren. Die Indikationen znr operativen Behandlung der Mittelohreiternngen. Von Dr. Richard Müller, Stabsarzt in Berlin. (Deutsche medizinische Wochenschrift 1898, No. 13.) Seitdem man gelernt hat, eiterige Mittelohrerkrankungen durch chirurgische Eingriffe zur Heilung zu bringen, hat sich diesem Verfahren das Interesse auch des praktischen Arztes zugewandt, nicht sowohl, um diese Operationen selbst aus¬ führen zu lernen, als vielmehr um zu erfahren, unter welchen Umständen die Operation gemacht, d. h. ein Spezialist zu Rathe gezogen werden muss. Auch für den ärztlichen Sach¬ verständigen ist die Frage der Indikationsstellung zu Ohren¬ operationen von Wichtigkeit, da die Unterlassung einer Operation, für welche eine absolute Indikation vorliegt, einen Kunstfehler bedeutet. Im Sinne dieser Ausführungen wendet sich der Verfasser an den Nichtfacharzt und hat die Grenzen des operativen Vorgehens ziemlich weit gesteckt, um eine zu späte Zuziehung des Spezialisten zu vermeiden. Für die blosse Aufmeisselung des Antrum mastoideum, unter Schonung des äusseren Gehörganges und der Pauken¬ höhle, stellt er folgende Indikationen auf: 1. Akute Mittelohreiterung, die trotz sachgemässer Be¬ handlung (Trockenbehandlung) 14 Tage lang in unverminderter Stärke und ohne Wendung zum Besseren besteht, auch wenn bedrohliche Erscheinungen noch nicht vorhanden sind (rela¬ tive Indikation). 2. Andauerndes Fieber bei akuter Mittelohreiterung, welches auf ein anderes Leiden nicht bezogen werden kann. 3. Ausgesprochene Erscheinungen otitischer Pyämie. 4. Subperiostaler, retroaurikulärer Abszess. 5. Auftreten cerebraler Erscheinungen, die dem Ohren¬ leiden zur Last zu legen sind. Zur sogenannten Radikaloperation, d. h. zur Freilegung sämmtlicher Mittelohrräume, soll im Allgemeinen nur bei chronischen Mittelohreiterungen geschritten werden, und zwar nach folgenden Gesichtspunkten: 1. wenn trotz einer durch längere Zeit — mindestens zwei Monate — fortgesetzten Bachgemässen Behandlung es Digitized by Google 852 Aerztliohe Sachverständigen- Zeitung. No. 1?: nicbt gelingt, die chronische Eiterung zu beseitigen oder doch wesentlich zu bessern (relative Indikation; die Operation hat dann einen im wesentlichen prophylaktischen Charakter); 2. bei Zunahme von Kopfschmerzen, Sausen und Schwindel derart, dass sie den Kranken fortdauernd quälen, in seiner Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen und in ihm das Gefühl des Krankseins erwecken; 8. bei andauerndem, wenn auch leichtem Fieber, das von dem Ohrenleiden ausgeht, besonders wenn es pyämischen Charakter anuimmt; 4. bei Caries des Schläfenbeines (stinkende Eiterung, Granulations- und Polypenbildung, Rauhigkeit des Knochens, Abstossungen von Sequestern), auch bei tuberkulösem Charakter der Caries; 5. bei Cholesteatom des Mittelohrs; 6. bei cerebralen Komplikationen (epiduraler Abszess, Sinusthrombose, Hirnabszess, auch beginnende Meningitis). Autorreferat. Zur Indi katlonsstellung für Mastoidoperationen. Von Dr. Richard Müller, Stabsarzt in Berlin. (Dtach. med. Woebensobr. 1900. No. 15.) Von den Seitens des Verf. früher aufgestellten Indikationen zur Vornahme von Warzenfortsatzoperationen bei Ohreneite¬ rungen ist die folgende von verschiedenen Seiten bemängelt worden: „Jede akute Mittelohreiterung, die trotz sachgemässer Be¬ handlung 14 Tage lang in unverminderter Stärke und ohne eine Wendung zum Besseren erkennen zu lassen, besteht, ist mit Eröffnung des Antrum mastoideum zu behandeln, auch wenn bedrohliche Erscheinungen noch nicht vorhanden sind.* Verf. giebt zu, dass dieser Satz auf den ersten Blick einen etwas radikalen Eindruck macht. Er will aber auf jedes Wort des obigen Satzes einen besonderen Ton gelegt wissen, und nur beim genauen Zusammentreffen aller darin erwähnten Momente soll diese Indikation Geltung haben. Verf. weist darauf hin, dass es sich hier nur um die einfache Antrum- aufmeisselung, nicht um die verstümmelnde Radikaloperation handelt, und spricht dann die einzelnen Punkte noch einmal durch. Er betont, dass eine trotz sachgemässer Behandlung länger als 14 Tage in unverminderter Stärke und ohne erkenn¬ bare Besserung bezw. Verschlimmerung fortbestehende akute Mittelohreiterung etwas überaus Seltenes ist und eine Operation auf Grund dieser Indikation mithin auch nur sehr selten Vor¬ kommen wird. Es werden dann kurz drei Krankengeschichten wiedergegoben, in denen nach jener Indikation nicht verfahren worden ist; bei der schliesslich aber doch nötbigen Operation fanden sich dann weitgehende Zerstörungen, und Verf. meint, dass die Heilung hier schneller erreicht worden wäre, wenn man streng nach seiner Indikation gehandelt hätte. Er bleibt daher, ohne den abweichenden Standpunkt Anderer absolut zu verurtheilen, auf seiner Ansicht bestehen, nachdem er hervor¬ gehoben hat, dass der Hauptzweck seiner für den praktischen Arzt gegebenen Indikationsstellung der war, eine zu späte Zu¬ ziehung des Ohrenspezialisten zu vermeiden; dem letzteren stehe es natürlich frei, wenn er den Kranken in dauernder Beobachtung habe, mit der Operation auch über die 14 Tage hinaus zu warten. Wie auf anderem chirurgischen Gebiete, z. ß. auf dem der Blinddarmeiterungen und der Magenge¬ schwüre, so wird man in Zukunft gewiss auch anf dem Ge¬ biete der Ohreneiterungen die Grenzen für das operative Ein¬ greifen allmählich weiter stecken; und was heute noch als gewagt angesehen wird, wird später vielleicht, wenn man es unterlässt, als Kunstfehler gelten. Autorreferat. Veber subjektive Gehörswahrnehmungen. Von Dr. Emanuel Fink-Hamburg. (Die ärstliche Praxis. No. 13. 1900.) Die so häufig vorkommende und vielseitige Wahrnehmung von Gehörsphaenomenen kann sich zu einem sehr qualvollen Leiden gestalten, dessen Beseitigung, je nach der Ursache, verschieden grosse Schwierigkeiten bereitet. Fast zwei Drittel aller Ohrenkranken klagen nach den Angaben mehrerer Statis¬ tiken über subjektive Gehörswahrnehmungen; am seltensten sind sie bei den Erkrankungen des inneren Gehörganges, am häufigsten bei denen des Labyrinths. Wo sie aber auch Vor¬ kommen, da handelt es sich stets darum, dass die nervösen Elemente des Labyrinths oder die weiter centralwärts gelege¬ nen Theile des Akusticus in irgend einer Weise in Mitleiden¬ schaft gezogen sind. So findet man daher subjektive Gehörs- wahrnebmungen unter den Anomalien des äusseren Gehörganges nur in denjenigen Formen, welche mittelbar wenigstens einen pathologischen Druck auf die Labyrinthflüssigkeit ausüben, also bei Fremdkörpern oder Ceruminalpfropfen im Gehörgang, wenn sie das Trommelfell und mit diesem die Platte des Steig¬ bügels nach innen drängen. In gleicher Weise kommen sub¬ jektive Gehörswahrnehmungen bei gewissen Formen der Otitis media dadurch zu Stande, dass der entzündliche Prozess oder dessen Sekretionsprodukte die Steigbügelplatte im ovalen Fenster fixiren, so dass dadurch ein dauernder Druck auf die Labyrinth¬ flüssigkeit und so auch auf die in den Basilarwindungen der Schnecke liegenden zelligen Elemente ausgeübt wird. Ein fast ständig zu verzeichnendes Symptom sind subjektive Gehörs¬ wahrnehmungen in denjenigen Fällen, wo das Labyrinth primär in irgend einer Weise in Mitleidenschaft gezogen ist, also zu¬ nächst bei Hyperaemie des Labyrinths. Darauf beruht wohl das nach dem Gebrauch von Salicyl- und Chininpräparaten entstehende Ohrensausen. So ist auch das Ohrensausen als Vergiftungserscheinung in Folge von Alkohol, Tabak, Morphium, Kohlenoxyd, Phosphor zu erklären. Schliesslich kommt Ohren¬ sausen bei verschiedenen Affektionen des Gehirns vor, die auf den Gehörnerv selbst oder seine Kerne, resp. cortikalen Cen- tren einwirken. Die Behandlung richtet sich nach der Grund¬ ursache, muss aber leider auch nach genauer Feststellung der Diagnose meist nur eine symptomatische bleiben. Am einfachsten und günstigsten liegen die Verhältnisse, wenn die Ursache des Leidens im äusseren Gehörgange zu suchen ist. Mit der Frei¬ legung der Lichtung des Meatus ist das Geräusch gewöhnlich wie mit einem Schlage verschwunden. Bleibt aber noch ein leises Geräusch zurück, welches darauf beruht, dass das Trommel¬ fell auch nach Beseitigung des Fremdkörpers oder Ceruminal- pfropfes stark zurückgezogen geblieben ist, so genügt gewöhn¬ lich ein- bis zweimalige Anwendung des Politzer’schen Ver¬ fahrens, um auch den Rest des Geräusches endgiltig zu be¬ seitigen. Weniger zuversichtlich darf die Beseitigung des Ohren¬ sausens erwartet werden, wenn es auf einer Mittelohrentzün¬ dung beruht. Hier fällt die Behandlung mit der des Grundleidens zusammen. Oft führt aber auch die Bougirung der Ohrtrompete und Massage des Trommelfelles zum Ziele, selbst wenn das Grundleiden von diesen Massnahmen nicht beeinflusst wird. Prognostisch recht ungünstig sind jene Fälle, wo das Grund¬ leiden jenseits des Mittelohres seinen Sitz hat. Elektrizität, Bromkali, Amylnitrit, Pilocarpin und andere empfohlene Mittel lassen fast immer im Stich. —y. Digitized by Google 1. September 1900. Aerztliohe Sach verständigen-Zeitung. 358 Hygiene. Ueber die Verbreitung des Weichselzopfes in den Regie¬ rungsbezirken Marienwerder, Bromberg n. Posen. Von Med.-Ass. Möbius-Berlin. (Klin. Jahrb. Bd. 7, H. 4.) Noch in den vierziger Jahren gab es Aerzte, die den Weichselzopf für eine „kritische Abscheidung“ hielten und seine vorzeitige Abschneidung als eine Ursache von Krankheit und Tod betrachteten. Und doch hatte schon 1842 Besohorner die Natur des Weichselzopfes, den er bei über 5000 Menschen in der Provinz Posen fand, richtig erkannt. Er hatte festge¬ stellt, dass der Weiohselzopf eine nothwendige Folge des zu¬ fällig oder absichtlich unterlassenen täglichen Kämmens sei und auf Entstehung und Verlauf von Krankheiten keine Spur von Einfluss habe. Er hat aber auch vorausgesehen, dass der Kampf gegen den medizinischen Aberglauben, der die Tausende zum Ertragen und selbst zur Pflege des lästigen Uebels bestimmt hat, schwer und langwierig sein würde. Ueber 50 Jahre sind seitdem vergangen. Die Aerzte sind sich über die Art des Leidens jetzt vollkommen einig. Wie steht es nun mit den Anschauungen des Volkes? Um dies zu ermitteln, hat man in den Bezirken Marien¬ werder, Bromberg und Posen die Polizeibehörde mit der Fest¬ stellung betraut, wieviel Weichselzöpfige in jedem einzelnen Kreise vorhanden seien. Eine Anzahl von Tabellen enthält das Ergebniss dieser Statistik. An 1787 Orten fanden sich Weichsel¬ zopfträger, darunter in 56 Städten, im ganzen 5737 Personen gleich 0,212 der Gesammtbevölkerung. Von diesen Menschen standen nicht nur über tausend im Alter zwischen 1 und 6 Jahren, sondern auch über 50 im Alter zwischen 0 und 1 Jahr. Die Zahl der Weichselzöpfigen hat also seit 50 Jahren nicht erheblich abgenommen, am wenigsten im.Bezirk Posen., Die Frauen sind erheblich stärker als die Männer betheiligt. Das hat seine leicht erkennbaren Ursachen theils in der langen Haartracht der ersteren, theils wohl in ihrer grösseren Nei¬ gung zum Aberglauben und ihrer grösseren Abgeschlossenheit. Wie weit die einzelnen Nationalitäten betheiligt sind, lässt sich nur annähernd durch den Vergleich der Prozentsätze der einzelnen Konfessionen bestimmen. Am stärksten ist die meist polnische katholische Bevölkerung betheiligt, 4 mal schwächer die evangelische, 10 mal schwächer die jüdische. Es ist sehr bezeichnend, dass im Kreise Deutsch-Krone, in dem die Be¬ völkerung grösstentheils katholisch, aber deutsch ist, kein einziger Fall von Weichselzopf gemeldet ist, wie denn in rein deutschen Ländern der Weichselzopf überhaupt unbekannt ist. Schon Beschorner hat es richtig erfasst: nicht die Unrein¬ lichkeit, sondern der Aberglaube ist die eigentliche Ursache des Weichselzopfs. Schmutz, Ungeziefer und Haut - Ausschläge schliessen sich erst an die Verfilzung der Haare an. Die ver¬ schiedensten chronischen Krankheiten, welohe als „Behextheit“ aufgefasst werden, sollen durch den sorgsam kultivirten Weichsel- zopf in Verbindung mit allerlei magischem Humbug geheilt werden. Der Zopf muss nach dem Volksglauben eine bestimmte Zeit, z. B. ein Jahr, einen Monat und einen Tag oder auch noch viel länger getragen werden. Seine Beseitigung soll schwere Gesundheitsschäden herbeiführen und wird unter be¬ sonderen mystischen Vorsichtsmassregeln an bestimmten Tagen im Jahre an bestimmten meist heiligen Orten vorgenommen. Schlimm ist es, dass einflussreiche Persönlichkeiten, wie ins¬ besondere die Geistlichkeit oft an eine heilende Wirkung des Weichselzopfs auf chronische Krankheiten glauben und dass Kurpfuscher sich diesen Wahn zu Nutze machen. Leider wird Niemand überrascht sein, dass auch ein approbirter Arzt im Regierungsbezirk Marienwerder anzeigt, er kurire auf Weioh selzopf. Im Regulativ von 1835 ist der Weichselzopf unter den meldepflichtigen, ansteckenden Krankheiten genannt. Es wäre verkehrt, auf Grund dieser Bestimmung mit polizeilichen Mit¬ teln seine Verbreitung verhindern, bezw. einschränken zu wollen, denn „es würde einmal der fälschlichen Auffassung, dass es sich beim Weichselzopfe um eine eigenartige Krankheit handle, neue Nahrung geben, und andrerseits müssen solche Mass¬ nahmen erfolglos sein, da die Vorschriften des Regulativs sich gegen die durch Ansteckung krankmachenden Stoffe und Lebensverhältnisse, nicht aber gegen eine Schwäche des mensch liehen Geistes richten.“ Volksaufklärung allein kann die hässliche Unsitte besei¬ tigen und die Träger dieser Aufklärung könnten am ehesten die Geistlichen, die Krankenpfleger und Pflegerinnen, die Lehrer und die Zeitungen sein. Versuche über Wäsched esinfektion. Aus d. hyglen. Üntersuchungsstelle des I. Armeekorps zu Königs¬ berg 1. Pr. Vorstand: Oberstabsarzt I. Kl. Dr. Jaeger. Von Ass-Arzt Dr. Förster. (Hygienische Rundschau No. 11, 1900.) Das praktische Ergebniss der experimentellen Unter¬ suchungen des Verfassers lässt sich dahin zusammenfassen: Es gelingt leicht und sicher, sämmtliche inficirte Wäsche durch Einlegen in kalte, zehnfach verdünnte Kresolseifenlösung (Kresolwasser der Pharmakopoe) zu desinfiziren. Zur Er¬ zielung der vollen Wirksamkeit genügen 6 Stunden. Ein längeres Einlegen (24 Stunden) schadet der Wäsche nicht, im Gegentheil ist dieses Verfahren mehr geeignet, Flecken zu beseitigen, als das Einlegen in kaltes Wasser, da in der Kresol¬ seifenlösung eine Verseifung von schon vorhandenen Fett¬ substanzen in den Flecken vor sich geht. Die einzige Schwierig¬ keit können Blutflecken machen. Dieselben werden aber auch beim Einlegen in kaltes Wasser fixirt, wenn sie nicht durch mechanisches Reiben mit den Händen oder durch die Maschine nach dem kalt Einlegen und vor dem Erhitzen entfernt werden. Letzteres ist also zur völligen Beseitigung durchaus nothwendig. Demnach hat man mit infleirter Wäsche folgendermassen zu verfahren: Die Krankenwäsche wird sofort nach dem Gebrauch auf der Krankenstube oder deren Vorraum in kaltes Kresol¬ wasser eingelegt, sodass sie davon völlig durchtränkt wird. So bleibt dieselbe 6—24 Stunden stehen. Alsdann wird sie zur Waschküche gebracht und entweder i j der Maschine zu¬ erst kalt, bezw. mässig warm (bei etwa 40° C) ausgespült, wobei die Trommel bewegt wird, oder sie wird in einem Bottich gespült; dabei werden etwaige Flecken mit der Hand aus¬ gerieben. Danach erfolgt der Waschprozess wie gewöhnlich. - y* Aus Vereinen und Versammlungen. Aus den Sitzungen des Internationalen Medizinischen Kongresses in Paris. Sektion für innere Medizin. (M. M. W. u. Allg. Med. Centr.-Ztg.) Ein Vortrag von Herrn Dieulafoy-Paris behandelt die Magengeschwüre. Er hat sich die Hauptaufgabe gestellt, vom klinischen und anatomischen Gesichtspunkte aus Unter¬ formen des Leidens zu sondern. Die oberflächliche Erosion, die erste Unterart, stelle sich in mehr oder weniger zahlreichen Blutaustritten dar. Sie sei eine örtliche Wirkung des auf der Magenschleimhaut sich ansiedelnden Pneumokokkus. Die Erosion Digitized by Google 854 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 17. könne in das entweder oberflächliche oder tiefer greifende Ulcus simplex umwandeln. Dieses letztere stehe gleichfalls zu Spaltpilz- bezw. Toxinwirkungen in engen Beziehungen, könne aber auch durch Gefäss Verletzungen und die Wirkung übersauren Magensaftes hervorgerufen werden. Es neigt zu Durchbohrung der Magenwand und zu gefährlichen Blutungen, kurz es ist das alte typische, runde Magengeschwür. Die von ihm durch ihre Spezifltät unterschiedenen luetischen und tuberkulösen Geschwüre haben dennoch dieselben Erschei¬ nungen und Komplikationen (?); auf das einfache Geschwür pfropfe sich häufig der Krebs auf. Bezüglich der Behandlung räth der Vortragende, wenn bei langwierigen, immer wieder blutenden Geschwüren die inneren Verordnungen versagen, zum chirurgischen Eingriff. In der Diskussion betont Herr Ewald-Berlin die hohe Be¬ deutung der Verwachsungsprozes8e in der Umgebung des Magens, welche leicht mit nervösen Erscheinungen verwech¬ selt werden und nur auf blutigem Wege zu behandeln sind. Herr Turtulis-Bey-Kairo hat in einem Fall akuter echter Lungenentzündung eine Darmblutung beobachtet, die wohl ein Seitenstück zu den von Dieulafoy bei erwähnten Magenblu¬ tungen darstellt. Herr Tarulla-Barzelona giebt einen Beitrag zur Kennt- niss der selbständigen Magenkrisen. An und für sich sind die Magenkrisen keine eigne Krankheit, sondern eine Störungsgruppe, die sich bei manchen Entartungen des Nerven¬ systems, nicht nur bei Tabes dorsalis, sondern auch beim Läh¬ mungsirrsein und bei multipler Sklerose findet. Dem gegen¬ über giebt es aber auch Krisen, welche ausschliesslich einem nervösen Reizzustande des Magens ihre Entstehung verdanken. In einem derartigen Falle sah Vortr. binnen 6 Jahren 5 An¬ fälle eintreten, ohne dass ein Nervenleiden sonst nachweis¬ bar war. Herr Einhorn-New-York bespricht die idiopatische Erweiterung des Oesophagus. Für die Erkennung dieses Leidens ist es wichtig, dass zwar Speiseröhre und Magenmund für den Magenschlauch durchgängig sind, dass aber dennoch durch vorsichtiges Aushebern aus der Speiseröhre selbst Nah¬ rungsreste geholt werden können. Diese sind um so leichter zu erkennen, wenn man charakteristisch gefärbte Flüssigkeiten, z. B. Kaffee vorher trinken lässt. Ferner ergiebtdie physika¬ lische Untersuchung ein Fehlen des Schluckgeräuschs. Auf diese Weise hat E. die Krankheit in 12 Fällen festgestellt, zweimal nach Verletzungen, deren Art leider der uns vorliegende Be¬ richt verschweigt. Das Leiden ist sehr langwierig. Der Kranke muss durch Druck auf den Brustkorb die Beförderung der Speisen in den Magen unterstützen, darf nicht zu grobe Kost einnehmen und soll abendliche Ausspülungen der Speise¬ röhre erhalten. Herr Bourget-Lausanne giebt eine Uebersicht über die Anzeigen und Erfolge der Gastroenterostomie. Seines Erachtens soll der Eingriff ausgeführt werden bei dauernder Veränderung des Pförtners durch Narben, Geschwülste oder bindegewebige Verdickung, nicht dagegen bei vorübergehendem nervösem Krampf und bei Stauungen des Mageninhalts wegen Senkung des Magens oder Erschlaffung seiner Muskeln. Um den einfachen Krampf auszuschliessen, empfiehlt es sich, öfters zu untersuchen, auch wohl der Untersuchung ein lauwarmes Bad oder den Gebrauch von Brom-Kali vorangehen zu lassen. Ob keine blosse Senkung vorliegt, wird durch Aufblähung des Magens entschieden. Völlig zufriedenstellend ist der Erfolg bei den organischen, gutartigen Verengerungen und auch bei entzündlichen Verwachsungen des den Magen umgebenden Bauchfells. Die absondernde Thätigkeit des Magens wird durch den Eingriff mindestens nicht beeinträchtigt, die Muskelihätig- keit wesentlich gebessert. Es stellt sich sogar eine periodische Entleerung des Magens, wie durch einen richtigen Pförtner her. Der Magen gewinnt allmählich seine ursprüngliche Lage und Ausdehnung wieder. Herr Gallois-Paris spricht über Infektionen von ade¬ noiden Vegetationen aus. Er unterscheidet I. akute oder chronische eitrige Entzündungen der Wucherung, selbst mit eventuellem Ausgang in Septikaemie, 2. ebensolche, die sich auf die Nachbarschaft in Form der verschiedenen Halsentzün¬ dungen ausbreiten, 3. Ausbreitung bestimmter Krankheiten — Rose, Impetigo, Lupus, Eczem — auf die Haut benachbarter Theile, 4. Verschleppung von Entzündungen in die Hals-Lymph- drüsen, 5. Fortkriechen von Entzündungen durch das Binde¬ gewebe der Umgebung zu entfernteren Theilen (Gehirn), 6. Uebergang von Tuberkelbazillen und andern Krankheitser¬ regern ins Blut mit entsprechender Allgemeininfektion (Miliar¬ tuberkulose, Endocarditis, Rheumatismus). Der membranösen Dickdarmentzündung galten drei von Boas-Berlin, Mannaberg-Wien und Mathieu-Paris abge¬ stattete Berichte. Boas unterscheidet die echte häutige von der nur anfallsweise, mit beschwerdefreien Zwischenräumen auftretenden schleimigen Entzündung und den vom anatomi¬ schen Gesichtspunkt aus der ersteren gleichenden aber künst¬ lich durch wiederholte Einläufe zusammenziehender Mittel bei bestehendem Dickdarmkatarrh erzeugbaren Veränderungen. Eine regelmässige Begleiterscheinung der echten häutigen Entzündung ist Stuhlverstopfung. Mannaberg bezeichnet die von der echten enteritis membranacea zu unterscheidende Krankheit als Schleimkolik. Sie sei ein sehr seltener, durch heftige Schmerzanfälle mit nachfolgender Schleimentleerung ge¬ kennzeichneter Zustand. Während die echte häutige Entzün¬ dung auf keiner anderen Grundlage entstehe als andere Dick¬ darmentzündungen auch, sei die Schleimkolik eine Darm-Neurose, häufig begleitet von anderen nervösen Störungen des Ver¬ dauungsapparats (nervöse Dyspepsie, Darmkrampf u. s. w.). Mathieu hält die Unterscheidung zweier Formen nicht auf¬ recht. Er spricht nur von der „Colite mucomembraneuse“ als von einer Krankheit, die in ihrer ganzen Stärke nur bei Nervenschwachen auftritt und mit der Nervenkrankheit einen unheilvollen Zirkel bildet. Ursache und auch wieder Wirkung des Leidens sei die Verstopfung, mit deren Behandlung die Heilung der Krankheit gegeben sei. Des weiteren behandelt Vortr. therapeutische Einzelheiten. In der Erörterung spricht Langenhagen-Plombiöres seine Meinung dahin aus, dass doch ausser der mit Verstopfung ein¬ hergehenden Hauptform eine seltenere Form mit anhaltenden Durchfällen bestehe. Er weist auch auf die Wechselbeziehungen zwischen häutiger Dickdarmentzündung und Darmsteinen hin. Ewald-Berlin nimmt ein einheitliches Wesen der häutigen Entzündung und der Schleimkolik mit neuropathischer Grund¬ lage an und verwirft die Ursächlichkeit der Verstopfung. In ähnlichem Sinne äussert sich Einhorn-New-York. Netter-Paris behandelt die meningitischen Erschei¬ nungen beim Typhus. Er findet, dass die auf Hirnhaut¬ entzündung hinweisenden Störungen die Heilungsaussicht 6ehr trüben. Entweder ist an der Leiche keine wirkliche Entzün¬ dung oder aber eine seröse Ausschwitzung, die Eberth'sche Bazillen enthält, vorhanden. In den letzteren Jahren haben die so verlaufenden Typhusfälle an Zahl auffallend zugenommen. Ordentliche Sitzung des Vereins der Bahn- und Kassen- ärzte für den Eisenbahndirektionsbezirk Erfurt. Freitag, den 15. Juni 1900. Anwesend sind 23 Herren. Der zur Zeit beurlaubte Vor¬ sitzende des Wohlfahrtsausschusses und der Betriebskranken- Digitized by Google 1. September 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 355 kasse für den Direktionsbezirk Erfurt hatte schriftlich bedau¬ ert, nicht erscheinen zu können, jedoch einen Vertreter ent¬ sandt. Der Vorsitzende des Vereins, Voigt-Erfurt, begrüsst die Anwesenden und giebt zunächst eine kurze Entstehungsge¬ schichte des Vereins, dessen Mitgliederzahl seit dem Grün¬ dungstage, 15. Dez. 1899, von 23 auf 50 gestiegen sei. Die Königliche Eisenbahndirektion stehe dem Verein sympathisch gegenüber und betrachte ihn als eine Art sachverständigen Beirath, dessen Gutachten schon wiederholt eingefordert worden seien. Es sei wünschenswerte, den Verein weiter zu ver- grössern, so dass schliesslich alle Kollegen, zu denen standes- gemässe Beziehungen bestünden, Mitglieder würden. Der Vorsitzende theilt dann mit, dass dem Verein seitens der Eisenbahndirektion eine Schrift zugegangen sei: „Ueber- eichten über die im Jahre 1899 seitens der Pensionskasse für die Arbeiter der preuss. Staatsbahnverwaltung stattgefundenen Heilverfahren", und macht darauf aufmerksam, dass hierin die Möglichkeit einer Verschickung von Kranken nach Badeorten gegeben sei. Der Verein beschliesst hierauf, aus seinen Mitteln für jedes Mitglied ein Exemplar der soeben erschienenen Vorlesungen zur Bekämpfung der Tuberkulose zu beschaffen. Der vom Vorstande des Vereins ohne Genehmigung den Satzungen zugefügte § 9: „Der Fortbestand des Vereins ist von der Kündigung, dem Tode oder dem Konkurs eines Mitglieds unabhängig", wird einstimmig angenommen. Der Beitritt zum Verband deutscher Bahnärzte wird ein¬ stimmig beschlossen. Für die Sitzung des Verbandes deutscher Bahnärzte am 23. und 24. Juni in Baden-Baden wird der Vorsitzende Dr. Voigt delegirt. Ein weiterer Vorschlag, noch einen zweiten Delegirten auf Vereinskosten zu entsenden, wird abgelehnt. Yoigt-Erfurt hält hierauf seinen Vortrag: Untersuchung genüberdie Dienstfähigkeit des Eisenbahnpersonals, insbesondere desjenigen für den äusseren Dienst. Er bespricht ausführlich die Untersuchungen über das Sehver¬ mögen, wie dieselben vor 1897 gehandhabt worden seien und hebt die grossen Fortschritte hervor, welche der Erlass des Herrn Ministers vom 7. Januar 1897 und vom 5. August 1898 mit sich gebracht habe, so dass gegenwärtig in Bezug auf das Sehvermögen bei den verschiedenen Kategorien der Eisenbahn¬ bediensteten nicht mehr der geringste Zweifel obwalten könne. Nach dem Erlass des Ministers vom 29. Mai 1899 müssten ferner die Militäranwärter und Civilsupernumerare ohne Rück¬ sicht auf ihre spätere Verwendung im äusseren oder inneren Dienst im Allgemeinen die für den Bahnhofsdienst erforder¬ liche Sehschärfe haben. Der Vortragende bespricht dann die verschiedenen Krankheiten und Krankheitsanlagen, welche die Verwendung und Anstellung im äusseren Eisenbahndienst aus- schliessen und kommt zu dem Schlüsse, dass bei der unge¬ mein grossen Verantwortung, welche der Eisenbahnbedienstete zu tragen habe und bei den grossen körperlichen Anstrengun¬ gen, denen er ausgesetzt sei, die grössten Anforderungen an die körperliche Tüchtigkeit gestellt werden müssten. Da die körperlichen Anstrengungen noch grösser seien als beim Mili¬ tär, müsse im Allgemeinen der Grundsatz festgehalten werden, dass derjenige, der nicht fähig zum Militärdienst befunden sei, auch nicht tauglich zur Bekleidung eines Postens im äusseren Eisenbahndienst erachtet werden könne. ln der folgenden Diskussion pflichtet Thierbach-Gera im Allgemeinen bei, doch kämen Fälle vor, wo Leute zum Eisen¬ bahndienst tauglich seien, die von der Militärbehörde als dienst¬ untauglich abgewiesen wären, ebenso wie auch umgekehrt Militärdiensttaugliche zuweilen den Anforderungen der Eisen¬ bahndiensttauglichkeit nicht genügten. Hanns-Sonneberg meint die Beurtheilung der Dienstbrauchbarkeit beim Militär richte sich oft nach dem Bedürfnis, Leute einzustellen. Der angekündigte Vortrag des Herrn Medizinalraths Dr. Brauns-Eisenach: „Besprechung der Missstände bei Ausübung der bahn- und kassenärztlichen Praxis und Vorschläge zu deren Beseitigung" musste leider in Folge dringender Abhaltung des Referenten ausfallen bezw. auf eine spätere Sitzung verschoben werden. Baehr-Erfurt war in¬ dessen in der Lage, kurz diejenigen Punkte zu skizziren, welche Brauns später ausführlicher beleuchten wird. Als Missstände, die dringend unter voraussichtlicher Beihülfe der Kgl. Eisen¬ bahndirektion und des Betriebskrankenkassenvorstandes zu be¬ seitigen erwünscht sind, bezeichnet derselbe: die Unsitte den Arzt mittelst Diensttelegramm auch in nicht dringlichen Fällen schleunigst herbeizurufen (es sei nothwendig, den Begriff der dringlichen Fälle so scharf wie möglich zu präzisiren), die Ge¬ wohnheit, Bestellungen für gewöhnliche Besuche u. s. w. ausser¬ halb der ärztlichen Sprechstunden abzugeben, ebenso wie die Nichteinhaltung der Sprechstunden seitens der Consultirenden, ferner die Häufung der Nachtbesuche in nicht dringenden Fällen, dann den Missbrauch, welcher mit dem Begriff „Angehörige der KasBenmitglieder" getrieben wird und dergl. mehr. Redner bittet die Anwesenden, diesbezügliches Material zu sammeln, damit die an den von Brauns zu erwartenden Vortrag sich an¬ schliessende Diskussion vorhandene Schäden aufdecken und beseitigen helfe. Nur wenn positives Material beigebracht werde, könne auf Abhülfe gerechnet werden. Nach Erledigung einiger Punkte von nicht allgemeinem Interesse ist die Tagesordnung erschöpft. Die Versammlung setzt den Beginn ihrer Sitzungen aüf 12 Uhr Mittags und als Tag den Donnerstag fest, weicherden auswärtigen Kollegen am genehmsten liegt. Baehr-Erfurt. Gerichtliche Entscheidungen. Ans dem Reichs-Versieh erungsamt. Lungenleiden als Folge eines Betriebsunfälle. Entscheidung vom 30. Juni 1900. Der Böttcher J. Sch. aus B. erlitt am 17. Dezember 1897 eine Quetschung der Nagelglieder des Mittel-, des Ring- sowie des kleinen Fingers. Durch Bescheid der Sektion VI der Brauerei- und Mälzerei-Berufsgenossenschaft vom 12. August 1898 wurde Sch. mit seinen Rentenansprüchen auf Grund eines Gutachtens des Sanitätsraths Dr. H. vom 8. August ab- gewiesen. Dieser Arzt hatte ausgeführt, dass die verletzten Finger wieder vollkommen gebrauchsfähig geworden wären, obwohl die Nagelglieder des Ring- und des Mittelfingers in ihren Gelenken in etwas gebeugter Stellung unbeweglich standen, und dass an der Brust objektiv keinerlei krankhafte Veränderungen wahrgenommen werden können. Sch. hat nun gegen den Bescheid der Genossenschaft rechtzeitig Berufung eingelegt und Gewährung der Vollrente beantragt. Er hat insbesondere geltend gemacht, dass der Unfall eine Erkrankung des Brustfells und der Lunge zur Folge gehabt hat. Das Schiedsgericht wies jedoch die Berufung als unbe¬ gründet ab und machte u. A. Folgendes geltend: Im schieds¬ gerichtlichen Verfahren ist zunächst auf Erfordern des Vor¬ sitzenden durch den Assistenzarzt am städtischen Krankenhaus Dr. v. G., welcher den Kläger behandelt hat, ein Gutachten erstattet worden. Danach besteht bei Sch. eine auf den Un¬ fall zurüokführende Lungenerkrankung, durch welche derselbe Digitized by Google 356 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 17. um 75 pCt. in seiner Erwerbsfähigkeit behindert ist. Dr. v. G. nimmt an, dass das jedenfalls schon vor dem Unfall im Körper ruhende Tuberkelgift durch die gelegentlich des Un¬ falls aufgewendete Körperanstrengung frei gemacht worden ist und dann die allmähliche Entwickelung der Lungenkrank¬ heit herbeigeführt hat. Mit Rücksicht darauf, dass der Ver¬ trauensarzt der BerufsgenossenBchaft, Dr. H., es vom wissen¬ schaftlichen Standpunkte aus für höchst unwahrscheinlich er¬ klärte, dass zwischen der 4 1 /? Monate nach dem Unfälle, am 24. August 18'. 8 aufgetretenen Lungenblutung sowie der sich daran schliessenden Erkrankung der Lunge, und dem Unfälle ein ursächlicher Zusammenhang bestehe, schien die Einholung eines Obergutachtens geboten. Um Erstattung eines solchen ist der Kgl. Universitätsprofessor Dr. R. ersucht worden und hat derselbe dieses am 28. Februar 1899 abgegeben. Dr. R. tritt im Wesentlichen den Ausführungen des Dr. H. bei und gelangt im Verfolg derselben zu dem Schlüsse, dass bei Sch. die Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhanges zwischen der Entstehung der jetzigen Lungenerkraukung und dem Un¬ fälle vom 9. April 1898 zwar nicht unbedingt auszuschliessen sei, dass aber mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit ein solcher Zusammenhang nicht angenommen werden könne. Da letzteres aber nach der Rechtsprechung des Reichs-Ver¬ sicherungsamts zur Herstellung des ursächlichen Zusammen¬ hanges erforderlich ist, so hat das Schiedsgericht den einwand¬ freien Darlegungen des Professors R. folgend, das jetzige Lungenleiden des Sch. als Unfallfolge nicht anzuerkennen vermocht. Da ferner bezüglich der Handverletzung auf Grund des eingenommenen Augenscheins eine wesentliche Behinde¬ rung nicht festzustellen war, so mussten die Rentenansprüche des Klägers als unbegründet zurückgewiesen werden. Gegen diese Entscheidung legte der Kläger Rekurs beim Reichs-Versicherungsamt ein; auch wurde das Verfahren von seinen Hinterbliebenen nach seinem Tode fortgesetzt. Das Rekursgericht stellte noch Ermittelungen an. Ein Werkmeister bekundete noch, dass Sch., als er einige Monate nach dem Unfall zu arbeiten begann, nicht so viel leisten konnte als seine Kollegen und auch etwas weniger Lohn erhielt. Er habe bemerkt, dass Sch. sich bei der Arbeit quälte; nach Ablauf der vierten Woche sei dann Sch. entlassen worden; letzterer habe auch über seine Brust geklagt. Das Reichs-Versiche- rung8amt hob darauf die Vorentscheidung auf und verurtheilte die Berufsgenossenschaft zur Entschädigung, da nach den au¬ gestellten Ermittelungen in Verbindung mit den ärztlichen Gutachten anzunehmen sei, dass das Lungenleiden auf den Unfall zurückzuführen sei. M. Tod duroh Lungenentzündung. Betriebsunfall liegt nicht vor. Entscheidung vom 30. Mai 1900. Der Tagearbeitei J. K., welcher zuletzt auf der Königin Luise-Grube beschäftigt war, ist am 7. Mai 1899 im Knapp- Bcbaftslazareth zu Zahrze an Lungenentzündung gestorben, nachdem er am Tage vorher daselbst zur Kur aufgenommen worden war. Die Hinterbliebenen haben Gewährung einer Unfallrente mit der Begründung beantragt, dass K. Anfang Mai 1899 beim Heben von Cementfässern einen Unfall erlitten habe, an dessen Folgen er verstorben sei. Die Rentenan¬ sprüche sind in allen Instanzen abgelebnt worden. Gründe: Der Knappschaftsarzt Dr. H. hat in seinem Gutachten vom 11. Juli 1899 auf Grund der Oeffnung der Leiche des J. K. rechtsseitige Lungenentzündung als Todesursache angegeben. Bei der Aufnahme in das Lazareth habe er stark nach Schnaps gerochen und den Eindruck eines an delirium tremens leiden¬ den Mannes gemacht. Dieser ermittelten Todesursache gegenüber ist es uner¬ heblich, dass der Verstorbene acht Tage vor seinem Tode den Arbeitsgenossen Mittheilung über angebliche Schmerzen im Leibe gemacht haben soll. Selbst wenn solche Schmerzen thatsächlich bestanden hätten, so ist dadurch noch nicht der Beweis für einen Betriebsunfall erbracht. Beim Heben von Cementfässern, einer betriebsübliohen Arbeit, konnten, wie der Sachverständige ausführt, solche Zerrungen der Lunge nicht stattfinden, welche die zum Tode führende Lungenentzündung hätten herbeiführen können. Zutreffend haben daher die Vorinstanzen den ursächlichen Zusammenhang zwischen der angeblichen Anstrengung beim Heben von Cementfässern und dem Tode des Erblassers der Kläger verneint. (Compass) Tod In Folge einer duroh Infektion des Blute« hervorgernfenen Lungen¬ entzündung. Verneinung der geeetzUohen EntsohädlgungspflichL Der Arbeiter L. batte sich am 3. August 1898 eine Haut¬ abschürfung an der linken Hand zugezogen, welche nach einigen Tagen verheilte. Kurze Zeit darauf stellte sich bei dem L. eine entzündliche Stelle des rechten Fussballens ein, welche zu einer Infektion des Blutes und zu einer Lungenentzündung führte, an deren Folgen L. am 19. August 1898 verstarb. Ab¬ lehnung des Entschädigungsanspruches Seitens der Genossen¬ schaft, weil der ursächliche Zusammenhang des Todes mit der am 3. August erlittenen geringfügigen Abschürfung au der linken Hand nicht feststand. Das Schiedsgericht verurtheilte die Genossenschaft unter dem 16. November 1898 zur Renten¬ zahlung. Auf erhobenen Rekurs der Letzteren ist der Ablehnungs¬ bescheid der Genossenschaft unter Aufhebung der Schieds¬ gerichtsentscheidung mit nachstehender Begründung wieder hergestellt: Die von der Klägerin erhobenen Ansprüche haben zur Voraussetzung, dass der Tod des Ziegeleiarbeiters L. ursächlich auf einen Betriebsunfall zurückzuführen ist. Als Betriebsunfall kann dabei sowohl eine äussere, bei der Betriebsbeschäftigung eingetretene Verletzung, wie auch die während der Arbeit er¬ folgte Vergiftung einer Wundstelle angesehen werden, da sich das Eindringen krankheitserregender Stoffe naturgemäss in einem kurzen Zeiträume vollzieht. In keiner dieser Beziehungen ist aber ein ausreichender Beweis geführt Allerdings hat die Unfalluntersuchung ergeben, dass der Arbeiter L. sich am 3. August 1898 eine leichte Handverletzung bei der Betriebs¬ beschäftigung zugezogen hat; indessen war diese Verletzung offenbar schon nach einigen Tagen wieder vollständig geheilt, sodass sie bei der Untersuchung durch den Dr. J. in B. gar nicht bemerkt worden ist. Auch nimmt weder dieser Sach¬ verständige, noch der Königl. Stabsarzt Dr. R. in B. an, dass die Wunde an der Hand die Eingangsstelle für schädliche Stoffe gebildet habe. Der Arbeiter L. soll dann allerdings noch eine weitere Verletzung am Fusse im August 1898 erlitten haben, jedoch ist von einem solchen Unfälle weder dem Arbeitgeber noch den Mitarbeitern etwas bekannt geworden. Die blosse Angabe der Wittwe L. kann bei dieser Sachlage nicht als ge¬ nügender Beweis dafür angesehen werden, dass ihr Ehemann sich thatsächlich bei der Arbeit eine Wunde am Fusse zuge¬ zogen hat, zumal da sie selbst erst im Laufe des Verfahrens mit dieser Behauptung hervorgetreten ist, und es zudem nicht wahrscheinlich ist, dass der bei der Arbeit durch einen Schuh geschützte Fuss des L. hierbei aufgerissen worden ist. Eben¬ sowenig ist dargethan, dass die Blutvergiftung bei der Arbeit erfolgt ist. Da auch eine weitere Beweisaufnahme unter den vorliegenden Umständen zu einer ei Qigermassen sicheren Fest- Digitized by Google 1. September 1900. Aerztliehe Saohverstftndigen-Zeitnng. 357 Stellung nicht führen könnte, so musste dem Rekursantrage der Beklagten stattgegeben werden, womit sich auch der Kosten¬ antrag der unterliegenden Kläger erledigt. (Unf.-Vers.-Pr.) Ans dem Ober-Verwaltungsgericht. Ist einem medizinischen Laien die Erlaubnis zur Errichtung einer Kranken¬ anstalt unter der Bedingung ertheilt worden, dass die Anstalt von einem approbirten Arzt geleitet werde, so kann die Erlaubnis zurdckgenommeir werden, wenn diese Bedingung iricht erfüllt wird. Entscheidung vom 14. Juni 1899. Der Bezirksausschuss hatte 1889 einem medizinischen Laien die Genehmigung gegeben, eine Wasserheilanstalt nach Schroth’schem System unter der Leitung des Dr. med. N. zu errichten und in Betrieb zu nehmen. Vor einiger Zeit wurde aber von der Behörde beim Bezirksausschuss im Klagewege beantragt, die ertheilte Erlaubnis wegen Unzuverlässigkeit zu entziehen. Die Klage wurde jedoch schliesslich vom Ober¬ verwaltungsgericht aus folgenden Gründen abgewiesen: Die Zuverlässigkeit des fraglichen Laien für den Betrieb der Kranken¬ anstalt lässt sich nicht schon deshalb absprechen, weil er ohne Genehmigung einmal Arzneien verkauft hat und weil er die¬ jenigen Kranken behandelt, die seine Hilfe in Anspruch neh¬ men. ErstereB ist offenbar hierfür ganz unerheblich, und Letzteres ist ihm nicht verwehrt, da die Reichsgewerbeordnung die Heilbehandlung den Aerzten nicht Vorbehalten hat. Dass die Behandlung des Laien sich für die Kranken nachtheilig erwiesen hat, dafür liegt nach dem Ergebniss der Beweisauf¬ nahme nichts vor. Dagegen ist dem Bezirksausschuss darin nicht beizutreten, dass dem Laien die Erlaubniss auch dann nicht ent¬ zogen werden könnte, wenn er im Widerspruch mit den Be¬ bedingungen, unter denen ihm die Erlaubniss ertheilt worden ist, die Krankenanstalt ohne die Mitwirkung eines leitenden Arztes in Betrieb gehalten hat; dass alsdann nur die Bestrafung des Laien wegen unbefugten Gewerbebetriebes gemäss § 147 No. 1 der Reiohsgewerbeordnung, wie der Bezirksausschuss ausführt, in Frage kommen könnte, ist irrig. Der Bezirksausschuss über¬ sieht, dass dem Laien als Unternehmer die Genehmigung zum Betrieb der Anstalt ertheilt worden ist, und dass die Nicht¬ achtung der gestellten Bedingungen den genehmigten Betrieb nicht zu einem ungenehmigten macht, ln dem Betrieb der Anstalt ohne einen leitenden Arzt im Widerspruch mit den Be¬ dingungen, unter denen die Erlaubniss ertheilt und angenommen ist, müsste aber eine Verletzung der in den Laien für die Aus¬ übung seines Gewerbes gesetzten besonderen Pflicht erblickt werden, und die Verletzung der Gewerbepflichten kommt rech eigentlich als eine Handlung oder Unterlassung im Sinne des § 53 der Reichsgewerbeordnung in Betracht, aus der auf Sei¬ ten des Gewerbetreibenden der Mangel der bei Ertheilung der Erlaubniss vorausgesetzten Eigenschaften gefolgert werdent kann. Hieran würde auch nichts ändern, dass die Aerzte der Umgegend in Folge eines Beschlusses des Aerztevereins, die¬ jenigen von der Mitgliedschaft auszuschliessen, die die Leitung derartiger Anstalten übernehmen, die Uebernahme der ihnen von dem Laien angetragenen Leitung ablehnen; der Laie hätte immerhin in Beachtung der gestellten Bedingung den Betrieb der Anstalt so lange ruhen lassen müssen, bis er einen Arzt für die Leitung der Anstalt fand. Der Beschluss des Bezirks¬ ausschusses kann indess, wie der Bezirksausschuss selbst an¬ nimmt, nicht in dem Sinne verstanden werden, dass damit dem Laien zur Pflicht gemacht ist, für die Leitung der An¬ stalt einen Arzt zu halten. Auch wenn der Beschluss über seinen Wortlaut hinaus, wonach der Laie im Widerspruch mit den Grundsätzen der Gewerbeordnung auf eine bestimmte Heilmethode und einen bestimmten Arzt verwiesen worden ist, dahin aufgefasst wird, dass ihm die Annahme eines Arztes überhaupt zur Pflicht gemacht worden ist, so ergiebt sich vor¬ weg der Zweifel, ob die Worte „ärztliche Leitung“ in dem Sinne „Leitung der Anstalt durch einen Arzt“ gemeint sind. Dass hierunter die Uebertragung der äusseren Leitung und der Verwaltung der Anstalt an einen Arzt verstanden ist, muss den vorliegenden Umständen nach für ausgeschlossen erachtet werden. Da es dem Laien offenbar auf die Behand¬ lung Derjenigen, die sich ihm anvertrauen, nach seiner Art, ankam, kann ihm nicht unterstellt werden, dass er mit dem seinem Antrag beigefügten Zusatz: „Die ärztliche Leitung hat Dr. N. übernommen“ zum Ausdruck hat bringen wollen, die innere Leitung der Anstalt und die Anordnung, wie die Kran¬ ken zu behandeln seien, solle einem Arzt Vorbehalten bleiben. Näher liegt dies, dass er nur hat ausdrücken wollen, Dr. N. werde die ärztliche Behandlung leiten, soweit eine solche in Anspruch genommen oder für geboten erachtet werden sollte. Hierfür und dass auch der Bezirksausschuss den Hinweis auf die ärztliche Behandlung nur in diesem Sinne verstanden hat, liegt auch ein bestimmter Anhalt in den dem genehmigenden Beschluss vorausgegangenen Verhandlungen vor. Gegen die Genehmigung des Antrages hatte sich der Kreisphysikus ent¬ schieden ausgesprochen, weil die Behandlung nach dem Schroth’schen Heilverfahren die beständige Aufsicht eines Arztes erfordere und Dr. N. mit Rücksicht auf die grosse Entfernung seines Wohnortes von dem Sitz der Krankenanstalt hierzu ausser Stande sei. Der Landrath hat jedoch bei Vorlage der Aeusserung des Kreisphysikus die Genehmigung des Antrages mit dem Bemerken befürwortet, dass der Laie ein recht¬ schaffener, ordentlicher und gewissenhafter Mann sei, der die Anstalt sicherlich nach bester Ueberzeugung leiten werde. Die Durchführung der Schroth’schen Methode setze seines Wissens ärztliche Vorkenntnisse nicht voraus. Dr. N. solle die Patienten bei der Aufnahme untersuchen. Wenn der Be¬ zirksausschuss demgegenüber die Erlaubniss im Anschluss an den Wortlaut des Antrages des Laien ertheilt hat, so muss umsomehr angenommen werden, dass er unter der ärztlichen Leitung dasselbe gemeint hat, was hierunter der Landrath augenscheinlich in Uebereinstimmung mit dem Laien ver¬ standen hat, als es doch nahe lag, wenn dem Gutachten des Kreisphysikus gefolgt wurde, die Erlaubniss zu versagen oder doch dem Landrath behufs Unterrichtung des Laien zu er¬ öffnen, dass der Hinweis auf die ärztliche Leitung nicht in dem Sinne des Landraths. zu verstehen sei. Dies ist nicht geschehen, dem Landrath vielmehr bei Uebersendung der Er¬ laubniss nur die Ueberwachung zur Pflicht gemacht, dass die Anstalt nach Massgabe des vorgelegten Planes gebaut und der Beschreibung entsprechend geführt werde. Da der Laie bestrebt gewesen ist, einen Arzt den Kranken auf Erfordern und auch, wenn ihm dies geboten erschien, zur Verfügung zu halten, und da die Erfolge seiner Heilbehandlung nicht zu beanstanden gewesen sind, rechtfertigt sich die getroffene Entscheidung. Bücherbesprechungen und Anzeigen. Müller, Dr. Fr. E., ständiger Vertrauensarzt der Fleischerei¬ berufsgenossenschaft in Lübeck. Was müssen die Berufs- genosBenschaften von den Aerzten verlangen? Lübeck, 1900. Max Schmidt. 32 Seiten. Preis 50 Pf. Durch eine Umfrage bei sämmtlichen 65 Industrie-Berufs¬ genossenschaften Deutschlands hat der Verfasser festgestellt, dass zwar leider eine Anzahl derselben schon ausschliesslich mit fest angestellten Vertrauensärzten arbeitet, dass einige andere zwar nicht so exklusiv sind, aber durch sorgfältig aus- gearbeitete Fragebogen dem minder bewanderten Arzte die Digitized by Google 358 Aerztliohe Saohverst&ndigen-Zeitung. No. 17. springenden Punkte der Fragestellung klar zu machen suchen dass aber eine grössere Anzahl von Berufsgenossenschaften auf dem Standpunkt steht, grade von der grundsätzlichen Heran¬ ziehung der gesammten Aerzteschaft zur praktischen Ausführung des Unfallgesetzes noch viel Erfolg zu erhoffen. Damit ist die Situation vollkommen gekennzeichnet. Jeder praktische Arzt in Deutschland kann in die Lage kommen, Unfallfolgen begutachten zu sollen, und es ist im Interesse unseres ganzen Standes dringend wünschenswerth, dass Jeder dieser Aufgabe auch gewachsen sei. Um dies zu sein, muss er drei Bedingungen genügen, die der Verfasser seinen Aus¬ führungen als Leitsätze voranstellt: 1. Jeder Arzt muss heutzutage eine genügende Kenntniss der Bestimmungen des Unfallgesetzes besitzen. 2. Jeder Arzt muss wenigstens die hauptsächlichsten Erfah¬ rungen beherrschen, die bei der Ausführung des Unfallgesetzes und auf dem Gebiete der Unfallheilkunde gemacht worden sind. 3. Jeder Arzt muss es verstehen (durch bewusste Rück¬ sichtnahme auf die durch das Gesetz und den Gebrauch ge¬ regelte Rechtsprechung in Unfallsachen) seinem ärztlichen Gut¬ achten den Werth zu verleihen und zu sichern, der dem ärzt¬ lichen Zeugniss in Unfallsachen thatsächlich und von Rechts¬ wegen zukommt. Man mag entgegnen: „Diese Wahrheiten sind bis zur Trivialität oft wiederholt worden, und es giebt wenige Aerzte, die sie nicht anerkennten.“ Aber es ist ein weiter Schritt vom rein platonischen Anerkennen bis zur gründlichen Befol¬ gung solcher Grundsätze. Mit dieser hapert es noch häufig genug und gewiss grossen Theils deshalb, weil es dem Neuling, dem ganz Ungeübten bisher an einem ganz billigen, kurzen und übersichtlichen Leitfaden gefehlt hat, aus dem er sich über Wesen und Bedeutung seiner Aufgabe in grossen Zügen orientiren konnte. Müller hat sich ein Verdienst um die Aerzteschaft dadurch erworben, dass er einen solchen Leidfaden in klarer, bündiger Form, in ruhiger, alle Gehässigkeiten vermeidender Sprache geschrieben hat. Am besten hat uns die den ersten Leitsatz erläuternde kurze Uebersicht der gesetzlichen Grundlagen gefallen. Weit schwieriger war es natürlich, den zweiten Satz zu kommen- tiren, weil es sich dabei doch nur um ein Herausgreifen be¬ sonders wichtiger Unfallfolgen handeln konnte. Verf. hat sich auf die Unfallneurosen, auf die Unterleibs- und Knochenbrüche beschränkt. Wir würden es zweckmässig finden, wenn in der nächsten Auflage auch die allgemein zu berücksichtigenden Grundsätze bei der Beurtheilung des Zusammenhanges zwischen inneren Krankheiten und Unfällen Platz fänden. In Bezug auf die Unfallneurosen können wir M.’s Stand¬ punkt nicht so ganz theilen. Er möchte, dass alle Aerzte sich auf das Strümpell’sche Dogma einschwören, dass die Ein¬ sprüche der „hypochondrischen“ Unfallkranken womöglich von Anfang an abzuweisen seien. So gern wir glauben, dass „die BerufsgenoBsenschaften dies aufs lebhafteste wünschen“, und so allgemein auch unseres Erachtens der Satz gilt, dass man Unfall-Hypochonder nicht durch hohe Renten von der Arbeit entwöhnen soll, so ist doch Strümpell’s radikale Anschauung keineswegs Gemeingut der ärztlichen Wissenschaft. Besonders ausdrücklich aber muss darauf hingewiesen werden, dass nach vielen Verletzungen, zumal denen des Central-Nervensystems, oft lange Zeit gar nicht zu entscheiden ist, ob nicht den schein¬ bar rein nervösen Beschwerden organische Veränderungen zu Grunde liegen. Wir haben diesen einzelnen Punkt seiner prinzipiellen Bedeutung wegen etwas weitläufiger ausgeführt, nicht aber um durch diese Kritik den Werth des Schriftchens irgendwie herabzusetzen. Im Aufträge verschiedener Berufsgenossenschaften schliesst Verf. den zweiten Abschnitt mit dem Rath, dass der praktische Arzt, um über den Stand der Unfallheilkunde auf dem Laufen¬ den zu bleiben, regelmässig eine Zeitschrift für Unfallheilkunde oder Sachverständigenthätigkeit halten sollte. Der dritte Ab¬ schnitt enthält Einzelheiten über die zu empfehlende Form, der Gutachten, die vielleicht etwas plastischer gekennzeichnet sein könnte. Den Schluss bilden drei wirklich abschreckende Beispiele deijenigen Gutachten, die der Verfasser ohne Ueber- treibung als unbrauchbar bezeichnet. Wenn die kleine Schrift diejenige Verbreitung findet, die sie ihrem Inhalt nach verdient und ihrer Billigkeit nach finden kann, wird sie segensreich wirken. Kafemann, Dr. R., Privatdozent in Königsberg. Rhinophary n- gologisohe Operationslehre mit Einschluss der Elek¬ trolyse für Aerzte und Studirende. Mit 72 Abbildungen im Text. Halle a. S. 1900. Verlag von Karl Marhold. 112 Seiten. Preis 3,00 Mk. In der Gestalt von Vorlesungen und unterstützt durch eine stattliche Anzahl von grösstentheils recht guten und instruktiven Abbildungen giebt der Verfasser einen Ueber- blick über den gegenwärtigen Stand der Lehre von den Operationen, die im Rachen und in der Nase mit ihren Neben¬ höhlen vom Spezialisten vorgenommen werden; von der Schilderung der rein chirurgischen Operationen, die zur Be¬ seitigung grösserer Geschwülste etc. (Sarkom, Carcinom, Tuberkulose) vorgenommen werden, ist dagegen Abstand ge¬ nommen worden. Er wendet sich mit seinen Ausführungen aber nicht an den Spezialisten, sondern an den praktischen Arzt, von dem er mit Recht verlangt, dass er die kleineren und landläufigeren Operationen, die hier in Frage kommen, selbständig und ohne Zuziehung des Spezialisten auszuführen im Stande ist; er erblickt in dieser erweiterten technischen Ausbildung ein soziales Moment, das dem Niedergang des An¬ sehens des ärztlichen Standes beim Publikum entgegenzuwirken geeignet sei. Die Darstellung ist überall klar und verständlich; sie hält sich frei von Nebensächlichem und giebt in der Haupt¬ sache nur die empfehlenswerthen Operationsmethoden wieder, wie sie Verfasser selbst übt und bei seinen Operationskursen an der Leiche zu lehren pflegt. Zuerst wird die Operation der hyperplastischen Rachen¬ mandel, der Gaumenmandeln und schliesslich der Zungen¬ tonsille geschildert. Die hierbei vorkommenden und oft recht gefährlichen und namentlich für den darauf nicht vorbereiteten Operateur höchst unangenehmen Blutungen werden dabei ebenso wie die dagegen anzuwendenden Massnahmen be¬ sonders eingehend erörtert. — Daran schliessen sich die Operationen an den krankhaft veränderten weichen Geweben in der Nase und im Epipharynx. Verfasser nimmt hierbei Gelegenheit, vor der Anwendung ätzender Stoffe, wie Chrom¬ säure, Trichloressigsäure, Höllenstein u. s. w., zu warnen; auch den Gebrauch der Galvanokaustik, das noch bis vor wenig Jahren so beliebte sogenannte „Ausbrennen“ der Nase, räth er einzuschränken. Ebensowenig empfiehlt er das elektro¬ lytische Vorgehen, vielmehr giebt er dem schneidenden Instru¬ ment, der Schlinge, der Zange, der Scbeere und dem Messer, in jedem Falle den Vorzug. Die Operationen am Knochen und Knorpel der Nase um¬ fasst die nächste Vorlesung (ist die hier mehrfach wieder¬ kehrende Schreibweise Lympfe statt Lymphe beabsichtigt?), und in der letzten folgen Erörterungen über die operative Be¬ handlung (warum „Nachbehandlung“?) der Nebenhöhlen. An¬ hangsweise sind dann noch einige interessante Bemerkungen Digitized by Google 1. September 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 359 über die Elektrolyse angeschlossen, mit der sich Verfasser selbst eingehender beschäftigt hat. Die Schrift enthält eine grosse Reihe sehr beherzigens- werther Winke gerade für den praktischen Arzt; insbesondere ist für letzteren der Abschnitt über die Operationen an den adenoiden Geweben sehr lehrreich und lernenswerth. ln den übrigen Kapiteln aber geht Verfasser vielfach über die Be¬ dürfnisse des praktischen Arztes hinaus; es verdient dies hervorgehoben zu werden, weil es zu bedauern wäre, wenn die so verdienstvolle Arbeit etwa hie und da den Erfolg hätte, den auf vorliegendem Gebiet praktisch nicht geschulten und geübten Arzt zu veranlassen, auch an die schwierigeren der geschilderten Operationen mit kühnem Wagemuth, aber ohne ausreichende Erfahrung und Sachkenntniss heranzugehen. Be¬ sonders auf dem Gebiete der Verbildungen und Missbildungen im Naseninnern, wo die Operation oft nur lästige, aber nicht direkt gefährliche Erscheinungen zu beseitigen bat. muss für den nicht spezialistisch geschulten Arzt das „quieta non movere*' noch immer Gesetz bleiben; manche wirklich schweren Erkrankungen der Nase und ihrer Nebenhöhlen sind nur die Folge vorheriger kleiner, nicht sacbgemäss genug ausgeführter operativer Eingriffe. Es wäre zu wünschen gewesen, dass Verfasser dies selbst zum Ausdruck gebracht hätte; doch kann in der Unterlassung dieses Hinweises ein die Brauchbarkeit der trefflichen Schrift beeinträchtigendes Moment nicht er¬ blickt werden. Richard Müller. Kafemann, Dr. R., Privatdozent. Lebensversicherung und sogenannte primäre Kehlkopftuberkulose. Halle a. S. 1900. Verlag von Carl Marhold. 15 S. Pr. 0,60 M. Verf. weist an der Händ von 6 näher geschilderten Fällen auf die Wichtigkeit der Untersuchung des Kehlkopfes bei der Aufnahme in Lebensversicherungen hin, weil tuberkulöse Af¬ fektionen des Kehlkopfes bisweilen eine frühzeitige Diagnose der in der Entwickeluog befindlichen, sonst aber noch nicht nachweisbaren Tuberkulose ermöglichen. Damit ist in der That das Interesse der Versicherungs-Gesellschaften gewahrt. Wir wollen aber hinzufügen, dass auch dem Kranken mit der frühzeitigen Erkennung seines Leidens, das in diesem Stadium vielfach noch heilbar sein wird, ein Dienst erwiesen ist. R. M. Tagesgeschichte. Stadtärzte. Nach dem § 3, Absatz 5 des Gesetzes betreffend die Dienst¬ stellung des Kreisarztes und die Bildung von Gesundheits- Kommissionen vom 16. 9. 1899, welches voraussichtlich am 1.4. 1901 in Kraft tritt, können bekanntlich in Stadtkreisen, die als Kommunalbeamte angestellten Stadtärzte von dem Minister der Medizinal-Angelegenheiten mit Wahrnehmung der Obliegen¬ heiten des Kreisarztes beauftragt werden. Wie bereits Frank¬ furt a. M. und Breslau, so hat jetzt auch der Magistrat der Stadt Dortmund die Anstellung eines Stadtarztes für den Stadt¬ kreis Dortmund beschlossen. In der Dortmunder Zeitung vom 2. 8. 1900 wird nun der Beschäftigungs- und Besoldungsplan des anzustellenden Stadtarztes folgendennassen beschrieben: „Dem Stadtarzt würden etwa folgende Aufgaben zufallen: 1. Gutachten in den Angelegenheiten des Gesundheits¬ wesens auf Ersuchen der zuständigen Behörden zu erstatten, den letzteren auch Vorschläge zur Abstellung von Mängeln in der öffentlichen Gesundheitspflege zu machen. Polizeiverord¬ nungen in dieser Richtung zu begutachten; 2. die gesundheitlichen Verhältnisse des Stadtkreises, ins¬ besondere auch das Desinfektionswesen, das Abdeckereiwesen, die Einrichtung der Kanalisation u. s. w. zu beobachten, das Trinkwasser, wie alle übrigen Nahrungs- und Genussmittel fort¬ laufend auf ihre Gesundheitsschädlichkeit zu untersuchen; 3. auf die Bevölkerung durch Bekanntmachungen, Press¬ notizen, Vorträge oder ähnlich aufklärend und belehrend ein¬ zuwirken ; 4. die Durchführung der Gesundheitsgesetzgebung und der hierauf bezüglichen Anordnungen zu überwachen; 5. die Heilanstalten und andere zur Gesundheitspflege ge¬ troffenen Einrichtungen zu beaufsichtigen, a) als Heilanstalten kommen ausser den Krankenhäusern auch die Privatkliniken; b) als andere zur Gesundheitspflege getroffenen Einrich¬ tungen u. a. das chemische Untersuchungsamt, die Desinfektionsanstalt, die Schulhygieine etc., in Betracht; 6. über Apotheken- und Drogen- wie über das Hebammen¬ wesen, schliesslich auch über die Heilgehülfen und anderes Hülfspersonal der zur Gesundheitspflege getroffenen Einrich¬ tungen die Aufsicht zu fuhren; 7. auf Ersuchen des Magistrats oder des Stadtausschusses oder des Vorsitzenden dieser Körperschaften mit berathender Stimme an ihren Sitzungen theilzunehmen; 8. an den Sitzungen der Gesundheitskommission, deren Zusammenberufung er jederzeit verlangen kann, mit berathender Stimme theilzunehmen; 9. die städtischen Beamten vor der Anstellung und event. vorzeitigen Pensionirung auf ihren Gesundheitszustand zu untersuchen; 10. die Geschäfte des Impfarztes und 11. diejenigen des Gerichtsarztes zu übernehmen; 12. die Ausbildung der städtischen Polizei,Exekutivbeamten, der Feuerwehrleute und der Schüler der königlichen Maschinen- bauschulen im Samariterdienst zu leiten. Ein Theil dieser Geschäfte wird bereits jetzt durch den Kreisphysiku8 auf Kosten der Stadt wahrgenommen. Hierfür erwachsen der Stadt jährlich ungefähr folgende Ausgaben: Für Impfungen 4000 Mk. Für Abhaltung von Samariterkursen 400 Mk. Für Besichtigung der Drogengeschäfte 250 Mk. Für Besichtigung der Privatkranken-An- stalten 50 Mk. Für Untersuchung der städtischen Beamten, etwa 40 240 Mk. insgesammt 4940 Mk. Der Magistrat hat in Aussicht genommen, das Gehalt des Stadtarztes auf jährlich 7000 Mk., steigend von 3 zu 3 Jahren um je 500 Mk. bis zur Höhe von 10000 Mk., festzusetzen. Von diesem Gehalt würde jedoch die Einnahme des Stadt¬ arztes aus seiner Thätigkeit als Gerichtsarzt abgezogen werden können. Diese Einnahme betrug bisher jährlich etwa 800 Mk. Hiernach würde die Stadt bei Annahme obigen Gehalts¬ abzugs zunächst 7000 — (4940+800) Mk. d. s. 1260 — zu- zuschiessen haben. Der Stadt erwächst jedoch der Vortheil, dass der Stadtarzt als Kommunalbeamter jederzeit zu ihrer Verfügung steht und — unter billiger Wahrung der Staats¬ interessen — ausschliesslich im Interesse der Stadt thätig ist. Es ist auch in Aussicht genommen, die Ausübung eines Nebenamtes dem Stadtarzt nur in Ausnahmefällen und zwar jederzeit widerruflich zu gestatten, ihm auch die Ausübung der Privatpraxis mit Ausnahme in besonders dringenden Fällen und von Konsultationen mit anderen Aerzten zu untersagen." _ B. Unfallverhütungskommission in Oesterreich. Seit neuester Zeit besteht im Oesterreichischen Handels¬ ministerium eine Kommission, welche die Aufgabe hat, in allen, Digitized by Google 360 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 17. auf den Schutz des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter gegen Unfälle bezüglichen Angelegenheiten, die Regierung zu berathen. Insbesondere hat die Kommission Gutachten über zu erlassende Unfallverhütungsvorschriften auszuarbeiten. An¬ gehören sollen ihr 16 bis 20 Mitglieder aus den Kreisen der industriellen Technik, der Hygiene, Vertreter der Arbeiter- Unfallversicherungsanstalten, Unternehmer und Versicherungs¬ pflichtige der, dem Unfallversicherungsgesetz unterstehenden Betriebe. Die Kommission hat das Recht, auch unaufgefor¬ dert, über Angelegenheiten ihres Wirkungsbereichs Vorschläge zu machen. Natürliche oder künstliche Mineralwässer. Das Oberlandesgericht in Köln bat, wie wir der Zeitschrift für öffentliche Chemie entnehmen, kürzlich eine prinzipiell wichtige Entscheidung gefällt, welche Mineralwässer als natür¬ lich zu gelten haben. Die bekannte Apollinaris-Gesellschaft war von einem Düssel¬ dorfer Mineralwasserfabrikanten des unlauteren Wettbewerbs angeklagt worden, weil sie, zu Unrecht, das von ihr in den Handel gebrachte Tafelwasser als natürliches Mineralwasser bezeichnete. Thatsächlich enthält die Apollinarisquelle Eisen- und Schwebestoffe und wäre als kohlensaures Mineralwasser in ihrem natürlichen Zustande untauglich. Es werden ihr daher künstlich diese Stoffe entzogen, wobei sie wiederum Kohlen¬ säure verliert, die ihr dann im Verein mit Kochsalz wiederum künstlich zugeführt wird. Das Oberlandesgericht Köln ist, unter Anderem auf Grund eines Gutachtens von Fresenius, zu dem Schlüsse gelangt, dass als natürliches Mineralwasser nur ein solches zu bezeichnen sei, das im Wesentlichen so in den Handel kommt, wie es der Quelle entsprungen ist. Dies treffe für die, nach Art des Apollinari’s behandelten Wässer nicht zu. Unter Androhung einer hoben Geldstrafe wurde daher die Apollinaris-Gesellschaft verurtheilt, die gerügten Bezeichnungen künftig zu unterlassen. Eine Statistik der gewaltsam herbeigeführten Todesfälle in den Vereinigten Staaten theilt das „British Medical Journal* mit. Danach haben die Selbstmorde dort, selbst ihrer absoluten Zahl nach, ständig abgenommen. 1899 waren es 5349 Fälle. Unter den Ange¬ hörigen der gelehrten Stände wiegen die Aerzte auffällig vor. Geisteskrankheit war in 355 Fällen, körperliche in 225, Trunk¬ sucht in 127 die Ursache. Als Mittel zum Selbstmord wurde in über 2000 Fällen Gift gewählt, etwa 500 Personen erhängten sich, 300 durchschnitten sich die Kehle, 30 verbrannten sich freiwillig, — eine Art des Selbstmords, die bei uns zu Lande als höchst selten gilt. In ähnlicher Höhe bewegen sich die Ziffern der Selbstmordfälle durch Sprung aus der Höhe und Ueberfahren; vereinzelte Personen sprengten sich mit Dynamit in die Luft oder wählten den Hungertod. Die Zahl der Morde ist um fast tausend höher als die der Selbstmorde, ln seltsamem Kontrast dazu steht die geringe Ziffer von 109 Hinrichtungen, ein Gegensatz an welchem nicht etwa die Milde der Gesetze oder der Gerichte schuld ist. Den Rest der gewaltsam Gestorbenen bilden die der Lynchjustiz Anbeimgefallenen. Ihre Zahl ist fast genau so hoch, als die der gesetzmässig Hingerichteten, hat aber immerhin in den letzten Jahren abgenommen. Der Jahresbericht der Knappschafts-Berufsgenossenschaft für 1899 ist nunmehr veröffentlicht worden. Die Zahl der Ver¬ sicherten betrug ca. 520000, die der angemeldeten Unfälle etwas über 52000. Auffallender Weise war seit 1893 fünfmal und so auch 1899 die Zahl der Unfälle je in der ersten Hälfte der Woche höher als in der zweiten, dabei aber im Berichts¬ jahr Samstags, als am Tage der grössten Ermüdung, am höch¬ sten, Montags, nach der Sonntagserholung am geringsten [was manche überraschen wird]. Entschädigungspflichtige Unfälle entfielen 12,10 auf 1000 Versicherte; die tätlichen Un¬ fälle zeigen die erschreckend hohe Ziffer von 2,03 auf 1000 Versicherte, dennoch sind sie gegen das Jahr 1898 weniger geworden. Letzteres brachte nämlich 10 Massenunfälle mit 272 Toten und 130 Verletzten, 1899 dagegen kamen nur 4 Massenunfälle mit 16 Toten, 55 Verletzten vor. Veranlasst waren die Unfälle zu 4 /ö durch die Gefährlichkeit des Betriebes an sich. Diese Ziffer ist seit 1893 stetig gestiegen, von 52,44 bis 80 Prozent, ln demselben Masse haben die durch Schuld der Verletzten selbst entstandenen Unfälle abgenommen (von 41,89 auf 21,50 Proz.) Eine geringe Rolle spielt die Schuld von Mitarbeitern (3,3 Proz.), Betriebsmängel fallen als Unfall¬ ursache dies Jahr ganz aus. Der Pestfall in Hamburg ist, wie man jetzt endgiltig annehmen kann, völlig vereinzelt geblieben. Naturforscherversammlung zu Aachen. Nachträglich haben in der 35. Abtheilung: Unfallheilkunde, noch Vorträge angemeldet die Herren: F. Schäffer-Leun: Thema Vorbehalten. R. Schindler-Berlin: Die Mitwirkung der Aerzte beider Abschätzung des Unfallschadens nach Prozenten der Erwerbs¬ einbusse. Derselbe: Fall von Empyem 3 Jahre nach Verschlucken einer Eisenspirale. Derselbe: Bemerkungen zum neuen Unfallgesetz. E. Lembke-Karlsruhe: Thema Vorbehalten. J. Bett mann-Leipzig: Thema noch nicht genau bestimmt, wahrscheinlich Demonstration von Röntgogrammen und Kranken¬ geschichten. Fr. A. Dü ms-Leipzig: Thema Vorbehalten. Die zweite Versammlung der deutschen Krankenpfleger, Massöre und Heilgehilfen hat jüngst in Dresden stattgefunden. Es wurde, Zeitungsbe¬ richten zufolge, der Entwurf einer Standesordnung angenom¬ men, die sich besonders gegen unlauteren Wettbewerb und Reklame richtet. Die Auswahl der zuzuziehenden Kranken¬ pfleger u. s. w. solle den Aerzten überlassen bleiben. Des weiteren wurde die Errichtung staatlicher Krankenpflegeschulen lebhaft befürwortet. Eine Allgemeine Deutsche Ausstellung für Sanitäts- und Rettungswesen, Kranken- und Gesundheitspflege findet vom 8. bis 30. September 1900 in Verbindung mit dem IV. Deutschen Samariter-Tage zu Breslau statt. Der Zweck der Ausstellung ist, die Fortschritte, welche auf den verschiedenen in Frage kommenden Gebieten während des letzten Jahrzehntes gemacht wurden, sowie die Thätigkeit des Deutschen Sama¬ riter-Bundes dem grossen Publikum und den betreffenden Fach¬ kreisen vor Augen zu führen. Ferner soll dieselbe aber nicht blos das Samariter- und Rettungswesen, sondern auch die öffentliche und häusliche Gesundheitspflege, die Ernährung des Volkes und der Armee zur Anschauung bringen. Obwohl die Ausstellung eine deutsche ist, werden im all¬ gemeinen Interesse auch ausländische Erzeugnisse und Pro¬ dukte zur Ausstellung zugelassen, und sind hierfür besondere internationale Spezialkonkurrenzen vorgesehen. Verantwortlich für den Inhalt: Dr. F. Leppmann in Berlin. — Verlag and Bigenthom von Richard Schoeti in Berlin. — Druck von Albert Damcke, BerllnBchöneberg. Digitized by 1 l * a/«UUVAV| VUUITMVJIVUVVV Google Die „Aerstliche SachTersUudigcn.Zeitung“erscheint monatlich Kwelm&L Dleeelbe lat an bealehen durch den Buchhandel, die Poet (No. 85) oder durch die Verlagsbuchhandlung ron Richard Sehoets, Berlin NW., Luiaenatr. 86, ina Preise ▼on Hk. 5.— pro Vierteljahr. Aerztlich© Alle Manuskripte, Mittheilungen und redaktionellen Anfragen beliebe man au tonden an Or. F. Leppmann, Berlin W., KurfUrstenatr. No. 8. Korrekturen, Rezensions-Exemplare, Sondersbdrtlcke an die Verlagebuchhandlnug, Inserate und Beilagen an die Annoneen-Expedition von Rudolf Moose. Sachverständigen-Zeitung Organ. für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und Unfall-Heilkunde. Herauegegeben von Dr. L. Becker Dr. A Leppmann Dr. F. Leppmann Geh. SanltKtsrath, Könlgl. Fhyslkns, Vertrauensarzt Sanitltsrath, Königlicher Physikua, Arzt der Beobaehtnngsanstalt für getstee- prakt. Arzt, von Bernfkgenoesensehaften und Schiedsgerichten. kranke Gefangene in MoabiuBerlin, Spesialarst fUr Nerven, u. Geisteekranke. Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstrasse 36. VI. Jahrgang 1900. M 18 . Ansgegeben am 15. September. In halt: Originalien: Edel, ßohwefelkohlenstoffdelirium und Kopftrauma. S. 361. Landau, Zwei Todesfälle nach Ausschabung der Gebärmutter. Fahrlässige Tötung? (Fortsetzung). 8. 363. Referate: Allgemeines. Schenk, Die- Nothwendigkeit der Errichtung vou Trinkerheilstätten. 8. 367. Chirurgie. Bier, Cocal'nisirung des Rückenmarks. S. 367. AVürz, Traumatische Entstehung von Geschwülsten. 8. 367. Hahn, Carcinom der Kopfhaut. S. 368. Völcker, Chlorzinkätzungen bei inoperabelen Tumoren. 8.368. Schmidt, Fettgewebsnekrose u. Erkrankung, d. Pankreas. S. 368 Carwardino, Riss in der Leber. 8. 368. Franke, Chirurgisch wichtige Komplikationen und Nach¬ krankheiten der Inflnenza. S. 369. Innere Medizin. Krahn, Aetiologie der Noraa. S. 369. Schultze, Maul- und Klauenseuche bei Menschen. S. 369. Wanitschek, Fremdkörper in den Luftwegen. 8. 370. Neurologie und Psychiatrie. Hinshelwood, Angeborene Wortblindheit. 8. 370. Stein, Psychische Störungen nach Osteomyelitis acuta. 8. 370. Bloch, Ein Fall von hysterischen Stemmbein 4L .320* .■ Becker, Neurasthenischer Schlüsseltremor nach Trauma. S. 371. Vergiftungen. Murray, Chronische Messing-Vergiftung. 8. 371. Sublimatvergiftnng als Unfall. 8. 372. Johns ton, Unfall mit Karbolsäure. 8. 372. Augen. Ui brich. Ein Fall von beiderseitiger Optikusatrophie nach Einwirkung eines elektrischen Stromes. 8. 372. Bathen, Parasit aus der Klasse der Krusterauf der Hornhaut. 8.372. Hygiene. Lam, Bedeutung einer Milchkontrolle für die Städte. S. 373. Beck, Beiträge znr Untersuchung über die Marktmilch. 8. 373. Helm, Gewinnung und Absatz von frischer, tuberkelbazillenfreier Trinkmilch (Eismilch). S. 373. Roeseier, Das Wassergas, seine Herstellung, Verwendung und hygienische Bedeutung. 8. 374. Aus Vereinen und Versammlungen. Aus den Sitzungen des 13. Inter¬ nationalen medizinischen Kongresses. Sektion für Chirur¬ gie. 8. 374. Gerichtliche Entscheidungen: Aus demReichs-Versicherungs-Amt: Verletzung der Halswirbelsäule. — Tod in Folge traumatisch or Epilepsie. 8. 376. Aus dem Sächsischen Landes-Versicheruugsamt: Blitz¬ schlag als Unfall. 8. 377. A usdemOber-Ver wal tu ngsger ich t: Versagte Konzession. S. 378. Gebührenwesen: In der Gebühr für schriftliche Gutachten ist diejenige für die gewöhnliche zuvorige Untersuchung eingeschlossen; nicht aber diejenige für eine längere Beobachtung. 8. 378. Blloherbesprechungen u. Anzeigen: Schober, Medizinisches Wörterbuch . ,. ,dßr.deutschen und fr*mzö$ischen Sprache. —Scholz, Von Aerztcn und Patienten. — Lohmar, Welche Neuerungen bringt das Ge¬ werbe-Unfallversicherungsgewerbe vom 30. Juni 1900. — Bern¬ stein, Anleitung zur Verhütung geschlechtlicher Erkrankungen für das männliche Geschlecht. 8. 378. Tagesgeachichte : Das Gewerbe-Unfallgesetz v. 30. Juni 1900. — Kranken¬ versicherungspflicht der Seeleute — Die Pest. — Verbreitung der Lepra. — Das Vorkommen des Rhinoscieromsin Deutschland. 8.379. Aus dem Asyl für Gemüthskranke zu Charlottenburg. Schwefelkohlenstoffdelirium und Kopftrauma. (Akute Vergiftung). Von Dr. Max Edel. Das Vorkommen von nervösen und psychischen Störungen bei chronischer Schwefelkohlenstoffvergiftung ist bekannt Namentlich sind sie bei Gummiarbeitern, welche mit dem Vul- kanisiren, d. h. dem Eintauchen der Gommifabrikate in CS 2 - Dämpfe beschäftigt sind, beobachtet worden. Marie 1 ) berichtet über Intoxikationen in einer Schwelfelkohlenstofffabrik mit ähnlichen Erscheinungen wie bei den Vergiftungen der Gummi¬ arbeiter. Zur Verhütung dieser Gewerbekrankheit sind denn auch bereits hygienische Massnahmen an einzelnen Orten getroffen worden, welche einen segensreichen Einfluss gehabt haben. Laudenheimer, 2 ) der kürzlich an der Hand eines grösseren Materials die Neurosen und Psychosen der Gummiarbeiter be- J ) Sulfure de Carbone et Hysterie par Pierre Marie (Bulletins et ntemoires de la soeiöte mödicale des Höpitaux de Paris 1888). *) Ueber nervöse und psychische Störungen bei Gummiarbeitern (Schwefelkohlenstoffvergiftung), Neurologisches Centralblatt 1898, 8. 681 und Schwefelkohlenstoffvergiftung der Gummiarbeiter. Veit, Leipzig 1899. schrieben hat, ist für eine reichsgesetzliche Regelung der pro¬ phylaktischen Massnahmen eingetreten. Aber auch bei andern Gewerbebetrieben, bei denen der Schwefelkohlenstoff ver¬ wandt wird (zum Entfetten von Lumpen, Knochen, Rohwolle, Samen, zum Lösen des Phosphors in der Zündholzindnstrie, bei der Verwendung in Laboratorien), kann derselbe gelegentlich auf das Nervensystem der Arbeiter vergiftend wirken. Wenn ich die Aufmerksamkeit auf den folgenden Fall lenke, so ge¬ schieht es weniger um die immerhin noch dürftige Kasuistik der Schwefelkohlenstoffpsycbosen zu vermehren, als der be¬ sonderen Umstände wegen, die ihm ein weiteres Interesse verleihen. Bei demselben handelt es sich im Gegensatz zu den meisten bekannt gewordenen Fällen nicht um eine chroni¬ sche Intoxikation, sondern um eine akute, durch eine Betriebs¬ störung hervorgerufene Schwefelkohlenstoffvergiftnng, nachdem der betroffene Arbeiter wenige Tage zuvor eine Kopfverletzung erlitten hatte. Am 18. Februar d. J. wurde der 30jährige Arbeiter R. aus Charlottenburg auf Ersuchen eines Polizeireviers in der städtischen Durchgangsstation unserer Anstalt aufgenommen, nachdem ein hiesiger Arzt einen gemeingefährlichen Zu¬ stand auf Gruud akuter Geistesverwirrung bei ihm festgestellt hatte. Die Ehefrau gab au, dass hereditäre Belastung nicht vorliege und dass er höchstens für 10 Pfg. Schnaps täglich getrunken habe. Bisher sei er gesund gewesen und habe als Digitized by Google 362 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 18. Soldat drei Jahre gedient. Sie habe zwei gesunde Kinder und keinen Abort gehabt. Bis zum 17. des Monats habe er in einer Palmkernölfabrik gearbeitet und an diesem Tage viel Schwefelkohlenstoff einatmen müssen. Zwei Tage vorher habe er sich aus Unvorsichtigkeit heftig mit dem Kopf an einer Heizrohre gestossen; er habe eine Viertelstunde lang starke Kopfschmerzen gehabt und äusserlich eine leichte Hautab¬ schürfung davongetragen. Als er am 17. Abends nach Hause kam, habe er einen verwirrten und erregten Eindruck ge¬ macht. Er behauptete, alles wäre verändert, er sei blind und müsse aus der Bibel rückwärts lesen; dabei habe er laut vor sich hin geredet, der Frau unbegründete Vorwürfe gemacht, gefragt was sie eigentlich von ihm wolle, wurde unruhig, bettflüchtig, war schlaflos, aufgeregt und bedrohlich und lief in Unterhosen auf die Strasse. Bei seiner Aufnahme war der mittelgrosse, kräftig gebaute und gut genährte Patient ver¬ wirrt und erregt. Das Sensorium war benommen. Er hatte eine blasse Gesichtsfarbe und blickte augenscheinlich hallu- zinirend mit ängstlich gespanntem Ausdruck um sich, sah auf Fragen verständnislos aus und stiess schliesslich mit feier¬ licher Stimme die Worte harvor: „Jetzt habe ich ihn gefunden, den Tod“. Alsbald wurde er sehr laut und tobsüchtig erregt, schlief Nachts nicht, schrie, schlug um sich, zerbrach ein Geschirr und zerriss Hemd und Bettzeug. Die Nahrung verweigerte er und schlug sie dem Pfleger ins Gesicht. Vor¬ übergehend lag er im Stupor mit geschlossenen Augen da und war nicht dazu zu bewegen, dieselben zu öffnen. Meist aber sprach und schrie er unaufhörlich mit lebhaften Gestikulationen der Hände, schlug sich dabei beständig auf die Brust und antwortete auf Fragen nicht sinnentsprechend. Dabei verrieth sein ganzes Gebahren, dass er unter dem Ein¬ fluss von lebhaften Sinnestäuschungen stand. Häufig sah er z. B. nach der Decke und rief: „Gustav, komm runter.“ Wieder¬ holt verlangte er nach neuer Arbeit. Am 22. Februar, also nach vier Tagen war er wieder ziemlich klar und ruhiger, batte aber keine vollständige Erinnerung an die Vorgänge vom 17. ab. Er gab nun an, dass er Stimmen gehört hatte und dass Gustav bei ihm gewesen wäre. An der Decke habe er schwarze Gestalten mit feurigen Augen gesehen. Diese hätten alles durcheinander gesprochen. Eine schwarze Spinne und ein kleines braunes Thier mit Hörnerchen habe er auch herumkriechen sehen. Der Patient hatte also offenbar Sinnes¬ täuschungen gehabt, namentlich im Bereich des Gesichts und Gehörs, möglicherweise aber auch auf anderen Gebieten. Am 23. war er scheinbar ganz klar und orientirt, sprach geordnet und half den Pflegern bei der Arbeit. Nur fiel eine gehobene Stimmung und etwas lebhafter Bewegungsdrang auf. Er fühlte sich gesunder wie je und wünschte sich ordentlich auszu¬ arbeiten. In der letzten Nacht hatte er noch schwarze Punkte gesehen, die er fortwährend anblicken musste, sodann wären wieder nackte und bekleidete Gestalten dagewesen, ein Mann und ein Weib in zärtlicher Umarmung, ein Bild, welches immer hin- und herging. Eine schwarze Hand kam öfter da¬ zwischen. Eine schwarze Spinne kroch auch wieder an der Deoke entlang. Der Patient klagte noch häufig über Kopf¬ schmerzen besonders im Hinterkopf, über ein dumpfes Gefühl in demselben und über etwas Taubheit in den Ohren. Er sah blass aus. Die Sinnestäuschungen verschwanden im Laufe der nächsten Tage, der Patient erlangte aber noch keine vollständige Krankheitseinsicht und wusste nicht, ob die Stimmen und Figuren Täuschungen oder Wirklichkeit waren. Er glaubte, dass dieselben künstlich hergestellt waren, um ihn auf die Probe zu stellen. Eine genaue körperliche Unter¬ suchung war während seiner Aufregung nicht möglich. Er erzählte nunmehr in messender, aber nicht gedankenflüchtiger Weise, war in gehobener Stimmung, machte lebhafte Bewe¬ gungen beim Sprechen und überstolperte sich ein wenig. Hin und wieder trat Muskelunruhe im Gesicht hervor. Eine Ver¬ änderung der Pupillenweite war nicht aufgefallen. Die Augen- bewegungen waren frei, die Reaktion der Pupillen auf Licht¬ einfall und Konvergenz prompt. Die Zunge wurde grade aus- gestreckt und zitterte leicht, die Kniesehnenreflexe waren bds. vorhanden. Der Puls betrug 60 in der Minute, ein kleiner Schlag lief mit unter. Die Gefässe an der Stirn waren leicht geschlängelt. Fieber hatte er nicht gehabt. Die Verdauung war in Ordnung, die Brust- und Unterleibsorgane ohne Be¬ sonderheit, der Urin ohne Eiweiss und Zucker. Am 28. Fe¬ bruar wurde er bis auf etwas gehobene Stimmung und unvoll¬ kommene Krankheitseinsicht als genesen nach Hause ent¬ lassen, erhielt aber noch „Schonung“. Katamnestisch bestätigte er die Angaben seiner Frau und ergänzte sie in folgender Weise. Er sei ehelich geboren. Der Vater sei, soviel ihm kekannt, verunglückt, ln der Schule wäre er gut mitge¬ kommen. Beim Militär habe er an Lungenentzündung ge¬ litten. Einmal habe er Gonorrhoe, keinen Schanker gehabt. Mit dem Strafgesetz sei er noch nie in Konflikt gerathen. Getrunken habe er nie stark, angeblich nie mehr als 10 Pfg. Schnaps täglich. An Kopfschmerzen habe er nie gelitten. Seit 1894 wäre er Heizer, seit 1899 arbeite er in einer Palm¬ kern-Fabrik in Berlin und habe seit dieser Zeit noch weniger getrunken. Vom November 1899 ab habe er dort manchmal zwei, drei Tage in unregelmässigen Zwischenräumen in einem besonders gefährdeten Betriebe gearbeitet, wo Schwefelkohlen¬ stoff zur Fabrikation verwandt würde. Der Dienst würde in diesen Räumen wegen der Gefährlichkeit und Unannehmlich¬ keit höher bezahlt als in den übrigen Abtheilungen. Die Ar¬ beiter hielten es nicht lange dort aus und wechselten häufig. Die betreffende Thätigkeit sei keine regelmässige, sondern es würde ab und zu gearbeitet, wenn Palmkerne angekommen wären; dann aber auch Tag und Nacht hindurch. Der Dienst betrage 12 Stunden, mit je V 2 Stunde Pause für Frühstück und Mittag sowie 20 Minuten für das Vesper. Viele Arbeiter bekämen dort bei der Arbeit Kopfschmerzen. Der flüssige Schwefelkohlenstoff würde aus dem Keller mittelst einer Pumpe in ein eisernes zugeschraubtes Gefäss mit Palmkernen gedrückt, wobei das Palmkernöl gelöst und herausgezogen würde. Von dortaus würde er abgedampft und in einer Kühlung wieder flüssig gemacht. Zur Ausströmung komme er für gewöhnlich nicht, nur bei ungenügender Abdampfung bliebe etwas im Behälter und dann stinke es im Saal etwas nach Schwefelkohlenstoff. Die Pumpe stehe in einem gewölbten kleinen Kellerraum, der angeblich ohne Ventilation wäre. Am 15. Februar wäre er bei der Arbeit schnell in den niedrigen Keller gelaufen und sei mit seinem Kopf gegen ein an der Decke entlang laufendes Rohr heftig angerannt, auf welches er nicht Bedacht genommen habe. Er habe einen heftigen Schlag bekommen und eine Beule mit kleiner Hautabschürfung davongetragen. „Solchen Schlag habe ich in meinem Leben noch nicht bekommen“, sagte er. Da¬ nach habe er eine viertel Stunde heftige Kopfschmerzen ge¬ habt, die aber bis zum 17. Februar nicht mehr aufgetreten seien. An diesem Tage wäre die Schwefelkohlenstoffpumpe nicht in Ordnung gewesen, funktionirte nicht und musste ganz auseinandergenommen und verpicht werden. Der flüssige Schwefelkohlenstoff wurde aus der Pumpe ausgeschöpft und ca. 10 Schritt weit in einem Trichter nach einem eisernen Behälter, der „Vorlage“, getragen. Im Ganzen wären dabei 4 Mann beschäftigt gewesen. Er wäre mit der Reinigung der Pumpe beauftragt gewesen und habe sich an jenem Tage in jenem Betriebe zum ersten Mal nach längerer Zeit wieder be- Digitized by Google 16. September 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 363 funden. Bei der Arbeit bekam er nun Vormittags, wie er an- giebt, heftige Kopfschmerzen, es wurde ihm schlecht und er bekam das Gefühl, als ob er betrunken wäre. Deshalb wurde er vom Inspektor an die Luft geschickt, wo er sich nach einiger Zeit erholte. Darauf habe er noch bis zum Abend die Pumpe weiter gereinigt, wobei er das Schwefelkohlenstoffgas habe einathmen müssen. Dann habe er in einer Kneipe einen einzigen Schnaps getrunken und auf dem Wege nach Haus eine Cigarre geraucht. Von den weiteren Vorgängen wisse er nichts, bis er am 22. Februar in der Anstalt wie¬ der zum Bewusstsein gekommen wäre. Der Patient stellte sich nach seiner Entlassung am 5, März d. J. wieder vor. Er klagte noch über Kopfschmerzen und Kopfdruck in der Schläfen¬ gegend. „Inwendig thut es noch weh, es muss doch das Ge¬ hirn sein.* Die Kopfschmerzen wären noch so wie sie hier gewesen seien. Er wisse nicht, ob es Schwindel ist oder vom Stoss herrührt. Dabei kommen ihm bei dem Gedanken an sein Kopfleiden und seine derzeitig noch bestehende verrin¬ gerte Leistungsfähigkeit leicht die Thränen in die Augen. Er zeigte nunmehr völlige Einsicht, indem er die gehabten Sinnes¬ täuschungen und Ideen als Wahn und Einbildungen bezeich¬ nte, die von ihm selbst ausgingen. Bei dem Erblicken der sich umarmenden nackten Gestalten will er selbst keine sexuelle Erregung gehabt haben. Von den Arbeitern, die mit ihm beim Reinigen der Pumpe etc. beschäftigt waren, sei, so viel er gehört habe, noch einer erkrankt. In Berlin existire angeblich keine weitere Fabrik der Art. Ein Mann, der schon mehrere Jahre dort arbeite, wäre nervenkrank. Die Füsse würden ihm nicht warm, er hätte kein Gefühl in denselben, so dass man tief hineinstechen könnte, ohne dass er Schmerz empfände. Wo der Schwefelkohlenstoff mit der Fingerhaut in Berührung komme, ziehe er in dieselbe sofort ein; der Finger werde kalt und es entstünden kleine Bläschen. Seither kam der Patient nicht mehr zur Beobachtung. Wenn wir uns noch einmal kurz das psychische Krank¬ heitsbild vergegenwärtigen, so haben wir es mit einer akuten tobsüchtigen Erregung und Verwirrtheit bei getrübtem Be¬ wusstsein, Sinnestäuschungen und Wahnideen zu thun. Die psychische Erregung legte sich im Laufe von ca. 2 Wochen, wobei eine Amnesie für die etwa 5 Tage währende Zeit der höchsten Aufregung vorhanden war und Sinnestäuschungen weiter fortbestanden. Die Psychose muss als akutes halluci- natorisches Delirium aufgefasst werden. Wollten wir die¬ selbe in die bisher beschriebenen akuten Psychosen bei chro¬ nischer Schwefelkohlenstoffvergiftung einreihen, so würden wir sie nicht unter die rein maniakalischen Formen, sondern eher unter die depressiven Laudenheimers rechnen, welche stets mit einer hochgradigen hallucinatorischen Erregung einher¬ gehen und sich im Beginn öfters bis zur Verwirrtheit steigern. Obwohl interkurrent ein Zustand von hallucinatorischem Stu¬ por beobachtet wurde, ging der Fall doch in Genesung über, während bei den entsprechenden Fällen Laudenheimers mit vorübergehendem Stupor ein ungünstiger Ausgang die Regel war. An Prodromalerscheinungen zeigten sich in unserem Falle dieselben, wie sie bei den chronischen Vergiftungen mit C 2 S bereits bekannt sind und bei den Gummiarbeitern meist bereits in den ersten Tagen nach dem Eintritt in den Vul- kanisirraum auftreten, nämlich Unwohlsein, eingenommener Kopf und Kopfschmerz, Schwindel und Gefühl der Betrunken¬ heit. Auch Sehstörungen, welche ja bei der Schwefelkohlen- stoffvergiftung in der Literatur 1 ) bekannt sind, tauchen in dem >) Delpech. Mömoire sur les accidents que developpe . . . l’in- halation du sulfure de carbone. Paris 1856. Hirschberg. Centralblatt f. prakt. Augenheilkunde X. 1886. Little. Lancet IL July 1887. vorliegenden Fall auf. Der Kranke klagte sofort und bestimmt darüber, dass er blind geworden sei und schloss in den ersten Tagen andauernd die Augen. Das Sehen von schwarzen Ge¬ stalten mit feurigen Augen deutet darauf hin, dass seinen Sinnestäuschungen abnorme Lichtempfindungen zu Grunde lagen (Dunkelsehen, Photopsie). Vielleicht ist seine konstante Aeusserung, erblindet zu sein, nur als hypochondrische Wahn¬ vorstellung aufzufassen, wie sie auch bei den Schwefelkohlen¬ stoffpsychosen mehrfach beobachtet sind; es ist aber nicht ausgeschlossen, dass diese Idee durch eine thatsächliche Ab¬ nahme der Sehkraft bedingt war, welche aber der grossen Aufregung wegen nicht durch Untersuchung festgestellt wer¬ den konnte. Nach seiner Beruhigung traten keine Sehstörun¬ gen, von den Gesichtstäuschungen abgesehen, hervor. Dahin¬ gegen klagte der Patient über anhaltendes Gefühl von Taub¬ heit in den Ohren und hatte lebhafte Gehörshallucinationen. Gehörsstörungen sind bei der Schwefelkohlenstoffvergiftung bisher nur vereinzelt vorgekommen. Eine hauptsächliche Er¬ scheinung bildete das dumpfe Gefühl und häufiger Schmerz im Hinterkopf. Erregungen in der sexuellen Sphäre, wie sie bei der chronischen Vergiftung beschrieben sind, waren im vorliegenden Falle zwar in Abrede gestellt, aber aller Wahr¬ scheinlichkeit nach vorhanden und durch die Visionen nackter Gestalten in zärtlicher Umarmung angedeutet. Die Behand¬ lung bestand in warmen Bädern mit kühlen Uebergiessungen und Narcoticis. (Fortsetzung folgt.) Zwei Todesfälle nach Ausschabung der Gebärmutter. Fahrlässige Tötung? Zwei Gutachten Ton Prof. Dr. L Landau-Berlin. (Fortsetzung.) H. Die in der Mitte der Zwanziger stehende, seit l 1 /, Jahren verheirathete Frau N. konsultirte den Angeklagten wegen heftiger Schmerzen im Leibe, eitrigen Ausflusses, starker Blu¬ tungen und grosser Abmagerung. Der Angeklagte nahm An¬ schwellung der Gebärmutter und Entzündung der Schleimhaut an. Er verordnete verschiedene Mittel, die angeblich nicht an¬ schlugen. Es lag begründeter Verdacht vor, dass Frau N. von ihrem Ehemann mit Tripper angesteckt sei. Schliesslich schlug der Angeklagte eine Ausschabung der Gebärmutter vor. Er liess zur Vorbereitung Ausspülungen und Sitzbäder machen und kochte die Instrumente in Soda¬ lösung aus. Zum Zwecke der Operation wurden zwei gewöhnliche Tische zusammengestellt, Frau N. wurde darauf gelegt und in Steiss- rückenlage gebracht Der Angeklagte träufelte auf eine der Frau aufgelegte Esmarch’sche Maske Chloroform, das etwa einen Monat vorher gekauft war. Als die Reflexe verschwunden waren, reinigte der Angeklagte die äusseren Geschlechtstheile und spülte die Gebärmutter mit dprozentiger Karbollösung aus. Dann liess er die Beine der Frau durch den Ehemann und eine andre Frau in der üblichen Lage halten. Die Mutter- Duboys de la Vigerie, Gillet de Grandmot. Therap. Monatshefte 1, 313. 1887. Maass. Ueber Schwefelkohlenstoffvergiftung. Dissertation. Ber¬ lin, 1889. Reiner. Schwefelkohlenstoffamblyopie. Wien. kün. Wochenschr. 1896, 52. Kunkel. Toxikologie. Jena, 1899. S. 468. Laudenheimer 1. c. S. 684. Digiti >y Google 364 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 18. mundslippen will er durch Kugelzaugen festgehalten haben, die die Hebamme und die andern Gehilfen hielten. Die Hebamme sagt jedoch aus, er habe die Wand der Scheide gefasst. Während der Vorbereitungen kam die Frau wieder zu sich, wurde aber durch nochmaliges Aufgiessen von Chloroform wieder betäubt. Die Länge der Gebärmutterhöhle will d. A. mit der Sonde gemessen haben. Hierauf führte er nun eine Rouxsche Curette, angeblich nur so tief, wie nach seiner Messung die Gebärmutterhöhle reichte, ein und schabte, von rechts anfan¬ gend, von oben nach unten die innere Wand ab. Er ent¬ fernte Schleimhautfetzen und schwammige Massen, auch „ein wenig“ Blut. Bei einem Einfuhren des Werkzeugs machte Frau N. eine plötzliche Bewegung, hob sich und stemmte sich mit den Beinen gegen die Festhaltenden. Sofort zog der Angeklagte die Cu¬ rette heraus, eine ganz geringe Blutmenge kam nach. Der Angeklagte behauptet unbestritten, dass nachher die Curette nicht wieder eingeführt worden ist. Der Eingriff hatte 10—12 Minuten gedauert, ihm folgte eine Ausspülung der Gebärmutter mit Karbollösung. Inzwischen war Frau N. ruhig geworden und hatte eine bläuliche Gesichtsfarbe bekommen. Die Wiedererweckungs¬ versuche waren erfolglos, während derselben wurde der Puls sehr beschleunigt gefunden. Trotz Kampher- und Aether-Ein- spritzungen nahm die Herzschwäche zu, die Bewusstlosigkeit blieb bestehen. Der Angeklagte entfernte sich, um neuen Aether zu holen, der Zustand blieb aber hoffnungslos. Nach¬ dem trotz mehrstündigem Bemühen der Angeklagte keine Besse¬ rung erzielt hatte, entfernte er sich. Ein nach weiteren zwei Stunden herbeigerufener Arzt fand Frau N. tot. Bei der Leichenöffnung fanden sich ausser grösseren Blut¬ gerinnseln 800 ccm flüssiges Blut in der Bauchhöhle. Am oberen Rande der Gebärmutter links hinten war die gesammte Wand in halbrunder Form durchtrennt, die Ränder des Risses lagen zusammen. Rechts dagegen war die Wand auf 4^2 cm Länge durchrissen, man konnte 2 Finger durch den Riss bringen. Die Ränder waren zerfetzt und blutig durchtränkt, die Durchtränkung erstreckte sich bis in das breite Mutterband. In der rechten Gebärmutterhälfte war die Schleimhaut und das Gewebe darunter zerfetzt und durchblutet, links dagegen glatt, blass und mit Schleim bedeckt. Am Halse der Gebärmutter war eine Knickung vorhanden. Die Gebärmutterränder waren auf dem Durchschnitt 1,5 cm dick. Nicht erwähnt ist, ob sich Wunden an der Scheide oder an den Muttermundslippen fanden, und wie die Wand der Gebärmutter in ihrer Substanz be¬ schaffen war. Die Gutachten der Obduzenten wichen von einander ab. Gutachter A., der eine Obduzent, rügte, dass nicht minde¬ stens zwei Assistenten zugezogen worden seien, dass ohne Operationstisch und ohne Beinstützen operirt worden sei, ferner dass — wie durch den Befund erwiesen sei, — die Gebär¬ mutter nicht durch ein Instrument festgehalten, angehakt worden sei. A. ist der Ansicht, dass die starke Wand mit bru¬ taler Gewalt durchbohrt und dass von dem nichts ahnenden Operateur das Loch durch weiteres Schaben bis zu seiner end¬ lichen Grösse erweitert worden ist. Er hielt ohne Einschrän¬ kung den Tod der Frau N. durch eine schuldhafte Fahrlässig¬ keit des Angeklagten verursacht. Der zweite Obduzent, B., warf dem Angeklagten vor, er habe ohne bestimmte Anzeige operirt, habe ohne genügend er¬ wiesene Befähigung sich an eine, besondere Feinfühligkeit und Geschicklichkeit erfordernde, daher nur den geschicktesten Operateuren erlaubte Operation gewagt; er habe ferner die vorherige Erweiterung des Muttermundes unterlassen, die durch die Knickung der Gebärmutter nach vom besonders dringend geboten gewesen wäre, habe sich eines unzweckmässigen und vor Allem für den Ungeübten gefährlichen Werkzeugs bedient und endlich die geschaffene Durchbohrung durch weiteres Kratzen vergrössert. Dennoch sei möglicherweise die Durchstossung durch die oben beschriebene plötzliche Bewegung der Frau zu stände gekommen, sodass fahrlässige Verschuldung des Todes nicht erwiesen sei. Das Medizinal-Kollegium der Provinz trat dem Gutachter A. bei. Es liess die Frage offen, ob der Eingriff an und für sich gerechtfertigt war. Bemängelt wurde ausser der unge¬ nügenden Assistenz, die wenigstens für die Narkose nöthig ge¬ wesen wäre, die Verwendung alten Chloroforms, das Fehlen der Beinstützen, die Nichtanhakung der Gebärmutter, die Ver¬ wendung der Rouxschen Curette. Nur durch die von den Obdu¬ zenten angenommene Bekratzung der Durchstossungswunde sei die Grösse des Risses erklärlich. Die Bewegungen der Frau (Zusammenklemmen und Ausziehen der Schenkel) seien unge¬ eignet gewesen, eine so ausgedehnte Zerreissung zu bewirken. Nachdem nunmehr das Hauptverfahren eröffnet war, wurden ausser mir noch 4 weitere Sachverständige herangezogen. Mein Gutachten lautet: Dass Frau N. an den Folgen der von dem Beschuldigten geleiteten Behandlung gestorben ist, geht aus dem Opera¬ tions-Bericht und dem Obduktions-Protokoll mit Sicherheit hervor. Ob jedoch die durch die Auskratzung bewirkte Zerreissung der Gebärmutter und die hierauf folgende Blutung (die Ge- sammt-Menge des verlorenen flüssigen Blutes betrug 800 ccm, wie gross die Menge der Blutgerinsel war, ist im Obduktions¬ bericht nicht erwähnt) oder die Chlorformnarkose als solche oder beide Eingriffe die sofortige Bewusstlosigkeit und den 6 Stunden nach dem Eingriff erfolgten Tod verursacht haben, ist zweifel¬ haft. Der behandelnde Arzt Herr Dr. X. soll fahrlässig ge¬ handelt und den Tod dadurch verschuldet haben, dass er die Aufmerksamkeit, zu der er vermöge seines Berufes als Arzt be¬ sonders verpflichtet war, ausser Acht gelassen hat. Insbesondere werden ihm folgende Vorwürfe gemacht: I. Vom Gutachter A. 1. „Der Beschuldigte habe die Operation ohne Zuziehung von mindestens zwei Assistenten, ohne Operationstisch und ohne Beinstützen vorgenommen“. Dieser Vorwurf ist in jeder Beziehung ungerechtfertigt. Es stellen sich der Zuziehung noch zweier Aerzte in der Privat - Praxis meist äussere Gründe entgegen; dieselben waren aber auch gerade für den vorliegenden Eingriff nicht nothwendig. Zwei Personen, welche die Beine der zu Operiren- den halten können, sind vollkommen geeignet, zwei Aerzte, welche beim Auskratzen auch nicht im Stande sind, in anderer Weise, als durch Halten der Beine bezw. des speculum, den Operateur zu unterstützen, zu ersetzen. Zwei Personen, welche im Stande sind, die Beine zu halten, ersetzen aber nicht nur künstliche Beinhalter, sondern sind denselben sogar so sehr vorzuziehen, dass viele Frauenaerzte (u. A. auch ich) ceteris paribus das Halten der unteren Extremitäten künstlichen Beinhaltern vorziehen. Zwei solche Personen, die Hebamme und die Wärterin, haben in dieser Weise den Beschuh digten unterstützt. Auch ein Operationstisch ist für eine Auskratzung nicht erforderlich; vielmehr kann derselbe durch jeden beliebigen festen Tisch, wie dies geschehen, zweckmässiger¬ weise und vollkommen ersetzt werden. 2. „Dass der Beschuldigte — dies werde durch den Sektions¬ befund bewiesen — es unterlassen habe, die Gebärmutter vor Digitized by Google 15. September 1900. Aerztltohe Sachverständigen-Zeitung. 865 Einführung des zum Ausschaben bestimmten Instrumentes mit einer Zange oder einem scharfen Haken zu fixiren". Es mag dahin gestellt bleiben, ob diese Fixation nicht geschehen, — der Beschuldigte sagt das Qegentheil und aus dem Obduktions- Bericht geht die eventl. geschehene Unterlassung nicht her¬ vor — so sind doch die Meinungen der Fachleute über diesen Punkt getheilt; die einen fixiren die Gebärmutter mit Kugel¬ zangen, die andern mit der aufgelegten Hand; in vielen Fällen endlich erübrigt sich bei einer pathologischen Fixation des Uterus (z. B. bei erkrankten Anhängen) die künstliche Fixation. 3. »Der Beschuldigte sei zunächst mit brutaler Gewalt mit dem Instrumente durch die in ihrer Muskulatur sehr starke Gebärmutter durchgefahren und habe, nicht ahnend, wo er sich mit seinem Instrumente befinde, die entstandene Verletzung dadurch, dass er in derselben mit seinem Instrumente weiter und weiter geschabt und gestossen habe, zu der bei der Leichen¬ öffnung Vorgefundenen Grösse erweitert*. Die Auskratzung gehört zu den fast stets gewalttätigen oder wenn man will brutalen Manipulationen, welche leider von vielen klinischen Lehrern einerseits als einfache, gefahrlose und bezüglich des Effekts sichere Eingriffe hingestellt und andererseits bei einer grossen Reihe von Affektionen empfohlen werden, wo sie meines Erachtens in keiner Weise am Platz sind.*) In grossen Städten, wie in Berlin, ist es sogar üblich, in Privat- und anderen Polikliniken die Auskratzung an ambu¬ latorischen Kranken vorzunehmen und dieselben nach ge¬ schehenem Eingriff (sogar nach geschehener Narkose) nach Hause gehen bezw. fahren zu lassen. Dies sehen Studirende und Aerzte — letztere besonders beim Unterricht in den Ferienkursen — und werden so durch Wort und That in der Lehre, dass die Auskratzung ein einfacher, nützlicher und ge¬ fahrloser Eingriff sei, unterrichtet. Thatsächlich ist dem nicht so. Jeder der Gelegenheit hat, Frauen, bei welchen die Aus¬ kratzung vollzogen, zu beobachten, und Jeder der Kritik besitzt, den Zustand, in welchem sich jene nach der Auskratzung be¬ finden, zu beurtheilen, weiss, dass in einem relativ hohen Pro¬ zentsatz Entzündungen, Eiterungen, ja der Tod den Aus¬ kratzungen folgt. Allein nur Derjenige, der diese Folgen der in ungeeigneten Fällen vorgenommenen Auskratzung kennt, würde einer Fahr¬ lässigkeit zu beschuldigen sein, wenn er zum scharfen Löffel greift. Der Beschuldigte ist als praktischer Arzt noch viel weniger als der sich eben ausbildende Fachmann in der Lage, entgegen der herrschenden Mode sich ein eigenes kritisches Urtheil zu bilden. Er würde geradezu zu fehlen und fahr¬ lässig zu handeln glauben, wenn er diesen ihm als heilsam gelehrten und geschilderten Eingriff unterliesse. Es verhält sich mit der Auskratzung ganz ähnlich wie mit andern thera¬ peutischen Mitteln, welche erst längere Zeit nach ihrer An¬ wendung als hochgefährliche Mittel verlassen worden sind. Ich erinnere an das s. Z. vielfach angewandte Tuberkulin, durch welches eine nicht geringe Zahl von Kranken vor der Zeit ihr Leben eingebüsst haben. Und doch wäre es unge¬ recht gewesen, in der Aera der Tuberkulin-Behandlung einen Arzt der fahrlässigen Tödtung eines Kranken zu beschuldigen, so klar auch der Tod eines solchen im Zusammenhänge mit der geschehenen Behandlung stand. In einer solchen Aera befinden wir uns leider immer noch der von vielen Fachleuten empfohlenen Auskratzung gegen¬ über. Viele Lehrer und Lehrbücher sind von der hohen Ge- *) Es ist hier nicht der Ort mich über die nach meiner Ansicht zulässige und nothwendige Indikation für die Auskratzung, noch über die von mir hierbei empfohlene Technik zu äussera. fährlichkeit dieses Mittels so wenig durchdrungen, dass sie dieselbe vielmehr bei allen möglichen Erkrankungen als ein harmloses, sicheres und vorzügliches empfehlen. Es kann daher dem Beschuldigten, einem im Gebiete der Frauenheilkunde offenbar nicht sehr bewanderten Manne, ein Vor¬ wurf, dass er die Auskratzung überhaupt vornahm, nicht gemacht werden. Aber auch bezüglich der Art und Weise der von ihm vor¬ genommenen Auskratzung, hat der Beschuldigte, der nach bestem Wissen gemäss der ihm ertheilten Lehre gehandelt hat, sich eines fahrlässigen Verhaltens nicht schuldig gemacht. Die Annahme, dass er nach geschehener Zerreissung der Gebär¬ mutter in der einmal gemachten Oeffnung weiter gekratzt und so den Riss vergrössert habe, ist willkürlich. Einmal kann in der That durch eine auch in der Chloroform-Narkose nicht immer vermeidbare reflektorische Bewegung der Kranken der Löffel ausfahren. Dann ist der von manchen Seiten, (s. 1. Martin, Lehrbuch für Frauen-Krankheit, 3. Art., 1893, S. 27 und 28,) für die Auskratzung besonders warm empfohlene Roux’sche Löffel ganz besonders im Stande, gewissermaßen auf Anhieb, eine sehr grosse Kontinuitäts-Trennung der Gebärmutterwand zu er¬ zeugen. Dass dies auch hier so geschehen, dafür spricht der Umstand, dass der Gebärmutterriss durchaus nicht als ein fetziger und unregelmässiger geschildert ist, wie es doch ge¬ wesen wäre, wenn der Beschuldigte in der einmal hervorge¬ rufenen Zerreissungsstelle weiter gekratzt hätte. Gerade die rechte Uteruskante ist bei der üblichen Führung des Roux- schen Löffels mit der rechten Hand ganz besonders gefährdet. [Giebt doch ein als Autorität anerkannter Gynäkologe den Rath, mit der Curette die ganze Uterus-Schleimhaut abzu¬ kratzen, nicht einzelne Striche und kleine Stückchen (ders. S. 28).] II. Zum Gutachten des Gutachters B. 1. Dass der Beschuldigte die Operation ohne die, nach der Ansicht von Autoritäten vorhandene Indikation — bestimmte Veränderungen in der Schleimhaut der Gebärmutter — vorge¬ nommen habe. Dies ist nach Lage der Sache vielleicht richtig, allein aus der unrichtigen Anwendung eines als Heilmittel empfohlenen Eingriffs kann dem Beschuldigten der Vorwurf der Fahrlässig¬ keit um so weniger erwachsen, als gerade bei dem hier vor¬ liegenden Zustande des Gebärmutter-Katarrhs wiederum von autorisirter Seite der scharfe Löffel ganz besonders empfohlen wird. Alle anderen Verfahren, sagt ein Autor, erscheinen wesentlich umständlicher etc. Aber auch von denjenigen, welche die Grenzen der Indikation für die Auskratzung ein¬ schränken, wird dieselbe für durchaus werthvoll gehalten, um in diagnostischer Beziehung die Art der Schleimhaut-Erkrankung zu erforschen. Aus der Anwendung des Löffels wegen un¬ genügender Indikation kann also aus vielen Gründen die Be¬ schuldigung der Fahrlässigkeit nicht erhoben werden. 2. Dass der Beschuldigte, dessen chirurgische Qualifikation von den Aerzten, die ihn zu beobachten Gelegenheit gehabt hätten, stark in Zweifel gezogen werde, »sich an eine Operation gewagt habe, die eine Feinfühligkeit der Hand und geschickte Instrumentführung erfordere, wie sie nur den geschicktesten Operateuren eigen sei.“ Diese Behauptung, wäre sie berech¬ tigt, müsste jeden Arzt verhindern, sich in irgend einem in grossen Städten gewöhnlich oder häufig dem Spezialisten zu¬ gewiesenen Eingriff zu versuchen bezw. müsste ihn veranlassen, die Behandlung eines solchen Falles aufzugeben. Er dürfte eine brandige Extremität nicht amputiren, weil es der Chirurg von Fach besser macht. Ein Meister wird nicht geboren und alle Aerzte, die Fachleute eingeschlossen, haben anfangen müssen, und sind gewiss bei ihren ersten Operationen nicht so gut vorgegangen, wie bei den späteren. Und wenn hier Digitized by Google Aerztliohe Sachverständigen-Zeitu ng. No. 18. von einer Schuld gesprochen werden kann, so trifft sie nur die Lehrer und Lehrbücher des Beschuldigten, welche ihm den Eingriff als harmlosen hinstellen. Auch ist bis jetzt von Staats¬ wegen nur unvollkommen oder garnicht dafür Sorge getragen, dass Studirende oder Aerzte in lebensrettenden und lebens¬ gefährlichen Operationen, welche dieFrauen-Heilkunde betreffen, ausgebildet werden. Es kann somit auch aus mangelnder Technik dem Beschuldigten kein Vorwurf gemacht werden. Endlich muss betont werden, dass auch von feinfühligsten und geschickten Meistern im Auskratzen bekannter- und zu- gestandenermassen Zerreissungen der Gebärmutter gemacht worden sind. 8. „Dass der Beschuldigte nach seiner eigenen Darstellung keine Erweiterung des inneren Muttermundes vorgenommen habe, was um so mehr erforderlich gewesen sei, als eine Knickung der Gebärmutter nach vorn Vorgelegen habe.“ Auch dieser Vorwurf involvirt keine Fahrlässigkeit des Be¬ schuldigten. Thatsächlich lag nach der Beschreibung im Ob¬ duktions-Bericht keine pathologische, sondern die physiologische Knickung der Gebärmutter vor, aber auch sonst widerrathen eine Anzahl von Autoren geradezu die Erweiterung. Sie sei, sagt Mar¬ tin, wegen der Gefahr der Infektion zu unterlassen. Der scharfe Löffel, dasCurettement selbst sei ein gutes Ersatzmittel für die all¬ mähliche Erweiterung; das Curettement habe leichte Ausführ¬ barkeit, Sicherheit und Nachhaltigkeit seiner Wirkung für sich. 4. Dass der Beschuldigte sich des unzweckmässigen und in der Hand eines ungeübten Operateurs gefährlichen Instru¬ mentes bedient habe: Wenn ich auch diesem Urtheile zustimme, so kann sich doch der Beschuldigte mit Recht auf die warme Empfehlung gerade des Roux’schen Löffels von Seiten mehrerer Autoritäten, unter Andern Martin’s, berufen, der dieses Instru¬ ment besonders warm empfiehlt und anwendet. Im Uebrigen sind Durchstossungen der Gebärmutter bei allen möglichen Arten von Schab- und Kratz-Instrumenten, ja bei einfachen Son- dirungen beobachtet worden, so dass gerade aus der Wahl des Roux’schen Löffels dem Beschuldigten kein besonderer Vor¬ wurf zu machen ist. 5. „Dass Beschuldigter nach Durchstossung der Gebär¬ mutter an den Rändern der Gewebs-Zerreissung herumgekratzt und dadurch den Defekt immer mehr erweitert habe.“ Dieser Vorwurf ist wie oben auseinandergesetzt, durch¬ aus nicht bewiesen, vielmehr spricht der Befund dafür, dass die Zerreissung auf einmal geschehen. Zum Gutachten des Königlichen Medizinal - Kollegiums (Kunstfehler): 1. Unterlassene Zuziehung eines zweiten Arztes behufs Leitung der Chloroform-Narkose. Gewiss wäre die Zuziehung eines zweiten Arztes zu diesem Zwecke vorteilhaft gewesen, wenn die Verhältnisse dies ge¬ stattet hätten, aber aus der Unterlassung dieser Zuziehung ist der Patientin ein Nachtheil nicht erwachsen, auch ein zweiter Arzt hätte die Patientin nicht besser chloroformiren können; wenn die Narkose noch einmal ausgeführt werden musste, so lag dies sicherlich daran, dass von Haus aus für den Ein¬ griff eine längere nicht geplant war. Keinesfalls ist nachgewiesen, dass die Zerreissung in Folge Fehlens eines zweiten Arztes bei der Narkose stattgefunden habe. Im Uebrigen ist es in geburtshilflicher und in chirurgischer Praxis durchaus nicht ungewöhnlich, dass man ohne jeglichen Schaden die Narkose unterbricht, um, falls die Kranke auf¬ wacht, weiter zu narkotisiren. 2. „Verwendung alten Chloroforms.“ Nach dem Bericht des Zeugen war die Narkotisirung eine so vollkommene, dass nicht einmal die auch nach frischem Chloroform beobachteten Erscheinungen, wie Erbrechen etc. beobachtet wurden. 8. „Die unterlassene Anwendung von Beinstützen.“ S. oben. 4. „Unterlassung der Fixation des uterus.“ S. oben. 5. „Anwendung des in der Hand eines ungeübten Operateurs zu den gefährlichsten zu rechnenden Roux’schen Instrumentes statt einer gefensterten Curette.“ S. oben. 6. „Längeres Herumkratzen in der durch die Durchstossung der Gebärmutter entstandenen Oeffnung.“ Darüber, dass hierfür ein Beweis fehlt, habe ich mich oben ausgesprochen; hätte der Beschuldigte aber auch nach geschehener Zerreissung weiter gekratzt, so hätte er dies doch nur gethan, ohne zu wissen, dass er perforirt habe. Eine Durchschabung der Gebärmutter aber mit dem scharfen Roux- schen Löffel ist selbst von einem Geübten nicht so leicht zu erkennen, wie eine Durchstossung mit der gefensterten Curette; denn diese dringt sofort in die Bauchhöhle, während jene in loco bleibt und gewissermassen an Ort und Stelle in die Bauchhöhle ohne erkennbaren Ruck gegraben wird, aus der Wahl der Rouxschen Curette aber kann dem Be¬ schuldigten, der sich auf die Empfehlung des Instruments von Seiten von Gynäkologen von Fach berufen kann, kein Vor¬ wurf gemacht werden, da ihm in Folge mangelnder Erfahrung die Kritik fehlte, über die Gefährlichkeit des Auskratzens im Allgemeinen und über die Gefährlichkeit der Roux’schen Curette im Besonderen. Nach Alledem kam ich zu dem Urtheil, dass der Tod der Frau A. durch das Verhalten des Beschuldigten veran¬ lasst worden ist, dass sich der Beschuldigte aber an die ihm von seinen Lehrern bezw. an autoritativer Stelle befindlichen Verfassern von Lehrbüchern gegebenen Vorschriften und Kunst¬ regeln gehalten und sich somit eines fahrlässigen Verhaltens nicht schuldig gemaoht habe. Aus dem Gutachten der Sachverständigen C., D., E. sei noch einiges Wichtige hervorgehoben. Die geheimen Medi- zinalräthe DDr. C. und D. hielten im Gegensatz zu Gutachter A. den Eingriff nach den Krankheitserscheinungen für gerade¬ zu geboten. Dieselben erklären die Nicht-Zuziehung eines zweiten Arztes für entschuldbar, Professor E. schliesst sich ihnen mit dem Bemerken an, dass ein Assistenzarzt das Unglück nicht ver¬ hütet haben würde. C. und D. halten die menschlichen Hilfskräfte für vorteil¬ hafter als Beinstützen. C. D. und E. halten die Erweiterung des Mutterhalses vor der Operation nicht nur für unnöthig, sondern für gefährlich. Die Knickung nach vorn bestehe bei den meisten normalen Gebärmuttern. E. erklärt die Rouxsche Curette für das geeignetste Instru¬ ment, das er stets anwende. C., D. und E. sind darüber einig, dass die von den Obdu¬ zenten festgestellte Dicke der Gebärmutter wand keinen Schluss auf ihre Festigkeit zulasse. Es seien möglicherweise Er¬ weichungsherde darin vorhanden gewesen. D. bezeichnet es geradezu als sehr wahrscheinlich, dass die Wand krank ge¬ wesen sei. Ein grober Irrthum sei der Schluss von der Derb¬ heit der Muttermundslippen auf die Festigkeit der Uteruswand. Alle drei Gutachter bemängeln die Unvollständigkeit der Unter¬ suchung der Wand, insbesondere das Fehlen mikroskopischer Feststellungen. Ein von der kgl. wissenschaftlichen Deputation abgegebenes Obergutachten bringt einen ganz neuen Gesichtspunkt: Bei der Schlussausspülung könnte eine plötzliche Karbolvergiftung ent¬ standen sein, die mit der Blutung zusammen den Tod bewirkt Digitized by Google Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. 15. September 1900. haben könnte. Unzutreffend seien die dem Angeklagten ge¬ machten Vorwürfe in folgenden Punkten: Unterlassung der Erweiterung nud der Anhakung, Fehlen der Beinstützen. Ein Mangel an Vorsicht sei das Fehlen eines narkotisirenden zweites Arztes. Unglücklich, aber nicht schuldhaft sei die Wahl des Instru¬ mentes. Für einen Mangel an Vorsicht bezw. für ein gewaltsames Vorgehen spreche die zweimalige Durchbohrung der Gebär¬ mutter, besonders aber das Aussehen der Rissränder, an denen sicher lange und intensiv herumgekratzt sein müsse. Solche grosse Verletzungen könnten auch nicht durch einmalige plötz¬ liche Bewegungen der Operirten hervorgebracht werden. Demnach sei die tötliche Verletzung durch Mangel an Vor¬ sicht und regelwidriges Verhalten herbeigeführt. Der Angeklagte wurde freigesprochen. Referate. Allgemeines. Die Nothwendigbeit der Errichtung von Trinker¬ heilstätten. Von P. Schenk. (Deutsche Vierteljabrsschrift fßr Öffentl. Gesundheitspflege Bd. 32, Heft 3.) Die Arbeit giebt eine dankenswerte Uebersicht über den gegenwärtigen Stand der Anstaltsfürsorge für Trinker und deren Bedeutung in hygienischer und sozialer Hinsicht. Er¬ freulich ist die Thatsache, dass, während im Jahre 1896 erst 15 Trinkerheilanstalten in Deutschland bestanden, gegenwärtig bereits deren 27 gezählt werden, ein Beweis für die Notwen¬ digkeit dieser Anstalten. Von diesen 27 Anstalten waren 9 für die bemittelten Volkskreise bestimmt, 18 für die minder bemittelten und armen Trinker und Trinkerinnen. Projektirt oder im Bau begriffen waren ausserdem noch 8 Anstalten, von denen die vom „Berliner Bezirksverein gegen den Missbrauch geistiger Getränke“ in der Nähe von Fürstenwalde errichtete Anstalt inzwischen bereits eröffnet worden ist. (Ref.) Je nach Einrichtung und Leitung sind die Erfolge in diesen Anstalten verschieden. Je früher die an Trunksucht Leidenden in Trinkerheilstätten untergebracht werden, um so mehr wird es gelingen, die Entmündigung überflüssig zu machen, so dass sie nur noch für unheilbare, trotz wiederholter Anstaltspflege rückfällige Trinker in Frage kommt. Die Hauptpunkte seiner Ausführungen fasst Schenk in folgende Sätze zusammen: 1. Die schweren krankhaften Schädigungen, welche die chronische Alkoholvergiftung am Gehirn und damit an der geistigen Thätigkeit hervorbringt, sind in den erblich nicht zu stark belasteten und nicht zu weit vorgeschrittenen Fällen heilbar. 2. Dauernde Heilung von derjenigen Form der Alkohol¬ vergiftung des Gehirns, welche als Trunksucht in die Erschei¬ nung tritt, ist nur möglich bei lebenslänglicher Enthaltsamkeit von allen alkoholischen Getränken. 3. Trinkerheilstätten sind nothwendig, weil ein grosser Theil von geistig geschädigten Gewohnheitstrinkern und von Trunksüchtigen nur in zweckentsprechenden Anstalten vom Alkohol entwöhnt werden kann. 4. Zu entmündigen sind im Allgemeinen nur diejenigen Trunksüchtigen, welche unheilbar sind oder nach ausgiebiger Behandlung in einer Heilstätte rückfällig werden. 5. Die Zulässigkeit der zwangsweisen Detention auch nicht entmündigter Trinker in einer Heilanstalt ist gesetzlich fest¬ zulegen. 367 6. Die bisher im deutschen Reiche vorhandenen Trinker¬ asyle und Trinkerrettungsanstalten genügen nicht dem Bedürf¬ nis und entsprechen zum grossen Theil nicht den an Trinker- heüstätten vom Standpunkt der öffentlichen Gesundheitspflege zu stellenden Anforderungen. 7. Alle Trinkerheilstätten in Deutschland sind nach ein¬ heitlichen Grundsätzen einzurichten und zu leiten. 8. Die Trinkerheilstätten sind der staatlichen Aufsicht und ärztlichen Oberleitung zu unterstellen. 9. Für Männer und Frauen sind gesonderte Heilstätten nothwendig. 10. In den Heilstätten sind sämmtliche besserungsfähigen Trinker, also auch Alkoholdeliranten und Alkoholepileptiker unterzubringen. 11. Die geheilt Entlassenen bleiben noch für einige Jahre unter Kontrolle der Anstalt. 12. Für unheilbare Trinker sind besondere zweckmässig an die Arbeiterkolonien anzuschliessende Trinkerasyle einzu¬ richten. Roth (Potsdam). Chirurgie. Bemerkungen zur Cocalnisirung des Rückenmarks. Von Professor Dr. August Bi er-Greifswald. Im Anschluss an die Erörterung auf dem Internationalen Kongress in Paris (siehe S. 374) theilt B., der schon vor b U Jahren Versuche über die Cocalnisirung des Rückenmarks veröffentlicht hat, unter obigem Titel den gegenwärtigen Stand seiner Erfahrungen über diese Methode mit. Da seine Untersuchungen ganz und gar nicht abgeschlossen sind, kann er noch nichts endgültiges bringen. Doch sind seine Mit¬ theilungen schon als Gegengewicht gegen die in Paris ge¬ gebenen Empfehlungen kennenswerth. Durch Thierversuche hat B. sich überzeugt, dass CocaYn vom Rückenmarkssack aus viel heftiger und giftiger, als bei anderweitiger Einverleibung wirkt. Er hat ferner nachge¬ wiesen, dass die verschiedensten Stoffe, selbst Kochsalzlösung auf diesem Wege einen hohen Grad von Unempfindlichkeit zu erzeugen vermögen, freilich nicht in dem Masse wie CocaYn. Bier warnt auf das dringendste davor, die bisher ange¬ gebene Methode der Cocalnisirung als eine für den allgemeinen Gebrauch reife zu betrachten. Er warnt besonders vor hohen Dosen. 15 mg findet er schon für recht viel. Er ist damit beschäftigt, Mittel zu finden, welche die Ge¬ fahren der Cocalnisirung mindern, oder womöglich einen andern ungiftigen Stoff zu suchen, der das Cocain ersetzen soll. An¬ dererseits ist er bestrebt, eine Ausdehnung der Schmerzlosig¬ keit über die oberen Körpertheile zu bewerkstelligen. Seine Versuche sind, wie er sagt, Erfolg versprechend, aber noch bei weitem nicht abgeschlossen. Ueber die traumatische Entstehung von Gewfilsten. Von Dr. K. Würz. (Beiträge sur klinischen Chirurgie von v. Bruns, 20. Bd., 3. Heft, 6. 567.) In einem Zeitraum von fünf Jahren wurden in der Tü¬ binger chirurgischen Klinik 713 Geschwülste (129 gutartige und 584 bösartige) beobachtet. Davon sind 19 mit mehr oder weniger grosser .Wahrscheinlichkeit auf ein vorausgegangenes Trauma zurückzuführen. Der einmalige Insult kommt als ätiologisches Moment in Betracht bei Osteomen, Carcinomen und Sarcomen und spielt eine erhebliche Rolle ausschliesslich bei zwei Gruppen, den Osteomen einerseits und den Sarcomen andererseits. G. Digitized by Google 368 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 18. Ueber einen Fall von Carcinom der Kopfhaut, im direkten Anschluss an ein Trauma entstanden. Von Dr. Otto Hahn. (Beiträge sttr klinischen Chirurgie von v. Br ans, 20. Bd., S. Heft, S. 501.) Ein 68 jähriger Mann schlug mit dem Hinterkopf auf ein Wagenrad und erhielt eine Wunde, in der der Knochen frei lag. Die Wunde heilte nicht und eiterte sieben Wochen. Nach fünf Wochen erschien sie grösser, die Ränder warfen sich auf. IV 4 Jahr nach dem Unfall hat das Geschwür 11 cm Querdurchmesser und 6 cm Längsdurchmesser. Das Carcinom, dessen Entwickelung 1 / i Jahr nach dem Unfall sicher gestellt war, wurde exstirpirt. Die Krebsbildung, die an der behaarten Kopfhaut selten ist, muss in die erste Zeit des Granulations¬ stadiums zurückdatirt werden. Man kann an ein infizirendes Agens denken. G. Chlorzinkätzungen bei inoperabelen Tumoren. Von Friedrich Völcker. (Beiträge cor klinischen Chirurgie von von Bruns. Bd. 27. Heft 3 Seite 592.) Abgesehen von der Verschiebung der technischen Seite des Operationsverfahrens steht die Frage der Carcinombe- handlung noch genau auf demselben Stand wie vor 50 Jahren. „Inoperabel“ ist ziemlich gleichbedeutend mit incurabel. Aber die Unfähigkeit zu heilen spricht uns nicht von der Verpflichtung frei, zu behandeln. Denn das Todesurtheil, das der Chirurg mit seinem „inoperabel“ unterzeichnet, wird ja erst nach Wochen, Monaten oder Jahren vollstreckt, und gerade in diesem Zeiträume bedarf der Kranke des Arztes wie nicht leicht zu einer anderen Zeit. Nachdem es einmal unser Be¬ ruf ist, kranken Menschen zu helfen, so dürfen wir uns dieser Pflicht den Aermsten der Armen gegenüber erst recht nicht entziehen, wenn uns auch das Bewusstsein von der Aus¬ sichtslosigkeit unserer Bemühungen die Lust zu einer solchen Behandlung von vornherein wesentlich schmälert. Wir müssen dem Kranken wenigstens als mitleidiger Freund bei¬ stehn und einerseits die Schatten der physischen Depression wegscheuchen und andrerseits die körperlichen Qualen, die ihm sein Leiden aufbürdet, möglichst erleichtern. Diese Pflicht tritt besonders bei denjenigen inoperablen Carcinomen hervor, welche sich an den äusseren Bedeckungen ent¬ wickeln — — — es ist interessant zu sehen, wie die mo¬ dernsten Chirurgen für diese verzweifelten Krankheiten zurück¬ greifen auf den Arzeneischatz früherer Jahrzehnte und bei den Alten suchen, was die Neuzeit nicht bieten kann. — Czerny hat seit vielen Jahren die Geschwulstmassen mit scharfem Löffel, Scheere und Pincette entfernt und eine Aetzung mit Chlorzink folgen lassen. Völker bringt eine historische Uebersicht über die Anwendung der Chlorzinkätzungen und eine Erörterung der Wirkungen des Chlorzinks auf die Gewebe. In der Heidelberger Klinik kommen nicht mehr wie früher feste Pasten zur Anwendung, sondern Gazestreifen, die in 15prozentige bis 20prozentige Lösungen getaucht sind, die in die hergestellte Höhlung nach sorgfältiger Blutstillung ein¬ gefügt werden. Je nach der beabsichtigten Tiefenwirkung bleiben sie 6—24 Stunden liegen. Als Indikationen für Chlor¬ zinkätzungen werden angesehen: Maligne, radical nicht zu entfernende Tumoren, erweichte und brüchige, die bei Ope¬ rationen die Wunden mit Keimen überschwemmen würden, operable Tumoren, bei sonstiger Erkrankung Abumimurie, Diabetes. Gegenindikationen bietet die Nähe der Athem- oder Speisewege; die serösen Häute besonders des Peri¬ toneums und der Ureteren. Seit 1885 wurden 95 Fälle — 12 Sarcome, 83 Carcinome — behandelt, 48 mal war der Uterus, 6 mal das Rectum, 1 mal die Vulva, 3 mal das Becken, 1 mal die Mamma, 1 mal das Sternum, 35 mal Kopf und Hals der Sitz der Neubildung. Die Tumoren waren meist schon zu weit vorgeschritten, zu ausgedehnt umwachsen, zum Theil waren die Patienten für eine grössere Operation schon zu herabgekommen oder es waren innere Metastasen da. Nach Abzug von 2 Fällen können die übrigen 93 als inoperabel und verloren betrachtet werden. Trotzdem wurden mehrere dauernd geheilt (3,2 Prozent). — Die Wichtigkeit des Gegen¬ standes dieser sehr lehrreichen Arbeit wird das Studium des Originals durchaus nothwendig erscheinen lassen. G. Ueber das Yerhältniss der Fettgewebsnekrose zu den Erkrankungen des Pankreas. Von Dr. M. B. Schmidt, Privatdozenten und I. Assistenten am pathol. Institut in Strassburg. (Münch. med. Wocbenschr. 1900, No. 19.) Im Gegensätze zu den ersten Autoren, welche über die Fettgewebsnekrose arbeiteten, hält Verf. die Erkrankung der Bauchspeicheldrüse für das Primäre, die Fettgewebsnekrose für die sekundäre Krankheitserscheinung. Er befindet sich damit in Uebereinstimmung mit späteren Experimentatoren, welche durch Hineinbringen von Pankreasstücken oder Pankreas¬ saft in die Bauchhöhle Fettgewebsnekrosen erzeugen konnten. Es ist wahrscheinlich, dass durch Einwirkung des im Sekret der Bauchspeicheldrüse enthaltenen Fettfermentes auf die Zellen das neutrale Fett derselben gespalten und nach (Elimi- nirung) Absonderung der flüssigen Bestandtheile eine Ver¬ bindung der festen Fettsäuren mit Kalk zu fettsaurem Kalk herbeigeführt wird. Die Beobachtungen der Pathologen, dass bei Fettgewebsnekrose häufig eine sichtbare Erkrankung des Gewebes der Bauchspeicheldrüse fehlte, dass die Fettnekrosen¬ herde dagegen die Zeichen sekundärer Entzündung der Ge¬ webe ihrer Umgebung trügen, dass ausserdem kein positiver Grund vorläge, die tiefgehenden Erkrankungen der Bauch¬ speicheldrüse, welche sich häufig mit Fettnekrose vergesell¬ schaftet finden, als Folge dieser anzusehen, führt Verf. als für seine Behauptung sprechend an. Ausserdem ist er in der Lage, einen für die Richtigkeit seiner Ansicht Zeugniss ab¬ legenden Fall anzuführen. Ein 43jähr. Mann war 58 Std., nachdem er zwischen Eisenbahnpuffern eine Quetschung des Rumpfes erlitten hatte gestorben, kurz nach Vornahme einer (Laparotomie) Eröffnung der Bauchhöhle wegen Anzeichen von Darmverschluss. Ein solcher wurde nicht gefunden. Die Sektion ergab einen tiefen Einriss in das Gewebe der Bauchspeicheldrüse mit Durch¬ trennung ihres Ganges (duct. pancreat.), ausserdem einen Riss der Milz, Blutungen in die linke Niere und in das dem Riss in der Bauchspeicheldrüse benachbarte Fettgewebe. Das sehr fettreiche Dünndarmgekröse, das grosse Netz und die Bursa omentalis wiesen eine grosse Zahl kleiner bis mehrere Quadrat- centimeter grosser Fettnekrosen auf, welche am reichlichsten auf der Vorderfläche der Bauchspeicheldrüse sassen und die ganze Länge derselben eiunahmen. Sie zeigten die bekannte mikroskopische Beschaffenheit und enthielten keine Bakterien. Fall von Biss in der Leber; erfolgreicher Eingriff bei einem pulslosen Kranken. Von Thomas Carwardine. (The lancet, 12. Mai.) Ein 25 Jahre alter Mann erlitt eine schwere Verletzung, indem er durch einen 10 Ctr. schweren Glasschrank, welcher herunterstürzte, getroffen und gegen eine Mauer gequetscht wurde. Er konnte mit Hilfe zweier Männer ein Stück weit gehen, sah aber krank und kollabirt aus und klagte über Schmerzen und Spannung auf der rechten Seite des Leibes Digitized by Google 15. September 1900. Aerztliohe Bachverständigen-Zeitung. Zwei Stunden nach dem Unfall hatte die Schwäche erheblich zugenommen und konnte eine Vergrösserung der Leber¬ dämpfung festgestellt werden. Der Zustand verschlechterte sich zusehends, so dass der Puls schliesslich nicht mehr fühl¬ bar war. Es wurden Kochsalzinjektionen in die Vene gemacht und dann zur Operation geschritten. Der Leib wurde ober¬ halb des Nabels geöffnet und war mit Blut angefüllt, doch bemerkte man weder freies Qas noch üblen Geruch. Die Milz war unverletzt, dagegen die Leber zerrissen und zwar in solcher Ausdehnung, dass die ganze Hand in die Höhle des Risses hineingelegt werden konnte. Der rechte Leberlappen war so gequetscht, dass seine Grenze kaum mehr bestimmt werden konnte. Hier sowohl wie aus der Bauchhöhle wurden zahlreiche Blutgerinnsel entfernt. Mit grossen Gazestücken wurde tamponirt, die Wundränder einander genähert und zum Schluss eine grössere Menge von Kochsalzlösung in die Bauch¬ höhle hineingebracht. Trotz schneller Ausführung der Ope¬ ration war der Kranke danach äusserst elend. Die Herz¬ schwäche hielt so lange an, dass man erst nach 30 Stunden den Puls wieder fühlen konnte, der sich dann aber allmählich und stetig besserte. Der Verband war Anfangs mit Galle durchtränkt. Nach einer Woche wurde die Gaze entfernt. Die Heilung verlief ohne Störung, sodass zwei Monate nach dem Unfall der Verletzte Landaufenthalt nehmen konnte. Der Fall war ausserordentlich schwer und wohl nur in Folge der sehr zeitig ausgeführten Operation konnte eine Heilung zu Stande kommen. Franz Meyer-Berlin. Ueber chirurgisch wichtige Komplikationen und Nach- kranbheiten der Influenza. Von Dr. Felix Franke, Oberarzt des Diakonissenhansos Marienstift zu Braunschweig. (Mittheilungen aas den Grenzgebieten der Medisin and Chirurgie. \t. Bd. 2. Heft.) Verfasser, welcher zu seiner Arbeit etwa 4000 von ihm selbst beobachtete Influenzafälle verwerthet, findet die chirur¬ gisch wichtigen Folgen dieser Krankheit noch viel zu wenig beachtet. Sämmtliche Organe können durch Erkrankung in Folge von Influenza, welche z. Th. sich erst Jahre nach dem „Influenza - Anfall“ einstellen, chirurgische Behandlung noth- wendig machen. Es können von der Erkrankung der Nasenschleimhaut Eiteransammlungen in den Knochenhöhlen des Schädels, vom Ohr aus Abscesse des Schädelinneren hervorgerufen werden. Dass Lungenabscess, Lungenbrand und eitrige Brust¬ fellentzündungen Influenzafolgen sein können, ist allgemeiner bekannt, auch echte Entzündungen der Blinddarmgegend kommen vor. Ein grosses, noch wenig beachtetes Gebiet stellen die an Influenza sich anschliessenden Nervenerkrankungen dar, und zwar sind es vorzüglich die peripheren sensiblen und motori¬ schen Nervenstränge, welche, entzündlich verändert, durch Neuralgien an äusseren und inneren Organen und durch Lähmungserscheinungen mannigfachsten Anlasszu Fehldiagnosen und falscher Behandlung geben. Beachtung der Influenza in der Vorgeschichte der Krankheit, Himbeerzunge, streifige Röthung des Gaumens, Empfindlichkeit der Nervenstämme auf Druck, (Schmerzhaftigkeit beim Drücken einer erhobenen Hautfalte), sowie der Erfolg einer Behandlung mit Phenazetin, Antifebrin, Antipyrin, Natr. Salicyl. und Faradisation weisen auf den rechten Weg zur Krankheitserkenntniss. Ganz besonders häufig werden die durch Influenza her¬ vorgerufenen Knochenerkrankungen falsch gedeutet und be¬ handelt. Erkrankungen der Knochenhaut und des Knochen¬ gewebes selbst, — möglich an allen Knochen, meist an mehreren Stellen zugleich auftretend, öfter Wucherungen als Einschmelzungen und Vereiterungen erzeugend, beim Sitz an Epiphysen Gelenkergüsse zeitigend, — rufen Krankheitsbilder verschiedenster Art hervor und geben Anlass zu Verwechselung mit Gelenkrheumatismus, Gicht, Tuberkulose und Lues, ebenso wie die an Fascien, Sehnenscheiden und Muskeln sich ein¬ stellenden entzündlichen Erscheinungen häufig nicht die rechte Würdigung als Influenzafolgen erfahren. Bei der Sicherheit, mit der Verfasser alle genannten Komplikationen als mit der Influenza zusammenhängend zu erkennen glaubt, erscheint ihm der Nachweis der Influenza-Bazillen in der Mehrzahl seiner Fälle entbehrlich. Die Therapie kommt in vielen Fällen auch bei letztgenannten Erkrankungen mit den erwähnten Mitteln, in Verbindung mit Ruhe und Terpentinumschlägen nach Art Priessnitzscher Umschläge, aus, chirurgische Eingriffe sind je¬ doch nicht selten erforderlich. Die vielen interessanten Einzelheiten, welche sich be¬ sonders in den zahlreichen, oft in derselben Familie sich zu einem klaren Bilde von Influenza und deren Folgen ergänzen¬ den Krankengeschichten, finden, im Original nachzulesen, ist sehr empfehlenswerth. Seelhorst-Ilmenau. Innere Medizin. Ein Beitrag zur Aetiologie der Noma. Von Dr. E. Krahn, Volontärarzt der chir. Univ.-Klinik zu Breslau. (Mittheil. a. d. Orensgeb. d. Med. and Chir. Band 0, Heft i tl 5.) Nach kurzer Besprechung der auf die Ursache der Noma be¬ züglichen Litteratur beschreibt Verfasser zwei an der Breslauer Klinik beobachtete Fälle, welche in typischer Weise tödtlich verliefen. Mikroskopisch fand sich bei Fixierung der ganz frisch entnommenen Gewebsstücke in Formalin, Einbettung in Paraffin, 24 stündiger Färbung in Carboifuchsin, kurzer Entfärbung in 70 prozentigem Alkohol und Einbettung in Canadabalsam, schon bei schwacher Vergrösserung an der Grenze zwischen Gesundem und Krankem intensive Roth- färbung, welche bei tausendfacher Vergrösserung auf massen¬ haft das Gewebe durchsetzende fädige Gebilde sich zurück¬ führen liess. An Stärke waren diese Fäden sehr wechselnd, im Kranken dick, dicht verfilzt, und Farbe, sowohl Carbol- fuchsin wie Weigertsche und Ziehlsche Lösung, gut an¬ nehmend; nach dem Gesunden hin, und tief in dieses hinein schwächer, weniger intensiv gefärbt und begleitet von Vibrionen, die, ähnlich Choleravibrionen, doch diese an Grösse übertreffend, sich vielfach zu Spirillen und Spirochaeten anordneten. Strepto- und Staphylokokken wuchsen daneben. Derselbe Befund wurde früher schon von Perthes erhoben, auch Petruschky fand Vibrionen und Spirillen neben Diphtheriebazillen. Die Ansicht, dass Noma auf diphtherischer Grundlage beruhen könne, weist Verfasser zurück, glaubt dagegen ihr Zustandekommen bedingt durch eine Mischinfektion, bei welcher Spirillum sputigenum und Spirochaete dentium tief in die noch gesund erscheinenden Gewebe einwuchern, wenn man auch noch nicht sicher sagen kann, wie gross ihr Antheil beim Zustandekommen von Noma ist. Seelhorst. Ein Fall von anscheinender Maul- und Klauenseuche beim Menschen. Aus der medizinischen Klinik zu Bonn. Von Prof. Fr. Schultze. (Münchener medlzin. Wochenschrift, No. 26, 1900.) Verf. beschreibt einen Krankheitszustand eines kleinen Kindes, der in seinen Einzelerscheinungen durchaus an das Bild der Maul- und Klauenseuche erinnerte; es bestand eine aphthöse Mundentzündung, welche die Schleimhaut der Lippen, der Zunge und des Zahnfleisches betraf, und gleichzeitig fan Digitized by Google 870 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 18. den sich geschwürige Prozesse an den Fingern und Zehen. Die Körpertemperatur war erhöht und schwankte zwischen 38 und 40°. Indessen ergab weder die Anamnese Anhalts¬ punkte für die Diagnose »Maul- und Klauenseuche", noch fielen die an einem Kalbe und einem Kaninchen vorgenom¬ menen Impfversuche positiv aus, so dass Verf. selbst die Diagnose auf Maul- und Klauenseuche nicht sicher stellen zu dürfen glaubt. Syphilis und Tuberkulose bildeten keinesfalls die Grundlage der Erscheinungen, die übrigens nach vierzehn¬ tägiger Behandlung völlig zurückgingen. —y. Zur Kasuistik der Fremdkörper in den Luftwegen. Aus Prof. Dr. C. Bayer’s Chirurg. Abtheil, des Kaiser Franz Josef- Kindersp. in Prag. Von Ass. Dr. E. Wanitschek. (Prager mediain. Wochenschr. No. 31, 1000.) Dass ein Fremdkörper aspirirt wird und anfangs gar keine oder nur geringe Erscheinungen hervorruft, kommt vor, wenn es auch selten ist. Oefters jedoch beobachtet man, dass die anfangs bedrohlichen Erscheinungen völlig schwinden, der Arzt den Patienten beruhigt aus der Behandlung entlässt, der Kranke und seine Umgebung glauben, der Fremdkörper sei längst ausgehustet, bis plötzlich nach Jahr und Tag ein schwe¬ rer Erstickungsanfall diese Annahme als irrig erweist. Einen Fall der Art theilt Verf. näher mit; ein achtjähriger Knabe trug nahezu beschwerdelos einen 3 mm breiten und 2 cm im Durchmesser haltenden Blechring 1% Jahre lang in der Tra¬ chea, bis eines Tages ein plötzlicher Erstickungsanfall den Luftröhrenschnitt erforderte. Durch zufällige klinische Beob¬ achtung des Knaben zu jener Zeit konnten die erwähnten Thatsachen zweifellos sichergestellt werden. —y. Neurologie und Psychiatrie. Angeborene Wortblindheit. Von James Hinshelwood. (The lancet 26. Mai 1000.) Der Verfasser berichtet über eine Reihe von Fällen von angeborener Wortblindheit, d. h. Unfähigkeit zu lesen bei er¬ haltener Sprache und bei erhaltenem Sprachverstäudniss. Von diesen Fällen möchte ich den interessantesten kurz referiren. Dieser betrifft einen 11 Jahre alten Knaben, welcher bereits 41/2 Jahre in der Schule war, aber dann aus derselben ent¬ lassen wurde, weil er das Lesen nicht lernen konnte. Er soll längere Zeit in der Schule gewesen sein, ehe man diesen Mangel entdeckte, denn er hatte ein so gutes Gedächtnis», dass er durch das Lesen der andern den Inhalt seiner Bücher auswendig wusste und dadurch die Fähigkeit zu lesen, vor¬ täuschte. Sonst war er ein in jeder Beziehung intelligenter Junge. Von den Buchstaben erkannte er nur einige und war im Stande auch einzelne einsilbige Worte durch buchstabiren zu lesen. Etwas besser als die Buchstaben kannte er die Zahlen, auch war er fähig ein Bild oder einen Gegenstand sofort zu erkennen und richtig zu deuten. Durch sehr energische Uebung hat er dann sehr geringe Fortschritte ge¬ macht und war dann schliesslich im Stande die Zahlen von 1 bis 50 zu lesen. Die übrigen Fälle zeigen denselben Defekt, nur nicht ganz so ausgeprägt. Während der normale Mensch durch allmäh¬ liche Uebung dahin kommt, ein Wort schnell lesen zu können, indem er es als Ganzes ansieht und auffasst, ähnlich so wie er ein bekanntes Bild betrachtet und wiedererkennt, fehlt dem, welcher mit diesem Defekt behaftet ist, die Fähigkeit dazu. Er bleibt sein Leben lang anf dem kindlichen Standpunkte, wo er Buchstaben an Buchstaben reihen muss. Es handelt sich bei der Wortblindheit, wie bekannt, in der Regel um einen bestimmten Hirndefekt und zwar betrifft er bei rechts¬ händigen Menschen Herde im linken Hinterhauptslappen resp. im linken unteren Scheitellappen. Es ist von der höchsten Wichtigkeit bei solchen Kindern die Ursache und die wahre Natur dieser Schwierigkeit beim Lesenlernen kennen zu lernen, da sie sonst als Dummköpfe gelten mögen, oder gar für etwas verantwortlich gemacht werden könnten, woran sie keine Schuld haben. Nur mit grösster Geduld und Uebung, aber sicher nicht durch strenge Behandlung kann man eventuell diesen Zustand zur Besserung führen. Franz Meyer-Berlin. Psychische Störungen nach Osteomyelitis acuta. Aus dem Kaiserin Elisabeth-Krankenhause in Saaz. Von Dr. J. Stein. (Prager mediain. Wochenschrift, No. 33, 1900.) Es ist eine allgemein bekannte Thatsache, dass akute fieberhafte Infektionskrankheiten nicht selten von psychischen Störungen begleitet sind. Diese Störungen, zunächst toxischer Natur, nehmen entweder die Form von Delirien an und finden sich vorzüglich auf der Höhe des Krankheitprozesses während des hohen Fiebers; sie treten aber auch auf, wenn die Krank¬ heitserscheinungen bereits milder geworden sind und das Fieber bereits nachgelassen hat, ja mitunter sogar erst, wenn vollkommene Entfieberung eingetreten ist. Auch diese letz¬ teren postfebrilen psychischen Störungen werden ätiologisch mit der Einwirkung der Toxine bezw. Infektion in Verbindung gebracht oder sie werden als Wirkungen der Inanition auf¬ gefasst; vielleicht sind mitunter beide Momente ursächlich anzuschuldigen. Sie können entweder aus der delirösen Form direkt hervorgehen oder sie entstehen im Verlaufe der Krank¬ heit von selbst. Es handelt sich dabei um reine Psychosen, welche zu der akuten Verwirrtheit (Amentia) gehören, und sind entweder Erregungs- oder Depressionszustände. Verf. theilt drei Fälle dieser Art, die während der Erkrankung an Osteomyelitis acuta beobachtet wurden, in ihren Einzel¬ heiten mit. —y. Ein Fall von hysterischer Stummheit, jedenfalls hervor- gerufen durch Intoxikation. Von Dr. Ernst Bloch-Nürnberg. (Münchener medizin. Wochenschrift No. 28, 1900.) Die hysterische Stummheit ist im Gegensatz zur hysteri¬ schen Aphonie eine seltene Affektion; sie dokumentirt sich darin, dass die Kranken zwar die Lippen und Zunge ganz normal bewegen können, dass aber beim Sprechen jede will¬ kürliche Innervation der Sprechmuskeln versagt und die Kranken stumm bleiben. Einen derartigen Fall beschreibt Verfasser in der vorliegenden Mittheilung. Ein zwar etwas nervöser, aber sonst gesunder Bursche von 15 Jahren war in der Drechslerwerkstatt, wie es hiess, ohnmächtig geworden. B. traf ihn auf einem Stuhle sitzend mit offenen Augen an. Die Arme waren im Ellbogen rechtwinklig gebeugt und an den Leib angezogen. Weder auf Zuruf, noch auf Schütteln, Be¬ spritzen mit Wasser erfolgte eine Reaktion. Die Pupillen waren weit, reagirten auf Lichteinfall, auf tiefe Nadelstiche erfolgte ein Zucken; wenn man die krampfhaft gebeugten Arme mit ziemlicher Gewalt ausstreckte, blieben sie in der neuen Stellung stehen. Die Sehnenreflexe waren verstärkt. Pat. blieb mehrere Tage absolut stumm; während sich die Anzeichen des hysterischen Krampfanfalles — um einen solchen handelte es sich — unter Chloralhydratklystieren allmählich verloren, kam die Sprache erst am fünften Beobachtungstage wieder. Nachträglich wurde festgestellt, dass an dem Er- Digitized by Google 15. September 1900. Aerztliehe Sachverständigen-Zeitung. 871 krankung8tage alle im Betriebe beschäftigten Personen, vier Lehrlinge und zwei Gesellen, mehr oder weniger heftig er¬ krankten; alle führten ihr Unwohlsein auf das Rauchen des defekten amerikanischen Füllofens zurück. Wahrscheinlich war auch das beschriebene Krankheitsbild die Folge einer CO-Vergiftung. Dass Alkohol und Schwefelkohlenstoff derartige schwere hysterische Zustände hervorrufen können, ist bekannt. Der vorliegende Fall zeigt, dass auch das Kohlenoxydgas hier aetiologisch in Frage kommt. —y. Ein Fall von neurasthenischem Schütteltremor nach Trauma. Von Dr. Ph. F. Becker-Bonn. (Münch. Med. Wschr. 1900, No. 10.) Ein 24 jähriger Ackerknecht, der des Oefteren an Gelenk¬ rheumatismus gelitten hat und von Kind auf etwas nervös ist, sich leicht aufgeregt und Anfälle von Angst und Zittern be¬ kommen hat, dagegen angeblich keinen Alkoholmissbrauch trieb, erhält einen Hufschlag in die rechte Leistengegend. Er stürzt hin, ist für einige Stunden bewusstlos und erwacht mit äusserst heftigen Schmerzen im Leib und einem Zittern des Kopfes und beider Arme. Der zunächst gelassene Harn ist blutig gefärbt. Etwa ein halbes Jahr später wird der Verletzte in die Bonner Klinik aufgenommen, nachdem ihm eine Rente von 66 % Prozent zugesprochen worden ist. Es finden sich die üblichen Zeichen allgemeiner Nervenschwäche, ferner eine Schmerzhaftigkeit der von dem Hufschlag getroffenen Stelle und als die auffallendste Erscheinung ein fast dauerndes Muskelzittern in beiden Armen, bei dem theils abwechselnd, theils gleichzeitig die verschiedensten Bewegungsformen beob¬ achtet werden. Das Zittern verstärkt sich bei gewollten Be¬ wegungen. Es wird bedeutend vermindert, vorübergehend ganz aufgehoben beim Auflegen der Arme auf eine hartem Grundlage. Als Ursache des Zitterns käme die multiple Sklerose oder die Zitterlähmung in Frage. Aber bei der ersteren würde man erwarten können, dass das Zittern in der Ruhe fehlt, bei der letzteren, dass es sich bei Bewegungen verminderte, und ausserdem fehlen für beide Krankheiten die übrigen kenn¬ zeichnenden Störungen. Bei Hysterie pflegt Zittern nur an¬ fallsweise aufzutreten, und die Krankheit geht gewöhnlich mit Empfindungsstörungen, Muskelkrämpfen u. dergl. einher. Auch betreffen die Hauptstörungen bei Unfallshysterie eher die der verletzten Stelle benachbarten Körpertheile. So wird man also annehmen müssen, dass im vorliegenden Falle das Schüttelzittern rein neurasthenisch ist. Gegenüber dem so ungemein häufigen feinschlägigen Zittern der Nervenschwachen stellt das Schütteln eine sehr viel seltenere Form dar. Von einer Vortäuschung kann nicht die Rede sein, da eine solche gerade bei dieser Erscheinung auf die Dauer physisch unmöglich ist. Auch ist der Fall wohl einer von denen, bei denen Begehrungsvorstellungen für die Entstehung des Leidens nicht wohl verantwortlich gemacht werden können. Vergiftungen. Chronische Messing-Vergiftung. Von Wm. Murray M. A. M. D. Resident Surgeon, Birmingham. General Dispensary. (British Medical Journal 2 6. 1900.) Sehr wohl erinnere ich mich aus meiner Praktikanten¬ periode in den sechziger Jahren, dass in Halle a. S. in der Weberschen Poliklinik mehrere Fälle von Gelbgiesserkrank- heit in Behandlung kamen. Die Vergiftungssymptome ver¬ schwanden ebenso schnell, wie sie aufgetreten waren, nach Verlauf einiger Tage und bei näherer Nachforschung stellte sich heraus, dass alle Gelbgiesserlehrlinge beim Beginne ihres Handwerks, wenn zum ersten Male Messing hergestellt wird, dieser akuten Intoxikation ausgesetzt sind. Messing wird näm¬ lich durch ein Zusammenschmelzen von drei Theilen Kupfer und einem Theil Zink fabrizirt und es blieb zweifelhaft, ob die Krankheit durch Einathmen der Zinkdämpfe entstehe, oder ob das Kupfer den Intoxikationsfaktor bilde. Die Patienten klagen plötzlich über Kopfschmerzen, Schwin¬ del, Ohrensausen, Flimmern vor den Augen. Appetitmangel, Uebelkeit, Erbrechen, Diarrhoe treten auf, das ganze sympa¬ thische Nervensystem scheint affizirt zu sein, allgemeines Ab¬ gespanntsein, Erschlaffung, Gliederschmerzen und Fieber¬ erscheinungen werden beobachtet, doch schwinden alle diese Symptome sehr bald nach einem profusen Schweissausbruch. Da Halle zu jener Zeit noch als Endemiene6t ersten Ranges sich hervorthat und dazumalen eine Epidemie die an¬ dere ablöste, so war die präzise Diagnostizirung einer solchen Gelbgiesserkrankheit selbstverständlich von Bedeutung, zumal dieselbe leicht mit dem Prodomialstadium einer akuten Infek¬ tionskrankheit verwechselt werden konnte. Die chronische Form dieser Vergiftuug habe ich später nie zu beobachten Gelegenheit gehabt, so wird es auch vielen Kollegen gehen, deshalb erlaube ich mir die interessante Aus¬ führung Murrays hier wiederzugeben. Derselbe schildert nicht nur den Verlauf der Krankheit bei einem Patienten, sondern liefert uns auch eine Erklärung der Art der Vergiftung und empfiehlt warm ein vorzügliches Remedium, nämlich die Phosphorsäure. Der Kranke klagte vornehmlich über Appetitmangel, fort¬ schreitende Abmagerung und Brustschmerzen, so dass der Ver¬ dacht auf Phtise nicht von der Hand zu weisen war. Da eine exakte Untersuchung hingegen diese Krankheit vollständig ausschliessen konnte, führte eine grüne Linie auf dem Zahnfleisch zu der Diagnose chronischer Kupferintoxica- tion, zumal Patient in einer Messingfabrik thätig war. Diese linienförmige grüne Tinktion des Zahnfleisches ist ein charakteristisches Symptom, dieselbe erscheint bald blass¬ grün, bald intensiver gefärbt, zuweilen dunkel olivengrün. Anaemie, allgemeine Schwäche und neuralgische Schmer¬ zen treten gewöhnlich im ersten Stadium auf, daran schliesst sich ein bedeutender Fettverlust, die Muskulatur wird atrophisch und Muskelzittern tritt auf. Kopfschmerzen, Leibschmerzen, Gliederschmerzen, Brust- und Rückenschmerzen sind stets vor¬ handen, der Kranke fühlt sich am ganzen Körper „wie zer¬ schlagen.“ Daneben Erbrechen und dyspeptische Beschwerden aller Art. Auch treten oft die Symptome eines Rachen- und Kehl¬ kopfskatarrhs in den Vordergrund. Ein Gefühl von Trocken¬ heit im Munde, metallischer Geschmack auf der Zuuge und Aphonie sind Erscheinungen der chronischen Kupferiutoxi- kation. Neben der allgemeinen nervösen Depression entwickeln sich vasomotorische Störungen, Kältegefühl wechselt mit Schweissausbruch. Letzterer ist häufig grünlich gefärbt, ebenso wie die grauen Haare älterer Arbeiter einen grünlichen Schim¬ mer zeigen. Verschiedene Hautausschläge, Exzeme und Akne werden ebenfalls häufig beobachtet. Ausserdem bildet, wie schon hervorgehoben, die grüne Linie am Zahnfleisch ein prägnantes Zeichen der Kupferver¬ giftung, zum Unterschied von anderen Metallintoxikationen, z. B. der Bleikolik. Hogben hat zuerst Greenhow, Bloudet und Bouchet gegenüber, nachgewiesen, dass nicht die Zinkdämpfe, sondern das Kupfer die Ursache der Vergiftung bei der Messingfabri- Digitized by Google 872 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 18. kation darstelle. Die Kupferhypothese hat durch die Arbeiten Simon’s, Tardieu’s, Rayer’s, Grisoll’s und Cheval- lier’s eine Stütze gefunden. Da die Eisengalvaniker, welche ebenfalls mit geschmolze¬ nem Zink arbeiten und den Zinkdämpfen ausgesetzt sind, keine Vergiftungserscheinung zeigen, so kann eben nur das Kupfer den ätiologischen Faktor darstellen. Da in den Werkstätten die ganze Atmospäre mit Kupfer- theilchen durchsetzt ist, so werden dieselben sowohl durch die Luftröhre, als auch durch die Speiseröhre dem Organismus zugeführt. Vom Magen und Verdauungstraktus aus werden die löslichen Salze in die Lymph- und Blutgefässe über¬ treten. (Dieser Resorptions- und Assimilationsprozess wird nach den Gesetzen der Chemie in Form von Kupfer-Jonen sich ab¬ wickeln. Anm. d. Ref.). Als Gegenmittel wurde früher Jodkalium gegeben, doch hat Murray keinen Erfolg von dieser Behandlung gesehen. Derselbe verordnete dagegen Phosphor, da dasselbe eine an¬ tagonistische Stellung dem Kupfersulfat gegenüber einnimmt. Bekanntlich wird letzteres als Antidot bei Phosphorvergiftung angeordnet. Sowohl Phosphorpillen von V 30 ^ ran dreimal täglich, als auch 15 Tropfen Phosphorsäure dreimal täglich in Wasser lieferten ein erfreuliches Resultat. Die Symptome schwinden nach diesem Remedium allmählich. Daneben wird der Genuss von Milch anempfohlen. Prophylaktisch sind die gewöhnlichen Schutzmassregeln der Metallarbeiter, Reinlichkeit etc. anzurathen. Scherk (Bad Homburg). Sublimatvergiftung als Unfall. (Kein Verfasser angegeben.) (Unf.-Vers.-Praxis 1900, No. 22.) Ein Photocheiniker hielt eine mit Sublimat gefüllte Schale unter einen Wasserhahn. Aus nicht ganz aufgeklärter Ur¬ sache wurde der Wasserstrahl plötzlich stärker, und der Inhalt der Schale spritzte daher ihrem Träger auf Gesicht und Hände und in den Mund. In den nächsten Tagen litt der Mann an heftigen Durchfällen, nach drei Tagen trat Gefühlslähmung am rechten Bein und Ameisenkriechen am rechten Arm sowie eine Steigerung des rechten Kuiesehnenreflexes ein. Gleich¬ zeitig verschlimmerte sich ein Abscess, der von einer früheren Zahnextraktion herrührte, derart, dass ein Durchbruch nach der Wange zu erfolgte. Unter Behandlung mit Jodkali schwand die Störung sehr bald. Abgesehen, dass der Fall medizinisch ganz interessant gewesen zu sein scheint, giebt er ein hübsches Beispiel dafür, dass gelegentlich einmal eine Vergiftung durch Aufnahme des Giftes in den Verdauungskanal einen Betriebsunfall darstellen kann. Wir berichteten kürzlich über einen ähnlichen Fall, bei dem nicht Sublimat, sondern Anilinöl dem betr. Arbeiter in den Mund spritzte. Unfall mit Karbolsäure. Von C. H. L. Johnston. (The lancet, 12. Mai 1900.) Johnston beschreibt hier einen Fall, wo ein Mann grössere Mengen Karbolsäure zu sich genommen haben soll, ohne da¬ bei irgend welchen Schaden zu nehmen. Ein Trinker hat im Zustande des Berauschtseins irrthümlich nach einer Flasche gegriffen, welche eine Unze flüssiger Karbolsäure (90 pCt. der reinen Karbolsäure), mit mehreren Unzen Paraffinöls vermengt, enthielt. Dr. Johnston sah ihn bald danach, aber als er schon erbrochen and offenbar das Gift gänzlich wieder von sich gegeben hatte. Er konnte weder an den Lippen noch am Rachen irgend ein Zeichen von Anätzung nachweisen, und auch weiterhin wurde keinerlei krankhafte Erscheinung mehr wahrgenommen. Er hält es für möglich, dass das Paraffinöl die giftige Wirkung der Karbolsäure verhinderte. Franz Meyer-Berlin. Augen. Ein Fall von beiderseitiger Optikusatrophie nach Ein¬ wirkung eines elektrischen Stromes. Aus der Augenabtheilung des Stephans-Hospitals in Reichenberg (Dr. Franz Bayer). Von Dr. Herrmann Ulbrich-Reichenberg. (Correip. d. Vereins deutscher Aerste in Reichenberg, No. 8, 1900.) Bei der Ueberfahrt über das Geleise einer elektrischen Kleinbahn kam der vierzigjährige Kutscher J. J. mit dem Leitungsdraht in Berührung; er erhielt einen heftigen elek¬ trischen Schlag, wurde zu Boden geworfen und verlor für etwa eine Viertelstunde das Bewusstsein. Am dritten Tage nach diesem Ereigniss konnte der Verletzte mit dem rechten Auge nichts mehr sehen. Eine 14 Tage später vorgenommene Untersuchung ergab folgenden Befund: Leichte Ptosis an beiden Augen; das rechte Auge steht in massiger Divergenz¬ stellung, beim Blicke nach links nimmt diese Abweichung etwas zu. Prüft man die Bewegungsfähigkeit, so ist ein deutliches Zurückbleiben des rechten Augapfels beim Blick nach unten festzustellen. Da der Patient auf diesem Auge vollständig erblindet ist, wird die Prüfung nach Gullstrand mit Placidos Keratoskop vorgenommen, die am rechten Auge eine Ver¬ schiebung des Scheibenbildchens nach innen beim Blick ge¬ radeaus, beim Blick nach unten eine Verschiebung nach innen ♦ und unten giebt. Es handelt sich demnach um eine Parese der Mm. recti internus und inferior des rechten Auges. Die Pupillen sind ungleich weit, beide zeigen absolute Starre auf Lichteinfall sowohl wie auf Konvergenz. Rechts S = 0, links S = 5 / 20 . Die Untersuchung mit dem Augenspiegel ergiebt eine doppelseitige Atrophie des Nervus opticus; das Gesichts¬ feld zeigt eine deutliche und namentlich auf der nasalen Seite beträchtliche konzentrische Einengung. Der Patient zeigt ferner deutliche Störungen der Farbenwahrnehmung; grün wird regelmässig als grau angegeben, grellrothe Farbentöne werden als röthlich bezeichnet. Es handelte sich bei diesem Befunde wohl um eine Störung, die peripher von der Seh¬ nervenkreuzung, in den Sehnerven selbst, ihren Sitz haben muss. Interessant an dem Falle sind nicht so sehr die schweren Folgen, die der elektrische Schlag für den Kranken gehabt hat — ähnliche Fälle (Blitz) sind bereits häufiger ver¬ öffentlicht worden —, als vielmehr die Thatsache, dass der Nachweis einer Optikusatrophie erbracht werden konnte. Zu bemerken ist noch, dass der elektrische Strom nicht einmal seinen Weg direkt durch den Kopf des Patienten nahm, son¬ dern an Hand und Füssen Eingang in den Organismus fand. Um so merkwürdiger bleibt die vereinzelte Erkrankung des Sehapparates ohne jede andere Störung der Körperfunktionen. —y- Ein Parasit aus der Klasse der Kruster als Fremd¬ körper auf der Hornhaut. Von Hayner D. Bathen. (The lancet. 7. April 1900.) Der hier beschriebene Fall gehört zweifellos zu den Sel¬ tenheiten. Bei einem Fischhändler fand sich eine starke ent¬ zündliche Reizung des linken Auges, die anfangs für die Folge eines Hornhautgeschwüres gehalten wurde. Der Kranke konnte Digitized by Google 15. September 1000. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 373 sieh nicht erinnern, dass ihm etwas in das Auge geflogen sei. Bei genauerer Untersuchung fand sich am oberen Hand der Hornhaut ein kleines ovales Bläschen, das etwa 2 mm Durch¬ messer hatte. Der Inhalt des Bläschens war klar. Seine Mitte war leicht erhaben, das Ganze wie von einem Graben umgeben. Anwendung von Chlorwasser und jede andere der¬ artige Behandlung blieb ohne Erfolg, deshalb wurde mit einem kleinen Messer versucht, die Blase zu eröffnen. Dabei aber konnte die ganze Masse von der Hornhaut ahgehoben werden und hinterliess auf der Oberfläche der Hornhaut nichts weiter als eine ganz geringe Rauhigkeit. Der Patient war fortan frei von allen Beschwerden. Der Zoologe S. F. Harmer er¬ kannte in dem entfernten Theilchen einen Parasiten, der zu den Krustentieren und zwar zu der Gruppe der Copepoda ge¬ hört, zu der viele Fischparasiten zu rechnen sind. Es handelte sich wahrscheinlich um caligus curtus, welcher sehr häufig bei Turbot und verschiedenen Arten von Kabeljau etc. vor¬ kommt. Es ist anzunehmen, dass der betreffende Fischhänd¬ ler nach Anfassen eines solchen Fisches das Auge rieb und den Parasit hineinbrachte, welcher mit seinen starken Häkchen, an der Hornhaut haften blieb, möglicherweise nachdem das Thier bereits abgestorben war. Franz Meyer-Berlin. Hygiene. Ueber die Bedeutung einer geordneten Milchbontrolle für die Städte. Von Dr. A. Lam- Rotterdam. (Zeitachr. f. Untersuch, d. Nähr.- a. Genassmittel, Heft 7, 1900.) Die aus dem städtischen Laboratorium „v. d. Keurings- dienst van Voedingsmiddelen“ in Rotterdam hervorgegangene Arbeit zeigt, welche grosse Bedeutung, abgesehen von der Aufdeckung gefälschter Milch, eine geordnete Milchkontrolle für die Städte auch in der Richtung hat, dass durch dieselbe nicht nur die minderwerthige Waare möglichst beseitigt wird, sondern auch die Güte der Milch im Ganzen eine wesentliche Zunahme erfährt. Seit der Einführung der geordneten und regelmässigen Milchkontrolle im Jahre 1893 hat sich ein deut¬ licher günstiger Einfluss dieser Massnahmen auf die Be¬ schaffenheit der verkauften Milch erkennen lassen. Die Zahl der Beanstandungen ist nicht nur von Jahr zu Jahr geringer geworden, sondern auch der mittlere Gehalt der Milch ist seit der Ausübung der Kontrolle ein höherer geworden, was von ebenso grosser wirtschaftlicher wie hygienischer Be¬ deutung ist. —y. Experimentelle Beiträge zur Untersuchung über die Marktmilch. Von M. Beck. (Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentl. Gesundheitspflege, Bd. 32, Heft 3.) Im Gegensatz zu Ostertag nimmt Beck auf Grund der vorliegenden Untersuchung an, dass sowohl bei beginnender Tuberkulose ohne nachweisbare Erkrankung des Euters als auch bei latenter, nur durch Tuberkulinreaktion angezeigter Tuberkulose, die Milch Tuberkelbazillen enthalten kann und deshalb jede Milch von auf Tuberkulin reagirenden Kühen als tuberkuloseverdächtig bezeichnet werden muss. Dem¬ entsprechend hält Beck die Tuberkulinprobe für die wichtigste Massnahme zur Gewinnung einer tuberkelbazillenfreien Milch. Die eigenen im Institut für Infektionskrankheiten in Berlin ausgeführten Untersuchungen des Verf. von Milchproben und zwar sowohl von Marktmilch, wie von sogen. Kindermilch, erstreckten sich einmal auf die Verunreinigung mit pathogenen Bakterieukeimen, vorzugsweise auf Tuberkelbazillen, zweitens auf die Frage, ob die Vernichtung dieser Keime, besonders der Tuberkelbazillen, durch ein einmaliges Aufwallen der Milch allein schon möglich, oder ob ein längeres Kochen nothwendig ist, und drittens, welches der im Haushalt gebräuchlichen Ge¬ schirre sich am besten zum Kochen der Milch eignet. Die Untersuchungen des Verf. ergeben, dass von den 56 untersuchten Proben von Berliner Marktmilch 17 Proben = 30,3 pCt. Tuberkelbazillen und 15 Proben = 27,0 pCt. säure¬ feste Stäbchen (Koch) enthielten, und dass ausserdem in 34 Proben = 62,3 pCt. Streptokokken festgestellt wurden. Frei von pathogenen Keimen waren im Ganzen nur 12 Proben = 21,4 pCt. Die Ergebnisse bezüglich des Vorkommens der Tuberkelbazillen in der Marktmilch stimmen im Allgemeinen mit den bekannten Untersuchungsergebnissen von L. Rabino- witsch überein. Besonders wichtig ist der häufige Befund von Streptokokken in der Marktmilch, auf deren Beziehungen zur Sommerdiarrhoe der Kinder der Verf. hinweist. Bezüglich des zweiten Punktes geht aus den Unter¬ suchungen des Verf. hervor, dass ein einmaliges Aufwallen der Milch wohl zum Vernichten .der Streptokokken, nicht aber zur Abtödtung der Tuberkelbazillen genügt, dass sie aber bei einem 3 Minuten langen Aufkochen ebenso zu Grunde gehn, wie die sonstigen, in der Milch enthaltenen pathogenen Keime. Als zum Kochen der Milch geeignetste Koohgeräthe er¬ wiesen sich dem Verf. irdene Geschirre; um ein Ueberkochen der Milch zu verhüten, muss sie von dem Zeitpunkt an, wo sie ins Wallen kommt, um gerührt werden. Roth (Potsdam). Gewinnung und Absatz von frischer, tnberkelbazillen- freier Trinkmilch (Eismilch). Von Helm. (Deutsche ViertelJahrsschrlft für Öffentliche Gesundheitspflege Bd. 32 Heft. 3.) Das zuerst in Dänemark von dem Ingenieur Casse prak¬ tisch geübte Verfahren, Milch gefrieren zu lassen und von dieser Eismilch der übrigen Milch soviel zuzusetzen, dass sie für einen bestimmten Transport ausreichend kühl erhalten wird, wurde von dem Verf. in der Richtung abgeändert, dass von einer längeren Stapelung der Milch abgesehen und das Unternehmen auf einen kleineren Umkreis beschränkt wurde, um zu verhüten, dass die Milch nicht von vorne herein in einem unhaltbaren Zustande in den Betrieb gelangte. So dann wurde die Milch möglichst schnell abgekühlt, damit sie nicht vorher ausrahmte. In der nach diesen Grundsätzen ge¬ leiteten Molkerei in Rheinsberg kommt die Milch, nachdem sie zuerst auf ihren Säuregehalt untersucht und der Fettgehalt festgestellt ist, in den Pasteurisirapparat und von hier auf den Kühler, von dem sie mit einer Temperatur von nahezu 0 Grad in den Sammelbehälter gelangt, um von hier aus in Kannen in den Kühlraum, in dem sich auch die Kältemaschine be¬ findet, befördert zu werden. Während der heissen Jahreszeit wird die Milch mit gefrorener Milch versetzt, die in besonderen Formen derart erzeugt wird, dass die Milch vollständig gleich- mässig ausfriert und eine Aufrahmung nicht stattfindet. Dass dies in der That der Fall, konnte bei wiederholten Besichti¬ gungen der Molkerei festgestellt werden. Die Vortheile des Verfahrens, namentlich in wirtschaftlicher Hinsicht, liegen auf der Hand. In hygienischer Hinsicht wird zunächst noch der positive Nachweis zu erbringen sein, dass die Tuberkelbazillen durch das Pasteurisirungsverfahren sicher abgetötet werden. Roth (Potsdam). Digitized by Google 874 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 18. Das Wassergas, seine Herstellung, Verwendung und hygienische Bedeutung. Von P. Roeselor. (Deutsche Viertoljahrsschrift für öffentl. Gesundheitspflege, Bd. 32 Heft 3.) Wassergas bildet sich bekanntlich, wenn man Dampf über glühende Kohlen leitet, und besteht theoretisch aus zwei gleichen Volumina Kohlenoxyd und Wasserstoff. Diese voll¬ ständige Zersetzung tritt aber nur bei hinreichend hoher Tem¬ peratur ein. In Folge seiner ausserordentlich hohen Flammen¬ temperatur wird es in der Industrie überall da mit Vortheil verwandt, wo es auf Erzielung besonders hoher und gleich- massiger Temperatur ankommt, insbesondere zum Schweissen und Schmieden, beim Schmelzen von Metallen, Legirungen, Flüssen in der Glas- und Thonwaarenindustrie, ferner für chemische Fabriken u. s. w. Dabei ist die Regulirung der Temperatur eine einfache und bequeme. Bei Verwendung zu Heizzwecken bietet das Wassergas den Vortheil, dass es keiner Beimischung von Luft bedarf, um vollkommen rauch- und russfrei zu verbrennen. Was die Kosten betrifft, so ist die Heizung mit Wassergas kaum tbeurer, als die Heizung mit Kachelöfen. Die ausgedehnteste Ver¬ wendung scheint aber dem Wassergas auf dem Gebiet des Beleuchtungswesens, namentlich für öffentliche Zwecke bevor¬ zustehen, und zwar kann es hier auf dreierlei Weise ver¬ wendet werden: 1. Als reines nicht leuchtendes Wassergas, unter Benutzung von Glühkörpern, 2. als karburirtes, d. h. durch Beimischung von Kohlenwasserstoffen leuchtend ge¬ machtes Gas und 3. als Zusatz in reinem oder karburirtem Zustande zu gewöhnlichem Steinkohlen-Leuchtgas. Besondere Vorzüge bietet die Wassergas-Auerbeleuchtung. Da das Wassergas bei seiner hohen Flammentemperatur und seiuer auch ohne besondere Luftzufuhr nicht leuchtenden und nicht russenden Flamme eines Bunsenbrenners nicht bedarf, können die Brennerkonstruktionen einfacher und damit die Strümpfe stabiler und widerstandsfähiger werden, so dass mit Rücksicht auf die grössere Billigkeit des Wassergases die Ge- sammtkosten sich erheblich niedriger stellen, als bei andern Beleuchtungsarten. Diesen wirthschaftlichen Vorzügen stehen auf der andern Seite erhebliche gesundheitliche Gefahren gegenüber. Die hauptsächlichste Gefahr beim Gebrauch des Wassergases be¬ ruht auf seinem hohen, durchschnittlich etwa 40 Prozent be¬ tragenden Kohlenoxydgehalt, welcher es fünfmal so giftig als Leuchtgas erscheinen lässt. Wenn gleichwohl nur äusserst selten Fälle von akuter Kohlenoxydvergiftung durch Wasser¬ gas, speziell in Deutschland, beobachtet worden sind, so schliesst das nicht aus, dass Vergiftungsfälle mit chronischem Verlauf häufiger Vorkommen, und auch zur Feststellung kommen würden, wenn derartige gefährliche Betriebe nach der gesundheitlichen Seite dauernd ärztlich überwacht würden. Die im Interesse der Arbeiter, wie der Umgebung er¬ forderlichen gesundheitspolizeilichen Massnahmen beziehen sich vor Allem auf absolute Dichtigkeit der Apparate und Leitungen und ausgiebige Ventilation des Generator-Raums. Nicht ge¬ lungen sind bisher die Versuche, das Wassergas mit Rück¬ sicht auf seine Giftigkeit und Geruchlosigkeit bei der Be¬ nutzung desselben als Leuchtgas durch entsprechende Zusätze von Merkaptan (Schwefelalkohol), Carbylamin u. a. stark riechend zu machen. In Amerika wird eine besondere Par- fümirung des Wassergases nicht vorgenommen, weil die dort gebräuchliche Karburirung mit Erdölen dem Gase einen ähn¬ lich durchdringenden Geruch, wie ihn das Retorten-Leuchtgas besitzt, ertheilt. Die bei uns gebräuchliche Karburation mit Benzol vermag dies jedoch nicht, da ein so karburirtes Gas sich den Geruchsnerven nur schwach bemerklich macht, wes¬ halb das Wassergas nicht für sich, sondern nur in genügen¬ der Mischung mit Leuchtgas, wodurch sein Kohlenoxydgehalt um mindestens 15—18 Prozent herabgesetzt und ihm gleich¬ zeitig der charakteristische Leuchtgasgeruch verliehen wird, in die Leitungen abgegeben werden darf. Wenn demnach das Wassergas bei der Leichtigkeit und Billigkeit seiner Herstellungsweise einen erheblichen Fort¬ schritt auf dem Gebiete der Industrie und Technik bedeutet, so sind doch die mit seiner Verwendung, namentlich zu Zwecken der häuslichen Beleuchtung und Heizung, verbundenen Gefahren derartige, dass es Aufgabe der Aerzte und Gesund¬ heitsbeamten ist, hierauf bei Zeiten hinzuweisen. Gegen die Verwendung des Wassergases in der Industrie liegen, da hier eine dauernde Kontrole sehr wohl möglich ist, derartige prin¬ zipielle Bedenken nicht vor. Die hier in Frage kommenden Gesichtspunkte sind in der Bekanntmachung, betreffend die Abwendung gesundheitsschädlicher Wirkungen des Wasser- und Halbwassergases vom 31. Dezember 1890 niedergelegt, die an die Stelle der im Jahre 1892 erlassenen Bekannt¬ machung getreten ist, und eine Milderung der dort aufgestellten Gesichtspunkte darstellt. Roth (Potsdam). Aus Vereinen und Versammlungen. Aus den Sitzungen des 13. Internationalen medizinischen Kongresses. Sektion für Chirurgie. (Mflnch. med. Wochenschr.) Ueber neue Mittel zum schmerzlosen Operiren sprachen die Herren Braquehaye-Tunis, Severano-Bukarest, Racoviceauo-Pitesci ebenda und Tuffler-Paris. Braquehaye empfiehlt statt des Cocain das Nirwanin anzuwenden, welches leichter keimfrei zu machen und weniger giftig sei und dessen Wirkung länger anhalte. Bis zu einem halben Gramm hat er es ohne Störung eingespritzt. Die Wirkung tritt nach 5 bis 10 Minuten ein. Die neuste Methode der allgemeinen Schmerzlosmachung. die Einspritzung von Cocain ins Rückenmark, bezw. unter die Rückenmarkshaut besprachen Severano, Tuffier und Pitesci. Die Menge des anzuwendenden Cocains geht nach S. bis zu 4 Centigramm, bei R. schwankt sie zwischen 2 und 4 Centigramm, T. nimmt nie mehr als l l / 2 Centigramm. Am lebhaftesten wird die Methode von Tuffier empfohlen, der bereits an 125 Kranken Operationen, die theils die Gliedmassen, theils die Bauchorgane betrafen, ausgeführt hat. Ebenso oft hat Pitesci die Cocaineinspritzungen vorgenommen. Alle Vortragenden stimmen darin überein, dass diese neue Methode recht hässliche Zufälle herbeiführen kann. Severano hat schwere Schwächeanfälle bis zu einer Dauer von 8 Stunden gesehen. Bei Tuffier klagte ein Viertel aller Behandelten über Beklemmungen und ein Gefühl von Abgestorbensein der unteren Körperhälfte. Während der Schmerzlosigkeit, die nach 5 bis 10 Minuten eintritt und IV 2 bis 8 Stunden dauert, bestehen oft Beklemmungen, Angstgefühle und Uebelkeit, Beschleunigung des Pulses, starke Blässe des Gesichts. Nach Ablauf der Gefühllosigkeit treten „oft“ keine unan¬ genehmen Zufälle, mitunter aber Erbrechen, Steigerung der Körperwärme bis gegen 40°, Kopfschmerzen, die nicht selten zwei Tage dauern, auf. Bei Pitesci hatten nur 17 Kranke keine Störung, 80 leichte Vergiftungserscheinungen von x / 2 bis 5 Tagen Dauer, 3 schwebten in Lebensgefahr. Tuffier glaubt, dass die bedenklich scheinenden Störungen doch nie zum Tode führen, da die Lähmung des verlängerten Marks nicht hoch genug Digitized by Google 16. September 1900. Aerztliohe Sachverständig en-Zeitung. 876 emporsteigt. Dennoch hat er fünf Todesfälle erlebt, freilich nimmt er bei vieren andere Todesursachen an, der fünfte Kranke hatte einen Herzklappenfehler. Uebrigens nimmt T. Herzfehler nicht als Bedingung gegen die Cooaineinspritzung an ? während Pitesci diese bei Nierenkrankheiten für verboten hält. Günstig äussert sich über die Methode noch Herr Nico- letti-Neapel. [Vergl. hierzu das Referat über v. Bier in dieser Nummer.] Ueber die Chirurgie der Bauchspeicheldrüse wurde in der ersten Nachmittagssitzung verhandelt. Wir geben aus den Referaten der Herren Ceccherelli-Parma und Robson- Leeds, deren ausführliche Wiedergabe hier zu weit führen würde, diejenigen Punkte wieder, die sich auf den Zusammen¬ hang von Pankreaskrankheiten und Verletzungen beziehen. Ceccherelli: Die häufigsten Geschwülste der Bauch¬ speicheldrüse sind Cysten, tbeils auf Verletzungen, theils auf selbständige Blutungen zurückzuführen, theils Verstopfungs¬ oder Blasenwurmcysten. Sie unterliegen chirurgischen Ein¬ griffen, und zwar genügt es, den Cystensack auszuschälen, wo¬ nach der Hohlraum sorgfältig durch Nähte zu versohliessen ist, oder ihn nur einzuschneiden, dann aber die Cystenwand mit den Rändern der Bauchwunde zu vernähen. Eitrige und brandige Entzündungen der Drüse sind im akuten Stadium un¬ berührt zu lassen; später aber, wenn Theile des Organs eitrig verflüssigt oder brandig abgestorben sind, muss man von vorn oder hinten her den Herd eröffnen. Bei den durch Verletzung entstandenen Hernien der Drüse kann die Rückbringung ge¬ nügen, aber auch die künstliche Befestigung nothwendig sein. Bei Quetschung des Organs kann die Stärke der Blutung einen Eingriff nothwendig machen. Quere Naht des Pankreas wird gut vertragen. Blutungen in die Drüse können ohne Ver¬ letzung, dann meist durch Brand, eintreten. Behandelt müssen sie wie die traumatischen werden. Robson: Die Pankreaskrankheiten sind häufiger als man denkt. Er allein hat 40 Fälle operirt. Bei Cysten ge¬ nügt einfache Entleerung. Entzündungen können akute, eitrige hämorrhagische und brandige Form aufweisen, aber auch chro¬ nisch und mit Schrumpfung verlaufen. Die hämorrhagische Entzündung schloss sich in allen 3 Fällen, die R. beobachtete, an Verletzungen an. In der Diskussion berichtete Herr Michaux-Paris über einen Fall von Pankreaszerreissung bei Bauchquetschuug. Er hat damals ausgestopft und eine Klemme angelegt, nähen konnte er nicht. Der Verletzte starb. Herr Bö ekel-Strassburg ist, wie der Vorredner, nicht sehr hoffnungsvoll bezüglich der chirurgischen Hilfe bei Pankreas¬ verletzungen. Von 10 bekannten Fällen haben 8 mit dem Tode geendet. Das Aufsuchen und Unterbinden der blutenden Gefässe ist kaum möglich, Ausstopfung die allein mögliche Massnahme. Herr Subbovitsch-Belgrad hat eine Pankreascyste mit blutigem Inhalt operirt. Die mikroskopische Untersuchung liess erkennen, dass im Anschluss an eine Verletzung eine chro¬ nische Entzündung der Drüse mit Verlegung von Ausführ¬ gängen und mehrfache Cystenbildung zustande gekommen war. Herr Le Fort-Lilles hat experimentell Brüche der Ge¬ sichtsknochen, besonders des Oberkiefers, erzeugt. Er fand, dass in Fällen, wo die Röntgenstrahlen selbst ausge¬ dehnte Brüche erkennen Hessen, doch äusserlich die Art der Verletzung nicht zu erkennen war, weil die Bruchstücke weder verschoben, noch beweglich wurden. Bei Verletzungen der Gesichtsknochen kommt leicht ein Spalt in der Schädelbasis bis zum Hinterhauptsloch zustande. Wenn Gewalteinwirkun¬ gen in irgend einer Richtung die Mitte des Gesichts treffen, bricht in der Regel nur die mittlere Partie ein, während die Backenknochen unversehrt und in Verbindung mit dem Schädel bleiben. Herr Hernandez-Mexiko spricht über die Behandlung von Verletzungen des Truncus anonymus. Bei grossen, leicht zu überblickenden Wunden räth er, zu unterbinden. Er selbst ist der Erste gewesen, welcher in einem derartigen Fall den Truncus am Lebenden wegen Verletzung unterbunden hat. Bei kleinen Wunden muss man sich auf Ausstopfung be¬ schränken. Herr Chipault-Paris giebt eine Statistik über 147 Fälle von Wirbelbruch. 34 mal bekam er die Verletzten unmit¬ telbar nach dem Unfall in Behandlung. In 20 von diesen Fällen verzichtete er wegen des schlechten Allgemeinzustandes oder aus anderen Gründen auf jeglichen Eingriff, in den übri¬ gen eröffnete er den Wirbelkanal, besichtigte das Rückenmark und brachte in denjenigen Fällen, wo eine starke Verschie¬ bung der Bruchstücke eingetreten war, entweder die Bruch¬ stücke in die richtige Lage und hielt sie theils durch ge¬ polsterte Apparate, theils durch Naht fest, oder er entfernte Theile der Wirbelbögen (mit welchem Erfolge giebt der Be¬ richt nicht an). Ausser den genannten Fällen hat er noch 57 frische Brüche zu behandeln gehabt. 20 mal verboten hier fieberhafte Krankheiten einen Eingriff. Hier wurde nur in 3 Fällen ein blutiger Eingriff vorgenommen, und es gelang 2 mal die Störungen am weiteren Fortschreiten zu hindern. 49 mal handelte es sich um alte Verletzungen, bei denen ausser einer in 2 Fällen erfolgreich ausgeführten Abmeisselung von Knochenwucherungen, die den Rückgratskanal verengten, nichts Besonderes zu erwähnen ist. Eine Reihe von Vorträgen betraf die Behandlung der Knochenbrüche mit besonderer Berücksichti¬ gung der Röntgenstrahlen. Herr v. Bergmann-Berlin sprach über Fortschritte in der Behandlung der Knochenbrüche seit Einführung der Untersuchung mit Röntgenstrahlen. Unter den Hindernissen für das Zusammenheilen ge¬ brochener Knochen spielt eine wichtige Rolle, besonders bei Oberschenkelbrüchen, die Einklemmung von Muskeln zwischen die Bruchenden. Diese lässt sich nun leider durch die Unter¬ suchung mit Röntgenstrahlen nicht so sicher feststellen, dass gegebenen Falls die Nothwendigkeit eines blutigen Eingriffs erkannt werden könnte. Immerhin ist ein Anhaltspunkt für die Zwischenschiebung von Muskeln gegeben, wenn bei der Durchleuchtung in den verschiedensten Stellungen ein heller Zwischenraum zwischen den Bruchstücken sichtbar bleibt. Dagegen lassen die Röntgenstrahlen andere Ursachen des Ausbleibens einer knöchernen Vereinigung mit Sicherheit er¬ kennen. Erläutert wird dies am Kniescheibenbruch. Hier kann die Heilung durch drei bei der frischen Verletzung mit Röntgenstrahlen deutlich nachweisbare Umstände verhindert werden: Entweder sind die beiden Bruchstücke ausserordent¬ lich ungleich, das obere sehr gross, das untere sehr klein. Hier kann nur Naht die Vereinigung herbeiführen. Oder zwischen die beiden Hauptbruchstücke haben sich kleinere Knochensplitter oder -brocken geschoben, die erst weggeräumt werden müssen. Oder endlich das eine Bruchstück, meist das untere, hat sich so um seine Querachse gedreht, dass es das andere nicht mehr mit der Fläche, sondern nur noch mit der Kante berührt. Auch dann ist die Anpassung nur auf blutigem Wege möglich. Solche Brüche hat Bergmann 25 mal operirt, immer mit knöcherner Heilung. Während so die Behandlung der Kniescheibenbrüche eine nahezu gleichförmige geworden ist, werden die Brüche der Speiche an ihrem unteren Ende, je nach dem Durchleuchtungs¬ befunde, der sehr mannigfaltig sein kann, durchaus verschieden Digitized by Google 876 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 18. behandelt. Vortr. zeigt in einer Reihe von Abbildungen die Hauptformen dieser Brüche. Eine Gruppe, deren Kenntnis» eigentlich erst durch die Radiographie begründet worden ist, stellen die Brüche der Fusswurzel und des Mittelfusses dar. Sie hat man früher oft für blosse Quetschungen gehalten und durch Massage ver¬ schlimmert, während man sie jetzt richtig erkennt und ihnen die zur Heilung nothwendige Ruhestellung gönnt. Herr Tuffler-Paris sprach seine Ansicht dahin aus, dass alle bisher üblichen Apparate zur Behandlung der Knochen¬ brüche ungenügend sind, weil sie die Bruchstücke nicht genau aneinander anpassen. Dies sei nöthig, um eine wirklich nor¬ male Thätigkeit des betr. Gliedes zu ermöglichen. Besonders die Oberschenkelbrüche heilen schlecht. Man kann das mit Hilfe der Röntgenstrahlen deutlich erkennen. Vortr. empfiehlt besondere Instrumente, mit deren Hilfe die gebrochenen Knochen in richtiger Stellung festgehalten werden sollen, nachdem sie am besten durch Naht vereinigt sind. Für die Brüche im Bereich des Ellbogen- und Kniegelenks wird die Naht in Zukunft die einzige Behandlungsweise sein. Herr Destot-Lyon bespricht den Werth der Durchleuch¬ tung bezüglich der häufig verkannten Brüche des Mittel¬ fusses und der Fusswurzel, wovon er verschiedene Bilder zeigt. Er geht ferner genauer auf die Beckenbrüche ein und berichtet über einen durch X-Strahlen richtig erkannten Bruch am oberen Ende des Oberschenkelknochens, der bisher bald für eine Hüftgelenksentzündung, bald für eine Hüftverrenkung ge¬ halten worden war. Schliesslich erwähnt er die Knochen¬ sprünge, welche lediglich auf dem Wege der Durchstrahlung erkannt werden können. Herr Lucas-Championnöre spricht über die Behandlung der Knochenbrüche durch methodische Bewegungen und frühzeitige Massage ohne feste Verbände oder Apparate. Seiner Ansicht nach können auf die angegebene Weise sämmtliche Brüche des Oberarms an seinem oberen und unteren Ende, ferner alle Brüche des Ellbogengelenks, insbesondere die des Ellbogens, alle Brüche der Speiche am Handgelenk, fast immer die Brüche des Schlüsselbeins, immer die am unteren Theil des Wadenbeins, die der Knöchel, soweit sie keine Neigung zur Verschiebung haben, die des Oberschenkels am Knie unter derselben Bedingung, und die des Schulterblatts. Aus¬ nahmsweise ist die Behandlung anwendbar bei nicht ver¬ schobenen Brüchen im mittleren Abschnitt des Oberarms, des Vorderarms und Unterschenkels. — Mit den Bewegungen, die methodisch und abgemessen sein sollen, und mit einer sanften Massage, die sich nur auf die Nachbarschaft der Bruchstelle erstreckt, wird vom ersten Tage ab begonnen. Die Behand¬ lung soll den Vorzug haben, eine schnellere und festere Knochenheilung zu bewirken, gleichzeitig den Schmerz rasch zu beseitigen und die der späteren Funktion so nachtheilige Zusammenziehung der Muskeln zu verhüten. Die Apparatbe¬ handlung kann in allen genannten Fällen ohne Schaden weg¬ gelassen werden, weil die Apparate die Verschiebung der Knochen doch nicht verhüten können. Die blosse Anwendung von Bewegungen ohne Massage genügt in bestimmten Fällen, besonders bei Greisen und auch bei jungen Kindern, welche Neigung zu sehr ausgiebiger Knochenneubildung haben. Herr Thiery-Paris spricht über die Knochennaht bei der Behandlung von Brüchen, insbesondere Unterschenkel¬ brüchen. Er empfiehlt dieselbe sehr und ist der Ansicht, dass der erforderliche Hautschnitt die Heilungsaussichten nicht verschlechtert. Gerichtliche Entscheidungen. Ans dem Reichs-Versicherungsamt. Verletzung der Halewlrbeleftule. Entgeh, vom 5. Mai 1900. F. H. fuhr am 30. März 1899 in P. vom Bahnhof mit einem leeren Wagen zur Stadt. Plötzlich sprangen die Pferde, vor einem Hunde scheuend, zur Seite. Durch den Ruck wurde der Kläger vom Wagen geschleudert und fiel so unglücklich auf den Hinterkopf, dass er ausser einer unbedeutenden Verletzung der Kopfschwarte einen Bruch in dem unteren Theile der Hals¬ wirbelsäule erlitt. Er kam sofort in ärztliche Behandlung des Dr. med. P. zu P., welcher die Ueberführung des Verletzten in die medico-mechanische Heilanstalt des Sanitätsraths Dr. med. T. in K. am 2. Mai 1899 veranlasste. Vom Ablauf der 13. Krankheitswoche ab bis zum Tage der Entlassung des Klägers aus der T.’sohen Anstalt wurden der Ehefrau und den beiden Kindern desselben die gesetzlichen Verpfiegungsrenten von der Genossenschaft zugebilligt. Bei der Entlassung des Klägers aus der T.’schen Anstalt wurde von den leitenden Aerzten folgendes Gutachten über die Verletzung zu den Aktengegeben: Bei der Aufnahme hält der Ver¬ letzte den Kopf vornüber und etwas nach links hinüber gebeugt. Die seitlichen Bewegungen desselben und der Halswirbelsäule sind stark beeinträchtigt; Hebung des Kopfes ist nur sehr wenig mög¬ lich. Der 7. Halswirbel und der 1. Brustwirbel sind stark verdickt, ragen stark hervor und sind auf Druck empfindlich. Der rechte Arm ist im Schultergelenk um 20 Grad weniger hoch zu heben als der linke. Die langen Finger beider Hände sind in den Mittel¬ und Endgelenken nicht ganz zu strecken und fast garnicht zu spreizen. Beim Versuch des Faustschlusses bleiben die Finger der rechten Hand 4 cm, die der linken Hand 3 cm von der Hohlhand resp. dem entgegengedrängten Daumenballen entfernt. Beide Daumen erreichen die Mittelgelenke der Mittelfinger. Der Gang ist schwer und etwas schleppend. Im Uebrigen ist Beweglich¬ keit und elektrische Erregbarkeit der Extremitäten und ihrer Muskeln regelrecht. Bei Augen- und Fussschluss tritt leichtes Schwanken ein, die Kniescheibenrefiexe werden sehr lebhaft ausgelöst; das Hautgefühl ist gegen Nadelstiche sehr erhöht, sonst regelrecht. Der Kläger ist gegen Kälteeinflüsse sehr empfindlich. Bei der Entlassung wird der Kopf nach vornüber und nach links hinüber geneigt gehalten, wenn auch nicht mehr in so hohem Grade, wie bei der Aufnahme. Die seitlichen Bewegungen und Drehungen der Halswirbelsäule sind jetzt in annähernd normalem Umfange möglich; dagegen ist die Hebung des Kopfes noch jetzt ziemlich beschränkt, der 7. Hals- und der erste Brustwirbel ragt noch eben so hervor wie bei der Aufnahme. Der Gang ist flott und sicher geworden; die Beweglichkeit der beiden Hände und der Finger ist eine normale, der rechte Arm kann ziemlich ebenso gut erhoben werden, wie der linke; bei Augen- und Fussschluss noch leichtes Schwanken, die Kniescheibenreflexe sind noch deutlich erhöht Die Empfindlichkeit gegen Kälte ist nicht mehr zu finden. Der Verletzte ist daher noch auf ein Jahr um 30 pCt. in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt. Durch den Bescheid der Genossenschaft vom 20. September 1899 wurde die Verpflegungsrente an die Familie aufgehoben und dem Kläger bis auf weiteres eine Reute von 30 pCt. vom 2. August 1899 ab zugebilligt. Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Beru¬ fung mit dem Anträge eingelegt, den beklagten Genossenschafts Vorstand zu verurtheilen, ihm, dem Kläger, vom 2. August 1899 ab die volle Invalidenrente in Höhe von 365 M. pro Jahr zu zahlen. Er behauptet noch völlig erwerbsunfähig und nicht im Stande zu sein, einen Pfennig zu verdienen und beantragt Digitized by Google 15. September 1900. Aerztliche Saohverständigen-Zeitung. 377 nochmalige ärztliche Untersuchung. Dem Schiedsgericht erschien jenes Gutachten einwandsfrei und glaubhaft. Trotzdem nahm aber das Schiedsgericht an, dass dem Verletzten immer noch eine Rente von 66 2 / 3 pCt. zukomme. Gegen diese Entschei¬ dung legte die Berufsgenossenschaft Rekurs beim Reichs-Ver¬ sicherungsamt ein, wo Geschäftsführer Z. beantragte, über den Zustand des Klägers Erhebungen zu veranlassen und alsdann anderweit zu erkennen; das schiedsgerichtliche Erkenntniss entbehre einer ausreichenden Begründung. Auf Ersuchen des Reichs-Versicherungsamts hat Kreisphysikus Dr. J. unter dem 19. April 1900 ein Gutachten darüber erstattet, worin die Folgen des Unfalls bestehen, den der Kläger am 20. März 1899 erlitten hat, in welchem Grade der Kläger dadurch in seiner Erwerbs¬ fähigkeit beschränkt wird. Im neuen Termin vor dem Reichs¬ versicherungsamt beantragte Geschäftsführer Z. in erster Reihe, den Bescheid vom 20. September 1899 wiederherzustellen, in zweiter Reihe dem Kläger eine Rente von 337s Prozent der Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit zuzusprechen. Der Kläger hingegen behauptete, völlig erwerbsunfähig zu sein. Das Reichs-Versicherungsamt unter dem Vorsitz des Geheim¬ rath H. änderte darauf die Vorentscheidung aus folgenden Gründen ab: Das Reichs-Versicherungsamt trug um so weniger Bedenken, seiner Entscheidung das Gutachten des Kreisphysi¬ kus Dr. J. vom 19. April 1900 zu Grunde zu legen, als dieses mit dem Atteste des Professors Dr. T. and des Dr. H. in K. vom 1. August 1899 im Wesentlichen übereinstimmt, und der Kläger sich selbst in der Berufungsschrift sowie im Termin vor dem Schiedsgericht auf den Ausspruch des erstgenannten Sachverständigen berufen hat. Nach dem Gutachten des Kreis¬ physikus Dr. J. aber bestehen die Folgen des Unfalls, den der Kläger am 20. März 1899 erlitten hat, nur noch in einer Steige¬ rung der Knieklopfzuckungen und in einer Verdickung des 7. Hals- sowie des 1. Brustwirbels mit starker Hervorragung dieser Wirbel und mit Beschränkungen der Nickbewegungen in der Halswirbel8äule. Dagegen sind sonst irgend welche wesent¬ liche Störungen im Bereiche des Centralnervensystems nicht vorhanden, auch ist die Bewegungsfähigkeit der Arme, der Hände und der Finger nicht herabgesetzt. Den Grad der Erwerbsunfähigkeit des Klägers schätzt Dr. J. dem festgestellten Befund entsprechend auf 3373 pCt. Demgemäss war dem Kläger anstatt der vom Schiedsgericht festgesetzten Rente von 66 2 / 3 pCt. eine solche von 3373 pCt. der Rente für völlige Erwerbsunfähig¬ keit zuzuerkennen. Tod in Folge traumatischer Epilepsie. Rek.-Entsch. v. 21. Juni 1Ö00. Der auf der Zeche Friedrich der Grosse beschäftigt ge¬ wesene Hauer V., welcher aus Anlass einer am 14. September 1892 erlittenen schweren Verletzung die Vollrente bezog, ist am 13. September 1899 an Rippenfellentzündung gestorben. V. litt in Folge des Unfalls an Schwindel oder epileptischen Anfällen. Die todbringende Krankheit hat sich V. durch Sturz von der Haustreppe zugezogen. Die Wittwe stellte sodann für sich und ihre Kinder Antrag auf Unfallrente, indem sie behauptete, dass die Todesursache auf den Betriebsunfall vom 14. September 1892 zurückzuführen sei. Während der Sektious- vorßtand den Rentenanspruch der Hinterbliebenen ablehnte, weil der Sturz von der Treppe als eine Gefahr des gewöhn¬ lichen Lebens anzusehen wäre, verurtheilte das Schiedsgericht die Berufsgenossenschaft zur Entschädigung. Der hiergegen vom Genossenschaftsvorstande erhobene Rekurs ist unter Zuer¬ kennung von 30 Mark Kosten zurückgewiesen worden. Gründe: Das R.-V.-A. hat sich den durchweg zutreffenden Aus¬ führungen des schiedsgerichtlichen Urtheils angeschlossen. Da, wie die Beklagte jetzt auch zugestanden hat, die Schwin¬ del- oder epileptischen Anfälle, an denen V. unstreitig gelitten hat, Folgen des Betriebsunfalls vom 14. September 1892 waren, er in Folge eines solchen Unfalls Ende Juli 1899 auf der Treppe seines Wohnhauses gefallen ist und sich dadurch die todbringende Krankheit zugezogen hat, so unterliegt es keinem Zweifel, dass der Tod des V. in ursächlichem Zusammenhänge steht mit dem Unfälle vom Jahre 1892, für welchen V. bis zu seinem Tode die Rente bezogen hat. Die Ansicht der Be¬ klagten, dass der neue Unfall versicherungsrechtlich als ein selbstständiger Unfall aufzufassen sei, weil der Entwickelungs¬ prozess der direkten Folgen des Unfalls abgeschlossen war, V. in das gewöhnliche Leben zurückgetreten ist und einer Gefahr des gewöhnlichen Lebens erlegen ist, ist schon an sich nicht diejenige, welche das R.-V.-A. in derartigen Fällen in ständiger Rechtsprechung vertreten hat (zu vergleichen Re¬ kursentscheidungen 392, 477, 874, 1393, 1561, 1567 und 1568, Amtliche Nachrichten des R.-V.-A. 1887, Seite 209, 1888 Seite 176, 1890 Seite 500, 1895 Seite 153, 1896 Seite 468, 1897 Seite 303). Sie kann im vorliegenden Falle um so weniger gebilligt werden, als der Leidenszustand des V. zur Zeit seines zweiten Unfalls noch nicht abgeschlossen war, er vielmehr fortgesetzt bis dahin an epileptischen Krämpfen gelitten hat, durch welche auch gerade der neue Unfall herbeigeführt worden ist. Von einer Gefahr des gewöhnlichen Lebens, welcher V., wie die Beklagte behauptet, unterlegen sein soll, kann daher keine Rede sein. Es liegt ein Unfall vor, der auf den Unfall aus dem Jahre 1892 beziehungsweise auf die Folgen desselben als Ursache zurückzuführen, und für welchen die Beklagte den Klägern als den Hinterbliebenen des V. ent¬ schädigungspflichtig ist. (Kompass). Aas dem Sächsischen Landes-Versicherungsamt. Blitzschlag als Unfall. Ein am Elbdamm bei Königstein beschäftigter Maurer hatte sich während eines starken Gewitterregens vom Bau¬ platz weg unter eine hohe Pappel geflüchtet und war dort vom Blitz erschlagen worden. Die Hinterbliebenen (Frau und fünf Kinder) waren vom Wasserbauamt und vom Schieds¬ gericht, an das sie appellirten, mit ihren Unfallversicherungs¬ ansprüchen abgewiesen worden, weil Unfälle durch Blitz¬ schlag nur dann Betriebsunfälle seien, wenn der Getroffene bei seiner Thätigkeit im Betriebe der Blitzgefahr in erhöhtem Masse ausgesetzt sei; eine solche Erhöhung der Gefahr liege aber nicht schon darin, dass die Betriebsarbeit im Freien vor¬ zunehmen sei. Das Landes-Versicherungsamt hob auf ein¬ gelegten Rekurs das schiedsgerichtliche Urtheil auf und ver¬ urtheilte den Staatsfiskus zur Zahlung von 465,51 Mk. (60 v. H. des Jahresverdienstes des Verunglückten) als jährliche Rente für die Wittwe und die Kinder, sowie zur Bestreitung der Beerdigungskosten. Möge auch, so heisst es in der Be¬ gründung, die Annahme, dass eine erhöhte Blitzgefahr nicht schon aus der Vornahme der Arbeit im Freien allein gefolgert werden könne, richtig sein, so habe doch das eingetretene Gewitter den Arbeiter genötigt, die Arbeit zeitweilig zn unter¬ brechen und in der Nähe des Arbeitsplatzes Schutz gegen den Regen zu suchen, um nach dem Aufhören des Regens die Arbeit fortzusetzen. Diese Massnahme, die die Beziehung des Arbeiters zum Betriebe nicht aufhob, habe für den Ver¬ unglückten eine Erhöhung der Blitzgefahr insofern zur Folge gehabt, als er, wenn auch unvorsichtiger Weise, Schutz unter einer Pappel suchte. Es hätten also besondere Umstände Vorgelegen, in Folge deren der Verstorbene vermöge seiner Betriebsthätigkeit einer erhöhten Blitzgefahr ausgesetzt ge¬ wesen sei. (Kompass.) Digitized by Google 378 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 18. Ans dem Ober - Yerwaltungsgericht. Versagte Konzession. Entscheidung vom 5. 5. 1900. Dr. med. S. beantragte bei der zuständigen Behörde die Genehmigung zum Betriebe einer Krankenanstalt, erhielt indessen einen abschlägigen Bescheid, da er nicht die persön¬ liche Zuverlässigkeit zum Betriebe einer Anstalt besitze, auch seien die fraglichen Räumlichkeiten nach der vom Oberpräsi¬ denten der Provinz Brandenburg unter dem 8. Juli 1898 er¬ lassenen Polizeiverordnung unzureichend. Nachdem der Bezirks¬ ausschuss zu Ungunsten des Dr. med. S. erkannt batte, da die in Frage kommenden Räumlichkeiten den Anforderungen vom 8 . Juli 1898 nicht entsprechen, hob das Oberverwaltungsgerich- die Vorentscheidung auf und wies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Bezirksausschuss zurück, da die Verordnung vom 8. Juli 1898 ungültig sei; der Bezirks¬ ausschuss habe demnach nach freiem Ermessen zu entscheiden, ob die in Betracht kommenden Räume ausreichend seien. Der Bezirksausschuss wies darauf abermals die Klage ab, weil die Korridore zum Theil zu eng und zum Theil ohne Fenster seien; die in Frage kommenden Räume genügten mithin nicht den gesundheitspolizeilichen Anforderungen. Das Oberverwal¬ tungsgericht bestätigte nunmehr die Vorentscheidung, da der Bezirksausschuss ohne Rechtsirrthum dem Dr. med. S. die Genehmigung zum Betriebe der Krankenanstalt aus dem Grunde versage, weil die in Betracht kommenden Räume den gesund¬ heitspolizeilichen Anforderungen nicht genügen. M. Gebührenwesen. In der Gebühr für schriftliehe Gutachten (§ 3 No. 6 des Gesetzes vom 9. März 1872) ist diejenige für die gewühnliche zuvorige Untersuchung eingeschlossen; nicht aber diejenige für eine Iftngere Beobachtung. (Urtheil dos Reichsgerichts (III. Civil-Senats) vom 19. Januar 1900). Da die Beschwerde am 80. Dezember 1899 eingelegt ist, die seit dem 1. Januar 1900 geltende neue Bestimmung des § 567 Abs. 2 der C.-P.-O., § 17 der Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige sonach noch keine Anwendung leidet, so ist die Zulässigkeit der Beschwerde nicht zu bean¬ standen. Sie ist aber sachlich unbegründet. Allerdings ist der Beschwerde darin beizustimmen, dass in der Regel für einen zum Zweck der Vorbereitung eines schriftlichen Gut¬ achtens empfangenen Besuch eine besondere Gebühr nicht liquidirt werden kann. Denn da, wie das Reichsgericht in dem von der Beschwerde angezogenen Beschlüsse vom 5. Fe¬ bruar 1898 bereits ausgeführt hat, weder der § 6, noch der § 10 des Gesetzes vom 9. März 1872 auf diesen Fall bezogen werden können, sonach das bezeichnete Gesetz, welches nach §18 der Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige allein massgebend ist, für diese Thätigkeit eine besondere Tarifposition überhaupt nicht enthält, ferner aber nach Abs. 2, der die schriftlichen Gutachten betreffenden Tarifposition, § 3 No. 6 die höheren Sätze der in dem Spielraum von 6 bis 24 Mark ausgeworfenen Gebühr dem Sachverständigen insbe¬ sondere dann zugebilligt werden sollen, wenn die Untersuchung mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist, so muss man annehmen, dass für die dem Gutachten vorausgehende Unter¬ suchung, also auch für die der Person, über welche das Gut¬ achten erstattet werden soll, eine besondere Gebühr nicht ge¬ währt, sondern dass diese Untersuchung durch die entsprechend zu erhöhende Gebühr für das Gutachten mitabgegolten werden soll. Dennoch aber kann der Beschwerde aus dem Grunde nicht stattgegeben werden, weil im vorliegenden Falle nach dem massgebenden Beweisbeschlusse von dem Gerichte dem Sachverständigen nicht bloss die Erstattung eines Gutachtens, sondern ausdrücklich noch etwas weiteres, nämlich eine längere Beobachtung der zu begutachtenden Person aufgegeben war. Dass nicht unter allen Umständen jede für ein demnächst zu erstattendes Gutachten einem Sachver¬ ständigen aufgetragene Thätigkeit durch die Gutachtengebühr abgegolten sein kann, liegt in dem Falle auf der Hand, wenn z. B. dem Sachverständigen eine Wochen oder gar Monate an¬ dauernde tägliche Beobachtung aufgetragen worden wäre. Nur die gewöhnliche Untersuchung, wie sie zur Er¬ stattung jedes Gutachtens in der Regel erforderlich ist, kann als in der Gutachtengebühr mitabgegolten gelten, und für jede darüber hinausgehende Thätigkeit muss, dem allgemeinen Grundsatz des § 413 der C.-Pr.-O. ent¬ sprechend, dem Sachverständigen daher auch eine weitere Vergütung gewährt werden. Ist in dem massgebenden Gesetze für eine solche Thätigkeit eine ausdrückliche Position nicht ausgeworfen, dann ist, wie auch seitens des Reichsgerichts in dem erwähnten Beschlüsse vom 6. Februar 1893 geschehen, eine entsprechende Vergütung im Geiste und Sinne des Ge¬ setzes aus dessen sonstigen Bestimmungen zu ermitteln, und wie in jenem Beschlüsse die Gebühr für einen der Termins¬ wahrnehmung vorausgegangenen Vorbesuch in der Wohnung des Sachverständigen auf Grund der §§ 3 No. 1 und 6 des Gesetzes vom 9. März 1872 auf 1,50 Mark für jede ange¬ fangene Stunde mit dem Höchstbetrag von 3 Mark für den Besuch zu bemessen ist, so kann in ganz gleicher Weise auch die Gebühr für empfangene Vorbesuche, die einem schrift¬ lichen Gutachten vorangegangen sind, festgesetzt werden. Danach sind dann aber die bestrittenen 3 Mark, da der Be¬ such über eine Stunde gedauert hat, mit Recht zugebilligt. Wolle man endlich noch geltend machen, dass doch wenigstens ein Besuch, da ein solcher bei jedem Gutachten erforderlich zu sein pflege, unliquidirt bleiben müsse, so erledigt sich dies im vorliegenden Falle schon dadurch, dass nach der einge- zogenen Aeusserung des Sachverständigen auch noch weitere nicht liquidirte Vorbesuche von ihm empfangen sind. (Juristische Wochenschrift.) Bücherlbesprechungen und Anzeigen. Schober, Dr. P. Medizinisches Wörterbuch der deut¬ schen und französischen Sprache. Deutsch-franzö¬ sischer Theil. Stuttgart, Enke, 1900. Der französisch-deutsche Theil ist schon 1898 erschienen (s. diese Zeitung 1898, No. 19, S. 411). Diesen Theil empfiehlt Leriboullet seinen französischen Kollegen mit allem Eifer, Schobers Befähigung zu einem solchen Unternehmen ins rechte Licht setzend. Aus dieser Vorrede möge nur ein Satz ange¬ führt werden: „La langue allemande est, en effet, de celles, qu’un mödecin ne doit plus ignorer non seulement parce que, dans les Congr&s internationaux qui se multiplient chaque annöe, c’est en Allemand que se font les plus nombreuses Communi¬ cations, mais encore et surtout parce que la littörature scienti- fique de rAllemagne a progressö ä pas de gdants et nous donne chaque jour de nouveaux sujets de recherches et de critiques.“ Guder. Scholz, Dr. Fr. in Bremen. Von Aerzten und Patienten. Lustige und unlustige Plaudereien. Zweite, verbesserte Auf¬ lage. München, Seitz und Schauer. 160 S. Pr. geb. 4 M. Verbessert ist hauptsächlich dasAeussere des Buches, das sich sehr vornehm präsentirt. Der Text ist nahezu unver- Digitized by Google Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 379 September 1900. ändert geblieben — er hat ja wohl keiner Verbesserung be¬ durft Möge der treffliche Verfasser für seine gewandten und liebenswürdigen, dabei herzerfrischend offenen und — die Hauptsache — nie langweiligen Plaudereien einen immer grösseren Leserkreis finden. Lohmar, Paul, Geschäftsführer der Sektion IV der Steinbruchs Berufsgenossenschaft. Welche Neuerungen bringt das Gewerbe-Unfallversicherungsgesetz vom 30. Juni 1900. Ein Leitfaden für die ehrenamtlichen Organe und die Beamten der gewerblichen Berufsgenossenschaften. Selbstverlag. Köln 1900. 31 S. Einzelpreis 30 Pfg. Bei über 20 Exemplaren ermässigter Preis. Ein praktisches Orientirungsschriftchen, das auch für die mit Unfall-Untersuchungen beschäftigten Aerzte empfehlens¬ wert ist. Bernstein, Dr. M., Spez.-A. für Haut- u. Harnkr. in Cassel. Anleitung zur Verhütung geschlechtlicher Er¬ krankungen für das männliche Geschlecht. Mit einem Vorwort von Dr. Max Joseph* Berlin. Cassel 1900. Th. G. Fisher & Co. 48 S. Pr. 1 M. Von der Grundanschauung ausgehend, dass gegen die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten die Allgemeinheit vor¬ läufig wenig, die Einzelnen dagegen viel thun können — wenn auch der Erfolg sich nur langsam zeigen kann —, hat der Verf. in recht gemeinverständlicher knapper Form die vorliegende Anweisung zur Verhütung (bezw. Coupirung) der Geschlechtskrankheiten geschrieben. Den Fehler, den solche Schriften oft haben können, dass die Leser eine Halbbildung erwerben, in der sie den Arzt entbehren zu können glauben, hat B. sicher vermieden. Ebensowenig ist seine Darstellung geeignet, geschlechtliche Lüsternheit anzuregen. Nur einen Fehler hat das Schriftchen: Es ist viel zu theuer. Schriften, die auf breiteste Kreise wirken sollen, müssen so billig sein dass sie schon um des geringen Preises willen von Jedermann gekauft werden. 20, 25 Pfennig, aber nicht eine Markl Tagesgeschic hte. Das Gewerbe-Unfallgesetz vom 30. Juni 1900 tritt am 1. Oktober in Kraft. Wir haben über dasselbe bereits in No. 23, 1899 und No. 7 und 11, 1900 Aufsätze gebracht, die sich mit der Stellung der Aerzte zu dem neuen Gesetz ausreichend beschäftigen. Einige vom ärztlichen Gesichts¬ punkte bemerkenswerthe Einzelheiten sollten heute ergänzend hinzugefügt werden. Die Entschädigungspflichten der Berufsgenossensohaften sind wesentlich erhöht worden. Es war bisher eine Lücke im Gesetz, dass Verunglückte vor Ablauf der dreizehnten Woche, wenn sie wieder arbeitsfähig, aber noch nicht voll erwerbs¬ fähig waren, keinerlei Entschädigung erhielten. Das soll jetzt anders werden. Von dem Tage ab, an welchem das Kranken¬ geld der Kasse wegfällt, soll in denjenigen Fällen, bei denen voraussichtlich eine Verminderung der Erwerbsfähigkeit über die dreizehnte Woche hinaus dauern wird, regelmässig Unfall¬ rente gezahlt werden. Auch haben die Berufsgenossensohaften das Recht, statutarisch auch bei kürzer dauernder Erwerbs¬ minderung sich zur Rentenzahlung zu verpflichten. Die Berufsgenossenschaft muss ferner die zur Sicherheit des Erfolges des Heüverfahrens und zur Erleichterung der Folgen der Verletzung erforderlichen Hilfsmittel (Krücken, Stützapparate u. s. w.) gewähren. Vom ärztlichen Standpunkte sehr zu billigen ist die neue Bestimmung, dass hilflose Unfallrentner, welche fremder War¬ tung und Pflege bedürfen, eine Erhöhung der Rente bis um 100 Prozent beanspruchen können. Nicht ohne grosse Schwierigkeiten wird die Bestimmung ausführbar sein, wonach Verletzten, die ohne eigene Schuld thatsächlich arbeitslos, aber theilweise erwerbsfähig sind, vor¬ übergehend eine Erhöhung der Teilrente bis zum Betrage der Vollrente gewährt werden kann. Hoffentlich werden die Ver¬ eine für Unfallverletzte dafür sorgen, dass dieser Paragraph möglichst selten in Frage kommt. Das Gesetz gewährleistet ferner Hinterbliebenenrente der Ehefrau, auch wenn die Ehe erst nach dem die tödtliche Krankheit herbeiführenden Unfall geschlossen ist (aber nur in besonderen Fällen), den Kindern einer verwittweten, vom Ehemann verlassenen oder unverheirateten Verunglückten, dem Wittwer und den Kindern einer Ehefrau, die wegen Erwerbs¬ unfähigkeit des Ehemannes ganz oder überwiegend die Familie zu unterhalten hat, den elternlosen Enkeln des Verunglückten bis zum 15. Lebensjahr im Fall der Bedürftigkeit. Ist der Verunglückte in einer Heilanstalt untergebracht, so kann die Berufsgenossenschaft während dieser Zeit ihm bezw. seinen Angehörigen eine besondere Unterstützung gewähren. An Stelle der bisher allein üblichen Rentenzahlung können unter besonderen Umständen neue Unterstützungsarten treten: 1 . kann auf Antrag des Unterstützungsberechtigten dessen Aufnahme in ein Invalidenhaus oder dergleichen auf Kosten der Berufsgenossenschaft erfolgen; 2. können Verletzte, welche 15 Prozent der Vollrente oder weniger erhalten würden, auf ihren Antrag, aber nur nach Anhörung der unteren Verwaltungsbehörde statt der Rente ein von derBerufsgenossenschaft festzusetzendes Kapital bekommen. Sie begeben sich allerdings dadurch des Rechtes, bei nach¬ träglicher Verschlimmerung der Unfallfolgen weitere Ansprüche zu erheben. Bezüglich des Heilverfahrens wird angeordnet, dass die Ueberführung des in einer Heilanstalt untergebrachten Ver¬ letzten in eine andere Heilanstalt gegen den Willen des Verletzten nur dann erfolgen darf, wenn die untere Verwal¬ tungsbehörde seine Weigerung als unbegründet feststellt. Da¬ gegen kann auch ohne Zustimmung des Verletzten dessen Unterbringung in eine Heilanstalt angeordnet werden, wenn der für den Aufenthaltsort des Verletzten amtlich bestellte Arzt bezeugt, dass eine fortgesetzte Beobachtung in Folge des Zustandes oder des Verhaltens des Verletzten erforderlich ist. Aenderungen der Rentenhöhe darf die Berufsgenossen¬ schaft nach Ablauf von zwei Jahren, seit der Rechtskraft ihres Bescheides nur noch in Zeiträumen von mindestens einem Jahr treffen. Sind vollends fünf Jahre vergangen, so kann eine anderweitige Feststellung nur durch Entscheidung des Schiedsgerichts auf Antrag erfolgen. Neue Pflichten sind den Berufsgenossenschaften insofern zuertheilt worden, als sie zum Erlass von Unfallverhütungs¬ vorschriften im Aufsichtswege angehalten werden können und verpflichtet sind, für die Durchführung der Vorschriften Sorge zu tragen. Die Vorschriften müssen zunächst den betheiligten Sektionen zur Begutachtung Vorgelegen haben und vom Reichs- Versicherungsamt genehmigt sein. Die neuen Bestimmungen über die Schiedsgerichte und die Ausdehnung der Unfallversicherung auf weitere Betriebs¬ zweige werden erst später, an einem durch Kaiserliche Ver¬ ordnung noch zu bestimmenden Zeitpunkt in Kraft treten. Ein Blick auf die vorstehenden Einzelheiten lehrt, wie sehr das Gesetz wieder geeignet ist, die Mitwirkung der Aerzte bei der Unfallversicherung zu vermehren. Da ist zunächst die Digitized by Google 380 Aerztliehe Sachverständigen-Zeitung. No. 18. ganz allgemeine Regel (s. d. früheren Berichte), dass vor Er- theilung eines Bescheides, der nicht die Vollrente bewilligt, stets der behandelnde Arzt zu hören ist. Besonders die Kassen¬ ärzte werden dadurch in engere Beziehung mit der Unfall¬ begutachtung treten. Ferner wird mit der Zahl der ent¬ schädigungspflichtigen Unfallfolgen — durch das Hinzutreten der vor Ablauf der 14. Woche festzusetzenden Renten — auch die Zahl der ärztlichen Berichte wachsen. Einen mässigen Zuwachs wird die Menge der ärztlichen Gutachten durch Er¬ weiterung des Kreises der zum Empfang von Hinterbliebenen¬ rente Berechtigten erfahren. Die Privatärzte werden ge¬ legentlich um Rath angegangen werden, ob ein zum Empfang einer kleinen Rente. Berechtigter, der ein Abfindungskapital beanspruchen kann, eine spätere Verbesserung oder Ver¬ schlimmerung seines Zustandes zu erwarten hat. Amtsärzte werden attestiren müssen, dass gegebenenfalls bei einem zu Untersuchenden dauernde Beobachtung erforderlich ist. Diesen Erweiterungen der ärztlichen Thätigkeit steht eine Einengung nur insofern gegenüber, als die Häufigkeit der Nachuntersuchungen eingeschränkt ist. Aber diese Einschrän¬ kung brauchen wir nicht zu bedauern, denn vom ärztlichen Standpunkte aus sind gehäufte Nachuntersuchungen nach Ab¬ lauf der ersten Jahre meist wenig erquicklich, sie machen die wirklich Kranken oft ängstlich, meist mürrisch und feindselig, und sind für die Berufsgenossenschaften ziemlich werthlos, so dass sie wohl jetzt schon zu den Seltenheiten gehören. Krankenversicherungspflicht der Seeleute. Dem Vernehmen nach werden gegenwärtig regierungs¬ seitig Erhebungen darüber angestellt, ob die Durchführung der KrankenverBicherungspflicht für die Seeleute zweckmässig sei. Die in Betracht kommenden wirtschaft¬ lichen Vereinigungen der Küstenbezirke sind um ihre Gut¬ achten angegangen. Vielfach hält man hier den Anschluss der Krankenversicherung der Seeleute an die Ortskranken¬ kassen wegen der Schwierigkeit der Kontrole und der Be¬ rechnung für schwer durchführbar. Man glaubt in diesen Kreisen einen gangbaren Weg erst dann vor sich zu haben, wenn die Kasse gegründet ist, die im § 11 des neuen Inva¬ lidenversicherungsgesetzes in Aussicht genommen ist. Be¬ kanntlich überträgt diese Bestimmung der See-Berufsgenossen¬ schaft die Invaliden- und Altersversicherung der Seeleute unter der Bedingung, dass auch eine allgemeine Wittwen- und Waisenversorgung eingerichtet wird. Dem Bundesrath liegt ein Entwurf zur Einrichtung der entsprechenden Kasse und Organisation vor. Man glaubt in nautischen Kreisen, dass am besten dieser Kasse auch die Regelung der Krankenver¬ sicherung der Seeleute übertragen würde. Damit würde für die Seeleute eine völlig in sich geschlossene, aber auch von allen andern Gebieten abgeschlossene Versicherung eingerichtet werden. (Deutsche Arbeiter-Zeitung.) Die Pest. Kurz nachdem der Hamburger Pestfall bekannt geworden war, tauchte das Gerücht auf, dass in Berlin ein Laboratoriums¬ diener an der Seuche erkrankt sei. Glücklicherweise ergab die Untersuchung, dass es sich nur um eine harmlose furunku- lose Entzündung der Nase handelte. Dagegen hat sich in Glasgow ein wirklicher Pestberd gebildet. Ueber die Art der Einschleppung kann man nur Vermuthungen hegen. Allem Anschein nach ist die Einschleppung durch Schiffe aus Indien erfolgt. Ist doch schon am 15. August auf einem aus Kal¬ kutta kommenden Schiff, das demnächst nach Glasgow fahren Verantwortlich für den Inhalt: Dr. P. Leppmann in Berlin. sollte, ein Pestfall und ein pestverdächtiger Fall vorgekommen. (Veröff. d.Kaiserl. Ges.-Amts No. 35). In der nächsten Woche starb dann ein Kind in Glasgow, dessen Eltern mit einem Dockarbeiter in regem Verkehr standen, an einer scheinbar einfachen Lungenentzündung. Dann erkrankten die Eltern und ein Hausgenosse unter typhusartigen Erscheinungen. Erst nach ihrer Ueberführung ins Krankenhaus wurde der Pest- verdaoht rege, der sich bald bestätigte. Gegenwärtig sind nach den neusten Zeitungsnachrichten im Ganzen 15 Pestfälle amt¬ lich festgestellt, zwei davon erst am 8. September. Ein Kranker ist gestorben, zwei Personen sind pestverdächtig, 109, die mit den Erkrankten in Berührung gewesen sind, stehen unter Beobachtung. In Deutschland sind, um die Einschleppung der Krank¬ heit nach Möglichkeit zu verhindern, schleunigst Hafenärzte in Stettin, Altona und Emden angestellt worden, die beim polizei¬ ärztlichen Ueberwachungsdienst des Schiffsverkehrs thätig sein werden. Das neue Reichsseuchengesetz ist auf diese Weise mit einem Schlage sehr aktuell geworden. Wie die Berl. Pol. Nachr. melden, wird der Bundesrath demnächst die bisher noch ausstehenden Ausführungsbestimmungen zu dem Gesetze erlassen. Bei dringender Gefahr bietet das Gesetz schon jetzt die Handhabe für die von den Einzelstaaten oder auch vom Reiche zu ergreifenden Maassnahmen. Verbreitung der Lepra. Nach den Veröffentlichungen des Kaiserl. Ges.-Amts waren in PreuBsen am 15. Dezember 1899 22 zweifellos festgestellte Leprakranke amtlich bekannt (gegen 22 im Vorjahre); davon stammten 16 aus dem Kreise Memel, 1 aus dem Kreise Rössel; 1 hat sich in Livland, 2 in Brasilien, je 1 in Birma und auf der Insel Penang angesteckt. Von den 22 Kranken waren 10 in ihrer Familie, 11 im Lepraheim bei Memel untergebracht; doch sollten von ersteren noch 4 bis Ende des Jahres 1899 in das Lepraheim übergefübrt werden; eine Kranke befand sich im Institut für Infektionskrankheiten zu Berlin. Ausser den 16 sicher festgestellten waren noch 4 zweifelhaft Lepröse im Kreise Memel vorhanden, welche weiter beobachtet werden. In Hamburg waren Ende des Jahres 1899 10 Lepra- kranke amtlich bekannt (im Vorjahre 9); hiervon befanden sich 5, sämmtlich Deutsche, in Privatwohnungen, die anderen, Ausländer, in Krankenhausbehandlung. Bei Allen ist die An¬ steckung im Auslande erfolgt. Ausserdem befand sich Mitte Januar d. J. noch ein Leprakranker im Staatsgebiet von Mecklenburg-Schwerin (gegen 1 im Vorjahr). Aus den übrigen Bundesstaaten liegen Mittheilungen über das Vor¬ handensein von Leprafällen nicht vor. Das Vorkommen des Rhinoscleroms in Deutschland. Der Privatdozent Dr. Gerber in Königsberg hat im Archiv für Laryngologie auf das Vorkommen des Rhinoscleroms in Ostpreussen hingewiesen. Hierdurch angeregt, hat das Kultus¬ ministerium die Physiker des Kreises Gumbinnen veranlasst, auf diese Krankheit zu achten und über ihre Verbreitung einen Bericht abzustatten. Dr. Gerber fordert nunmehr die ost- preußsischen Aerzte zur thatkräftigen Unterstützung dieser Er¬ mittelungen auf. Wir weisen die Kollegen auch unsererseits auf die Wichtigkeit dieser Feststellungen hin und werden in nächster Nummer die von G. angegebenen Kennzeichen des Skleroms in einem Referat mittheilen. — Verlag and Blgentiuun Ton Blohard Sehoeta in Berlin. — Druck yon Albert Damcke, Beziln-ßcbOneberg. Digitized by Google DU „Aarmtllchö B*ohT#r*tEndlgeii-Z«ltung* «nehuint monatlich ■woImaL Dloaelbo lat an beziehen durch den Buchhandel, die Poet (No. 86) oder durch die Verlag*buchhandlung ron Richard Sohoets, Berlin NW., Lulaenatr. 86, mm Prelae ron Mk. 6.— pro Vierteljahr* Aerztliche Alle Manuakripte, Mittheilungen and redaktionellen Anfragen beliebe man au senden an Dr. F. Leppmann, Berlin W., KurfQrotenstr. No. 8. Korrekturen, Reaenalona-Exemplare, Sonderabdrücke an die Verlagsbuchhandlung, Inserate und Beilagen an die Annoncen-Expedition ron Rudolf Moese. Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Ar2stes sowie für praktische Hygiene und UnfaU-Heilknnde. Herausgegeben TOB Dr. L. Becker Dr. A Leppmann Dr. F. Leppmann Geh. Sanltltsrath, Kttnlgl. Phjaikua, Vcrtrauenaarst Sanit&tsrath, Königlicher Phjaikua, Arat der Beobachtungaanatalt für geistea. prakt. Aral Ton Berufbgenosaenschafton und Schiedsgerichten. kranke Gefangene ln HoabiUBerlin, Speaialarat fUr Nerven, u. Geisteskranke. Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstrasse 36. VI. Jahrgang 1900. M 19 . Ansgegeben am 1. Oktober. Inhalt: Orlglnallen: Mendel, Geisteskrankheit oder Geistesschwäche? S. 381. Ed el, Schwefelkohlenstoffdelirium n.Kopftrauma. (Schluss.) 8.384. Heim ann, Vergiftungen in Preussen 1897 und 1898. S. 386. Referate: Chirurgie. Dur ran, Durchbohrung des Gehirns. Heilung. S. 386. Lewschin, Extraktion einer Kugel aus dem Gehirn. S. 387. Kissinger, Luxationsfraktur im Atlantooccipitalgelenke. S. 387. Lengnick, Rückenmarksverletzung durch Wirbelfracktur. 8.387. Kaufmann. Mortalität der Extremitätenverletzungen. S. 387. Schnitze, Frakturen der unteren Extremität. S. 387. Lieb lein, Actinomycose der Haut. S. 388. Innere Medizin. Marx, Bericht über die Tollwuth. S. 388. Kirchner, Bissverletzungen durch tolle Thiere. 8. 388. Gerber. Sklerom in Ostpreussen. 8. 389. Quincke, Protozoen-Enteritis. Salomon, Infusorien-Diarrhoe. 8. 389. Kehrer, Azoospermie. 8. 389. Gefahr ungeeigneter Tripperspitzen. S. 390. Neurologie und Psychiatrie. Kornfeld, Geisteskranke u. Pflegschaft. 8.390. Heimann, Todesursachen der Geisteskranken. 8. 390. Sei ff er, Schädliche Suggestionen bei Unfallkranken. 8. 390. Krafft-Ebing, Psychosen bei Chorea. S. 391. Westphal, Gehirnabscesse. S. 391. Kr ecke, Skoliosis ischiadica. 8. 392. Vergiftungen. Pollak, Paraphenylendiamin-Vergiftung. S. 393. Pribram, Vergiftung mit Wasserschierling. S. 393. Terrien, Strychnin-Vergiftung infolge Verwechselung. S. 396. Nessel, Strychnin Vergiftung. 8. 394. Gynäkologisches. Egger, Schwefelsäure als Abortivum. 8. 394. Tuszkai, Zusammenhang zw. Uterus und Magenleiden. 8 . 394. Augenärztliches. Hirschberg, Endemische Körnerkrankheit. 8. 395. Keschmann, Pulsirender Exophthalmus. 8. 395. Hygiene. Marcuse, Bäder und Badewesen der Neuzeit. 8 . 395. Wolff, Ist ein Reichswohnungsgesetz zu wünschen? 8. 396. Ehrle, Formaldehdesinfektion von Krankenzimmern. 8. 396. Aus Vereinen und Versammlungen. Berliner psychiatrischer Ver¬ ein. (Sitzungsbericht.) — Aus den Sitzungen des 13. Intern, mediz. Kongresses. Sektion für gerichtl. Medizin. 8. 396. Gerichtliche Entscheidungen: Aus demReichs-Versicberungs-Amt: Folgen eines komplizirten Schädelbruches. —- Erwerbsverminde¬ rung bei schwerer Verletzung der linken Hand. — Erwerbsver- minderung bei schwerer Verletzung der rechten Hand. 8. 399. Aus dem Bayerischen Land es versicherungsamt: Zusammen¬ hang zwischen Tod an Tuberkulose und Unfall wird bejaht. 8.400. Aus dem Ober-Verwaltungsgericht: Das Prädikat Hofarzt od. Hofzahnarzt darf ohne Genehmig, nicht geführt werden. 8.401. BQcheriiespreehungen: Emmert, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. — Heimberger, Strafrecht und Medizin. — Schmidt, Die straf¬ rechtliche Verantwortlichkeit des Arztes für verletzende Ein¬ griffe — Gold mann, Die Ankylostomiasis, eine Berufskrankheit des Berg-, Ziegel- und Tunnelarbeiters. S. 401. Tagesgeschlclite: Die Unterbringung der Deliranten in Krankenhäusern — Muss d. Krankenkasse d. durch o. Schieioperation entstand. Kranken¬ hauskosten tragen? — Krebs-Statistik. — ZurPestgefahr. — Inter¬ nation. Arzneibuch. — Zuzieh. v. Kurpfuschern b. Unfällen. 8. 403 Geisteskrankheit oder Geistesschwäche? (§ 6 des Bürgerlichen Gesetzbuches.) Von E. Mendel. Das Bürgerliche Gesetzbuch hat in seinem § 6 neben der Entmündigung wegen Geisteskrankheit auch die wegen Geistes¬ schwäche eiugeführt. Ich batte bei meiner Besprechung des ersten Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs 1 ) darauf aufmerksam gemacht, dass die „blosse Geistesschwäche“, bei welcher der Entwurf nur eine Pflegschaft angeordnet hatte und diese nur mit Ein¬ willigung des Kranken, oft genug einen weitergehenden Schutz in einer Vormundschaft erforderte. Das von mir ausgesprochene Bedenken hat zwar der zweite Entwurf als berechtigt aner¬ kannt, aber er glaubte doch die „Geistesschwachen“ besonders berücksichtigen zu müssen und hat ihnen gegenüber den wegen Geisteskrankheit Entmündigten gewisse Rechte zuge¬ standen, speziell eine beschränkte Geschäftsfähigkeit gegeben. 2 ) *) Eulenberg: Vierteljahrsschrift f. ger. Medizin. N. F. 49. 2. 2 ) Ich hatte gehofft, dass die * Geistesschwäche“ gestrichen wer¬ den würde, da im psychiatrischen Sinne Geistesschwäche nur ein Symptom ist, das bei den verschiedensten Psychosen auftreten kann, wenn man aber von „blosser Geistesschwäche“ spricht, nur Imbe- cillität gemeint sein kann. Da das Gesetz die „Geistesschwäche“ nirgends definirt nimmt es nicht Wunder, dass vorerst sowohl von juristischer wie von ärztlicher Seite die verschiedensten Auslegungen ge¬ geben wurden, und dies dürfte kaum anders werden, als bis der höchste Gerichtshof eine Entscheidung darüber gegeben haben wird, was unter Geistesschwäche zu verstehen ist. Bis dahin dürfte es nicht ohne Interesse sein, das Material, das sich in der Praxis ergiebt, zu sammeln, zumal dieses ja auch für die schliessliche Entscheidung des höchsten Gerichtshofes von Belang sein muss. Aus diesem Grunde scheint mir das nachfolgende Gut¬ achten der Veröffentlichung werth. Frau X. war von Herrn Professor Y. für geistesschwach erklärt worden. Das Amtsgericht war der Ansicht, dass der Gutachter die Begriffe Geisteskrankheit und Geistesschwäche verkennt und meinte, dass hier nicht einmal einer jener Fälle vorliegt, wo die Grenze von Geisteskrankheit und Geistes¬ schwäche zweifelhaft sein kann. Unter Geistesschwäche dürfte das Bürgerliche Gesetzbuch ganz andere Geisteszustände ver¬ stehen, wie den hier zur Beurtheilung stehenden. Es wurde mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft be¬ schlossen, von mir ein Superarbitrium einzuholen, welches ich jetzt folgen lasse: Dem Königlichen Amtsgericht zu A. beehre ich mich hier¬ durch, das durch Beschluss vom 17. Februar er. erforderte Digitized by Google 882 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 19. Ober-Gutachten darüber zu überreichen ob, wenn die in dem Gutachten des Herrn Professor Y. vom 25. Dezember 1899 mit- getheilten Thatsachen in Bezug auf den geistigen Zustand der Frau X. richtig sind, dieselbe im Sinne des B. G. B. an Geistes¬ krankheit oder Geistesschwäche leidet. Dass Frau X. im psychiatrischen Sinne geisteskrank ist, kann nach den in den Akten enthaltenen Thatsachen und nach der in dem erwähnten Gutachten gegebenen wissenschaftlichen Verwerthung derselben nicht zweifelhaft sein. Herr Professor Y. bezeichnet die Geisteskrankheit als „Grössenwahn“. Frau X. hat bald nach ihrer Verheirathung im Jahre 18 .. Neigung zum Grossthun und Schuldenmachen gezeigt. Sie hat in den Jahren 18.. und den folgenden erhebliche Summen, die ihr der Ehegatte zur Bezahlung laufender Rechnungen eingehän¬ digt hatte, unterschlagen, „nach späterem eigenen Geständniss auch Quittungen gefälscht und in der Zeit eines Jahres für 10628 Mark Schulden gemacht“. Im Frühjahr 1887 hat sie einen besonderen Laden in 0. gemiethet und ein Konfektionsgeschäft etablirt, auf ihrem Gute eine Brutanstalt eingerichtet und sind dadurch Verluste und allerlei Unzuträglichkeiten entstanden. Wegen der Bestellung von Hühnern und deren Nichtbezahlung ist auch ein Civil- prozess gegen Frau X. angestrengt worden. Bei dem Explo¬ rationstermin entwickelte sie die Idee, mit 1000 Mark Anlage¬ kapital eine Kunstweberei zu errichten, mit diesen 1000 Mark sollen sechs schwedische grosse Webstühle ä 40 Mark ange¬ schafft werden, jeder Webstuhl bringt nach Auflage von Garn wöchentlich 15 Mark, jeder Webstuhl also jährlich 780 Mark, sechs demnach 4680 Mark pro Jahr, d. i. einen Gewinn von 400 Prozent. Den Gewinn rechnet sie später auf 8000 Mark aus, sie behauptet von sich: „Meine geschäftlichen Unter¬ nehmungen gelingen immer; ich verrechne mich nie. Ich habe noch nie Verluste gehabt; ich berechne mir vorher alles mit mathematischer Genauigkeit.“ Als ihre der landwirtschaftlichen Zeitung eingesandten Projekte über Geflügelzucht, wobei sie von 300 Hühnern einen Reingewinn von 900 Mark pro Jahr herausrechnete, bei den Lesern der Zeitung ungläubiges Kopfschütteln hervorrief, schreibt sie an ihren Mann: „Jemehr Du mich für geistesschwach und unheilbar krank — wie Herr 0. in seinem Blatt schreibt — erklärst, desto mehr wächst meine Energie und Thatkraft, meine Fähigkeiten, und desto mehr fliesst mir die Sympathie aller bedeutenden Menschen zu.“ Im Explorationstermin erklärte sie: „Zu den Unterneh¬ mungen aber habe ich Zeit. Es fallen mir alle Augenblicke Ideen ein, die zeichne ich dann auf und gebe sie meiner Ver¬ trauensperson zur Ausführung.“ In einem Briefe schreibt sie an eine Dame: „Ich garan- tire Ihnen, dass ich Ihnen zeige, wie Sie ohne Mühe alle zwölf Wochen Ihr flüssiges Kapital verdoppeln! Ich gebe Ihnen mein Wort darauf;“ ferner: „Durch meinen Rath und meine Hilfe, ohne dass die betreffenden Jemand meinen Namen verrathen haben, habe ich schon vielen zu einem hübschen Vermögen geholfen. Also, wenn Sie auf mich hören, garantire ich Ihnen, dass Sie in wenigen Monaten bei vollständiger Un- abhängkeit ein monatliches Mehreinkommen von 1 bis 200 Mark haben. Ich denke, dass Sie das Alles einsehen werden und deshalb auch meine Wünsche fördern werden. Ist es nicht mit dem S., so finden wir eine andere Besitzung. Dann ver¬ kaufen Sie ruhig und machen Ihr Geld flott.“ Ob der in den angeführten Aeusserungen sich aussprechende Grössenwahn das Initialsymptom einer paralytischen Geistes¬ krankheit ist, wie Herr Professor Y. annimmt, oder vielmehr einer anderen Form von Geisteskrankheit angehört, das erscheint bei der vorliegenden Rechtsfrage unerheblich, uud gehe ich des¬ wegen umsoweniger an dieser Stelle darauf ein, als zur Entschei¬ dung über diese Frage eine persönliche Untersuchung resp. Beobachtung erforderlich wäre. Sicher erscheint mir, in Ueber- einstimmung mit Herrn ProfessorY., dass nach den vorliegen¬ den Thatsachen, von denen einzelne oben hervorgehoben wurden, der FrauX. die Fähigkeit fehlt, ihre Angelegenheiten zu besorgen. Herr Professor Y. ist der Ansicht, dass im vorliegenden Falle diese mangelnde Fähigkeit im Sinne des B. G. B. nicht durch Geisteskrankheit, sondern durch Geistesschwäche bedingt sei. Er hält dafür, dass nur ein höherer Grad der Geschäfts¬ unfähigkeit mit Geisteskrankheit zu bezeichnen ist, dass aber im vorliegenden Falle die Entwickelung des Grössenwahns noch nicht so weit vorgeschritten ist, um auch denjenigen geringeren Grad von Geschäftsfähigkeit auszuschliessen, welcher den wegen Geistesschwäche zu Entmündigenden nach den Be¬ stimmungen des B. G. B. noch Vorbehalten ist. Dass der Ausdruck Geistesschwäche im B. G. B. mit dem psychiatrischen Begriff der Geistesschwäche nicht zusammen¬ fällt, geht schon aus der Thatsache hervor, dass das Gesetz Geisteskrankheit und Geistesschwäche einander gegenüberstellt, während in der Psychiatrie die Geistesschwäche ein Symptom ist, welches bei den verschiedensten Geisteskrankheiten Vor¬ kommen kann, beide Ausdrücke sind demnach im ärztlichen Sinne als koordinirte nicht zu betrachten. Da das B. G. B. den Ausdruck Geistesschwäche nicht definirt, so wird in erster Reihe, um die Bedeutung des Be¬ griffes „Geistesschwäche“ zu erfahren, nacbzuforschen sein, in welcher Weise derselbe im B. G. B. entstanden ist. Der erste Entwurf des B. G. B. hatte in seinem § 28 überhaupt nur Geisteskrankheit als Entmündigungsgrund hingestellt (§ 28. Eine Person, welche des Vernunftgebrauches beraubt ist, kann wegen Geisteskrankheit entmündigt werden) und ausdrücklich ist in den Motiven zu jenem Paragraphen (Bd. I, pag. 62 Abs. 4) gesagt, „blosse Geistesschwäche, ungenügende Ent¬ wickelung der geistigen Kräfte im Gegensatz zum Mangel der Fähigkeit regelrechter Willensbestimmung, schliesst die natür¬ liche Geschäftsfähigkeit nicht aus, und giebt deshalb keinen Grund zu einer Entmündigung wegen Geisteskrankheit ab.“ Hier war also Geistesschwäche gleichbedeutend erachtet mit ungenügender Entwickelung der geistigem Kräfte. Der Geistesschwache sollte mit seiner Einwilligung einen Pfleger erhalten. (§ 1739 des Entw.) Ich habe in einer Besprechung des ersten Entwurfs des B. G. B. auf das Bedenkliche der Bestimmung, bei Geistesschwäche die Möglichkeit einer Ent¬ mündigung nicht zu gestatten, aufmerksam gemacht. Diesem Bedenken hat sich der zweite Entwurf nicht verschlossen. Es heisst in der dem Reichstag überreichten Denkschrift (pag. 9): „Unter der gleichen Voraussetzung wie wegen Geisteskrankheit wird Entmündigung zugelassen wegen Geistesschwäche. Auch derjenige, dessen geistige Kräfte unvollständig entwickelt sind, bedarf, wie be¬ sonders von ärztlicher Seite betont worden ist, des Schutzes gegen die nachtheiligen Folgen seiner Einsichtslosigkeit und gegen die Ausbeutung derselben durch Andere. 3 ) Auf diese Weise ist die Geistesschwäche in den Ent¬ mündigungs-Paragraphen gekommen, und diese Geschichte der Entwickelung legt den Schluss nahe, dass Geistesschwäche gleich ungenügender Entwickelung der geistigen Kräfte ist, d. h. gleich jener Form der Geisteskrankheit, welche im psychia¬ trischen Sinne als Imbecillität bezeichnet wird, und deren wesentliches Symptom Geistesschwäche ist. s ) Speziell auf diesen Punkt hatte ich bei Besprechung des ersten Entwurfs hingewiesen. Digitized by Google 1. Oktober 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 383 Mit dieser Auffassung im Einklang steht, dass bereits früher Windsoheid (Pandekten Bd. I, § 54 Frankfurt a. M., 7. Aufl. 1891) Geistessehwachheit als die blosse Unentwickelt- heit der geistigen Kräfte definirt hat, und dass das Reichsgericht (Bd. 14 S. 249) in einem gemeinrechtlichen Falle Geistes¬ schwäche als „krankhafte Unvollkommenheit der Geisteskräfte 11 bezeichnet hat. # Dementsprechend haben auch von den bisher erschienenen Kommentaren Kuhlenbeck (Von den Pandekten zum B. G. B. I, S. 120 bis 122, Berlin 1898), Benedix (Deutsches Privatrecht I, S. 45, Breslau 1898), ferner Milferstädt (bei Gruchot, Beiträge zur Erläuterung des deutschen Rechts, Bd. 41, S. 528 bis 530) sich ausgesprochen. Letzterer rügt die Unklarheit des Begriffes der Geistesschwäche und meint, diese müsse im pathologischen, nicht im physiologischen Sinne verstanden werden und zwar müssen „angeborene psychische Schwäche, also Imbecillität oder leichte Fälle der Idiotie, vorliegen“. Das von Achilles, seiner Zeit Kommissar des Reichs- Justizamts bei der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs eines B. G. B., in Verbindung mit den Schriftführern dieser Kommission herausgegebene Bürgerliche Gesetzbuch definirt (S. 3 unter 3) Geistesschwäche als „unvollständige Entwickeluug der Geisteskräfte.“ Fragt man bei dieser anscheinend klaren Sach* läge, ob Frau X. im Sinne des B. G. B. geistesschwach ist, so muss die Frage verneint werden. Nirgends ist in den Akten, speziell auch nicht in dem Gut¬ achten des Herrn Prof. Y. ein Anhaltspunkt dafür, dass von Jugend auf bei derselben eine mangelhafte Entwickelung der geistigen Kraft stattgefunden hat, dass sie im psychiatrischen Sinne imbecill wäre, ganz im Gegentheil ist anzunehmen, dass Frau X. eine geistig gut veranlagte Frau ist, deren geistige Kraft in späteren Jahren krankhaften Veränderungen unter¬ legen ist. So lange aber eine Definition des Begriffes Geistes¬ schwäche durch den höchsten Gerichtshof nicht vorliegt, wird es nothwendig sein, die von den oben auseinandergesetzten Anschauungen abweichenden und zum Theil ihnen diametral ent¬ gegengesetzten nicht mit Stillschweigen zu übergehen. Mehrere Autoren nehmen an, dass zwischen Geistes¬ schwäche und Geisteskrankheit ein gradueller Unterschied be¬ steht. So Planck (B. G. B. H. Aufl. I. pag. 58): „der Unter¬ schied zwischen Geisteskrankheit und Geistesschwäche kann nicht in dem Grunde liegen, auf welchem die Anomalie be¬ ruhe, da beide sowohl angeboren sein, als durch spätere Krankheit entstehen könnten. Entscheidend sei der Grad der geistigen Erkrankung". Endemann (Einführung in das B. G. B. Bd. I. S. 157. 160) meint, dass der geistesschwach ist, „der, ohne dass bei ihm lebhafte Affekte einer akuten Gehirnerkrankung auftreten, von einer dauernden Geisteskrankheit befallen ist, die sich entweder als ein Zurückbleiben in der geistigen Entwickelung oder als eine schleichende Einbusse der Geistesfähigkeiten charakterisirt“. Zu gleicher Auffassung kommen: Neumann (Handausgabe u. s. w. Berlin 1898 zu § 6. A. I 2. S. 6), Rehbein (das B. G. B., Berlin 1898. S. 18), Szkolny und Caro (B. G. B., Berlin 1898 zu § 6), Goldmann und Lilienthal (Das B. G. B. systematisch darge¬ stellt nach der Legalordnung des Allg. L. R., Berlin 1897, Heft I, S. 39). Die Letzteren meinen: Geistesschwäche ist — gleich¬ gültig wie die Psychiatrie darüber urtheilt — ein geringerer Grad der geistigen Anomalie. Endlich ist zu erwähnen, dass Casak (Lehrbuch u. s. w. II. Aufl. S. 727. Jena 1899) und Meisner (Allgem. Theil des B. G. B. S. 16. Berlin 1898) der Ansicht sind, dass Geistes¬ schwäche und Geisteskrankheit zwei verschiedene Formen sind und ihre Unterscheidung im Wesentlichen der zwischen Blöd¬ sinn und Wahnsinn im A. L. R. entspricht. Auch Herr Prof. Y. scheint nach seinem Schlussgutachten dieser letzteren Ansicht sich zuzuneigen. Ist die Ansicht, dass zwischen Geisteskrank und Geistes¬ schwach ein gradueller Unterschied besteht oder die, dass beide verschiedene Formen der Geisteskrankheit darstellen, richtig, dann ist das B. G. B. schliesslich in direkten Gegen¬ satz zu dem getreten, was unter dem Beifall aller ärztlichen Sachverständigen in dem ersten Entwurf des B. G. B., welcher den Wahnsinn und Blödsinn des A. L. R. beseitigte, in folgen¬ den Sätzen sich aussprach; „Jeder Versuch einer derartigen Scheidung ist bedenklich und zwecklos; bedenklich, weil nach dem Stande der Seelenheilkunde die einzelnen Formen oder Stadien der Geistesstörungen weder erschöpfend aufgezählt, noch unter einander abgegrenzt werden können; zwecklos, weil weder die Verschiedenheit der äusseren Anzeichen, noch der Umstand, ob die Störung vorzugsweise die eine oder die andere Seite der Geistesthätigkeit ergreift, für die an einen solchen Zu¬ stand zu knüpfenden rechtlichen Folgen von massgebender Bedeutung sein könne“ (Motive zum L Entw. Bd. I, S. 61). Für die Annahme einer Aenderung der Auffassung über die Geisteskrankheit scheinen allerdings die Protokolle der zweiten Lesung zu sprechen, welche in Band IV S. 844 1897, folgendes besagen: „der Unterschied (zwischen Geisteskrankheit und Geistesschwäche) liege weniger in dem Begriffe; namentlich wäre es irrig, den Unterschied lediglich darin zu finden, dass der normale Zustand der Geistesthätigkeit bei der einen ein krankhafter, bei der anderen ein angeborener sei. Mass¬ gebend für die Unterscheidung sei vielmehr die verschiedene Art, in Folge deren der Geistesschwache wie der Geistes¬ kranke seine Geschäfte nicht zu besorgen vermöge". Bei dieser Sachlage dürfte im vorliegenden Falle die Frage nicht zu umgehen sein, ob die geistige Störung der Frau X. derartig ist, dass derselben diejenigen Rechte gewährt werden können, welche das Gesetz dem Geistesschwachen gegenüber dem Geisteskranken Vorbehalten hat. Es kommen in dieser Beziehung folgende Bestimmungen des B. G. B. im Wesentlichen in Betracht: § 112 und 113. Dass bei dem Zustande der Frau X. ärztlicherseits die Frage verneint werden muss, dass sie zu einem selbständigen Be¬ trieb irgend eines Erwerbsgeschäfts und für eine unbeschränkte Geschäftsfähigkeit für solche Rechtsgeschäfte, welche der Ge¬ schäftsbetrieb mit sich bringt, fähig ist, bedarf nach der Art und Weise, wie die Kranke mit Geld umgeht und über Geld verfügt, wie sie überhaupt über ihre von ihr ins Werk ge¬ setzten Geschäfte denkt (cf. die Stelle in ihrem Brief vom 4. De¬ zember 1899, „so stürze ich mich in noch ganz andere Unter¬ nehmungen mit geeigneten Geschäftsleuten, zu Gelde muss ich kommen“), keines Beweises. Es müsste ärztlicherseits da¬ gegen Einspruch erhoben werden, dass dem gesetzlichen Ver¬ treter gestattet wird, eine Ermächtigung dazu zu geben. Aus gleichem Grunde würde man einem Kranken, der mit den Wahnvorstellungen behaftet ist, welche Frau X. zeigt, nicht ge¬ statten, in Dienst oder Arbeit zu treten mit einer Geschäfts¬ fähigkeit für die aus dem Verhältniss sich ergebenden Rechts¬ geschäfte. Der in der Geschäftsfähigkeit Beschränkte kann eine Ehe mit Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters eingehen (§1304). Dass Jemand, welcher in einer Weise geistig erkrankt ist, wie dies bei Frau X. der Fall ist, auf keinen Fall eine Ehe ein¬ gehen darf, ist selbstverständlich und somit ist auch dieses Vorrecht der Geistesschwäche gegenüber dem Geisteskranken bei der vorliegenden Form von Geisteskrankheit nicht zulässig Digitized by Google 884 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No 19. Nach § 2253 steht dem Widerruf eines vor der Entmün¬ digung errichteten Testamentes die Entmündigung des Erblassers wegen Geistesschwäche nicht entgegen. Würde es wohl statthaft sein, der Frau X. ein solches Recht zu lassen, wenn sie selbst über ihr Vermögen zu der Zeit als sie gesund war, in zweckmässiger Weise von Todes¬ wegen verfügt hätte? Auf Grund ihrer unsinnigen Einkäufe, ihres Schuldenmachens und der dadurch selbstverständlich nothwendig gewordenen Beschränkung, welche ihr Ehemann ihr auferlegte, hat sich das Verhältniss zwischen Beiden ge¬ trübt, wie es sich auch in dem Schreiben vom 4. Dezbr. 1899 ausdrückt und welches „thöriohter G.“ überschrieben ist. Eine durch einen Wahn veränderte Sinnesart würde unter Umständen demnach im Stande sein, Handlungen welche mit kluger Vorsicht und Würdigung aller Verhältnisse vollzogen worden sind, zu annulliren. Wenn Frau X. vor ihrer Entmündigung ein Testament er¬ richtet hätte, würde es nicht zulässig erscheinen, bei der Art ihrer jetzigen Erkrankung ihr das Recht zu geben, das Testa¬ ment zu widerrufen. Ich habe in den eben angeführten Thatsachen die wesent¬ lichen und wichtigsten hervorgehoben, welche den geschäfts¬ unfähigen Geisteskranken von dem in der Geschäftsfähigkeit beschränkten Geistesschwachen unterscheiden. An diesen Beispielen liess sich zeigen, dass die an den Zu¬ stand der Frau X. zu knüpfenden rechtlichen Folgen sich nicht decken mit denjenigen, welche das Gesetz den Geistesschwachen zubilligt. Ich gebe demnach mein Gutachten dahin ab, dass, wenn die in dem Gutachten des Herrn Prof. Y. vom 25. Dzbr. 1899 mitgetheilten Thatsachen in Bezug auf den geistigen Zustand der Frau X. richtig sind, Frau X. im Sinne des B. G. B. nicht an Geistesschwäche, sondern an Geisteskrankheit leidet. Frau X. wurde vom Amtsgericht für geisteskrank erklärt. Aus dem Asyl für Gemüthskranke zu Charlottonburg. Schwefelkohlenstoffdelirium und Kopftrauma. (Akute Vergiftung). Von Dr. Max Edel. (Schluss.) Von besonderem Interesse erscheint die Aetiologie der Erkrankung. Dass eine hereditäre Belastung nicht vorlag, ist bereits betont. Laudenheimer konnte eine solche in mindes¬ tens 80 Prozent seiner psychischer Fälle konstatiren, obwohl die maniakalischen Fälle relativ weniger Heredität aufwiesen. Für Lues boten weder die anamnestischen Angaben noch die Untersuchung des Patienten Anhaltspunkte. Es könnte aber den Anschein gewinnen, als handle es sich um ein alkoholi¬ sches Delirium. Aus der Literatur ist es bereits bekannt, dass einzelne Erscheinungen wie der Tremor nach C 2 S Vergiftung ähnlich wie nach Alkoholintoxikation auftreten. So wird nach Kunkel 4 ) bei manchen von einer eigenartigen Erhöhung der Muskelerregbarkeit und fibrillären Zuckungen, bei vielen von starkem Zittern der Hände, dem Tremor alcoholicus ähnlich, berichtet In der That sind in unserem Krankheitsbild ge¬ wisse mit einem Alkoholdelirium übereinstimmende Züge vor¬ handen. Das anfängliche Gefühl der Berauschtheit, der schnelle Verlauf, der leichte Tremor der Zunge, Muskelunruhe des Gesichts, Schlaflosigkeit, Aufregung, starkes Schwitzen, Sinnestäuschungen, Illusionen, Thierkallucinationen (Spinnen-, Käfervisionen), Bewusstseinstrübung, nachherige Euphorie und mangelhafte Erinnerung, alles das passte wohl auch in das Bild eines Säuferdeliriums hinein. Indessen wich doch die ganze Erscheinungsweise der Psychose völlig davon ab. Das Aussehen war kein kongestives, sondern es bestand Blässe, der Foetor alcoholicus fehlte, die typischen massenhaften Sinnestäuschungen, das Sehen von Menschenmengen, die Angst und Verfolgungsideen waren nicht nachweisbar. Dazu kommt der relativ geringe Alkoholgenuss des Kranken, wenn man seinen Angaben und denen der Ehefrau Glauben schenken kann. Von ätiologischer Bedeutung für unsern Fall müssen dagegen zwei Unfälle angesehen werden, die den Arbeiter kurz hintereinander getroffen haben. Zunächst kommt hier zweifellos die toxische Einwirkung des Schwefelkohlenstoffs in Betracht. Hier muss aber eine akute Vergiftung durch den Schwefelkohlenstoff vorliegen. Während es sich in den bisher bekannt gewordenen Fällen in der Regel um eine chronische, mindestens über eine Reihe von Tagen sich er¬ streckende Giftwirkung mässiger Intensität handelt, ist bei unserm Falle von einer akuten, höchstens einen Tag dauern¬ den Giftwirkung starker Intensität die Rede. Diese war näm¬ lich durch die intensive Berührung mit dem giftigen Stoff bei den Reinigungsarbeiten der Schwefelkohlenstoffpumpe zustande gekommen, welche in Folge einer Betriebsstörung funktions¬ unfähig geworden war. Der Mann bekam alsbald Kopf¬ schmerzen und fühlte sich wie betrunken, sodass er vom In¬ spektor an die Luft geschickt wurde. Trotzdem arbeitete er noch bis zum Abend weiter, wonach die ernten Erscheinungen der Geistesstörung ausbrachen. Während bei chronischer Einwirkung des Schwefelkohlenstoffes die Psychose durch¬ schnittlich vier Wochen nach Beginn der Arbeit ausbrach, 5 ) schliesBt sich hier bei der akuten nur eintägigen Giftwirkung der Ausbruch der Psychose unmittelbar an. Ueber akute Schwefelkohlenstoffvergiftungen ist noch wenig bekannt. Delpech 6 ) theilt drei Fälle mit, die er aber nicht selbst beobachtete und wo es sich um Unvorsichtigkeit von Arbeitern in Gummiwaarenfabriken handelte. Ein Arbeiter, der beim Reinigen eines CS 2 haltigen Gefässes durch Zer¬ brechen desselben die Dämpfe in grosser Menge einathmete, stürzte sofort bewusstlos zusammen; er war kalt und in höchst beunruhigendem Zustande. Nach mehreren Stunden, die er liegend zugebracht hatte, erholte er sich allmählich und wurde nach Hause transportirt. Die andern beiden Fälle sollen ähnlich gewesen sein. Davidson 7 ) beschreibt einen ge¬ heilten Fall von akuter Vergiftung bei einem Manne, der die zum Reinigen von Pferdegeschirr benutzte Flüssigkeit ge¬ nommen hatte, Foremann 8 ) einen weiteren tödtlichen Fall, in welchem ein Arbeiter in selbstmörderischer Absicht 15 gr CS 2 genommen hatte. Die schweren akuten Vergiftungsfälle beim Menschen wiesen nach Kunkel y ) Bewustlossigkeit, komatösen Zustand, Zittern, Kälte und Blässe der Haut auf. Bereits ein Aufenthalt von wenigen Stunden in einer Atmosphäre, die wenige Milligramm CS 2 auf den Liter Luft enthielt, verursachten bei Selbstver¬ suchen am Menschen schwere Störungen des Sensoriums, dumpfe Schwere und Hitze im Kopfe, starke Kongestionen, Schwindelanfälle mit beginnender Bewusstseinstrübung, Angst¬ gefühl und Unfähigkeit zum Denken nach vorausgegangener 5 ) Laudenheimer 1. c. S. 686. c ) L. c. 7 ) Medical Times 1878 Bd. II. *) Lancet. July 1886. S. 731. 9 ) L. c. S. 458. Digitized by Google 4 ) L. 0 . S. 468. 1. Oktober 1900. Aerztlioho Sachverständigen-Zeitung. 385 unmotivirter Erheiterung. (Rosenblatt) 10 ). Dass unter Um¬ ständen auch eine Psychose durch kurz dauernde Einathmung von CS 2 hervorgerufen werden kann, lehrt unser Fall. Soweit wir die Literatur überblicken, ist eine solche Psychose bei akuter Schwefelkohlenstoffintoxikation noch nicht beschrieben worden. Einmalige akute Vergiftungen schienen Lauden- heimer stets nur vorübergehende wenn auch schwere Exalta¬ tionszustände oder Betäubung, niemals eine länger dauernde Psychose zu machen. 11 ) In unserem Falle handelt es sich aber um eine einmalige akute Vergiftung und eine länger dauernde Psychose. Wenn der Arbeiter auch schon vordem hin und wieder vorübergehend in dem betreffenden Betriebe beschäftigt war, so war er doch nie in so innige, anhaltende Berührung mit dem Schwefelkohlenstoff gekommen und hatte vor Ausbruch seiner Psychose schon längere Zeit nicht mehr dort zu thun gehabt. Obwohl er direkt den flüssigen Schwefel¬ kohlenstoff auszuBchöpfen hatte, ist es wahrscheinlich, dass die Intoxikation hier wie gewöhnlich durch die Einathmung des verdunstenden CS? erfolgt ist. Damit sind aber die aetiologischen Faktoren nicht er¬ schöpft. Vielmehr kann das Kopftrauma, welches sich der Arbeiter wenige Tage zuvor durch heftigen Anprall gegen ein an der Kellerdeeke verlaufendes Rohr zugezogen hatte, nicht unberücksichtigt gelassen werden, obwohl nur eine Beule und kleine Hautabschürfung zurück blieb. Er hatte eine Viertel¬ stunde lang danach heftige Kopfschmerzen. Die Erfahrung lehrt ja, dass eine Kopfverletzung die Widerstandsfähigkeit des Individuums gegen Geistesstörung erzeugende Einwirkungen verringern d. h. eine Prädisposition zu Seelenstörungen er¬ zeugen kann. Unter den besonders gefahrbringenden Kopf¬ verletzungen gilt das Aufprallen des Kopfes auf eine harte Unterlage, 12 ; wie es doch hier der Fall war. In diesem Sinne möchten wir denn auch hier das Verhältniss des Kopftraumas zur Schwefelkohlenstoffeinwirkung auffassen. Analog wie bei der Alkoholvergiftung ein Kopftrauma den Ausbruch eines Alkoholdeliriums begünstigt, so dürfte dasselbe in unserem Fall den Boden für das Schwefelkohlenstoffdelirium geebnet haben. Sonst wäre es wohl nicht zu erklären, warum unser Arbeiter nur an den Folgen der Schwefelkohlenstoffintoxikation zu leiden hatte und nicht auch alle andern Männer, welche an derselben Arbeit betheiligt und in gleicher Weise mit dem Schwefelkohlenstoff in Berührung gekommen waren. Bei dem sonst nicht belasteten Individuum ist also, wie wir annehmen müssen, durch die voraufgegangene Kopfverletzung eine Prä¬ disposition zum Ausbruch der Psychose nach Einwirkung des Schwefelkohlenstoffgiftes hervorgerufen worden. Die sonst meist durch eine psychopathische Veranlagung geschaffene Neigung zur Erkrankung an einer Psychose bei chronischer C 9 S-Eiuwirkung (Marandon, 13 ) Laudenheimer) wird hier durch eine voraufgehende Kopfverletzung bewirkt. In hygienischer Beziehung giebt der vorliegende Fall zu folgenden Bemerkungen Veranlassung. Selbst wenn für ge¬ wöhnlich die Art der Räume, die Anlage und der Betrieb der Fabrikation, in welcher der Schwefelkohlenstoff zur Anwendung kommt, zu keinen Bedenken Veranlassung geben und sich prak¬ tisch bewähren, kann aus einer Betriebsstörung mit einem Male eine Gefahr erwachsen, die voraussichtlich verhütet werden kann. Es ist fraglich, ob in dem betreffenden Fabrik- 10 ) Ueber die Wirkung von CSj-Dämpfen auf den Menschen. Dissertation. Würzburg 1890. Vergl. Laudenheimer 1. c. S. 685. “) L. c. S. 686. ia ) Schlockow: Der preussische Physikus 1895, Bd. II S. 262. 13 ) Marandon de Montyel. Des troubles intellectuels dans l’in- toxication professionelle par le sulfure de carbone. Annal d’hygiöne publique et de mddecine lögale. April 1895. betriebe auf die Gefährlichkeit des Umgehens mit dem Schwefel¬ kohlenstoff genügend Bedacht genommen ist. Jedenfalls lehrt der Fall, dass eine ausgiebige Grösse und Ventilation auch der Räume eine conditio sine qua non ist, in welchen selbst nur gelegentlich Arbeiten bei Gegenwart von Schwefelkohlen¬ stoff vorgenommen werden müssen. Hier musste die nicht mehr funktionirende Pumpe angeblich in einem kleinen und schlecht ventilirten Raume auseinander genommen, der Schwefelkohlenstoff ausgeschöpft und in einen andern Be¬ hälter getragen, schliesslich die Pumpe selbst gereinigt und verpicht werden. Die Eventualität einer nothwendig werden¬ den Reparatur eines solchen Behälters und damit einer enge¬ ren unliebsamen Berührung mit dem Schwefelkohlenstoff muss von vorn herein ins Auge gefasst und dem entsprechend auch für genügend luftige und grosse Räume gesorgt werden, in denen diese Gefässe mit dem gefährlichen Stoff ihre Auf¬ stellung erhalten. Ferner lehrt der Fall, dass ein Mann, der das Arbeiten im Bereich des Schwefelkohlenstoffes schlecht verträgt und sichtliche Anzeichen dafür darbietet, von dem weiteren Dienst dabei unverzüglich befreit werden muss. Hier hat der Arbeiter bereits am Vormittag heftigste Kopfschmerzen empfunden, es war ihm schlecht geworden und er fühlte sich wie betrunken. Er musste deshalb vom Inspektor an die Luft geschickt werden. Trotzdem wurde er bis zum Abend bei demselben Dienst belassen. Dass der Dienst in dem betref¬ fenden Betriebe als gefährlich bekannt war, geht aus der höheren Bezahlung der dort beschäftigten Arbeiter hervor. Es müsste verwundern, wenn eine mehr als lOstündige Arbeits¬ zeit unter solchen Umständen erlaubt wäre und es dürfte eine Herabsetzung der Arbeitszeit dringend erwünscht sein. Aut die nothwendigen hygienischen und sanitären Massnahmen zur Verhütung der Schwefelkohlenstoffintoxikation haben schon eine Reihe von früheren Beobachtern 14 ) hingewiesen, deren Initiative z. Th. die Durchführung derselben in einzelnen Di¬ strikten Frankreichs und Deutschlands zu verdanken ist. Nach Laudenheimer 15 ) bestehen in Berlin in dieser Beziehung weit ungünstigere hygienische Bedingungen als in Leipzig. Wir würden es als einen schätzenswerthen Erfolg betrachten, wenn auch hier die sanitären und hygienischen Massnahmen in Fa¬ briken mit Schwefelkohlenstoffbetrieb einer Prüfung unterzogen würden, um eine Verhütung von Intoxikationen möglichst zu gewährleisten. Die Thatsache, dass, abgesehen von den fran¬ zösischen und vereinzelten amerikanischen Veröffentlichungen, CS 2 -Psychosen in grösserer Anzahl nur aus dem Leipziger Bezirk bekannt geworden sind, kann sich Laudenheimer 2 ) nur so erklären, dass bisher gerade die Psychiater ihre Aufmerk¬ samkeit diesem Gegenstände nicht hinreichend zugewendet haben, wobei allerdings in Folge der oft schwierigen Erhebung der Anamnese bei Geisteskranken, deren Aufenthalt in einem Schwefelkohlenstoffbetrieb leicht übersehen werden könne. Zum Schluss sei noch einmal eine Hervorhebung der Punkte gestattet, welche in dem besprochenen Fall von be¬ sonderem Interesse erscheinen. 1. Es handelt sich im Gegensatz zu den bisher bekannten mehr oder weniger chronischen Schwefelkohlenstoffintoxika¬ tionen um eine akute Vergiftung durch intensive eintägige Einwirkung des Stoffes. 2. Diese kam gewissermassen durch einen Unfall, nämlich in Folge einer Betriebsstörung der Schwefelkohlenstoffpumpe u ) Kunkel schreibt: Vor Allem sei auf sorgfältige Ventilation in den Fabrikräumen zu achten, damit der Höchstgehalt von 0,8 mgr. in 1 Liter Luft nicht überschritten werde; bei deutlich ausgebrocho- nen Erscheinungen sei vor Allem die Aussetzung der Beschäftigung nothwendig. L. c. S. 459. . 15 ) L. c. S. 690 u. 691. Digitized by Google 386 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 19. zu Stande, mit deren Reinigung der Arbeiter beschäftigt war. Beim Ausschöpfen des Schwefelkohlenstoffes war er genöthigt, die giftigen Dämpfe einzuathmen. 3. Aetiologisch kommt bei dem vorher gesunden und nicht hereditär belasteten Manne ein Kopftrauma in Betracht, wel¬ ches derselbe sich 2 Tage zuvor durch heftigen Anprall an eine Kellerdeckenröhre zugezogen hatte. 4. Das Kopftrauma hat wahrscheinlich den Boden für die giftige Einwirkung des Schwefelkohlenstoffes geebnet. Analog wie es bei der Alkoholvergiftung den Ausbruch eines Alkohol¬ deliriums begünstigt, so hat es hier für das Einsetzen eines Schwefelkohlenstoffdelirium8 prädisponirend gewirkt. 5. Die Psychose stellte sich als ein akutes liallucinatori- sches Delirium mit vorübergehender tobsüchtiger Erregung und Verwirrtheit dar und ging in Genesung aus. 6. Es handelt sich nicht, wie gewöhnlich, um einen Gummi- waarenbetrieb, sondern um eine Palmkernölfabrikation, bei wel¬ cher der Schwefelkohlenstoff zum Lösen des Oels aus den Palmkernen verwandt wird. 7. Der Pall lehrt die Nothwendigkeit, auf hygienische und sanitäre Massregeln zur Verhütung von akuten Intoxikationen bei Unfällen in allen Fabrikationsbetrieben zu dringen, in denen der Schwefelkohlenstoff zur Verwendung gelangt. Ins¬ besondere erscheinen grosse Räume und eine gute Ventilation sowie eine angemessene Verkürzung der täglichen Arbeits¬ dauer in den gefährdeten Betrieben erforderlich. Auch muss auf die Konstitution der in diesen Betrieben beschäftigten Arbeiter, sowie auf ihre individuelle Reaktion gegenüber der Einwirkung des Schwefelkohlenstoffs Rücksicht genommen werden. Bei deutlichen Vergiftungserscheinungen (Unwohl¬ sein, Kopfschmerz, Schwindel, Gefühl der Betrunkenheit) muss sofort die Beschäftigung ausgesetzt werden. Vergiftungen in Preussen 1897 und 1898. Von Dr. Georg Heimann. Nach den Ermittelungen des Königlich Preussischen Sta¬ tistischen Büreaus starben im Preussischen Staate in den beiden Jahren 1897 und 1898 316 Personen durch zufällige Vergiftung, während 454 freiwillig ihrem Leben durch Ein¬ nehmen fester oder flüssiger Gifte ein Ende machten. Für 397 der genannten Todesfälle lässt sich aus den seitens der Standesbeamten dem genannten Büreau übersandten Sterbe¬ karten die Art des Giftes feststellen. Es war unter 397 Fällen überhaupt 1. Karbolsäure 61 2. Phosphor 33 3. Morphium 33 4. Salzsäure 31 5. Schwefelsäure 29 6. Lauge 24 7. Cyankali 21 8. Sublimat 21 9. Arsenik 15 10. Opium 10 11. Strychnin 9 12. Chlorsaures Kali 8 239 zufälligen 158 absichtlichen Vergiftungen Karbolsäure 39 Lauge 21 Morphium 16 Salzsäure 12 Phosphor 12 Schwefelsäure 11 Arsenik 7 Opium 6 Chlorsaures Kali 6 Sublimat 5 Strychnin 1 Cyankali 1 Karbolsäure 22 Phosphor 21 Cyankali 20 Salzsäure 19 Schwefelsäure 18 Morphium 17 Sublimat 16 Arsenik 8 Strychnin 8 Opium 4 Lauge 3 Chlorsaures Kali 2 mal. Karbolsäure ist danach am häufigsten als einwirkendes Gift genannt, während noch Lim an in der 7. Auflage seines Handbuches der gerichtlichen Medizin, 1882, diese Vergiftungen zu den selteneren rechnete. Die Zahl der zufälligen Phos¬ phorvergiftungen ist in neuerer Zeit erheblich seltener ge¬ worden, während Selbstmörder noch immer mit grosser Vorliebe dies Mittel zur Erreichung ihres bedauerlichen Zieles anwenden. Morphium-, Schwefelsäure- und Salzsäurever¬ giftungen werden ab- und unabsichtlich in ziemlich gleicher Menge herbeigeführt; die letzteren scheinen häufiger, Arsenik¬ vergiftungen seltener als früher vorzukommen. Lauge, welche ja vielfach zu häuslichen Zwecken Verwendung findet, spielt unter den Verunglückungen, Cyankali, als sicher wirkendes Gift allgemein bekannt und bei der starken Benutzung in der Technik leicht erhältlich, unter den Selbstmorden eine grössere Rolle. Das Gleiche gilt von Sublimat und Strychnin. Von selteneren Vergiftungen sind noch hinzuzufügen solche durch Atropin 4, durch Essigsäure 3, durch Ammoniak, Salmiak, Benzin, Bromoform, Höllensteinlösung je 2, Chloroform, kausti¬ sche Soda, Lysol, Nikotin je 1. *) Durch pflanzliche Gifte kamen 64 Personen ums Leben, und zwar durch Genuss von giftigen Pilzen 41, durch Stech¬ apfel 6, Schierling 4, Bilsenkraut 1, nicht näher bezeichnete Giftpflanzen 12; in Folge Essens von verdorbenem Fleisch, Wurst, Fisch verstarben 17 Personen. Endlich sei der Voll¬ ständigkeit halber noch erwähnt, dass 30 Selbstmörder ihrem Leben durch Einathmung giftiger Gase ein Ende machten, während von den tödtlich Verunglückten 156 im Rauche und 453 durch giftige Gase erstickt sind. Referate. Chirurgie. Schusswunde des Kopfes, Durchbohrung des Gehirns. Heilung. Von David Durran. (The lancet 14. April 1900.) Durch einen unglücklichen Zufall war Anfang März 1897 bei den militärischen Uebungen ein Soldat in den Kopf ge¬ schossen worden. Er war sofort bewusstlos zu Boden gestürzt. Aus einer Wunde des Kopfes über dem linken Scheitelhöcker floss Blut ab. An den Rändern der Wunde konnte man deut¬ lich Hirnsubstanz erkennen und war mit Hülfe einer Sonde im Stande, in den Schädel durch eine % Zoll grosse Oeffnung einzugehen. Die Pupillen waren weit und reagirten auf keinen Reiz. Die Pulszahl betrug 50, die Athmung war angestrengt Eine Ausgangsöffnung wurde nicht aufgefunden. Erst zwei Tage später bemerkte man etwa 2 Zoll über dem rechten Ohr und zwar unter der Schädelhaut einen harten, leicht beweglichen Gegenstand, welcher sich nach Einschneiden und Herausziehen als das zusammengedrückte Geschoss entpuppte. Die Kugel war also durch das linke Scheitelbein hindurchgegangen, dann durch das Gehirn, und hatte das rechte Scheitelbein etwa 2 Zoll oberhalb und etwas hinter dem äusseren Gehörgang durch¬ bohrt. Dann war sie zwischen Schädelhaut und Knochen stecken geblieben. Das Merkwürdige des Falles liegt darin, dass trotz der Schwere der Verletzung nach zwei Monaten allmählich die Genesung wieder ein trat. Diejenige Störung, welche am längsten blieb, war beiderseitige Blindheit mit stark erweiterten Pupillen. Die Temperatur war nur anfangs leicht erhöht, der Puls verlangsamt. Es bestand Unruhe und Schlaflosigkeit während längerer Zeit. Der Arzt welcher den Fall beobachtet und über ihn berichtet hat, konnte jetzt, drei Jahre nach dem Unglücksfall nichts weiter als eine leichte Delle des Schädels *) An chronischen Vergiftungen (hauptsächlich Blei und Morphium) starben in den preussischen Heilanstalten im Jahre 1897 17 Personen. Vergl. auch G. Heimann, Die in den Heilanstalten Preussens be¬ handelten Vergiftungen, Zeitschr. des Königl. Preuss. Statist. Büreaus 1898, S. 309 ff. Digitized by Google 1. Oktober 1000. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 887 über dem rechten Ohr, d. h. an der Stelle der Ausgangsöffnung wahrnehmen. Der Verletzte sah sehr wohl aus und Hess durch nichts erkennen, dass er eine so schwere Gehirnver¬ letzung davongetragen hatte. Franz Meyer-Berlin. Beitrag zur Fremdkörperextraktion ans dem Gehirn. Veber einen Fall von gelungener Extraktion einer Engel, die 2»/ 4 Jahre im Gehirn lag. Von Prof. L. L. Lewsohin- Moskau. (CentnlbUtt für Chirurgie 1900, No. 34.) Schuss in selbstmörderischer Absicht in die Mitte der Glabella Mai 1897, kein Bewusstseinsverlust, Lähmung der linken Ex¬ tremitäten. Nach einem Jahre Besserung der Lähmung, jedoch Fortbestehen der von Anfang an vorhandenen, sehr starken Kopfschmerzen. Aufnahme in die Klinik Frühjahr 1900 mit starken Kopfschmerzen reohterseits und Unmöglichkeit, auf der rechten Seite zu liegen. Hemianopsia sinistra. Röntgenauf¬ nahmen lassen schliessen, dass sich die Kugel im linken Hinter- hauptlappen befinde, 2 l / 2 cm von der inneren Schädelfläche entfernt. Operirt wurde März 1900 nach Doyenscher Methode (Menzelscher mechanischer Motor zur Inbetriebsetzung des Bohrers, Einführung der G i g 1 i sehen Säge mit G r o s s scher,weicher Metallhohlsonde, welche beim Sägen zum Schutze der weichen Hirnhaut liegen bleibt). Nach Durchschneidung der harten Hirn¬ haut lässt die Betastung der Hirnoberfläche einen harten Körper in der Tiefe vermuthen. Eine narbige Kapsel, auf welche die durch die Hirnmasse vordringende Sonde in 2 cm Tiefe stiess, musste erst durch Schnitt eröffnet werden, dann wurde mit Leichtigkeit die Kugel extrahirt. Sie zeigte sich fazettirt und mit einigen Knochensplittern, die tief eingetrieben waren, besetzt. Blutung sehr gering. Das angeklappte Knochenstück musste wegen Loslösung von der Knochenhaut entfernt werden. Naht, Glasdrainage, glatter Wundverlauf, Beseitigung der Kopf¬ schmerzen, fortschreitende Besserung der Lähmung. Seelhorst. Luxationsfraktur im Atlantooccipitalgelenke. Von Dr. Philipp Kissinger. (Centralbl. f. Chir. No. 37.) Bei der Sektion eines Verunglückten wurde folgender Be¬ fund erhoben. Der Kopf ist nach links geneigt, man fühlt auf der rechten Halsseite dicht unter und hinter dem Kiefer¬ winkel einen Knochenvorsprung, auf der linken Seite eine entsprechende Lücke. Vom Mund aus fühlt man deutlich kleine Knochenstücke gegen einander reiben. Diesem äusseren Befunde entsprach eine Abreissung der Gelenkfläche des rechten Rollhügels des Hinterhauptbeins, eine Ausreissung des Flügelbandes vom Unken Rollhügel und eine Verschiebung des Kopfes über dem Atlas nach der Seite. Die sehr starken Flügelbänder waren unversehrt geblieben, die übrigen Bänder zwischen Wirbelsäule und Kopf und die beiden Wirbel-Schlagadern waren zerrissen, das verlängerte Mark an der Brücke völlig abgequetscht. Die Schädelkapsel war ganz geblieben. Entstanden war die Verletzung nach Ansicht des Ver¬ fassers dadurch, dass ein entgleisender Bahnwagen den betr. Arbeiter in die linke Seite traf und mit grosser Gewalt mit dem Kopfe gegen einen Stützbalken schleuderte. Zur Casuistik der Bückenmarksverletzung durch Wirbel¬ fraktur nebst Beschreibung eines Gehverbandes für Pa¬ tienten mit Lähmung beider unterer Extremitäten. Von Dr. H. Lengnick, Volontärassistent der chir. Univ. Klinik zu Königsberg i. Pr. Professor Frhr. v. Eiseisberg. (Manch. med. Woch. 1900, No. 12.) Ein 26jähr. Zimmermann war aus einer Höhe von 14 Me¬ tern herabgestürzt und im Falle auf einen 7 Meter von der Erde entfernten Balken mit dem Rücken aufgeschlagen. 9 Wochen nach der Verletzung wurde er der Klinik über¬ wiesen mit Totallähmung beider Beine und Lähmung von Blase und Mastdarm. Es wurde eine Ansmeisselung der Wirbelbögen am 11. und 12. Brustwirbel, in deren Bereich die Wirbelsäule noch vorn in stumpfem Winkel geknickt war, vorgenommen und ein auf das Mark drückendes Stück des Bogens des 11. Brustwirbels entfernt. Harte Markhaut und Mark zeigte an dieser Stelle eine quere, gelbUche Narbe. Zur Fixation der Wirbelsäule Gipskorset. Blasen- und Mast¬ darmfunktion besserten sich, die Lähmung der Beine bUeb be¬ stehen. Infolge von Komplikationen, die z. T. nicht von der Verletzung abhängig waren, konnte erst nach fast 8 Monaten damit begonnen werden, den Pat. auf die Beine zu bringen, was mit Hilfe eines Apparates von folgender Konstruktion be¬ werkstelligt wurde. 2 Eisenschienen, die von den Schultern an bis zu den Fusssohlen reichten, laufen am Rücken parallel, an den Beinen ein wenig auseinandergespreizt, nebeneinander her; sie sind am Rücken durch quere Eisenbänder verbunden, welche vermittels überstehender nach vorn hakenförmig ge¬ bogener Enden den Brustkorb seitlich umgreifen. Aehnliche krallenförmige Querstücke sind an jedem Beinstück befestigt und umgreifen von hinten die Ober- und Unterschenkel. Die Füsse stehen auf Sohlen von Eisen, welche im rechten Winkel an die unteren Enden der Schienen festgeschmiedet sind. Die oberen Enden der Rückenstücke der Längsschienen tragen Schultergurte, welche an den 1. Querriegeln befestigt werden. Der Apparat wird, sehr sorgfältig gepolstert, dem Patienten, in Bauchlage desselben, mit Flanellbinden angewickelt. Darauf wird der Patient auf die Füsse gestellt und kann sich, ge¬ stützt auf ein Gehbänkchen, aut ebnem Boden fortbewegen. Ein ähnlicher Apparat wurde auch zum Transport Wirbel¬ verletzter hergestellt. Sein Brust- und Beinteil lässt sich ver mittels Gleitschienen verlängern und verkürzen, auch Ver¬ breiterung und Verschmälerung des Brusttheils ist ermöglicht. Der obenerwähnte Patient brachte bis zu seiner Entlassung fast 2 Jahre in der KUnik zu. Seelhorst. Die Mortalität der Extremitätenverletzungen nach der deutschen gewerblichen Unfallstatistik für das Jahr 1897. Von Dr. C. Kaufmann-Zürich. (KorrespondeoBbüm für Schwel 1 er Aente, 1000, No. 17.) Bei einem Vergleiche der Zahl tötlich an den Gliedmassen verletzter Personen aus dem Jahre 1887 (vor Inkrafttreten der staatlichen Unfallversicherung) mit der Zahl derselben aus dem Jahre 1897 zeigt sich ein Sinken der allgemeinen MortaUtät bei den Armverletzungen um zwei Drittel und bei den Bein¬ verletzungen um etwas mehr als die Hälfte, und zwar einzig und allein dank dem von der Unfallversicherung eingeleiteten sachgemässen und leistungsfähigen Heilverfahren. Seelhorst. Zur Behandlung der Frakturen der unteren Extremität. Von Dr. Ferd. Schultze. (Zeitschrift f. orthop. Chirurgie, VII. Bd., 273. Heft, 1899.) Die immer wieder vorkommenden Misserfolge bei der Be¬ handlung der Beinbrüche mittelst Extension haben S. veran¬ lasst, ein Verfahren in Anwendung zu bringen, welches die Extension mit dem Kontentiwerbande vereinigt. Es handelt sich im Wesentlichen um einen Gipsverband der ganzen unteren Extremität, welcher durch Autoextension wirkt und dessen Druckpunkte oben am Tuber ischii, unten auf dem Dorsum pedis sich befinden. Durch seine Methode glaubt S. zu erreichen dass: 1. die denkbar geringste Verkürzung, 2. eine der Norm nahekommende Digitized by Google 888 Aerztllohe Saohverständlgen-Zeltung. No. 19. Stellung der Fragmente, 8. eine permanente Retention statt¬ findet. Zur Anlage des Verbandes bedient er sieh eines besonderen Tisches, welcher gleichzeitig zu den verschiedensten ortho- paedischen Zwecken brauchbar sein soll. Derselbe besteht aus einem feststehenden Kopf- und Fuss- stück, während das Mittelstück abklappbar ist. Auf dem Fuss- stück ist ein Kreissegment montirt, in dem eine Schranke läuft. In der Mitte des Tisches befindet sich eine Doppelschraube, welche mit 2 senkrecht stehenden Wangen armirt ist, um das Becken aufzunehmen. Zuerst wird ein Streckverband in der gewöhnlichen Weise mit Segeltuchheftpflaster oder Heus ne rmasse angelegt» dann wird die ganze Extremität mit einer gewöhnlichen Gaze¬ binde eingewickelt. Hierauf wird die Gipshose in geringer Abduktionsstellung angelegt, wodurch das Becken festgelegt wird und jede spätere Senkung desselben bei der Extension ausgeschlossen ist. Sehr wichtig ist eine gute Polsterung am Tuber ischii. S. erreicht sie dadurch, dass er sechs taubeneigrosse Bälle in einem Trikot nebeneinander durch einige Nadelstiche festlegt und genau in der Analfalte eingipst. Auf der Vorderseite ver¬ stärkt er den Verband durch Einlage eines Stuhlgeflechtes nach Heusner. Ausserdem werden zwei breite Matratzengurte eingegipst, deren Enden nach dem Rücken hin konvergiren und sich dort zu einem Gurte vereinigen. Der Gurt wird dann am Kopfende des Tisches befestigt und die Gipshose fest an das Tuber ischii angedrückt. Dann wird die Schraube auf dem Kreissegment dss Fussendes mit dem Extensionsverband in Verbindung gebracht und angezogen. Wenn sich die Gips¬ hose gut angezogen hat, wird die Extension für einen Augen¬ blick unterbrochen und dann das Becken vermittelst der Beckenschraube festgelegt. Dann zieht man die Fussschraube wieder an, bis die Verkürzung ausgeglichen ist. Endlich wird der Fussrücken mit einem Filzpolster ver¬ sehen und die Gipshose zu einem Gipsverband des ganzen verletzten Beines vervollständigt. Nachdem der Gipsverband vollkommen erhärtet ist, wird erst mit der Extension nach¬ gelassen. Mit der Anlage eines solchen Verbandes ist der Fall Erledigt. Schultze wendet diese Methode bei allen Brüchen des Oberschenkels und den Brüchen des Unterschenkels bis zum unteren Dritttheil an. Wenn der von 8. beschriebene Tisch nicht zur Stelle ist, so kann man sich nach seinen Angaben denselben folgender- massen improvisiren. Am Kopf- resp. Fussende eines Tisches werden 2 Gas¬ rohre als Wellen befestigt. Die Beckenschraube wird durch eine Serie von Holzkeilen mit der nötigen Polsterung ersetzt. Um daun die Vervollständigung des Gipsverbandes zu er¬ reichen, wird der ganze Oberkörper durch Unterschieben von Kissen höher gelagert. Nach 4—6 Wochen wird der Verband entfernt. Sch. glaubt, dass die grossen Verkürzungen von 3—5 cm auf diese Weise mit Sicherheit vermieden werden, den Beweis dafür hat er aber in seiner Arbeit nicht erbracht. Stabei. Ueber die Actinomycose der Haut. Von Dr. Victor Lieblein. (Beiträge aor klinischen Chirurgie von von Brans Bd. 27. Heft 3., S. 766.) Lieb lein will zur primären Hautactiuomycose nur rechnen die Fälle, bei denen die Infektion durch eine Verletzung der äusseren Haut sicher nachgewiesen ist und ferner die Fälle bei denen sich zwar dieser Infektionsmodus nicht direkt nach weisen lässt, jedoch per exclusionem anzunehmen ist, da eine andere Möglichkeit der Infektion nicht vorliegt (kryptogeneti¬ sche Form). Zu den 12 Fällen, die Ulich gesammelt hatte, konnte Lieblein nur 8 später publizirte einwandsfreie Fälle hinzufügen, während er über 8 neue Fälle aus Wölflers Klinik berichtet. Im ersten Falle handelt es sich um eine primäre Actinomycose der Haut der grossen Schamlippe, an welcher Stelle das Vorkommen der Krankheit noch nicht beschrieben ist. Der zweite Fall betraf die Haut der Fusssohle und No. 3 die des Gesichtes. — Von diesen 28 Fällen sicherer primärer Hautactinomycose waren 16 Männer und 7 Weiber. In 11 Fällen entwickelte sich die Erkrankung im Anschlüsse an eine sicher konstatirte Verletzung und zwar je einmal nach Einreissen eines Holzsplitters in die Hand und nach einem Schlag mit einem Stück Holz ins Gesicht, 2 mal nach Verletzung mit einer Grane, 1 mal war eine Operationswunde die Eingangspforte, in den 6 restirenden Fällen waren andere Verletzungen für die Infek¬ tion verantwortlich zu machen. Die Gesichtshaut war 5 mal die Nackenhaut 1 mal, die obere Extremität 6 mal, die Haut des Rückens 1 mal, je einmal die Haut der Brust und der grossen Schamlippen, 8 mal die untere Extremität befallen. Die Hautactinomycose kann unter verschiedenen klinischen Bil¬ dern erscheinen, Gewicht zu legen ist auf das häufige Vor¬ handensein eines starren, derben Infiltrates, ob es zu Ulce- rationen oder zu Lupus ähnlichen Knötchen kommt, kommt erst in zweiter Linie in Betracht. Eine Betheiligung der regio¬ nären Lymphdrüsen scheint äusserst selten — vielleicht durch Mischinfektionen bedingt — vorzukommen. Der Verlauf kann akut oder chronisch sein. Die Prognose ist günstig, da der Herd leicht zugänglich und zu entfernen ist. G. Innere Medizin. Bericht Aber die Thfttigkeit der Abtheilnng zur Heilung und Erforschung der Tollwuth am Institut für Infektions¬ krankheiten zu Berlin im Jahre 1899. Von Dr. Marx-Frankfurt a. M. (Kliniichea Jahrbuch. 7. Baad, 4. Heft. 1900.) Der vorliegende Bericht kann das erfreuliche Resultat verzeichnen, dass bei nur 0,27 Prozent die Schutzimpfung erfolglos gewesen ist Im Jahre 1898 unterzogen sich ins- gesammt 137 Personen der Schutzimpfung; alle blieben, wie nach nunmehr mindestens einjähriger Beobachtungszeit fest¬ gestellt werden kann, gesund. — y. Ueber die Bissverletzungen von Menschen durch tolle oder der Tollwuth verdächtige Thiere in Preussen während des Jahres 1899. Von Prof. Dr. M. Kirchner-Berlin. (Klinisches Jahrbuch. 7. Band, 4. Heft. 1900.) Eiue statistische Arbeit, deren Inhalt sich aus der Ueber- schrift ergiebt. Im Einzelnen seien folgende Daten hervor¬ gehoben: Innerhalb der letzten neun Jahre sind in Preussen 1207 Personen von tollen, bezw. tollwuthverdächtigen Thieren gebissen worden. Von diesen sind 37 = 3,07 Prozent der¬ selben an Tollwuth gestorben. Nach dem Durchschnitt der letzten drei Jahre starben von 104 nicht ärztlich Behandelten 7 = 6,7 Prozent, von 297 ärztlich Behandelten, aber nicht geimpften Verletzten 9 == 3,0 Prozent, von 315 Geimpften dagegen ein einziger, ein glänzender Beweis für die Schutz¬ kraft des Pasteur’schen Verfahrens, der nicht rühmend genug hervorgehoben werden kann. Die grössten Zahlen von Biss¬ verletzungen kamen im Berichtsjahr in den Monaten Mai und August, die geringste Anzahl im Oktober vor. —y. Digitized by Google 1. Oktober 1900. Aerztlicho Saohverständigon-Zeitung. 389 Zar Feststellung des Skleroms in Ostpreussen. Von Privat-Dozent Dr. Gerber-Königsberg. (Deutsche Mediiin. Wochen sehr. 1900. No. 35.) Als Hauptpunkte zur Feststellung des Skleroms bei der kürzlich angeregten Enquete (s. vor. Nummer) nennt Gerber die folgenden: 1. Veränderungen der äusseren Nase, die den ent¬ sprechenden Verdacht erwecken würden, fehlen oft völlig. 2. Die Nasenverstopfung, mit der die Krankheit am Häufigsten beginnt, erklärt sich meist durch die vorzunebmende rhinoskopische Untersuchung: Dicke, starre, mehr oder minder höckrige Schleimhautschwellungen, vom Septum, wie von den Muscheln ausgehend, verlegen die Nase früher oder später ganz. 3. Nicht immer aber zeigt die Nase schon von vorne her typische Veränderungen; oft findet man solche erst bei der hinteren Rhinoskopie: Verengerung der Choanen durch Ver¬ dickung des Septum und seitliche Schleimhautwülste. 4. Sehr oft ist auch der der direkten Besichtigung zu¬ gängige Theil des Rachens ganz normal; in anderen Fällen sind auch hier Verdickungen, Verziehungen und Ver¬ wachsungen an Segel und hinterer Rachenwand zu konstatiren. 5. Früher oder später — meist in sehr chronischem Verlaufe — wird auch der Kehlkopf in Mitleidenschaft gezogen, und entsteht eine Verengerung zumeist durch Schwellungen unter der Stimmritze. Es können die Wucherungen aber auch oberhalb der Stimmritze sitzen. 6. Die SekretverhältniBse können dabei normal sein, in anderen Fällen bildet sich in der Nase, oft auch in der Luft¬ röhre das Bild der Ozaena, beziehungsweise „Ozaena trachealis“ heraus. 7. Charakteristisch ist, abgesehen vom allerersten Anfang, die Derbheit und Rigidität der Wucherungen und die Ab¬ wesenheit von Geschwüren es seien denn sekundär hinzu¬ kommende oberflächliche Erosionen. 8. Schliesslich bleibt die mikroskopische Untersuchung, bei welcher die Mikulicz’schen Zellen und die Frisch’schen Bazillen ausschlaggebend sind. Ueber Protozoen-Enteritis. Von H. Quincke. Ueber einen Fall von lnfasorien-Diarrhoe. Von Dr. H. Salomon. (Berl. Klin. Woch. 189», No. 46, 47.) Quincke ist der Meinung, dass Parasiten aus der untersten Klasse des Thierreichs speziell in Schleswig-Holstein nicht so selten Störungen im Magendarmkanal verursachen. Nach seinen Beobachtungen kommen folgende Formen in Betracht: Tricho¬ monas intestinalis, Cercomonas hominis, Megastoma entericum, Coccidien, Balantidium coli und Amoeba coli. Die ersteren beiden Formen sind von früher her als Erzeuger von Durch¬ fällen bekannt, welche an und für sich wenig kennzeichnend sind. Das Megastoma wird gelegentlich gefunden, ohne dass man berechtigt wäre, ihm die Rolle des Krankheitserzeugers zuzuschreiben. Jedoch hat Salomon in dem von ihm ver¬ öffentlichten Falle solche Massen einer dem Megastoma ausser¬ ordentlich ähnlichen Art im Stuhlgang eines Darmkranken ge¬ funden, dass hier die ursächliche Bedeutung dieser Infusorien nicht wohl bezweifelt werden kann. Bei Balantidium und Amoeba ist das Krankheitsbild schärfer umschrieben. Anfangs scheint nur ein einfacher Dickdarmkatarrh mit schleimigen Entleerungen zu bestehen. Dann aber bilden sich Geschwüre durch Gewebstod, für deren weiteren Verlauf wahrscheinlich die Einwirkung von Darmbakterien wesentlich ist. Blut mischt sich den oft bestimmten Tageszeiten besonders häufigen und mit krampfartigem Schmerz einhergehenden Entleerungen bei; der Darm ist schlaff, und sein Inhalt wird trotz des häufigen Stuhlgangs nur unvollkommen entleert. Die Geschwüre können durch Aufnahme von Fäulnissprodukten ins Blut, durch Ueber- schwemmung des Kreislaufs mit septischen Pilzen, durch Aus¬ bildung eitriger Bauchfellentzündung zum Tode führen. Von Amöben-Darmentzündung theilt Q. vier neue Beob¬ achtungen mit. Zweimal erschien die Krankheit unter dem Bilde einer hartnäckigen Diarrhoe, einmal wurde klinisch Tuberkulose der Lungen und des Darms vermuthet, erst die Sektion ergab den wirklichen Sachverhalt; im letzten Fall kam die Kranke erst zur Beobachtung, als sie in Folge eines nachträglich eingetretenen Lungenleidens dem Tode nahe war, es fanden sich an der Leiche ausser Darmgeschwüren brandige Herde in der linken Lunge, an der Zunge und den Stimm¬ bändern. Wie und woher die Darmparasiten aus der Klasse der Protozoen in den menschlichen Körper gelangen, ist wenig er¬ forscht. Balantidium kann vom Schwein aus übertragen sein, die GeiBselthiere kommen bei Schwein, Schaf, Mäusen u.s. w. vor, können also mit verunreinigten Nahrungsmitteln in den Körper gelangen, eine Amoebe (a. coli felis) findet sich bei Katzen. Verunreinigtes Wasser hat in einzelnen Fällen sicher den Vermittler abgegeben. Man wird erwarten müssen, dass all diese Wesen, die sonst sehr empfindlich sind, nur in ein¬ gekapseltem (encystirtem) Zustande den Magen lebendig passiren. Zu beseitigen sind am leichtesten die Geisselthiere, schwerer Balantidium, am schwersten die Amoeben, wenigstens in chroni¬ schen Fällen. Hier gelang Q. die Heilung nur einmal, während frische Fälle sehr wohl heilbar sind. Das Hauptmittel ist Entleerung des Darmkanals. Als Gift für die Parasiten ist hauptsächlich Calomel in grosser Gabe wirksam, gegen Ba¬ lantidium auch Chinin. Grosse Klystire sind wiohtig. Um rechtzeitig die Krankheitsart zu erkennen, ist vor allen Dingen der Darminhalt auf die Thiere zu untersuchen. Freilich muss derselbe möglichst rasch nach der Entnahme untersucht werden, da die Thierchen leicht vergänglich sind. Auch sind diese wegen ihrer Blässe nicht leicht erkennbar. Unter ihnen sind am wenigsten schwer die lebhaft bewegten Geisselthiere und das grosse bewegliche Balantidium zu finden, recht schwer oft die Amoeben, deren langsame Bewegung oft ganz stockt. Cystenformen der Amoeben und Coccidien er¬ kennt man nur an ihrer Menge und Gleichförmigkeit und einem eigenthümlich grünlichen Glanz. Farbstoffe nehmen die Ur- thiere nicht in nennenswerthem Masse an. Ein eigenartiger Fall von Azoospermie. Von Prof. Kehrer in Heidelberg. (Münch, med. Wochenschr. 1900, No. 36.) Ein seit 1893 verheiratheter Mann hat 1880 einen sehr langwierigen Tripper, dann eine linksseitige Hodenentzündung, auf Grund derer der Hode operativ beseitigt wurde, dann einen Schanker mit beiderseitiger Drüseneiterung durchge- maoht. In der Ehe werden ihm drei Kinder geboren, die er für die seinigen hält, bis er von seiner Frau selbst erfährt, dass sie von einem andern Manne gezeugt sind. Der Ehe¬ mann, dessen Beischlaffähigkeit völlig ungestört ist, lässt nun¬ mehr seine Samenflüssigkeit untersuchen — Samenthierchen fehlen durchaus. Nach der Geschichtserzählung haben sie sicher zur Zeit der Eheschliessung auch schon gefehlt. Dies bildet die Grundlage einer Scheidungsklage. Der Erfolg der Klage wird der sein, dass die Frau des Ehebruchs überführt erachtet wird — die Kinder werden dem Manne zugesprochen werden, weloher in Unkenntniss der Ver¬ hältnisse versäumt hat, innerhalb Jahresfrist die Vaterschaft Digitized by Google 890 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 19. zu bestreiten. (Verf. bezieht sich hier auf § 1594 des Bürger¬ lichen Gesetzbuches, offenbar ein Lapsus, da das jüngste Kind bereits vor Einführung des ersteren geboren ist.) Der Mann wird also von Rechts wegen drei fremde Kinder ernähren und erziehen müssen. Das ist die eine interessante Seite des Falles. Sie stellt mehr ein Curiosum dar. Von desto umfassenderer Bedeutung ist die andere Erörterung, die K. an den Fall knüpft. Sie richtet sich gegen die weitverbreitete blödsinnige Anschauung, dass der Tripper eine harmlose „ Kinderkrankheit“ ist. Unsere ärztliche Pflicht ist es, an der Ausrottung dieser Anschauung zu arbeiten. Männer, die eine verschleppte Gonorrhoe und Hodenentzündung durchgemacht haben, sollten nicht heirathen, ohne sich durch ärztliche Untersuchung ihrer Zeugungsfähig¬ keit versichert zu haben. Eine schwere Gefahr ungeeigneter Tripperspritzen. (Münch, med. Woch. 1900, No. 12. Dieser Artikel, der ohne Angabe des Autors von der M. M. W. gebracht wird, sollte statt obiger die Ueberschrift tragen: schwere Gefahr bei falscher Anwendung der Tripper¬ spritze. Ein 21jähr. Patient hatte die Mündung der Spritze mit sichelförmigem Ansatz statt in die Harnröhrenöffnung nur in die Vorhautöffnung geführt und sich dabei in einem der wenigen Fälle, wo die Einspritzung von ihm als „gelungen“ erachtet wurde, die Vorhautabsonderungen mit sämtlichen darin enthaltenen Zersetzungsprodukten in die Harnröhre weit hinaufbefördert. Es folgte eine schwere Nebenhoden¬ entzündung und Zellgewebsentzündung des die Vorsteher¬ drüse umgebenden Gewebes und dieser Drüse selbst, wobei es zu Abscessbildung am Damm und Fistelbildung zwischen Mastdarm und Harnröhre kam. Im 7. Monat der Erkrankung operative Eröffnung dieses Abscesses und breite Zugänglich¬ machung der Zerfallshöhlen. Im 9. Monat erst Heilung mit ungestörter Funktion von Harnröhre und Mastdarm. Seelhorst. Neurologie und Psychiatrie. Geisteskranke and Pflegschaft. Von San. Rath Dr. Kornfeld-Grottkau (Dtsch. Jur. Ztg. 1900 No. 12.) und von Geh. Ober-Justizrath Harni er-Berlin. (Dtsch. Jur. Ztg. No. 15.) Kornfeld meint den Pflegschaftsparagraphen des Bürger¬ lichen Gesetzbuches (1910) so auslegen zu müssen, dass eine Pflegschaft bei Geisteskranken, mit denen eine Verständigung wegen der geistigen Störung unmöglich ist, nicht statt¬ haben kann. Er stützt sich auf folgende Erwägungen. Wenn die geistige Störung so erheblich ist, dass sie eine Verständigung unmöglich macht, so ist der betr. Kranke ge¬ schäftsunfähig und seine Einwilligung würde rechtlich so wie so keine Bedeutung haben. Dadurch, dass der Gesetzgeber die geistigen Gebrechen in einem Satze mit denjenigen körper¬ lichen Gebrechen nennt, welche nur die Besorgung eines Teils der Angelegenheiten des Gebrechlichen hindert, hat er deutlich gezeigt, dass auch bei geistig nicht Vollwertigen die Pflegschaft nur dann eingeleitet werden soll, wenn sie eben nur theilweise geschäftsunfähig sind. Dies stimmt mit dem volksmässigen Gebrauche des Wortes „gebrechlich“, der für eigentlich Kranke nicht zur Anwendung kommt, überein. Aus § 1920 (Eine nach § 1910 angeordnete Pflegschaft ist aufzuheben, wenn der Gruud für die Anordnung der Pfleg¬ schaft weggefallen ist), folgert K., dass jeder Geisteskranke seine Einwilligung zur Pflegschaft alsbald widerrufen könnte. (? Ref.) Nach alledem ist Kornfeld überzeugt, dass die Pfleg¬ schaft nicht mehr wie früher bei typischen geschäftsunfähigen Geisteskranken anwendbar ist, sondern dass bei diesen künftig von Fall zu Fall die Geschäftsunfähigkeit festzustellen sein wird. Weiter folgert K. aus § 1910, dass die Geisteskranken, die ohne ihre Einwilligung vor dem 1. Januar 1900 unter Pfleg¬ schaft gestellt wurden, von Rechtswegen nicht mehr unter Pflegschaft stehen dürfen. Er vermisst diesbezügliche Bestim¬ mungen im Einführungsgesetz. Die Ausführungen K.'s werden von Harnier nachdrücklich bekämpft. H. geht darauf zurück, dass die Entmündigung Geisteskranker oder Geistesschwacher nach dem Wortlaut des Gesetzes nur erfolgen kann, nicht aber erfolgen muss. Zwar hat beispielsweise inPreussen eine Justizministerial-Verfügung die Staatsanwälte angewiesen, dafür zu sorgen, dass die der Fürsorge bedürftigen Geisteskranken oder -schwachen stets entmündigt werden. Aber unter Umständen ist die Stellung eines an sich begründeten Entmündigungsantrags unzweck¬ mässig, z. B. bei Aussicht auf baldige Heilung. Wenn nun bei einem solchen Menschen die baldige Ordnung einer Rechtsange¬ legenheit nothwendig wird, greift § 1910 Absatz 2 ein. Die An¬ sicht, dass der Wortlaut des Paragraphen nöthigt, die Geistes¬ kranken, welche keine ihrer Angelegenheiten zu besorgen ver¬ mögen, von der Anwendung der Pflegschaft auszusohliessen, theilt H. nicht. Das Gericht brauoht nicht danach zu fragen, ob der Kranke, theoretisch betrachtet, völlig geschäftsunfähig ist, sondern nur danach, ob sich das praktische Bedürfniss der Fürsorge auf einzelne Angelegenheiten, bezw. einen bestimmten Kreis von solchen beschränkt. Diesen Standpunkt hat bereits im Januar dieses Jahres das Kammergericht einer Entscheidung zu Grunde gelegt. [Dieselbe Auffassung vertritt A. Leppmann, die Pflegschaft des Bürgerl. Gesetzbuches in der Praxis (Aerztl. Sachverst. Ztg. 1900, No. 11)] Besonders hervorheben möchten wir die Entgegnung Har¬ ni ersauf Kornfelds Befürchtung, dass ein Geisteskranker, dessen Einwilligung zur Pflegschaft erhalten wäre, dieselbe sofort widerrufen und dadurch ungültig machen würde. Hier sagt nämlich Harnier: Es kommt garnicht darauf an, dass Jemand die äusserliche Fähigkeit hat, sich mit Andern zu verständigen, sondern seine Verständigungsfähigkeit muss rechtlich bedeut¬ sam sein. Wenn aber Einer so geisteskrank ist, dass man ihn für geschäftsunfähig ansehen muss, so ist sowohl seine Ein¬ willigung als sein Widerruf rechtlich bedeutungslos und es findet auf ihn Absatz 3, welcher von der Unmöglichkeit der Verständigung handelt, Anwendung. Unbegründet sind endlich die Zweifel K.’s betreffs der noch aus früherer Zeit ohne ihre Einwilligung unter Pflegschaft stehenden Kranken. Die Lücke im Einfiihrungs- gesetz, welche K. aufgefallen ist, besteht garnicht, denn Artikel 210 desselben handelt ausführlich von den beregten Verhältnissen. Im Zweifelsfalle hat der Vormundschafts¬ richter jedesmal zu prüfen, ob mit dem bisher unter Pfleg¬ schaft Stehenden eine Verständigung im Rechtssinne mög¬ lich ist oder nicht. Ist das erstere der Fall, so muss die Pfleg¬ schaft aufgehoben werden, sobald der bisher unter ihr Stehende es verlangt. Die Todesursachen der Geisteskranken. Von Dr. Georg Heimann-Berlin. (Zeitschrift für Psychiatrie etc. Bd. 57, 4. Heft, 1900.) Nicht nur bei körperlichen Krankheiten, sondern auch bei der Behandlung von geistigen Störungen ist die Frage nach der Gefährdung des Lebens eine praktisch oft wichtige. Ein Digitized by Google 1. Oktober 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 891 für die Prognose sehr werthvolles und reichhaltiges Material liefern in dieser Beziehung die tabellarischen Zusammen¬ stellungen der Königlich preussischen statistischen Bureaus, welche nach den auf Zählkarten eingehenden Mittheilungen aus den Irrenanstalten des preussischen Staates bearbeitet werden. Verf. giebt einige Zahlen aus diesen wieder und zieht daraus Schlüsse, welche Interesse verdienen. Zunächst wird die Thatsache betont, dass die Mortalitätsziffer in den letzten Jahrzehnten gesunken ist. Das liegt zum Theil mit der Ab¬ nahme der Sterblichkeit in der Bevölkerung überhaupt zusammen, zum grösseren Theil ist der Rückgang aber wohl damit zu er¬ klären, dass jetzt viel öfter als früher das Leben in geringe¬ rem Grade gefährdende Fälle von Geisteskrankheit, die vordem so gut es ging in der Häuslichkeit behandelt wurden, Gegen¬ stand der Anstaltspflege werden. Damit hängt auch die irrthüm- liche Annahme zusammen, als ob die Geisteskrankheiten sehr zunähmen; die Vermehrung kann als eine erhebliche nur bei Betrachtung der absoluten Zahlen bezeichnet werden, nicht aber bei Berücksichtigung des Anwachsens der Bevölkerung und der anderen in Betracht kommenden äusseren Umstände. Was die einzelnen Formen der Geistesstörung betrifft, so lässt sich für die Paralyse, die epileptische Seelenstörung sowie die Imbe- cillität und Idiotie ein stetiges Anwachsen des Antheiles, welchen die betreffenden Krankheitsarten an der Vermehrung der Anstalts¬ insassen haben, feststellen; für das Delirium potatorum folgte der anfänglichen Zunahme in den letzten Jahren eine be- achtenswerthe Abnahme. Auch die Aufnahmen wegen einfacher Seelenstörung sind seltener geworden. Immerhin litten an dieser Form fast die Hälfte der Männer und fast drei Viertel der Frauen, während an Paralyse fast ein Fünftel der Männer, von den Frauen dagegen ein fast dreimal geringerer Prozent¬ satz litten. Die epileptische Seelenstörung hat im Verhältnis ebenso wie die Imbecillität nur einen wenig höheren Antheil an den Geistesstörungen männlioher, als an denen weiblicher Personen. Was den Ausgang der Erkrankungen anbetrifft, so starben von 100 verpflegten Männern 8,4, von Frauen nur 6,5 Prozent. Der Unterschied erklärt sich wohl damit, dass die Paralyse, welche das Leben in hohem Maasse bedroht, bei Männern weit häufiger ist. Fast die Hälfte der Anstaltsinsassen ging innerhalb des ersten Jahres mit dem Tode ab; die Säufer starben fast ausnahmlos in den ersten drei Monaten, von den Paralytikern wurde ein Drittel 3 bis 12 Monate lang behandelt ein zweites Drittel 1 bis 5 Jahr, länger nur ganz wenige. Ueber ein Viertel der gesummten gestorbenen Geisteskranken ging an Paralyse, Epilepsie und Erkrankungen des Gehirnes zu Grunde. Ein sehr hoher Prozentsatz starb an Lungenaffektionen, ins¬ besondere Tuberkulose (16,6 Prozent); ein beträchtlicher Theil litt an Herzerkrankungen. Gegenüber diesen beiden Todes¬ ursachen treten die übrigen weit zurück. —y. Schädliche Suggestionen bei Vnfallkranken. Von Dr. W. Sei ff er, Assistent der Nervenklinik der Kgl. Charito. (Berl. Klin. Wochenachr. 1900, No. 37.) Es ist nichts Neues, was Seiffer sagt, am Wenigsten für denjenigen, der öfters Unfallneurosen zu begutachten hat. Aber deswegen ist die vorliegende Veröffentlichung doch keineswegs etwas Ueberflüssiges; denn die Wahrheit, die sie enthält, wird unter den Fachgenossen besser festen Fuss fassen, wenn sie von Zeit zu Zeit wieder mit neuen schlagenden Beweisen belegt wird. Der Unfallverletzte legt die Worte des Arztes, der ihn zuerst untersucht und behandelt, auf die Goldwage. Er klammert sich möglicherweise an ein einzelnes Wort. Der Ausspruch einer ungünstigen Prognose macht tiefen Eindruck auf ihn. Und indem die Worte des ersten Arztes in der Seele des Verletzten naohwirken, üben sie eine Suggestion aus, die unter Umständen das Schädlichste an dem ganzen Unfall ist. In kurzer Zeit hat Verfasser allein sieben solche Fälle erlebt. Z. B. blieb bei einem Arbeiter nach einer Oberarmverrenkung eine Schwäche des Armes zurück. Zwei Aerzte sagten aus, es liege eine unheilbare Lähmung vor. Der Effekt war nach völliger Heilung der organischen Störung eine ebenso völlige hysterische Lähmung des Armes. Aehnlicher Art sind die an¬ deren Fälle, bei denen wohl zum Theil die ärztliohen Aus¬ sprüche von den Verletzten missverstanden worden sind. Der Arzt soll also dem Verletzten gegenüber und auch in seinem Gutachten recht vorsichtig sein und die Vorhersage nicht zu ängstlich, eher etwas zu günstig stellen. Dem Kranken kann damit nur genützt werden. Bedauerlich ist auch, dass die Verletzten alle Gutachten zu lesen bekommen. Das wirkt auf Leute mit unfestem Nerven¬ system gerade so ungünstig wie die Lektüre medizinischer Werke. Ueber Psychosen bei Chorea. Von Prof. v. Krafft-Ebing. (Wien. klin. Rnndsehnn No. 30, 1900.) Zu den noch recht ungeklärten Fragen im Grenzgebiete der Psychiatrie und der Neuropathologie gehören die nach dem Vorkommen und der Bedeutung psychischer Störungen bei Chorea. Verf. hat in der vorliegenden Arbeit nur die Chorea Sydenhami im Auge. Versucht man, die bei dieser Krankheit vorkommenden psychischen Störungen übersichtlich zu ordnen, so ergeben sich nach Verf. folgende Arten: a) Ele¬ mentare psychische Störungen. Diese fehlen wohl in keinem Falle von Chorea gänzlich, sind zum Theil auf neuropathische Konstitution und auf den psychisch irritirenden Einfluss der Choreabewegungen, theils auf direkte Reiz- und Erregungs- vorgäoge in der erkrankten Hirnrinde zurückzuführen, wohl auch im Verlauf durch Schlaflosigkeit, mangelhafte Ernährung, Fieber und organische begleitende oder vorausgehende Er¬ krankung (Polyarthritis, Endocarditis) erklärbar. Diese ele¬ mentaren psychischen Störungen bestehen in Emotivität, Reiz¬ barkeit, launischem Wesen, Schreckhaftigkeit, flüchtigen Hal- lucinationen des Gesichtssinnes, schreckhaften Träumen, b) Flüchtige und leichte Fieberdelirien, c) Im Verlaufe nicht selten auftretende psychische Erschöpfungserscheinungen auf neurasthenischer Grundlage in Gestalt von Vergesslichkeit, er¬ schwertem Denken, Zerstreutheit, Apathie, Andeutung von In- cohärenz bis zu Inanitionsdelirien auf Grund von Schlaflosig¬ keit, übermässiger Bewegungsleistung, mangelhafter Nahrungs¬ aufnahme, Fieber, Organerkrankung, d) Psychosen im engeren Sinne, als dem Choreabild koordinirte, aus gleicher infektiöser Quelle entstehende psychische Erkrankungen unter dem Bild der einfachen oder hallucinatorischen Verwirrtheit bis zu Stu¬ por- und Demenzbildern. Ausser diesen mit der Choreaerkran¬ kung mehr oder weniger innig verbundenen, krankhaften, psychischen Erscheinungen sind endlich e) komplizirende Psy¬ chosen anzunehmen, entweder bei psychogener Chorea aus demselben psychischen Trauma heraus entstanden oder auch ganz selbständig in ihrer Aetiologie. —y. Ueber Oehirnabscesse. Von Dr. A. Westphal-Berlin. (Areb. f. Paycb. Bd. 33, Heft 1.) Verfasser bereichert die Kasuistik durch die Mittheilung von drei Fällen, die in ihrem klinischen Verlauf beachtens- werthe Besonderheiten zeigten. Bei einer Frau war zur Entfernung von Nachgeburtsresten nach einer Fehlgeburt zu Hause die Auskratzung vorgenommen Digitized by Google 802 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 19. worden. Im Anschluss daran hatte sich eine Entzündung des Beckenbindegewebes gebildet, die mit hohem Fieber und Schüttelfrösten einherging. Noch nicht zwei Monate nach der Auskratzung bekam die Frau einen fallsuchtähnlichen Anfall, ihm folgte eine Sprachstörung und heftiger Kopfschmerz. Schon damals konnte Stauungspapille festgestellt werden. Un¬ gefähr nach weiteren vier Wochen trat eine rechtsseitige Lähmung ein, an der sich die Gliedmassen, die mimischen Gesichtsmuskeln und der Augenlidheber betheiligten. Die Kranke erschien benommen und leicht verwirrt Die beiden rechten Netzhauthälften fielen beim Sehakt aus. Während in der Folgezeit die Lähmung der Gliedmassen zeitweise nahezu verschwand, blieb die halbseitige Sehlähmung unverändert. Aus dem Verlaufe ist noch hervorzuheben, dass die Kranke nie fieberte, und dass nach einer Punktion des Rückenmarks¬ kanals die Stauungspapille völlig verschwand. Bemerkens¬ werth war das Auftreten beiderseitiger akuter Mittelohr¬ eiterungen, die hier nicht als Ausgangspunkt des Gehira- abscesses, sondern ebenso wie letzterer als Zeichen einer Eitervergiftung von der Unterleibsentzündung aus betrachtet werden müssen. Bei der Sektion fand sich der Abscess, wie nach der Sehstörung zu erwarten war, im Hinterhauptshirn und zwar im Vorzwickel und im vorderen Theil des Zwickels. Er erreichte nach vom die Zentralwindungen nicht. Der zweite Fall zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass die Kranke, ein junges Dienstmädchen, sich für gesund hielt und ihre Arbeit verrichtete, bis sie eines Tages einen Krampf¬ anfall bekam. Im Anschluss an diesen blieb vorzugsweise eine Sprachstörung zurück, derart, dass die einzelnen Silben auseinander gerissen und dass mitunter Buchstaben verschleift und versetzt wurden. Dabei war aber der seelische Zustand einwandsfrei. Rechts hinten an der Lunge fand sich ein Ver¬ dichtungsherd, die Leberdämpfung reichte zwei Finger zu tief nach unten. In den nächsten Tagen verschlimmerte sich der Zustand sehr rasch, die Sprechfähigkeit erlosch fast ganz» rechtsseitige Lähmung stellte sich ein. Die Kranke fieberte hoch, hatte Durchfälle und war zuletzt gelbsüchtig. Erst der Tod, der nicht lange auf sich warten liess, brachte die Er¬ klärung des seltsamen Krankheitsbildes. Es fand sich näm¬ lich ein über kindskopfgrosser Abscess im rechten Leberlappen. Von diesem aus hatte sich durch Verschleppung eine Eiterung im Gehirn gebildet die die zweite Stirnwindung und einen Theil der dritten auf der linken Seite zerstört hatte. Die Lage dieser Eiterung stimmt gut überein mit der Thatsache, dass die dauerndste Störung eine motorische Aphasie war. Unge¬ wöhnlich ist es, das letztere durch eine Störung der Wort¬ bildung (Dysarthrie) eingeleitet wurde. Im dritten Falle handelte es sich um eine Unfallfolge. Ein Arbeiter war kopfüber in eine fünfzehn Fuss tiefe Grube gestürzt und danach bewusstlos gewesen. Er hatte am nächsten Tage zwar wieder gearbeitet, war aber dann in Bewusstlosig¬ keit und Krämpfe verfallen, die mehrere Stunden anhielten. Obgleich diese sich nur einmal wiederholten, verschlechterte sich doch das Allgemeinbefinden mehr und mehr, so dass der Verletzte nach 2 1 / 2 Monaten ins Krankenhaus gebracht werden musste. Hier wurde an der verletzten Stelle eine Knochen¬ lücke aufgefunden, innerhalb deren man Pulsation fühlte. Es bestand linksseitige Muskelschwäche, Abweichung der Aug¬ äpfel nach rechts, seelische Hemmung. Der Zustand ver¬ schlimmerte sich im Laufe der nächsten Tage, schliesslich trat auch Nackensteifigkeit hinzu, ohne dass die Körperwärme jemals erhöht gewesen wäre. Die Sektion ergab einen Abscess vorwiegend im Gebiet der zweiten Stirnwindung, welcher die innere Kapsel nicht erreichte. Der Fall war zur Operation bestimmt und hätte für eine solche günstige Aussichten ge¬ boten, leider erfolgte der Tod zu früh. Auf die ausführliche pathologisch-anatomische Besprechung der Fälle zurückzukommen ist hier nicht der Ort. Ueber Skoliosis ischiadica. Von Dr. Krecke - München. (M. M. W. 1900. No. 6.) Die seitliche Verbiegung der Wirbelsäule, welche als Folge der Ischias auftreten kann, und den Lenden- und unteren Brust- theil betrifft, kann viererlei Formen annehmen. Die Wirbel¬ säule ist entweder nach der kranken oder nach der gesunden Seite ausgebogen, oder die Richtung der Ausbiegung wechselt, je nachdem der Kranke frei oder mit aufgestützten Armen steht, oder sie wechselt ohne äusseren Anlass. Dieses ungleichmässige Verhalten erschwert eine für alle Formen zutreffende Erklärung der ischiadischen Skoliose un- gemein, und so besteht auch jetzt noch in diesem Punkte Uneinigkeit. Die verschiedenen Erklärungsversuche lassen sich in 4 Prinzipien zusammenfassen. Entweder wird angenommen, dass der Kranke diejenige Stellung einnimmt, in der er am wenigsten Schmerzen hat— Entlastung — oder dass der eine Rückenstrecker durch entzündliche Prozesse in seinen Nerven zu voller Kraftentfaltung untüchtig gemacht ist, und der anders- seitige in folgedessen das Uebergewicht gewonnen bat; oder dass diese Funktionsuntüchtigkeit zur Lähmung gesteigert ist; oder endlich dass, auch wieder in Folge Nervenreizung, der eine Rückenstreoker krampfhaft zusammengezogen ist. Am schwierigsten liegen die Verhältnisse natürlich bei der in ihrer Richtung abwechselnden Verkrümmung. Einen hierher gehörigen Fall teilt K. mit. Ein 33 jähriger Arbeiter erkrankte an linksseitiger Ischias nach einer starken Durchnässung. Anfangs hielt er den Körper immer nach rechts gekrümmt, später lernte er die Convexität der Krümmung zeitweise nach links zu verlegen, wobei er sich Anfangs mit den Händen irgendwie festhalten musste, später aber nicht mehr. Diesen Stellungswechsel, der ihm immer eine gewisse Erleichterung braohte, vollführte er täglich etwa 20 mal. Die Untersuchung ergiebt nur eine geringe Verdünnung des linken Beines und Druckschmerz an der Austrittstelle des linken Hüftnervs. Im Liegen ist keine Krümmung vorhanden, im Stehen dagegen besteht die oben beschriebene abwechselnde Ausbiegung der Lenden- und unteren Brustwirbelsäule. Be¬ merkenswert ist, dass im Zustande der Rechtskrümmung der linke Rückenstreckmuskel, im Zustande der Linkskrümmung der rechte hart uud fest anzufühlen ist. Nach der linken Seite kann der Kranke den Rumpf nur aus rechtsgekrümmter Stel¬ lung, aber ohne Schmerzen, beugen, nach der rechten degegen nur aus linksgekrümmter Stellung unter heftigen Schmerzen an der Austrittsstelle des Hüftnerven. Der Grad der Rücken- krümmung ist sehr verschieden, beim Gehen nimmt sie zu. Für diesen Fall ermöglicht nur die Entlastungstheorie das Verständnis. Erben hat darauf aufmerksam gemacht und Jeder kann sich leicht davon überzeugen, dass der Rumpf in rechtsseitwärts geneigter Stellung nicht etwa durch die Zusam¬ menziehung des rechten, sondern durch die des linken Rücken¬ streckers erhalten wird und umgekehrt. Wendet man dies nun auf den vorliegenden Fall an, so ergiebt sich folgendes Bild: Druck an der Austrittsstelle des rechten Hüftnerven wird schmerzhaft empfunden, infolgedessen bemüht sich der Kranke, diese Stelle zu entlasten; um das Becken auf der kranken Seite zu senken, beugt er den Rumpf nach rechts. Diese Stellung kann er nur dadurch dauernd erhalten, dass er den linken Rückenstreckmuskel kräftig zusammenzieht. Hierbei aber übt der Muskel einen Druck auf Digitized by LjOOQie 1. Oktober 1000. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 308 die, ihn durchsetzenden Hautnerven, der mit der Zeit unerträg¬ liche Schmerzen hervorruft. Der Kranke weiss sich nicht an¬ ders zu helfen, als indem er den Muskel wieder völlig erschlafft, die Krümmung der Wirbelsäule wieder auf die entgegengesetzte Seite verlegt. Und so fort. Kr ecke ist der Meinung, dass auch alle andern Fälle von Skoliosis iscbiadica durch die Entlastungstheorie erklärt werden können. Vergiftungen. Ein Fall von Paraphenylendiamin-Vergiftung. Von Frauenarzt Dr. Emil Pollak. (Wien. klin. Wocbenschr. No. 31, 1900.) Das Paraphenylendiamin wird zur Färbung von Haaren und Federn vielfach verwendet, da es ein in seinem Färbungs¬ koeffizienten geradezu unübertrefflicher Körper ist. Anderer¬ seits handelt es sich aber um einen gefährlichen Giftstoff, dessen Anwendung am lebenden Körper schlimme Folgen haben kann. Verfasser berichtet über einen derartigen Fall. Die Verwendung des Haarfärbemittels „Phoenix“, das im Wesentlichen eine 6proz. Paraphenylendiaminlösung darstellt, führte zu einem ausgedehnten Ekzem der Kopf- und Stirnhaut, sowie zu einem starken Oedem der Augenlider, verbunden mit hochgradigem Thräuenfluss und Chemosis. Auf Grund der in der Literatur niedergelegten Erfahrungen, sowie unter Be¬ rücksichtigung der durch eigene Thierversuche gewonnenen Ergebnisse gelangt Verfasser zur Aufstellung folgender Sätze: 1. Stellt sich nach Anwendung eines Haarfärbemittels, das Haar heller Farbe in dunkelbraune bezw. schwarze überführen soll, unter dem Gefühle von Jucken oder Brennen der be¬ haarten Schädeldecke, der Stirn oder des Nackens eine ekze¬ matöse Entzündung der Haut im genannten Bereiche ein, und gesellt sich zu diesen Erscheinungen im weiteren Verlaufe Exophthalmus geringen oder höheren Grades, verbunden mit Tbränenflu8s, Schwellung der Bindehaut und Augenlider, so liegt der Verdacht einer Vergiftung durch Paraphenylendiamin vor. 2. Das in den Haarfärbemitteln „Juvenia“, „Phoenix“, Nussextrakt enthaltene Paraphenylendiamin ist ein äusserst giftiger Körper mit spezifischer Wirkung auf das Blut. Es be¬ wirkt bei der Berührung mit demselben Gerinnung und Braun- fiirbung, welche auf der Umwandlung von Oxyhaemoglobin in saures Haematin beruht, das jederzeit durch Zusatz von Schwefelammonium in Haemochromogen reduzirbar ist, und es führt in weiterer Folge zum schliesslichen Zerfall der Ery- throcyten in Pigmentschollen. 3. Die toxische Dosis dieses Körpers beginnt nach Dubois und Vignon bei 0,1 g pro 1 kg Thiergewicht und führt bei Darreichung um ein Geringes unter diesem Schwellenwerthe zu den oben geschilderten Augen¬ erscheinungen, die in kurzer Zeit vollständig zurückgehen; bei bedeutenderem Ueberschreiten der toxischen Dosis kommt es zu schwerer Allgemeinvergiftung, die unter den Folgeerschei¬ nungen der Degeneration der parenchymatösen Organe und unter Krämpfen den Tod herbeiführt. 4. Die durch epi- bezw. endodermatische Aufnahme dieses Giftstoffes hervorgerufenen Ausfallserscheinungen müssen nicht bedingungslos bei der erst¬ maligen Verwendung dieses Mittels zum Ausdruck kommen, sondern können, möglicher Weise durch erfolgte Cumulirung, erst nach wiederholter Anwendung in ihrer schädlichen Wir¬ kung hervortreten. 5. Da einerseits ein gewiss ansehnlicher Theil des Laienpublikums in gutem Glauben an die auf der Etiquette des Präparates angepriesene Unschädlichkeit den ausgiebigsten Gebrauch von diesen und anderen ähnlichen kosmetischen Erzeugnissen macht, andererseits Vergiftungs¬ erscheinungen gewiss häufiger Vorkommen und deren Anzeige seitens der Betroffenen aus naheliegenden Gründen unterlassen werden mögen, wäre es nun an der Zeit, sanitätspolizeiliche Massnahmen gegen diese „vollkommen unschädlichen“ Präpa¬ rate zu verfügen. —y. Ein Fall von Vergiftung mit Wasserschierling. Von Prof. Dr. Pribram in Czernowitz. (Arch. f. Krim. Anthr. 10. Juli 1900.) Eine Bauersfrau erbat von einer Wahrsagerin ein Mittel, damit ihr Mann sie nicht mehr misshandle und nicht zwinge, mit ihr zu leben. Die weise Frau rieth ihr, dem Mann einen Kuchen aus zwei Wasserschierlingswurzeln, zwei Kartoffeln, Kukurutzmehl, Käse und Zwiebeln zu backen. Nach dessen Genüsse würde der Mann 3 Monate lang wie betäubt herumgehen, aber nicht sterben. Die Frau that wie ihr befohlen, nur nahm sie bloss eine Wurzel zu dem Kuchen. Eine Stunde nachdem der Mann davon gegessen hatte, bekam er „Herzweh“, erbrach und ver¬ fiel bald nachher in Betäubung. Bald nachher starb er. Ein genauer Sektionsbefund liegt nicht vor. Das Erbrochene und ein Rest des Kuchens kamen erst zur gerichtlichen Untersuchung, als Alles schon verschimmelt war. Eingesandte Wurzelstücke erwiesen sich durch mikro¬ skopische Untersuchung als von Cicuta virosa — Wasserschier¬ ling — herrührend. Da nun aber diese Wurzel je nach Wuchs¬ ort und Jahreszeit verschieden giftig sein kann, wurden die Wurzeln noch weiter geprüft. Durch Alkohol und Aether wurde ihnen eine nach dem Abdunsten dieser Flüssigkeiten harzartige gelbliche Masse entzogen, welche mit Goldbromid die für Ci cutin kennzeichnende Reaktion gab und Thiere unter den Erscheinungen der Cicutinvergiftung (Speichelfluss, Durchfall, Erbrechen, Athemnot, Nackenkrampf) tötete. Im Mageninhalt Hess sich Cicutin chemisch nicht, physio¬ logisch weniger deutlich als in den Wurzeln nachweisen. Auch die Kuchenreste gaben kein deutlich positives Ergebniss. Viel¬ leicht hatte jedoch an diesem Ausfall die vorgeschrittene Fäulniss schuld. Ein Fall von Strychnin-Vergiftung in Folge Verwechselung durch den Apotheker. Von Dr. Terrien-La Vendöe. (Progrfes Mödical 1900. No. 37.) Die im Allgemeinen ziemlich einförmige Kasuistik der Strychninvergiftung erfährt durch den vorliegenden Fall eine Bereicherung von ungewöhnlichem Interesse. Ein Herr in der Blüthe der Jahre, von ungewöhnlich kräftiger Körperbeschaffenheit, der allenfalls in geringem Masse erblich nervös belastet ist, erkrankt an leichter Influenza. Es werden Pillen von Spartei'n zu 5 cg verordnet und ausserdem ein Blasenpfiaster, dieses jedoch erst nachdem der Harn unter¬ sucht und durchaus einwandsfrei befunden ist. Nach der ersten Pille treten ganz eigenthümliche krampf¬ artige Zustände in den Körpermuskelu ein, welche durch jede Bewegung verstärkt werden und dem Kranken sehr be¬ schwerlich sind. In Folge der Unbequemlichkeit, die ihm selbst das Sprechen verursacht, giebt er dem Arzte unge¬ nügende Auskunft über seine Beschwerden, sodass dieser nicht darauf kommt, dass eine Vergiftung vorliegen könnte. Der Zustand besserte sich auch anfangs. Aber am nächsten Morgen nach der zweiten Pille verspürte der Kranke ein Kriebeln in den Füssen und fühlte, dass die Krämpfe wieder¬ kämen. Kurz darauf trat ein tonischer Krampf der gesammten Körpermuskulatur von erschreckender Heftigkeit ein, der das Leben ernstlich bedrohte. Dieser wiederholte sich zwar nicht. Es blieb jedoch eine Reihe bezeichnender Störungen zurück: Erhöhung aller Reflexe, sehr deutliches Beben des Körpers, Digitized by Google 894 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 19. Verschärfung der Sinneswahrnehmungen, Gehör, Geruch etc. Der Herzschlag war flattrig und sehr verlangsamt (40 in der Minute). Es erfolgte heftiges Erbrechen blutiger Massen. Der Stuhlgang war mit Blut vermengt, die Hamabsonderung war äusserst vermindert. Es war beständiger Speichelfluss vor¬ handen. Am folgenden Tage enthielt der Ham viel Eiweiss und am nächsten Tage verfiel der Kranke, der bis dahin in seinen geistigen Fähigkeiten völlig ungestört gewesen war, in einen an Bewusstlosigkeit grenzenden Betäubungszustand und die Harnabsonderung stockte ganz. Der Puls war jetzt beschleunigt Unter Anwendung energischer Mittel gelang es jedoch, eine Wendung zum Besseren herbeizufuhren. Zuerst ver¬ schwand das Eiweiss aus dem Harn, mit ihm das Erbrechen, dann die Herzstörung und die blutige Färbung des Stuhlganges. Währenddessen aber, etwa einen Monat nach Beginn der Vergiftungserscheinungen hatte sich eine seelische Störung hypochondrisch-melancholischer Art ausgebildet. Der sonst heitere und lebensfrohe Mann wurde plötzlich tiefbetrübt, weinte fortwährend, fürchtete, an allgemeiner Paralyse zu sterben. Erst nach zwei Monaten war diese Störung geheilt. Während ihrer Dauer bestand immer noch die Erhöhung der Reflexe und die Verschärfung der Sinnesempflndungen. Bis jetzt hatten wir stillschweigend angenommen, dass wirklich eine Strychninvergiftung vorliegt. Dies ist jedoch seitens des Apothekers bestritten worden. Der Letztere gab zu, sich in dem Medikament getäuscht zu haben, aber er wollte nur statt der Spartelnpillen Digitalinpillen, die für einen anderen Kranken aufgeschrieben waren, gegeben haben, und zwar sollte es sich um solche mit einem Gehalt von 2 mgr Digitalin handeln. Wenn das richtig war, so waren die Pillen ganz unschädlich, und man hätte sich wundern müssen, dass der Apotheker am nächsten Tage in höchster Hast und Aufregung zu dem Kranken gelaufen kam und sich mit aller Gewalt be¬ mühte, ihm Milch einzuflössen. Als dem Apotheker diese Einwände gemacht worden waren, änderte er sein Verhalten. Er sagte: „Meine Pillen sind überhaupt an der Krankheit nicht Schuld gewesen, sondern wahrscheinlich hat der Mann kranke Nieren gehabt und das Blasenpflaster hat einen Zustand von Urämie hervor¬ gerufen/ 4 Aber auch diese Erklärung erweist sich bei näherer Betrachtung als trügerisch. Erstens hatte der Kranke eben nachgewiesener Massen gesunde Nieren. Zweitens verliert beim urämischen Krampfanfall der Kranke die Besinnung und die Empfindung und nach Ablauf des Krampfanfalls bleibt der Geist noch eine Zeitlang getrübt. Von alledem war bei den Krampfanfällen hier nicht die Rede. Es wird auch kein Mensch aus voller Gesundheit heraus binnen wenigen Tagen urämisch Bedenkt man nun noch den zeitlichen Zusammen¬ hang der Anfälle mit der Einnahme von Pillen, so kann gar kein Zweifel bestehen: es hat wirklich eine Strychninvergiftung Vorgelegen. Merkwürdig bleibt es ja, dass der Mann, wenn er 10 cgr Strychnin statt der gleichen Menge Spartein zu sich genommen hat, noch lebt. Aber beispiellos ist dergleichen nicht, und man hatte es eben mit einem ungewöhnlich kräftigen Menschen zu thun. Wass die aussergewöhnlichen Erscheinungen anbetrifft, so stehen die Blutungen aus Magen und Darm auf einer Stufe mit denen im Gehirn, in den Lungen u. s. w., die man sonst wohl beobachtet hat. Eiweiss findet man auch in anderen Fällen im Harn. Besonders bemerkenswerth ist die nach¬ folgende Seelenstörung. Ein Fall von Strychninvergiftung. Vom Ersten Staatsanwalt Nessel-Lüneburg. Archiv £ Crimin. Anthrop. 10. VIL 1900. Die von einem Laien herrührende Mittheilung bietet vom rein ärztlichen Standpunkte aus nichts Neues, wird aber den Gerichtsarzt bei der Seltenheit der Strychninvergiftung in Deutschland sicherlich interessiren. Ein schon bejahrter Knecht pflegte als Mittel gegen Magenbeschwerden mehrmals täglich doppeltkohlensaures Natron einzunehmen und führte dasselbe in einer Blech¬ schachtel immer bei sich. Eines Abends, als er es auch wieder genommen hatte, sagte er gleich, es habe so schlecht geschmeckt, es müsse ihm Jemand ein Gift hineingethan haben. Eine Stunde später war der Mann tot. Gliedersteif- heit war dem Ende vorausgegangen. Die Sektion ergab nicht mit Sicherheit die Todesursache. Doch sprachen sich nach Untersuchung des Inhalts der Blechbüchse die Gerichtsärzte und der Apotheker übereinstimmend dahin aus, dass Strych¬ ninvergiftung vorliege. Dagegen bekundete ein Chemiker, dem Leichentheile zur Untersuchung übergeben worden waren, dass diese kein Strychnin enthielten. Auch von anderer Seite war inzwischen behauptet worden, der Verstorbene sei einer akuten inneren Krankheit erlegen. Der nunmehr zugezogene Gerichtschemiker Dr. Jeserich konnte jedoch auf chemischem Wege und mit Hilfe des Thierversuchs mit voller Sicherheit Strychnin nachweisen. Zweifellos lag in diesem Falle ein Mord durch Strychnin vor. Gynäkologie. Schwefelsäure als Abortivum. Von Dr. Siegfried Egger in Straubing. (Prledr. Bl. 1900, H. 4.) Das mörderische Treiben der Kurpfuscher, die sich mit Abtreibungen abgeben, wird durch den vorliegenden Fall in krasser Weise beleuchtet. Der Thäter ist ein Bader, oftmals vorbestraft wegen Kur¬ pfuscherei — die Sache spielt ja in Oesterreich, — aber auch wegen anderer Vergehungen. Das Mittel zur Abtreibung ist nichts anderes als ein Aufguss von Zimmt und desgleichen, versetzt mit dreissig Prozent reiner Schwefelsäure. Letztere ist, nebenbei gesagt, von einem Goldarbeiter ge¬ stohlen. Die unglückliche Schwangere trinkt von dem höllischen Gebräu eine halbe Kaffeetasse — das Weitere versteht sich eigentlich von selbst. Es folgt Erbrechen mit heftigen Magen¬ schmerzen, ein qualvolles Siechthum, die Folge narbiger Ver¬ engerung des Pförtners, stellt sich ein. Erst über zwei Monate nach der Vergiftung wird die todte Frucht ausgestossen, nach weiteren drei Wochen stirbt die Wöchnerin. Auffallend ist, dass in dieser ganzen Zeit kein Heilversuch gemacht worden ist, obwohl doch eine Operation aussichtsvoll gewesen wäre, vielleicht wurde gar kein Arzt zugezogen. Ueber den Zusammenhang zwischen Uterus- und Magen¬ leiden. Von Dr. Oedven Tuszkai. (Monatsschrift für Geburtshilfe und Qynaekologie. Bd. XII, Heft 2, Seite 145.) Die Zusammenfassung Tuszkai’s lautet: Die Uterus- und Magenaffektionen können mit einander in engen Wechsel¬ beziehungen sein. Bei der Diagnose der Wechselwirkungen sind die zwischen diesen beiden Organen bestehenden coinci- denten Leiden streng auszuschliessen und ebenso ihre durch die Coöffekte dieser beiden Organe entstandenen gleichzeitigen Erkrankungen. Der erste Weg der Wechselwirkungen ist die Digitized by Google 1. Oktober 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 395 Nervenbahn, deren Centrum Seitens der inneren Genitalien nicht im Gehirn oder Rückenmark, sondern im sympathischen Nervensystem zu suchen ist. Sein abdominales Centrum ist das Ganglion solare, resp. den Uterus betreffend, der plexus gastricus inferior, der mittelst des Ganglion solare resp. plexus spermaticus in Reflexbeziehungen steht zu den vorderen und hinteren Magenästen des Nervus vagus. Diese Reflexbahnen benannten wir: Anastomosis spermatica, Anastomosis pudendo- haemorrhoidalis, Genito-gastrica, weiter die Nervi splauchnici, die weiteren, aber mittelbaren Verbindungen nennen wir Anasto¬ mosis utero-spinalis. Die unmittelbaren Wege der Refiexbahn sind direkte Verbindungen des Vagus (Exklusion des Ganglion solare) mit dem sympathischen Nervensystem, so besonders mit dem plexus utero-vaginalis und mit den mit letzteren im Zusammenhang stehenden para uterinen Ganglien (Anastomosis utero-coeliaca sen Uterospermatica. Der zweite Weg der Wechselwirkungen ist in den Veränderungen der gemeinsamen statischen Momente beider Organe zu suchen. Die Dislokatio¬ nen des Magens können als Folge der Wechselwirkungen der statischen Momente eine Uterusdeviation (sekundäre Uterus¬ affektion) hervorrufen, während die primären Deviationen des Uterus sekundäre Gastroneurose oder palpable Magenaffektionen erzeugen, also stehen sie auf reflektorischem Wege zu einander in Wechselwirkungen. Die Blutbahn spielt bei diesen Wechsel¬ wirkungen nur eine Rolle dritten Grades und nach allem kann nur von chemischen oder endozymen Coöffekten die Rede sein. G. Augen. Zur Bekämpfung der endemischen Körnerkr&nkheit. Von Prof. Dr. J. Hirschberg-Berlin. (Klinisches Jahrbuch. 7. Band, 4. Heft. 1900.) Die Massnahmen, die auf Grund eines Berichtes Ver¬ fassers an das Medizinalministerium im Jahre 1896 behufs Bekämpfung der in Ost- und Westpreussen verbreiteten Körner¬ krankheit getroffen wurden, haben gute Früchte getragen. Bei einer im Herbst vergangenen Jahres abermals in amtlichem Aufträge unternommenen Inspektionsreise konnte sich Ver¬ fasser davon überzeugen, dass die Verhältnisse in Bezug auf die Ausbreitung und den Charakter der Körnerkrankheit sich nicht unerheblich in günstigem Sinne geändert hatten. So¬ wohl in den Dorfschulen, wie in den städtischen Volks- und Gemeindeschulen, als auch in den höheren Schulen ist der Prozentsatz der an Trachom leidenden Schüler im Allgemeinen um ein Wesentliches gesunken. Wo dies nicht der Fall war, fehlte es an einem thatkräftigen, zielbewussten Vorgehen und liessen die Schulräume in hygienischer Beziehung viel zu wünschen übrig. Auch hier werden Fortschritte zu verzeichnen sein, wenn man einen geschickten Augenarzt mit der Aus¬ rottung der Schulseuche betraut, geübte Krankenpflegerinnen anstellt, welche die ärztlichen Anordnungen sauber und zu¬ verlässig auszuführen befähigt sind, und wenn die Schulräume den hygienischen Anforderungen angepasst wurden. In dieser Richtung wird noch Manches zu thun sein, bis eine gesunde Generation herangewachsen ist. Aber dass man auf dem richtigen Wege ist, beweisen schon die Ergebnisse, die in dem kurzen Zeitraum von drei Jahren mit den bisherigen Massnahmen erzielt worden sind. Vor allem bedarf es noch der Bereitstellung weiterer staatlichen Mittel, mit denen nicht gekargt werden darf, wenn es sich um solch wichtige Dinge handelt, wie die Bekämpfung der endemischen Körnerkrankheit. -y- Zur Lehre vom pulsirenden Exophthalmus. Aus dem ßpitale der Allgemeinen Poliklinik in Wien. Von Dr. Romuald Keschmann. (Wien. klin. Wochentchr. No. 33, 1900.) Die Lehre von den Ursachen und der Behandlungsweise des pulsirenden Exophthalmus hat viele Wandlungen durch¬ gemacht, und auch jetzt sind manche Symptome dieser nicht gerade häufigen Erkrankung noch nicht völlig klargestellt Verfasser berichtet über einen in seinen Einzelheiten sehr be- merkenswerthen Fall; es handelte sich um einen 14jährigen Knaben, der als 2jähriges Kind aus dem Fenster auf die Strasse stürzte, aus einer Fallhöhe von 2 m, und dabei mit der rechten Kopfseite gegen das Pflaster schlug. Angeblich entstand keine äussere Verletzung, auch traten keine Zeichen von Gehirnerschütterung oder einer schweren Störung des Allgemeinzustandes auf. Schon nach einigen Monaten zeigten sich eine Reihe von Veränderungen im Gesicht des Knaben, das immer asymmetrischer wurde. Der jetzige Befund ergiebt folgende Veränderungen: 1. Partielle Verdickung des Stirn- und Schläfenbeins, Abflachung des ersteren, über dem Joch¬ bein gelegene Einziehung des Schädelgerüstes. 2. Verkürzung des rechten Theiles des Unterkiefers. 3. Parese des M. ptery- goideus internus dexter und Atrophie des M. temporalis und Masseter derselben Seite; Atrophie und Hypästhesie der rech¬ ten Zungenhälfte. 4. Pulsirender Exophthalmus ohne subjek¬ tive oder objektive Geräusche; die Pulsation wird durch Zu- sammendrüoken der Carotis communis abgeschwächt, aber nicht aufgehoben. 5. Tiefstand des rechten Auges. 6. Ptosis und Ektropium des oberen Augenlides, Parese des M. rectus superior und externus. 7. Hochgradige Myopie des rechten Auges. 8. Fehlen der gewöhnlich bei pulsirendem Exophthal¬ mus vorkommenden Veränderungen am Augenhintergrund, der hier nur die bei typischer Myopie vorkommenden Erschei¬ nungen darbietet. Die Diagnose lautete: Cavernöses Angiom in der Nähe des Foramen opticum und der Fissura orbitalis superior; Läsion des zweiten Trigeminusastes durch einen Knochensplitter oder durch eine Fissur in der Wand des Fo¬ ramen rotundum. Da der Einfluss der Kompression der rech¬ ten Carotis communis zwar ein deutlicher, aber doch geringer war und auch in früheren Fällen die Unterbindung der Carotis bei Angiomen wenig Nutzen brachte, die Sehstörung nach so langer Zeit und unterdessen eingetretener Sehnervenatrophie durch die Operation gewiss nicht behoben werden konnte, und endlich der Patient keine Beschwerden hatte, wurde von einer Unterbindung der Carotis communis abgesehen und nur an die operative Beseitigung der Ptosis und des Ektropium ge¬ gangen. —y. Hygiene. Bäder und Badewesen der Neuzeit. Von J. Marcuse. (Deutsche VierteIjahrueltschrift für Offen tL Gesundheitspflege, Bd. 32, Heft 8.) Die vorliegende Arbeit bildet die Schlussfolge von „Bäder und Badewesen im Alterthum“ und „Bäder und Badewesen im Mittelalter“ (Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentl. Gesund¬ heitspflege, Bd. 31 und 32). Nach einer Darstellung des Badewesens, wie es sich einer¬ seits im Orient bei den Völkern des Islam und andererseits bei den ost- und westeuropäischen Völkern, insbesondere den Finnen, erhalten hat, giebt der Verf. einen Rückblick auf die Entwickelung des Badewesens in den ausserdeutschen Ländern, namentlich England und Frankreich, um im Anschluss daran ein Bild des gegenwärtigen Standes des Badewesens in Deutsch- Digitized by Google 896 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 19. land zu geben. Mit den vorangegangenen Kulturepochen verglichen, erreicht das Badewesen der Neuzeit auch nicht im Entferntesten die gewaltigen Vorbilder des Alterthums, wie es auch nicht dem badefrohen Treiben des Mittelalters nahekommt. Erst im neunzehnten Jahrhundert wird die Idee von der Wohlthätigkeit des Wassers für den menschlichen Körper von Neuem wach, um langsam und stetig, gestützt von der mehr und mehr zunehmenden Bedeutung der öffentlichen Gesund¬ heitspflege an Kraft zu gewinnen. Dieser Aufschwung, den die Erkenntniss der gesundheitlichen Bedeutung der Bäder im letzten Jahrzehnt gewonnen hat, und der erst kürzlich seinen Ausdruck in der Begründung der „Deutschen Gesellschaft für Volksbäder“ gefunden hat, berechtigt zu der Hoffnung, dass das Badebedürfniss allmählich wieder zum Gemeingut des Volkes wird. Dahin zu wirken, muss als eine der vornehmsten Auf¬ gaben der Hüter der öffentlichen Gesundheit, des Staats und der Gemeinden, erachtet werden. Dann wird das zwanzigste Jahrhundert eine Blüthe der Entwickelung des Badewesens heranreifen sehen, die als eins der kostbarsten Güter der Kultur, Kraft und Gesundheit stählen und die natürlichen Faktoren der Volksgesundheit hilfreich unterstützen wird. „Die Grundlage jeder Reform auf gesundheitlichem Gebiet bildet die Reinlichkeit: für dieses wichtigste Gut menschlicher Gesittung kämpfen wir, wenn wir das allgemeine Bewusstsein zu gemeinsamem Thun für eine der vornehmsten Pflichten praktischer Gesundheitspflege aufrütteln.“ Roth (Potsdam). Ist ein Beichswoknungsgesetz im Interesse der Wohnungshygiene zu wünschen ? Von Dr. Hans Wolff, pro phys. approb. Arzt in Harburg (Elbe). (Zeitschrift f. Mediilnelbeemte No. 14, 1900.) Die hochwichtige und immer dringlicher werdende Frage, wie eine nachhaltige und durchgreifende Besserung in den Wohnungsverhältnissen der Arbeiterbevölkerung zu treffen ist, hat erst jüngst den deutschen Reichstag beschäftigt, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich die vorgescblagenen Mittel zur Abhilfe des anerkannten Nothstandes zu einem ReichBwohnungsgesetz verdichten werden. Verfasser will den Werth, den dieses gesetzgeberische Vorgehen in kultureller und national-ökonomischer Beziehung haben kann, nicht unter¬ schätzen, bezweifelt aber den Nutzen, den ein derartiges Ge¬ setz in hygienischer Beziehung bringen kann. Denn wenn auch die Arbeiterwohnungen in bauhygienischer Hinsicht allen Anforderungen entsprechen würden, so seien die Arbeiter doch viel zu indolent und viel zu wenig hygienisch erzogen, um von den Wohnstätten nun auch den hygienisch-richtigen Ge¬ brauch zu machen. Mit Zwangsmassregeln und polizeilichen Vorschriften sei aber nach dieser Richtung hin nichts auszu¬ richten. Aus solchen Erwägungen heraus das Scheitern des Gesetzes zu wünschen, erscheint uns doch recht unbegründet. Beide Dinge haben miteinander nichts zu thun; das Reichs¬ wohnungsgesetz wird recht segensreiche Folgen haben können, allerdings macht es, wie man dem Verfasser zugeben muss, die hygienische Aufklärungsarbeit nicht überflüssig, das ist aber auch nirgendwo behauptet worden. —y. lieber Formaldehyddesinfektion von Krankenzimmern. Von Dr. Ehrie jun. in Isny. (Mediiin. Corr.-Bl*tt d. Württemb. ärstl. Landesvereine*, Mo. 94, 1900.) Die Formaldehyddesinfektion der Krankenzimmer bedeutet einen erheblichen Fortschritt gegenüber den bisherigen Me¬ thoden, von denen keine eine gründliche Vernichtung der Krankheitskeime ohne Beschädigung des zu desinflzirenden Materials ermöglichte. Von den verschiedenen in Betracht kommenden Methoden hält Verfasser das Lingner’sche Ver¬ fahren für das leistungsfähigste; allerdings ist der zur Durch¬ führung desselben nöthige Apparat sehr theuer. Aber auch das Schering’sche und Elbs’sche Verfahren, die im Prinzip auf dasselbe hinauslaufen, liefern beide recht brauchbare Re¬ sultate. Das Elbs’sche Verfahren hat den Vorzug grösserer Billigkeit, da man zu seiner Anwendung keines besonderen Apparates bedarf. (Paraformaldehyd ist in einem Kohlenkern untergebracht, der durch eine offene Flamme zum Glühen ge¬ bracht wird). Ein Nachtheil ist, wie bei dem Schering’schen Verfahren, die etwas geringere Tiefenwirkung und die Noth- wendigkeit der Abdichtung des zu desinflzirenden Raumes. Wenn die Formaldehyddesinfektion die bisher zur Verfügung stehenden mächtigen Desinfektionsmittel, wie den strömenden Wasserdampf, die kochende Sodalauge und die flüssigen chemi¬ schen Desinfektionsmittel auch nicht verdrängen wird, so stellt sie doch eine erwünschte Bereicherung und Vereinfachung der bisherigen Zimmerdesinfektions-Methoden dar und sollte des¬ halb eine grössere Verbreitung finden. —y. Aus Vereinen und Versammlungen. Berliner psychiatrischer Verein. Sitzung vom 16. Juni 1900. Originalbericht der Aerztlichen Sachverständigen-Zeitung. Diskussion über den am 17. März d. J. gehaltenen Vortrag des Herrn Henneberg: Ueber Spinalpunktion bei Hirnblutungen. Vortr. demonstrirte mehrere mit der Kaiserlingschen Me¬ thode konservirte Gehirn- und Rückenmarkspräparate von Fällen, in denen es sich um Gehirnblutungen handelte und die bei der Lumbalpunktion eine blutige Flüssigkeit ergaben. Der erste betraf ein traumatisches Hämatom nach Sprengung der Schädeldecke, wie sich bei der Sektion herausstellte. In dem zweiten Fall handelte es sich um eine Blutung im Thalamus opticus und in den Ventrikeln. In beiden Fällen, ebenso wie in einem dritten waren die Kranken in bewusstlosem Zustand aufgenommen und nach Krämpfen gestorben. Da das bei der Lumbalpunktion erhaltene Blut auch von der Anstechung von Venen herrühren könne, liege ein Bedürfnis vor, ein Erkennungszeichen dafür zu besitzen, ob das Blut aus den Venen oder aus dem Arachnoidalraum herstamme. Vortr. sieht ein solches in der Herabsetzung resp. Aufhebung der Gerin¬ nungsfähigkeit des Blutes durch die Berührung mit dem Liquor cerebrospiralis. Erhalte man daher Blut, welches bald gerinnt, so rühre es aus einer Vene her, bleibe es flüssig, so müsse man annehmen, dass es aus dem Rückenmarkskanal stammt Bei bewusstlos aufgefundenen Kranken ohne Anamnese dürfte die Lumbalpunktion durch den Befund von Blut zur differen¬ tiellen Diagnose zwischen epileptischen, sowie alkoholischen Zuständen und Kopftraumen von Wichtigkeit sein. Nawratzki berichtet über einen ähnlichen Fall aus Dall¬ dorf. Ein 36jähriger Arbeiter war nach einer schweren Kopf¬ verletzung wegen hinzugetretener hochgradiger Unruhe und Verwirrtheit dorthin gebracht worden. Er war ganz benommen, sprach nichts, wühlte im Bett herum und hatte sehr beschleu¬ nigten Puls und Temperatursteigerung. An der rechten Kopf¬ seite hatte er eine bis auf den Knochen reichende Hautwunde. Bei der mit Herrn Arndt ausgeführten Lumbalpunktion trat reines Blut in die Steigrohre. Eine Drucksteigerung bestand Digitized by Google 1. Oktober 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 397 nicht. Dieser Befund liess einen Blutaustritt in die Hirn- und Rückenmarkshäute vermuthen, eine Annahme, die durch die Sektion bestätigt wurde. In der rechten Schläfenschuppe fand sich eine Fissur, die sich bis auf das Felsenbein erstreckte; dieser Knochenverletzung entsprach ein extradurales Hämatom mässigen Umfanges; endlich war eine ausgedehnte Zertrüm¬ merung des linken Schläfenlappens vorhanden, durch welche eine Verbindung zwischen Subduralraum und Unterhorn des linken Seitenventrikels hergestellt war. Beide Seiten-, sowie der dritte Ventrikel waren mit Blut gefüllt, der vierte war leer. Dass das mittelst Lumbalpunktion entleerte Blut wirklich aus Arachnoidalräumen stammte und dass nicht bloss mit der Punktionsnadel eine extradural gelegene Vene ausgestochen war, das bewies die deutliche, mit der Athmung des Patienten ganz synchron einhergehende Auf- und Niederschwankung der in die Steigrohre getretenen Blutsäule. Uebrigens könne durch den Befund von Blut bei der Lumbalpunktion sowohl ein Blut¬ austritt in die Hirn- und Rückenmarkshäute angezeigt werden als ein Bluterguss in die Gehirnsubstanz mit Durchbruch in die Ventrikel. Henneberg ergänzt seine Mittheilungen. Bei Kopftrau¬ men und der Pachymeningitis haemorrhagica interna erhalte man nur geringe Beimengungen von Blut zur Punktionsflüssig¬ keit und der Nachweis sei dann schwierig, dass dieses Blut bereits vor der Punktion in der Spinalfiüssigkeit war. Der Befund von Lymphocyten, die mit rothen Blutkörperchen be¬ laden waren, sei dafür ausschlaggebend. H. geht sodann auf die Bedeutung der puisatorischen und respiratorischen Schwankungen ein und glaubt, gestützt auf einen beobachteten Fall, dass das Fehlen derselben zur Diffe¬ rentialdiagnose zwischen einfacher Myelitis und Kompressions- myelitis beitragen könne. Moeli: Statistisches über die Anstaltsbehandlung der Alko ho listen. (Autoreferat.) Vortr. erwähnt, wie ausserordentlich wünschenswert!^ aber auch ausserordentlich schwierig statistische Feststellungen über die Behandlung der Alkoholisten in Anstalten seien. Die Diskussion in der letzten Sitzung zeige, dass erheb¬ liche Meinungsverschiedenheiten beständen, die zunächst ein¬ mal verlangten, die Art der Kranken genauer kennen zu lernen. Deshalb ist mit Hilfe der auf der Männerseite der Anstalt Herzberge in Lichtenberg thätigen Aerzte eine systematische Bearbeitung der hier vom Jahre 1893 ab aufgenommenen Alkoholisten erfolgt. Die Uebersicht über die ersten 6 Jahre liegt vor (abgeschlossen am 30. September 1899). Die Schwierigkeiten sind weniger lokaler Art, d. h. in dem Vorhandensein mehrerer Behandlungsstätten in Berlin, z. Tb. auch in der Theilnahme mehrerer Beobachter und Beur- theiler an einer und derselben Behandlungsstätte begründet. Schwieriger ist die Schaffung eines bestimmten Massstabes für die krankhafte Abweichung, da sich Reizbarkeit, die bekannte Abstumpfung der ethischen Gefühle und gemüthliche Indiffe¬ renz, Schwäche der Fassung, Erinnerung und Ueberlegung unter einander und mit halluzinatorischen etc. Erregungszu¬ ständen vielfach verbinden. Die Eintheilung kann daher nur summarisch erfolgen und in den gebildeten Gruppen nicht immer Gegensätze und Ausschliessungen verkörpern. Vortr. zeigt den zur Statistik benutzen Fragebogen und bespricht ganz kurz die Ergebnisse einiger Zusammenstellun¬ gen über die Beziehungen der Dauer der Behandlung zu der anstaltsfreien Zeit bei den Rückfälligen, über die Kombination der ätiologischen Faktoren bei den verschiedenen Gruppen u. s. w. Er hofft, die aus der Betrachtung von während 6 Jahren aufgenommeuen 742 Alkoholisten gewonnenen Ergebnisse als ersten Abschnitt einer in gewissen Abständen zu wiederholen¬ den Uebersicht benutzen zu können. Er misst der Höhe der Zahlen an sich vorläufig nur die Bedeutung eines Mehr oder Weniger oder eines mehr positiven oder mehr negativen Hin¬ weises bei und glaubt, zunächst das Augenmerk nur auf einige Hauptpunkte als Ausgang für die Beobachtung richten zu sollen. Liepmann: Ueber Apraxie. Mit Demonstration eines Falles einseitiger Apraxie. Unter Apraxie wurde bisher der verkehrte Gebrauch der Gegenstände infolge Verkennens gemeint. Hier liege eine solche Störung nicht vor, sondern die motorische Aeusserung sei verkehrt. L. deflnirt danach Apraxie als Unfähigkeit zu zweckgemäs8er Bewegung und stellt diesen Begriff der bisher so genannten besser als Agnosie oder sensorische Asymbolie bezeichneten Störung gegenüber. Die Herrschaft der Seele über die Glieder sei bei der Apraxie aufgehoben. Der inter¬ essante Vortrag erscheint ausführlich in der Monatsschrift für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. (Wernicke und Ziehen.) M. E. Aus den Verhandlungen des 13. Internationalen Medizi¬ nischen Kongresses. Sektion für gerichtliche Medizin. (Ztschr. f. Modliin, Beamte.) Descoust-Paris: Ueber den Einfluss der Fäulniss auf die Lungenschwimmprobe. Die Fäulnisserscheinungen an den Lungen Neugeborener verhalten sich verschieden, je nachdem das Kind nach der Geburt nicht geathmet oder ge- athmet und event. Nahrung aufgenommen hat. In ersterem Falle ist der Verdauungskanal noch keimfrei, und die Fäulniss kann nur von aussen nach innen stattfinden. Dieselbe geht dann sehr langsam vorwärts, und die Eingeweide bleiben in ihrem Aussehen lange unverändert. Hat dagegen das Kind schon geathmet, so sind mit dem Luftstaub in seine Athmungs- und Verdauungswege Fäulnisspilze gelangt, die rasch von innen nach aussen fortschreitende Fäulniss, verbunden mit Gas-Entwickelung, veranlassen. Der Einfluss der Fäulniss ver¬ anschaulicht sich am deutlichsten an Lungen, die unvoll¬ kommen geathmet haben. Bei ihnen findet man über den Stellen, die an der Athmung nicht betheiligt waren, wohl oft unregelmässige Gasblasen unter dem Brustfell, aber das Ge¬ webe knistert nicht auf Druck und schwimmt schlecht, be¬ sonders wenn man die Blasen aufgestochen hat. Auch die Verflüssigung bei der Fäulniss ist ein Kennzeichen dafür, dass die Lungen nicht geathmet haben. Im Thierversuch gelingt es nicht, Gasfäulniss bei Thieren, die nicht geathmet haben, zu erzeugen, mag man sie nun im Freien liegen lassen, in Erde vergraben oder in Fäulnissflüssigkeiten aufbewahren. Descoust gelangt zu dem Schlüsse: Die Fäulniss ist nicht im Stande, in den Lungen von Neugeborenen, die nicht geathmet haben, Veränderungen des specifischen Gewichts zu bewirken. Dem entgegen erklärt Martin-Lyon, dass im warmen Sommer doch auch in solchen Lungen Gasfäulniss entsteht. Ziemke-Berlin kann D. nur mit Einschränkungen beistimmen. Er hat mit Puppe zusammen Versuche an Früchten angestellt, bei denen Reinculturen von Fäulnisserregern in die Luitröhre gebracht wurden. Der Erfolg war der, dass stets eine hoch¬ gradige Lungenfäulniss mit Gasbildung und positivem Ausfall der Schwimmprobe erreicht wurde. Dasselbe beobachtete er bei einer 24 wöchentlichen Frucht, die im Wasser gefunden wurde. In solchen Fällen kann aber die Lupe oder das Mi¬ kroskop Aufschluss geben. Mit ersterer entdeckt man um jede einzelne Gasblase an der faulen Lunge des nicht ge¬ athmet habenden Kindes einen Hof dunkelblaurothen luftleeren Digitized by Google 898 Aerztliohe Saohverständigen-Zeitung. No. 19. Gewebes, während, wenn die Lunge geathmet hat, die Gas¬ blasen dicht beieinander, nur durch die Scheidewände der Lungenbläschen getrennt liegen. Unter dem Mikroskop werden diese Verhältnisse auch an stark veränderten Lungen deut¬ licher. Clark-Bell-New-York: Die gerichtliche Medizin in Amerika im 19. Jahrhundert. Ursprünglich nicht ihrem Werthe nach gewürdigt, wird die gerichtliche Medizin in neuerer Zeit in Amerika in hervorragender Weise gepflegt. Seit 1867 besteht in New-York eine Gesellschaft für gericht¬ liche Medizin, die Aerzte und Juristen vereinigt. Schon drei Mal hat diese Vereinigung die Abhaltung von internationalen Kongressen für gerichtliche Medizin veranlasst. Gastianx-Lille und Laugier-Paris: Die Klappenver¬ letzungen des Herzens im Gefolge von Quetschungen des Brustkorbes. Entgegen der Meinung, dass Verletzungen nicht im Stande sind, selbstständig Veränderungen an den Herzklappen hervor¬ zubringen, muss es als sicher angenommen werden, dass heftige Erschütterungen oder Zusammenpressungen des Brust¬ korbes selbst an einem gesunden, leichter an einem schon entarteten Herzen die Klappen schädigen können. Verände¬ rungen treten dann entweder unmittelbar nachher in Form von Rissen in Folge des erhöhten Blutdrucks oder aber schleichend als entzündliche Vorgänge ein. Bei den acut ein¬ setzenden Störungen bemerkt man sofort, dass die betreffende Klappe schlussunfähig geworden ist. Am häufigsten ist es eine Aortenklappe, seltener die zweizipflige, nur ausnahms¬ weise eins der beiden anderen Klappensysteme. Die physi¬ kalische Untersuchung lässt einen Unterschied gegenüber anderen Klappenfehlern nur insofern erkennen, als bei Ver¬ letzungen die Geräusche stärker und länger sind und in Folge des Mitschwirrens abgerissener Sehnenfäden oder Klappen¬ fetzen eine bestimmte Klangfarbe haben. Da bei den Ver¬ letzungen das Herz weniger als bei den aus inneren Ursachen entstehenden Klappenfehlern Zeit hat sich anzupassen, so sind die Heilungsaussichten bei ersteren schlechter, nicht aber durchaus schlecht. In sehr seltenen Fällen kann, wenigstens bei Aortenklappenrissen, Genesung eintreten. ln der Diskussion erwähnt Haeckel-Marseille zur Erläu¬ terung der schlechteren Heilungsaussichten bei Rissen der zweizipfligen Klappen einen unmittelbar von Abschwächung des Herzstosses gefolgten, rasch tödtlich verlaufenen Unfall. Brouardel-Paris meint, dass die Entscheidung, ob der nach der Verletzung beobachtete Klappenfehler nicht schon früher bestand, oft nach dem Ergebniss der Sphygmographie ge¬ troffen werden kann. Sarda-Montpellier: Ueber die Entstehung der sub¬ pleuralen Ecchymosen. Silva-Valencia: Gerichtlich-medizinische Statistik der Republik Mexico. (Beide Vorträge bieten kein wesentliches Interesse.) Ottolenghi-Siena: Ueber die Abkühlung der Leiche bei gewissen Arten des gewaltsamen Todes. Die Ver¬ suche wurden an Thieren angestellt, die durch Erstickung, Halsschnitt oder Strychnin getödtet waren. Eine halbe Stunde nach dem Tode ist die Bauchhöhle am wärmsten, dann folgt das Gehirn, dann die Muskulatur. Lang¬ sam und stufenweise schreitet die Abkühlung in der Bauch¬ höhle, rasch und nicht graduell (?) im Gehirn und den Muskeln vor. Abgesehen von diesen allgemeinen Regeln haben die physikalischen Bedingungen der Umgebung, die Art und Schnelligkeit des Todes, die Lage der Leiche auf die Dauer und Stärke der Abkühlung Einfluss. Im Anschluss hieran weist Brouardel auf verschiedene besondere Temperaturveränderungen nach dem Tode hin: Bei Hundswuth, Pocken u. s. w. ist die Körperwärme nach dem Tode beträchtlich erhöht, bei manchen Infektionskrankheiten sinkt sie nach dem Tode anfangs, steigt aber in Folge von Gährungsprozessen in der Bauchhöhle wieder an und bleibt bis zu 86 Stunden nachher erhöht. Alles in allem ist aus dem Grade der Abkühlung auf die seit dem Tode verflossene Zeit nicht zu schliessen. Ogier-Paris: Ueber kriminelle Verbrennung von Leichen. Verbrecher benutzen nicht selten die Verbrennung, um Leichname zu beseitigen. Einen Ungeborenen oder Neu¬ geborenen kann man leicht in einem gewöhnlichen Stubenofen oder dgl. verbrennen. Um dagegen auf die gleiche Weise die Leiche eines Erwachsenen unkenntlich zu machen, ist mehr Zeit erforderlich, als Verbrecher gewöhnlich haben. Vorge¬ kommen ist das aber auch mehrmals. Selbst die besten Oefen zur Leichenverbrennung brauchen, um den Körper in Aschen¬ pulver zu verwandeln, 1—IV 2 Stunden. Fast unmöglich ist es, in freier Luft Leichen Erwachsener nach Tränkung mit Theer, Petroleum, Oel oder Alkohol zu verbrennen. Reste dieser Flüssigkeiten sind an den Kleidern, soweit diese unver- kohlt sind, manchmal wahrzunehmen, nur von Alkohol nicht. Manchmal wird ein Zweifel entstehen können, ob Fett, das den Kleidern anhaftet, vom Menschen, vom Thier oder von einer Pflanze stammt. Diese sonst leichte Entscheidung kann nach Einwirkung grosser Hitze unmöglich werden. Ein Märchen ist die „Selbstverbrennung“, vor ihr ist der menschliche Körper durch einen Wassergehalt von 75—80 pCt. geschützt Corin-Brüssel: Ueber plötzlichenTod beimErtrinken. Im Thierversuch kann man den plötzlichen Ertrinkungstod am sichersten herbeiführen, wenn man vorher das Athmungscen- trum durch Chloralhydrat schwächt, die Rückenmarkscentra durch Strychnin übererregbar macht. Die genannte Todesart tritt dann durch Athmungs- oder Herzlähmung ein. Man kann das plötzliche Ertrinken nur an der Trockenheit der Luftwege, dem Fehlen ballonartiger Lungenblähung erkennen. Auch ver¬ wesen die Leichen nicht so rasch wie gewöhnliche Wasser¬ leichen; denn bei diesen gelangen während des Ertrinkens, wie man leicht im Thierversuch nach weisen kann, Fäulniss- keime ins Blut. Blutungen unter die Schleimhäute oder das Rippenfell können nach plötzlichem Ertrinkungstode vorhanden sein oder auch fehlen. Crespin-Algier: Ueber rituelle Beschneidung vom gerichtlich-medizinischen Standpunkt. (Bringt nichts neues.) Pouchet-Paris: UeberdieNothwendigkeitderUnter- suchung von Schädlichkeiten, die durch gewohn- heitsmässigen Gebrauch von Nahrungsmitteln und Getränken entstehen können, welche mit chemischen Mitteln (Borax, Salicylsäure, Formol u. dgl.) conser- virt sind. Der von Brouardel mitausgearbeitete Bericht hebt her¬ vor, dass es unrichtig ist zu fragen, ob die bezeichneten Con- servirung8mittel bei einmaligem Genuss zu schaden vermögen. Das wird nie zu treffen, und dennoch kann die lange, regel¬ mässig wiederholte Einführung solcher Stoffe die Gesundheit tief schädigen. Verdauungsstörungen, Blutarmuth u. s. w. haben oft keine andere Ursache. Die Erkennung dieser Schädlich¬ keiten ist oft sehr schwer, aber sehr wichtig. Eine inter¬ nationale Verständigung über die rechtliche Behandlung dieser Fragen wäre anzubahnen. Nach längerer Diskussion wird auf Vorschlag von Bordas eine Resolution folgenden Inhalts angenommen: Angesichts der Thatsache, dass von den Vertretern der verschiedenen Länder Schädigungen bekannt gegeben werden, welche aus dem habi- Digitized by Google 1. Oktober 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 399 tuellen Gebrauch von Nahrungsmitteln oder Getränken, die mit chemischen Mitteln conservirt sind, entstehen, drücken wir den Wunsch aus, die Anwendung dieser Mittel (Borax, Salicylsäure, Pormol, Saccharin etc.) bei der Konservirung der Nahrungs¬ mittel zu untersagen. Szigeti-Temesvar. Fall von Selbstausschneidung des Kehlkopfs. Eine Wahnsinnige vermochte es, sich den Kehlkopf auszuschneiden. Da die grossen Schlagadern unver¬ letzt blieben, lebte sie noch acht Stunden. Albert Bach-Neuwyork: Die Rehabilitirung des Zeug¬ nisses der ärztlichen Sachverständigen in Amerika. B. beklagt die Thatsache, dass es in Amerika keine ver¬ eidigten Sachverständigen giebt, dass vielmehr jede Partei ihren ärztlichen Berather hat. Gerichtliche Entscheidungen. Aas dem Reichs-Yersicherangsamt. Folgen eines komplizirten Schfidelbruches. Rek.-Entsch. vom 21. Juni 1900. Wilhelm H. aus B. bezog auf Grund eines im schiedsge¬ richtlichen Verfahren vom 17. Januar 1899 stattgehabten Ver¬ gleichs seit dem 1. September 1898 von der Fuhrwerks-Be¬ rufsgenossenschaft in Folge eines am 27. November 1897 durch Betriebsunfall erlittenen schweren Schädelbruchs 50 pCt. der Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit. Durch Bescheid der Berufsgenossenschaft vom 27. Oktober 1899 ist die Rente vom 1. November ab auf 25 pCt. der Vollrente herabgesetzt worden, weil nach dem Gutachten des Dr. Sch. vom 20. Oktober 1899 in den Verhältnissen des Rentenempfängers, welche für die Feststellung der Entschädigung massgebend gewesen sind, eine dementsprechende Aenderung eingetreten sei. Die Be¬ rufung des Klägers war von Erfolg nicht begleitet gewesen, nachdem der Bezirksphysikus Sanitätsrath Dr. L. ein Ober¬ gutachten erstattet hatte. Dr. L. hatte in seinem Gutachten u. A. Folgendes ausgeführt: H. hatte am 27. November 1897 durch Hufschlag einen komplizirten Schädelbruch erlitten. Bei der ersten Untersuchung klagte H. über Stiche im Kopfe, Schmerzen im Kinn, Schwindelgefühl und Gedankenlosigkeit. Es fand sich damals an krankhaften Erscheinungen eine druckempfindliche Narbe und starke Knocheneinsenkung, bezw. Furche am Schädel, Störungen des Gehens und Stehens, be¬ sonders Schwanken beim Augenschluss und eine gewisse Steif¬ heit des rechten Beines. Zur Zeit der zweiten Untersuchung im Februar 1900 klagte er, im Kopf habe er beständig Schmerzen und zwar namentlich, wenn er schwer hebe und bei jedem Schritt auf der Treppe. Ebenso schmerze ihn das rechte Knie beim Tragen von Lasten und beim Gehen weiter Wege stark, sogar im Bette, wenn er die Lage des Beines verändere. Manchmal lege es sich ihm wie ein Schleier über die Augen. Im Dunkeln könne er wegen Schwankungen nicht gehen. Sein Gedächtniss sei noch immer sehr schlecht. Die Gesichtsfarbe findet Dr. L. gesund, die Muskulatur ist straff, die Hände sind arbeitshart. Bei Druck auf die Narbe zuckt der Kranke zusammen und äussert Schmerz. Nach mehr¬ maligem Drücken giebt er an, starke Kopfschmerzen zurück¬ zubehalten. Der Puls ist kräftig und regelmässig. Der Gang ist noch vorsichtig, doch macht H. grosse Schritte, ohne auf den Weg zu sehen. Beim Stehen mit geschlossenen Augen schwankt er etwas; er macht den Eindruck eines beschränkten aber nicht geistig defekten Menschen. Das Krankheitsbild hat sich wesentlich gemildert. Die grössere Festigkeit des Ge¬ sundheitszustandes des Klägers geht auch daraus hervor, dass inzwischen zwei volle Jahre ohne Eintritt anderer, das Gehirn be¬ treffender Nachkrankheiten vergangen sind; auch die Schwindel¬ erscheinungen sind geringer geworden; er geht jetzt sicher und ohne mit den Augen am Boden zu haften. Er verdient jetzt bei zehnstündiger Arbeitszeit 18 M. in der Woche; ganz schwere Arbeit wird man ihm noch nicht zumuthen können. Da der Verletzte möglicher Weise bei dauernder Ausübung des Kutscherberufs noch Beschwerden bekommen könnte, und sich ganz schwerer Arbeit noch nicht zumuthen kann, ist er noch um 25pCt. in Folge des Unfalls vom 27. November 1897 erwerbsbeschräukt. Das Reichs - Versicherungsamt trug mit dem Schiedsgericht kein Bedenken, sich dem Gutachten des Bezirksphysikus Dr. L. anzuschliessen und machte geltend, nach diesem Gutachten ist in den Verhältnissen, welche für die Feststellung der Rente auf 50 pCt. der Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit massgebend gewesen sind, eine wesent¬ liche Veränderung insofern eingetreten sei, als die Zeichen der Gehirnrindenreizung geschwunden, die objektiven Schwindel¬ erscheinungen geringer geworden sind, und die inzwischen verflossene geraume Zeit dem Kläger die Gewähr bietet, dass er sich wieder stärkere körperliche Anstrengungen ohne Rück¬ schläge in seinem Befinden zumuthen kann. Mit Recht hat daher die Genossenschaft gemäss § 65 des Unfallversicherungs- gessetze die Rente von 50 auf 25 pCt. herabgesetzt. M. Grad der Erwerbsveraiinderung bei schwerer Verletzung der linken Hand. Rek.-Entsch. vom 18. Dezember 1899. Der Häuer Robert W. verunglückte am 7. Januar 1899 auf dem der Mansfeld’schen Gewerkschaft gehörenden Martins¬ schachte bei der Strebarbeit durch niedergehendes Gestein. Er zog sich eine Zermalmung bezw. Quetschung der linken Finger, eine Verwundung des rechten Ellenbogens und ver¬ schiedene Kontusionen am Kopfe zu. Auf Grund des ärztlichen Gutachtens sprach der Sektionsvorstand dem Verletzten nach Entlassung aus dem Krankenhause eine Rente von 40 pCt. zu. Die hiergegen eingelegten Rechtsmittel der Berufung uud des Rekurses hatten keinen Erfolg. Gründe: Die Folgen des dem Kläger am 7. Januar 1899 zuge- stossenen Unfalls bestehen in dem Fehlen des ganzen Mittel¬ fingers und eines Stücks des Endgliedes des vierten Fingers der linken Hand, in einer Herabsetzung der Beugefähigkeit der drei ausser dem Daumen noch vorhandenen Finger dieser Hand, in Folge deren der Zeigefinger 1 cm, der Kleinfinger 4 cm von der Hohlhand abbleibt, während der vierte Finger nur um die Hälfte gebeugt werden kann. Endlich ist in der Hohlhand eine von der Entfernung des Mittelhandknochens her¬ rührende eingezogene Narbe vorhanden. Sind diese Unfall¬ folgen auch von erheblichem Einfluss auf die Gebrauchsfähig¬ keit der Hand, so kommen sie doch dem Verlust der Hand auch nicht annähernd gleich. Vielmehr ist dem Kläger, wie das R.-V.-A. auf Grund des Augenscheins annimmt, noch ein erheblicher Theü der Gebrauchsfähigkeit verblieben. Mit Rück¬ sicht darauf, dass für den völligen Verlust der linken Hand nach der Rechtsprechung im Höchstfälle eine Rente von 60 pCt. derjenigen für völlige Erwerbsunfähigkeit gewährt wird, erscheint deshalb der Kläger durch eine der ärztlichen Schätzung entsprechende Rente von 40 pCt. als ausreichend entschädigt. (Compass.) Grad der Erwerbsverminderung bei schwerer Verletzung der rechten Hand. Rek.-Entsch. vom 1. Mai 1900. Der Bergmann K. A. bezog in Folge einer am 17. Okto¬ ber 1898 auf Grube Viktoria erlittenen Verletzung der rechten Digitized by Google 400 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 19. Hand seither die Vollrente. Der Sektionsvorstand hat diese Entschädigung vom 1. Dezember 1899 ab auf 2 / 3 der Vollrente ermässigt. Die hiergegen erhobenen Rechtsmittel der Berufung und des Rekurses wurden zurückgewiesen. Qründe: Die Folgen des dem Kläger am 17. Oktober 1898 zuge- stossenen Unfalls bestanden und bestehen noch jetzt in dem Verlust des kleinen Fingers der rechten Hand, und in Ver¬ steifung aller anderen Finger dieser Hand und des Handgelenks. Wenn die Beklagte für diese Schädigung zunächst die Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit gewährt hat, so lässt diese Rentenbemessung erkennen, dass dem Kläger Zeit gelassen werden sollte, sich an den veränderten Zustand zu gewöhnen und sich ihm hinsichtlich der Ausnutzung der verbliebenen Arbeitsfähigkeit anzupassen. Dies geht auch aus dem Gut¬ achten des Dr. K. vom 21. Juni 1899 hervor, in welchem aus¬ drücklich die Gewährung einer Gewöhnungsrente für drei Monate empfohlen ist. Diese Rente nach Ablauf eines ange¬ messenen Zeitraums, der von der Beklagten bis 1. Dezember 1899 bemessen ist, herabzusetzen und die neue Rente nun¬ mehr dem wirklich vorhandenen Zustande anzupassen, ist die Beklagte nach § 65 des Unfallversicherungsgesetzes berechtigt. Auch die Schätzung der durch die angegebenen Unfall¬ folgen bedingten Erwerbsunfähigkeit ist zutreffend. Denn, wenn die Brauchbarkeit der rechten Hand zur Arbeit auch ganz erheblich herabgesetzt ist, so kann doch nicht ange¬ nommen werden, dass sie für die Berufsthätigkeit völlig aus- scheidet. Der Kläger ist zweifellos in der Lage und wird bei seinem jugendlichen Alter dies mit der Zeit noch weiter lernen, die Hand, wenn auch in sehr beschränktem Masse, zu gebrauchen. (Compass.) Aus dem Bayerischen Landesversicherungsamt. Zusammenhang zwischen Tod an Tuberkulose und Unfall wird bejaht. In der Unfallversicherungssache des Holzhauers X. hat das k. Landesversicherungsamt in seiner öffentlichen Sitzung vom 11. Juli 1898 nach mündlicher Verhandlung zu Recht erkannt: Der am 30. September 1859 geborene Holzhauer X. erlitt am 17. Oktober 1896 im forstwirtschaftlichen Betriebe durch einen Baumast eine heftige Kontusion des rechten Oberarmes, welche dazu führte, dass ihm der ganze Arm exartikulirt werden musste, weil der ganze Knochen bis an das Schulter¬ gelenke erkrankt war. Diese Operation wurde am 19. Fe¬ bruar 1897 vorgenommen. Auf Grund der Gutachten des prakt. Arztes Dr. H., sowie des k. Kreismedizinalrathes Dr. Y., in denen X. als vollständig erwerbsunfähig erklärt wurde, ge¬ währte ihm die land- und forstwirtschaftliche Berufsgenossen¬ schaf t für den Regierungsbezirk Niederbayern die volle Unfallrente. Allein inzwischen war X. am 13. September 1897 mit Hinterlassung einer Wittwe und fünf minderjähriger Kinder an Knochenkaries und dadurch verursachtem Kräfteverfall ver¬ storben. X. war bereits im Anfänge des Jahres 1895 an Influenza mit Ausgang in chronische Pneumonie erkrankt. Später bil¬ deten sich am Rücken und rechten Oberschenkel grosse Ab¬ szesse, welche aber ausheilten, so dass er Anfangs 1896 ausser Behandlung kam und sich wider Vermuten so erholte, dass er im Sommer 1896 wieder zu arbeiten beginnen konnte. Nach¬ dem er bei dieser Arbeit die oben erwähnte Kontusion des rechten Oberarmes erlitten und die exarticulatio humeri statt¬ gefunden hatte, zeigten sich noch während der Ausheilung der Operationswunde am linken Oberschenkel Anschwellung und Schmerzhaftigkeit, es bildete sich Phlegmone und schliesslich nach Oeffnung die bei Knochenerkrankungen charakteristische Fistel mit mässiger Eiterabsonderung. Einige Wochen später zeigte es sich, dass der Prozess auch den rechten Oberschenkel ergriffen habe. Hier war der Verlauf von stürmischster Art. Mit Schüttelfrösten beginnend, unsägliche Schmerzen verur¬ sachend, kam es alsbald zur überreichen Eiterbildung und rapider Zerstörung des Knochens. Eine Amputation verbot sich von selbst; das hohe Fieber, die Schmerzen, der enorme Säfte¬ verlust, die Diarrhoe führten dann am 13. Semptember 1897 das Ende des X. herbei. Nach der Anschauung des prakt. Arztes Dr. H. handelte es sich bei X. um sogenannte multiple Ostermyelitis, die durch den Blutumlauf von dem einen kranken Knochen auf andere Knochen verbreitet worden sei. Solche Fälle seien zwar selten, gehörten aber zu den schlimmsten und führten meistens den gleichen traurigen Ausgang herbei. X. sei zweifellos schon vor dem Unfälle tuberkulös gewesen; der Prozess sei aber zum Stillstand gekommen und eine Art Ausheilung eingetreten ge¬ wesen, bis durch den Unfall ein Wiederaufblühen der Krank¬ heit herbeigeführt wurde. Die erlittene Kontusion und die damit verbundene Entzündung der betroffenen Theile sei eine Gelegenheitsursache für die Lokalisation einer Infektion ge¬ wesen, welche von der Blutbahn aus in die betreffende Knochen¬ stelle eindringend gedacht werden müsse und welche dann im weiteren Verlaufe auf die beiden Oberschenkelknochen über¬ tragen worden sei. Erst in Folge der Kontusion sei der bis¬ her latente Krankheitsprozess wieder akut geworden und des¬ halb sei der Tod des X., wenn auch nicht als direkte Folge des Unfalls, so doch als damit im Zusammenhänge stehend zu erachten und anzunehmen, dass der letale Ausgang früher ein¬ getreten sei, als dies sonst der Fall gewesen wäre. Dagegen spricht sich der k. Kreismedizinalrath Dr. Y. in einem Gutachten von 30. Dezember 1897 dahin aus, dass der Tod des X. nicht als die Folge der Verletzung, sondern als die des schon vorher bestandenen krankhaften Zustandes an¬ zusehen sei. Derselbe sei am 11. April 1897 als fast geheilt aus dem Krankenhause entlassen worden, die Operationswunde habe sich bis auf eine stecknadelgrosse Fistelöflfnung, — die Folge eines zurückgebliebenen Operationsfadens — geschlossen gehabt und damit seien die Unfallsfolgen beseitigt gewesen. Erst darnach hätten sich die Abszesse an beiden Schenkeln gebildet, die zur reichlichen Eiterung und schliesslich unter Schüttelfrösten, Diarrhoen, somit durch Pyämie zu seinem Tode geführt hätten. Wäre X. nicht schon vor dem Unfälle tuber¬ kulös gewesen, würden die späteren Erkrankungen an den beiden Oberschenkeln ausgeblieben sein. Auf Grund des letzteren Gutachtens wurde von dem Vor¬ stande der Berufsgenossenschaft mit Bescheid vom 31. Januar 1. J. der Anspruch der Wittwe Anna X. und des als Vormund für ihre fünf Kinder bestellten Bauers M. W. von D. an Ge¬ währung der Hinterbliebenenrente abgewiesen und diese Ab¬ weisung wurde vom Schiedsgerichte mit Entscheidung vom 4. Mai 1. J. bestätigt. Hiergegen legten die Wittwe und der Vormund rechtzeitig Rekurs zum k. Landesversicherungsamte ein, dessen Würdi¬ gung Folgendes ergeben hat: Der k. Kreismedizinalrath Dr. Y. geht bei Verneinung des ursächlichen Zusammenhanges des Todes des X. mit dem Un¬ fälle offenbar von der Annahme aus, dass der Tod die unmit¬ telbare Folge des Unfalls und der letztere die alleinige Ur¬ sache desselben gewesen sein muss, da er den Satz aufstellt, dass, wenn nicht X. schon vor dem Unfälle tuberkulös ge¬ wesen wäre, die späteren Erkrankungen an beiden Oberschen¬ keln nicht eingetreten sein würden. Allein diese Annahme ist eine irrthümliche und widerspricht der Rechtsprechung des Digitized by Google 1. Oktober 1900. Aerztliohe Sach verständigen-Zeitung. 401 Reichs- und k. Landesversicherungsamtes. Hiernach fallen vielmehr auch mittelbar, unter Mitwirkung hinzutretender un¬ günstiger Umstände sich entwickelnde Folgen den Trägern der Unfallversicherung zur Last, und genügt es, dass die bei dem Unfälle erlittene Verletzung eine von mehreren mitwirkenden Ursachen ist und als solche ins Gewicht fällt. Insbesondere besteht ein Anspruch auf Entschädigung auch dann, wenn wegen eines schon bestehenden Lungenleidens und insbeson¬ dere einer Tuberkulose die Folgen der Unfallsverletzung in wesentlich erhöhtem Grade schädigend wirken oder den Ein¬ tritt der Erwerbsunfähigkeit oder des früheren Todes erheblich beeinflusst haben. (Handbuch der Unfallversicherung II. Aufl., S. 147, Not. 2; Mitth. des k. Landesversicherungsamtes Jahrg. 1889, S. 89, Ziff. 59, Jahrg. 1892, 8.57, Ziffer 231, Jahrg. 1896, S. 112, Ziff. 622). Es kann deshalb nicht in Frage kommen, ob X. auch dann, wenn er sonst ganz gesund gewesen wäre, an der er¬ littenen Kontusion am rechten Oberarme gestorben sein würde, sondern es ist lediglich die Frage zu beantworten, ob der Tod wegen der Unfallsverletzung früher als sonst eingetreten ist, weil sie und die schon bestandene Tuberkulose miteinander die multiple Osteomyelitis und die Pyämie, an der er gestorben ist, verursacht haben. Diese Frage wird vom k. Kreismedizinalrath Dr. Y. gar nicht beantwortet, wohl aber von dem praktischen Arzt Dr. H. mit aller Bestimmtheit bejaht. Im gleichen Sinne hat sich auch Professor Dr. F. in B. in einem unterm 30. Juni 1897 an das R. V. A. erstatteten Gutachten (Amtliche Nachrichten Jahrg. 1898 Seite 340) aus¬ gesprochen und die Entwickelung einer latenten Lungen¬ tuberkulose zu einer manifesten als Folge einer aussergewöhn- lichen Muskelanstrengung erklärt. Dieses Obergutachten und die Autorität seines Ausstellers, sowie die Praxis des Reichs- und k. Landesversicherungs- amtes lassen es nicht als nothwendig erscheinen, noch ein weiteres Obergutachten einzuholen. Im Gegentheile gewinnt das k. Landesversicherungsamt aus dem wissenschaftlich ein¬ gehend begründeten und den thatsächlichen Vorgängen ent¬ sprechenden Gutachten des prakt. Arztes Dr. H. die volle Ueberzeugung, dass der Unfall vom 17. Oktober 1896 eine mitwirkende mittelbare Ursache des Todes des X. gewesen und dass dieser somit als Folge eines land- und forstwirt¬ schaftlichen Betriebsunfalls zu erachten sei. Ans dem Ober-Ter waltungsgericht. Das Prfidikat Hofarzt oder Hofzahnarzt darf ohne Genehmigung nicht geführt werden. Frl. R. bezeichnete sich auf einem Schilde an ihrem Hause als in Amerika approbirte Zahnärztin mit dem Zusatze Gross¬ herzoglich Mecklenburgische Hofzahnärztin. Thatsächlich hatte sie das zuletzt erwähnte Prädikat erhalten. Sie hatte jedoch nicht die Genehmigung erhalten, jenes Prädikat in Preussen zu führen. Insbesondere hatte sich der Kultusminister prin¬ zipiell gegen die nachgesuchte Genehmigung ausgesprochen. Es war dann gegen Frl. R. ein Strafverfahren wegen unbe¬ fugter Führung des Hofarzttitels anhängig gemacht worden, welches jedoch mit der Freisprechung der genannten Dame endigte. Diese suchte darauf nochmals beim Ministerium des Kgl. Hauses die Genehmigung zur Führung des Prädikats als Hofzahnärztin nach, wurde aber wieder abschlägig beschieden. Nunmehr untersagte ihr der Polizeipräsident, welcher sich vorher zu Gunsten der beregten Dame ausgesprochen hatte, das Prädikat Hofzahnärztin zu führen. Gegen diese Verfügung erhob Frl. R. Klage beim Bezirksausschuss, der indessen auf Zurückweisung des Rechtsmittels erkannte, da die Klägerin ohne Genehmigung des Landesherrn in Preussen sich das Prädikat Hofzahnärztin nicht beilegen dürfe. Diese Entschei¬ dung focht Frl. R. durch Berufung beim Oberverwaltungsgericht an, welches jedoch die Berufung abwies und ausführte, aus Gründen des öffentlichen Rechts darf in Preussen Niemand eine Auszeichnung wie z. B. das Prädikat Hofzahnärztin ohne landesherrliche Genehmigung führen. Es verstosse gegen die öffentliche Ordnung, wenn eine Person sich einer solchen Aus¬ zeichnung ohne die erforderliche Genehmigung bediene; ein Einschreiten der Polizeibehörde auf Grund X. 2. 17. A. L.-R. erscheine demnach gerechtfertigt. M. Bücherbesprechungen und Anzeigen. Emmert, Dr. Karl, o. ö. Professor der Staatsmedizin an der Universität Bern. Lehrbuch der gerichtlichen Medi¬ zin. Leipzig, Georg Thieme. 1900. 535 8. Preis broch. 14,— M., geh. 15,20 M. Von allen bisher vorliegenden Lehrbüchern der gericht¬ lichen Medizin zeichnet sich dieses dadurch aus, dass es ausser dem deutschen und österreichischen auch das Bernische Recht berücksichtigt. Obwohl an Umfang hinter den Werken von Hofmann und Strassmann zurückstehend, wird es doch auch den in der Gerichtsarzneikunde Bewanderten eine Fülle von Anregung bieten können, da ihm eine stattliche, zum grössten Theil bisher unveröffentlichte Kasuistik beigegeben ist, die der Verfasser in einem langen und erfahrungsreichen Wirken gesammelt hat. Klar und fliessend geschrieben macht es überall den Ein¬ druck des Eigenen, Ursprünglichen, Nicht-Epigonenhaften, wäh¬ rend doch wieder neben der persönlichen Erfahrung eine um¬ fassende Litteraturkenntniss, die auch dem Neuesten gerecht wird, unverkennbar ist. Seiner Verbreitung als Lehrbuch wird freilich in Deutsch¬ land mancherlei im Wege stehen. Schon die Heranziehung so vieler fremdländischer Gesetzesbestimmungen mag man¬ chem Lernenden als ein überflüssiger Ballast erscheinen. Eine Einzelheit, die erheblichen Abweichungen der Sektionstechnik von der Virchow’schen, im preussischen Regulativ niederge¬ legten, wird bei uns den Anfänger und besonders den Examens¬ kandidaten sehr stören. Die Gruppirung des Stoffes weicht im Allgemeinen nicht von der üblichen ab, nur bringt E. als dankenswerthe Zugabe zum Schluss einen Abschnitt: „Die ärztliche Praxis in foren¬ sischer Beziehung.“ Besonders liebevoll behandelt sind die Kapitel über die einzelnen Gifte. Es ist schade, dass gerade dieser Theil des Buches durch eine masslose persönliche Po¬ lemik gegen einen ebenbürtigen Fachgenossen verunziert ist. Verhältnissmässig am wenigsten konnten wir uns mit dem psychiatrischen Theil befreunden, der beispielsweise einen Ver¬ gleich mit Hofmann, selbst bei Berücksichtigung des geringen Umfangs nicht ausbält. Heimberger, Dr. Joseph, a. o. Professor d. R. in Strassburg. Strafrecht und Medizin. München 1899. C. H. Beck- sche Verlagsbuchhandlung. 65 ff. Preis 1,50 M. Schmidt, Dr. Richard, Professor d. R. in Freiburg. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes für verletzende Eingriffe. Jena 1900. Gustav Fischer. 60 Seiten. Preis 1,60 M. Vor längerer Zeit hatten wir Gelegenheit, eine Schrift von Carl St oos zu besprechen, die die strafrechtlichen Beziehungen ärztlicher Eingriffe zum Gegenstand hatte. Der Verfasser führte darin aus, dass ein in der Absicht zu heilen oder zu Digitized by Google 402 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 19. lindern unternommener Eingriff niemals eine „Misshandlung“ oder „vorsätzliche Gesundheitsbeschädigung“ sein könne und daher auch den Thatbestand der vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 R. St. G.) nicht erfülle. Diese Anschauung entspricht, wie nicht nur von uns, sondern auch sonst von ärztlicher Seite hervorgehoben worden ist (Angerer, Thiersch), den Be¬ dürfnissen der Praxis vollkommen. Mit Genugtuung ist es zu begrüssen, dass sich auch Heimberger auf denselben Standpunkt stellt. Für denjenigen, der sich in die intimere Begründung der von beiden Rechtsforschern vertretenen Grund¬ sätze vertiefen will, sei bemerkt, dass Heimberger zur Stütze derselben die früheren Gesetzgebungen der deutschen Einzelstaaten heranzieht. Etwas eingehender müssen wir auf die Schrift von Schmidt zurückkommen, da sie zu wesentlich andern Ergebnissen ge¬ langt. Schmidt ist mit den spezifisch juristischen Ausfüh¬ rungen seiner beiden erwähnten Vorgänger nicht einverstanden — es würde uns nicht anstehen, auf diesem Gebiete Kritik an seiner Schrift zu üben. Aber er hält auch praktisch jene Grundsätze für bedenklich, er meint, dass das Publikum zu wenig geschützt sei, wenn der gute Glaube des Arztes, dass er zum Nutzen des Kranken handle, den Thatbestand des § 223 ausschliesse. Wir haben vergeblich nach einer Begründung dieser Ansicht gesucht. Die Sätze von Stoos und Heim- berger richten sich in der offenkundigsten Weise nur da¬ gegen, dass der im guten Glauben behandelnde Arzt der vor¬ sätzlichen Körperverletzung geziehen werde. Wenn er aus Unkenntnis8, Ungeschicklichkeit oder Nachlässigkeit gegen seinen eigenen Willen den Kranken schädigt, so bleibt er keineswegs straflos, sondern wird, wie St. und H. nachdrück¬ lich betonen, wegen fahrlässiger Körperverletzung nach §230 Abs. 2 R. St. G. mit Geldstrafe bis zu 900 Mark oder mit Ge- fängniss bis zu 2 Jahren, und wenn durch die Fahrlässigkeit der Tod verursacht wird, mit Gefängniss bis zu 6 Jahren (§ 222 Abs. 2) bestraft. Dass in diesen Strafandrohungen kein genügender Schutz des Publikums liegt, wird Schmidt schwer¬ lich beweisen können. Schmidt versucht auf einem andern Wege, dem Arzte und dem Publikum gleichmässig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er begründet das Recht des Arztes zu Eingriffen als ein Seitenstück des Züchtigungsrechts der Eltern und Erzieher. Die Operation sei zwar eine Körperverletzung, auch im Sinne des Gesetzes, aber ein Strafausschliessungsgrund sei vorhanden, wenn der Eingriff nach den Regeln der Erfahrung einen nütz¬ lichen Erfolg erwarten lasse. Zu fordern sei dafür ein neuer Gesetzesparagraph, der hinter die §§ 53 und 54 von der Noth- wehr und dem Nothstande eingeschoben werden und ungefähr lauten müsse: Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Handlung durch die Nothwendigkeit ärztlicher Hilfe geboten war. U. s. w. Gegenwärtig dürfe man sich bereits auf ein in gleichem Sinne bestehendes Gewohnheitsrecht be¬ ziehen. Damit wird der Begriff der Erfahrung der Entscheidung zu Grunde gelegt. Mit anderen Worten, das herrschende Dogma ist massgeblich dafür, ob eine strafbare Handlung des Arztes angenommen wird oder nicht. Schmidt sucht das Odium, welches auf einer derartigen Bestimmung von vorn herein ruht, dadurch zu mildern, dass er für jeden Fall ein Sach- verständigen-Kollegium fordert, welches vom Richter nur da¬ nach zu fragen ist, ob die Behandlungsweise des Angeklagten medizinisch „möglich“ war. Er stellt uns auch in Aussicht, dass auf diese Weise eine Bekämpfung der gemeingefährlichen Formen des Kurpfuscherthums möglich sein wird. Aber es ist doch ein Danaergeschenk, das uns da gegeben werden soll. Wir leben in einer Zeit der Umwälzungen auf ärztlichem Gebiete. Beständig tauchen neue Behandlungs¬ methoden auf, die bei den ersten Versuchen oft abseits von jeglicher Erfahrung stehen, nur auf theoretischen Erwägungen und allenfalls auf Thierversuchen beruhen. Ein Beispiel möge erläutern, was dem Arzte, besonders wenn er Unglück bei seinen Versuchen hat, nach Schmidt’s Theorie bevorsteht. Vor mehreren Jahrzehnten soll ein berühmter Augenarzt im Rheinland die Idee gehabt haben, die Kurzsichtigkeit durch künstliche Staarbildung und nachträgliche Entfernung der Linse zu heilen. Andere Grössen auf dem Gebiete der Augen¬ heilkunde sollen ihm dringend und in den stärksten Ausdrücken davon abgerathen haben. Gesetzt den Fall nun, jener Dr. X. hätte trotz des Widerspruchs der herrschenden Meinung,* trotz des Mangels an vorhandenen Erfahrungen über diesen Punkt die Operation ausgeführt, dieselbe wäre missglückt, das Auge wäre erblindet — so hätte er nach Schmidt eine vor¬ sätzliche Körperverletzung begangen, die den Verlust des Seh¬ vermögens auf einem Auge zur Folge gehabt hätte. Er hätte mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder mit Gefängniss nicht unter einem Jahr bestraft werden müssen. Und doch wäre er der Bahnbrecher einer Operation gewesen, welche heute für unzählige Menschen segensreich ist. Derartige Beispiele liessen sich häufen. Aehnliches Missgeschick konnte der Ent¬ decker der Chloroformnarkose und viele Andern treffen. Sicher¬ lich ist es nicht richtig, sich bei solchen Fällen mit der Un¬ vollkommenheit alles geschriebenen Rechts zu trösten, sondern das Gesetz oder die Gesetzesauslegung, die solche Krassheiten begünstigt, ist im Allgemeinen unzweckmässig. Schmidt selbst hat versucht, die arge Lücke, die hier be¬ steht, auszufüllen. Er sagt: „Hält ein Arzt an einer durch die allgemeine Fachüberzeugung verworfenen Methode noch immer fest, oder steht er mit dem Glauben an eine neue, noch nicht rezipirte Methode mit Wenigen allein, so bleibt ihm für solche Fälle nichts anderes übrig, als sich der speziellen Einwilligung des Patienten zu versichern.“ Bezüglich dieser Einwilligung führt er am Schlüsse seiner Schrift aus, dass an und für sich sowohl nach theoretischen Erwägungen wie nach der herrschen¬ den Rechtsgepflogenheit nur solche Handlungen durch die Ein¬ willigung straflos werden, die bloss körperliches Unbehagen verursachen, nicht aber blutige Eingriffe, Operationen. Frei¬ lich meint er, dass es billig wäre, die äiztliche Behandlung Einwilligender günstiger zu beurtheilen, als andere Ver¬ letzungen Einwilligender; er empfiehlt zu diesem Zwecke eine besondere Klausel, etwa: „Eine Verantwortlichkeit des Arztes fällt weg, wenn zu der Behandlung der Kranke oder dessen Angehörige zugestimmt haben“. Aber diese Klausel besteht thatsächlich noch nicht. Und wenn sie bestände, würden die Interessen der Kranken durch sie sicherlich mehr geschädigt sein, als durch die von Stoos vertretene Anschauung. Denn uns scheint, dass die Schmidt’sehe Klausel das Hinter- thürchen sein würde, durch welches nicht bloss der Kurpfuscher, sondern auch der fahrlässig Behandelnde dem Strafrichter entschlüpfen könnte. Und ungeheuerlich würde es trotzdem bleiben, dass ein in der bisherigen ärztlichen Erfahrung noch nicht verzeichneter, aber thatsächlich segensreicher Eingriff bei einem Nichteinwilligenden als „gefährliche Körperver¬ letzung“ bestraft würde. Goldmann, Dr. Hugo F., Bergarzt der Kohlengewerkschaft in Brennberg bei Oedenburg. Die Ankylostomiasie, eine Berufskrankheit des Berg-, Ziegel-und Tunnel¬ arbeiters. Verlag von Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig. 1900. Preis M. 1,40. Die vorliegende populär-wissenschaftlich gehaltene Ab¬ handlung, deren lesenswerther Inhalt auf mehrjährigen eigenen Digitized by Google 1. Oktober 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 403 Erfahrungen des als Bergarzt thätigen Verfassers fusst, wird allen Aerzten, Beamten und Behörden, die sieh mit der Berg¬ werkhygiene zu befassen haben, willkommen sein. Sie giebt ein sehr anschauliches Bild von dem Wesen der erst in den beiden letzten Jahrzehnten in ihren Einzelheiten genauer durch¬ forschten Ankylostomiasis. In einer gut ausgeführten litho¬ graphischen Tafel werden die einzelnen Entwickelungsphasen des interessanten Parasiten bildlich dargestellt. Anhangsweise erörtert Verfasser die bisher noch nicht genügend aufgeklärte Frage, ob das Pferd als Vermittler bei der Verbreitung der Ankylostomiasis in Betracht kommt. Auch Verfasser kommt in Bezug auf diesen Punkt nicht zu einem abschliessenden Ur- theil, glaubt jedoch die Thatsache betonen zu müssen, dass der in Rede stehende Parasit im Pferdemist die günstigsten Bedingungen zu seiner Entwickelung findet, weshalb es unter allen Umständen angezeigt ist, für thunlichste Beseitigung der Pferdeexkremente aus den Gruben Sorge zu tragen. —y. Tagesgeschichte. Die Unterbringung der Deliranten in Krankenhäusern. In einer Mittelstadt Thüringens ist die Oberin des Städti¬ schen Krankenhauses wegen fahrlässiger Körperverletzung auf Grund folgenden Thatbestandes verurtheilt worden. Ins Krankenhaus wurde ein an Säuferwahnsinn Erkrankter zu einer Zeit eingeliefert, als der Anstaltsarzt nicht mehr zu¬ gegen war. Da der Kranke Milch zu sich nahm und sich waschen liess, so wird angenommen, dass seine Aufregung nicht allzu gross gewesen sein kann. Nichtsdestoweniger brachte ihn die Oberin auf eigene Faust in einer „Tobzelle“ unter, wo er ohne Bewachung blieb. Als ihn nach 19 Stunden der Arzt sah, fand er Verletzungen an dem Kranken und konstatirte ausserdem eine Lungenentzündung, der der Kranke bald erlag. Die Sachverständigen führten aus, dass es ein durchaus zu verurtheilender Gebrauch sei, Kranke, die der Arzt noch nicht gesehen habe, zu isoliren. Im vorliegenden Falle sei die Isolirung gar nicht nöthig gewesen. Erschwerend falle ins Gewicht, dass augenscheinlich die Zelle nicht genügende Ein¬ richtungen gehabt und dass der Kranke keine Wache erhal¬ ten habe. Wir registriren dieses Urtheil zunächst deswegen, weil nie oft genug hervorgehoben werden kann, dass von Rechtswegen ausschliesslich auf ärztliche Anordnung in jedem Einzelfalle isolirt werden darf. Aber darüber hinaus haben derartige Vorkommnisse noch eine weitere und grössere Bedeutung. Gesetzt den Fall, der Kranke wäre wirklich sehr erregt gewesen, und der Arzt selbst hätte seine Isolirung angeordnet — freilich wäre dann von keiner Seite eine Fahrlässigkeit begangen worden, aber ob das Schicksal des Kranken ein anderes gewesen wäre, das ist sehr zu bezweifeln. Denn es dürfte wenige allgemeine Kranken¬ häuser, besonders aus älteren Jahrzehnten, geben, in denen die sogenannten Tobzellen wirklich zweckmässig eingerichtet sind. Der Preussische Ministerialerlass vom 19. August 1895 fordert zwar in allen öffentlichen und in grossen und mittleren pri¬ vaten Krankenhäusern das Vorhandensein eines w geeigneten Raumes mit den erforderlichen Einrichtungen für die vorüber¬ gehende Unterbringung eines Geisteskranken“. Aber wie sehen vielfach diese Räume aus! In irgend einem abgelegenen Theil des Untergeschosses findet man sie, verbarrikadirt mit doppel¬ ten Thüren, vielleicht gar noch mit eisernen Läden versehen und in Folge dessen völlig dunkel. Sind das nun geeignete Räume? Offenbar nicht, denn sie sind einer geeigneten Ueber- wachung der Kranken durchaus hinderlich. Grade beim Säufer¬ wahnsinn tritt aber die Unzulänglichkeit solcher Einrichtungen am schärfsten hervor, weil kaum eine andere Geistesstörung so mannigfache Gefahren (Selbstbeschädigung, Erschöpfung, Lungenentzündung) bietet, Gefahren, deren schlimme Folgen nur durch eine genaue Ueberwachung verhütet werden können. Andererseits ist es für die Krankenhäuser ja auch eine recht schwierige Aufgabe, diese sehr unruhigen Elemente in geeigneten, leicht überwachbaren Räumen unterzubringen, ohne die Ruhe der anderen Kranken ernstlichen Störungen auszu¬ setzen, und das Aufstellen besonderer Wachen für die betr. Kranken kann ungemein grosse Schwierigkeiten haben, ganz abgesehen davon, dass die Krankenhäuser doch nicht über geübte Irrenpfleger verfügen. So stehen Deliranten und Krankenhäuser im Allgemeinen in unerquicklichster Wechselbeziehung. Wir möchten meinen, dass grade in Bezug auf die De¬ liriumskranken, aber auch in Bezug auf andre Geistesgestörte, der von uns vorhin erwähnte Passus im Erlass von 1895 theils zu weit gehend, theils auch wieder nicht ausreichend ist. Was fehlt, das ist eine schärfere Kennzeichnung der Anforde¬ rungen, die an Art und Einrichtung des erforderten Raumes zu stellen sind. Will ein Krankenhaus durchaus nicht darauf verzichten, solche Kranke aufzunehmen, so soll es dafür Isolir- zimmer schaffen, wie sie der heutige Stand der Wissenschaft erfordert: Helle, warme, gut zu überwachende und wirklich überwachte Räume. Aber es würde genügen, wenn jede grössere und mittlere Stadt eine derartige Einrichtung, etwa als Pavillon im Zusammenhang mit dem städtischen Krankenhause, hätte; den übrigen Krankenanstalten könnte die drückende Verpflich¬ tung wohl abgenommen werden. Die beste Lösung der Frage wäre, wenigstens für die Städte, in denen oder in deren Nähe eine Irrenanstalt sich be¬ findet, dass die Deliranten gleich dorthin gebracht würden. Hier und da herrscht eine Art von Tradition, als wären die dem Säuferwahnsinn Verfallenen keine richtigen Geisteskranken, gehörten nicht in die Irrenanstalt und könnten eben so gut in einer beliebigen Sicherungszelle untergebracht werden. Nichts kann falscher sein als das. Ja wir vermuthen fast, dass die hohe Sterblichkeitsziffer dieser Kranken zum Theil auf diesem Behandlungsprinzip beruht. Muss die Krankenkasse die durch eine Schieioperation entstandenen Krankenhauskosten tragen? In einem von der D. Med. Pr. mitgetheilten Falle hat in Oesterreich das Ministerium die obige Frage bejaht, und zwar mit einer sophistisch scharfsinnigen Begründung: Ein Ge¬ brechen wie das Schielen sei ja an und für sich keine Krank¬ heit. Aber durch die Schieioperation sei bei dem betr. Kassen¬ mitglied ein wirklicher Krankheitszustand hervorgerufen worden, und für die durch diesen bedingten Kosten müsse die Kasse aufkommen. Unerheblich sei der Einwand, dass der Operirte ja seine Krankheit selbst herbeigeführt habe: denn die Unter¬ stützungspflicht der Kasse falle selbst dann nicht weg, wenn die Krankheit durch ein doloses Vergehen verschuldet sei, während im vorliegenden Fall der Wunsch operirt zu werden ein an sich berechtigter sei. Krebs-Statistik. Die Medizinalabtheilung des Kultusministeriums versendet an die preussischen Aerzte ein Schreiben des Komitees für Krebsforschung, das sich im Februar d. J. gebildet hat, worin die Aerzte aufgefordert werden, bei einer Zählung der Krebskranken im Deutschen Reiche mitzuwirken. Um umfassenderes und sicheres Material für die Beurtheilung der die Verbreitung des Krebses betreffenden Fragen Digitized by Google 404 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 19. (s. S. 115) zu gewinnen, sollen die Krebskranken im Deutschen Reiche an einem und demselben Tage (gewählt ist der 15. Oktober d. J.) gezählt werden. Verwandt wird für die Auf¬ nahme ein Fragekarton, der Folgendes enthält: Anfangsbuch¬ staben des Vor- und Familiennamens des Kranken, Alter, Be¬ ruf, Familienstand des Kranken, die Zeit, wann die ersten Zeichen der Krankheit aufgetreten, die Zeichen, auf welche die Annahme, dass Krebs vorliegt, sich stützt, das Organ, das zu¬ erst befallen wurde und welche später erkrankten, Angaben darüber, ob Krebskrankheiten bei Voreltern oder Verwandten festgestellt wurden, ob Krebskrankheiten in derselben Woh¬ nung, im selben Hause oder in der Nachbarschaft festgestellt wurden, ob eine Ansteckung oder sonstige Uebertragung anzu¬ nehmen ist, ob der Kranke Trinker ist oder einen Unfall er¬ litten hatte, und wo der Kranke in den letzten fünf Jahren wohnte. Sehr zweckmässig werden die Aerzte in dem An¬ schreiben gebeten, nur „das ihnen sicher bekannte* anzugeben. Die ausgefüllten Fragebogen sollen bis zum 1. November d. J. an die Medizinalabtheilung des Kultusministeriums eingesandt werden. Zur Pestgefahr. Um gegenüber der Pest, die in letzter Zeit besorgniss¬ erregende Fortschritte macht, nichts zu versäumen, sollen der „Kreuz-Ztg.* zufolge die zu ihrer Bekämpfung erforderlichen Ausführungsvorschriften des Gesetzes vom 30. Juni 1900 schon jetzt, wenn auch nur in vorläufiger Weise, erlassen werden. Nachdem vom kaiserlichen Gesundheitsamte schon im Vorjahr Vorschriften über die zur Abwehr der Pest geeigneten Mass¬ nahmen auf Grund von Sachverständigenberathungen ausge¬ arbeitet und den Bundesregierungen mitgetheilt waren, sind diese Bestimmungen nunmehr unter Anpassung an das inzwischen ergangene Gesetz, betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten, umgearbeitet und dem Bundesrath zur Zustimmung vorgelegt worden. In den Ausführungsbestimmungen ist u. A. für Personen, die sich kürzlich in einem von der Pest heim¬ gesuchten Ort aufgehalten haben, eine von einem beamteten Arzt zu beme8sende, aber nicht länger als 10 Tage seit dem letzten Tage ihrer Anwesenheit am Pestort dauernde Be¬ obachtung in schonender Form vorgesehen. An der Pest erkrankte oder krankheitsverdächtige Personen sind zu isoliren, insoweit nicht der beamtete Arzt eine einfachere Beobachtungs¬ art für ausreichend hält. Die Absonderung verdächtiger Per¬ sonen darf nur auf höchstens 10 Tage angeordnet werden; alle Insassen eines Hauses, in dem ein Pestfall vorgekommen ist, sind — erforderlichenfalls durch Absonderung — einer Beob¬ achtung zu unterwerfen und Wohnungen, in denen sich Pest¬ kranke befinden, kenntlich zu machen. Veranstaltungen, die grössere Menschenansammlungen mit sich bringen, sind an Pestorten zu unterlassen, Verkaufsstellen in Pesthäusern zu schliessen und Gegenstände, durch die die Krankheit weiter¬ verbreitet werden könnte, zu desinfiziren beziehentlich vom Verkehr auszuschliessen. Einfuhrverbote gegen inländische Pestorte sind nicht zulässig. Weitere Vorschriften regeln die Desinfektion der Pesthäuser und die Vertilgung von Ratten, Mäusen und sonstigem Ungeziefer, das als Pestträger gelten muss; endlich sind genaue Vorschriften über die Sektion und Beerdigung der an der Pest etwa Verstorbenen vorgesehen. Als Anlagen sind den Ausführungsbestimmungen Desinfektions¬ anweisungen, ein Entwurf von Vorschriften über die Arbeiten und den Verkehr mit Pesterregern, Grundsätze für Massnahmen im Eisenbahnverkehr zu Pestzeiten, sowie Grundsätze, die bei der Bekämpfung der Pest zu beobachten sind, beigefügt. (National-Zeitung.) Das Frauenstudium. In Oesterreich sind nunmehr die Frauen unter den gleichen Bedingungen wie die Männer zum Studium der Medizin und zu dem der Pharmazie zugelassen. Für den selbständigen Be¬ trieb einer Apotheke bedürfen sie der besonderen Genehmigung des Ministers. Internationales Arzneibuch. Eine schon vor langer Zeit angeregte Idee, die Schaffung eines internationalen Arzneibuches wird seit kurzem von neuem betrieben. Die belgische Staatsregierung ist es, die den Anlass zur Wiederaufnahme des alten Planes gegeben hat. Um die günstige Gelegenheit, die sich dadurch für die Verwirklichung eines langjährigen Wunsches der Pharmazeuten bietet, auszunützen, sind auf dem internationalen pharmazeuti¬ schen Kongresse in Paris auf die Anregung des Prof. T s c h i r ch (Bern) folgende Grundsätze festgelegt worden: 1. Die geplante Konferenz zur einheitlichen Gestaltung der stark wirkenden Präparate hat nur dann einen Zweck, wenn wenigstens die haupt¬ sächlich an der Sache interessirten Staaten (Belgien, Deutsch¬ land, Frankreich, England, Oesterreich,Russland und dieSchweiz) und womöglich auch die übrigen Staaten durch mindestens zwei von ihren Regierungen abgesandte Delegirte vertreten sind, die Regierungen wenigstens der Hauptstaaten also von vornherein mit solcher Einigung einverstanden und gewillt sind, in die Sache einzutreten. 2. Die Konferenz wird nur dann zum Ziele führen, wenn ein genaues Arbeitsprogramm im Vor¬ aus ausgearbeitet wird und die leitenden Grundsätze, sowie die ins einzelne gebenden Vorschläge der belgischen Regierung für diese Einigung vor der Konferenz nicht nur den Medizinal¬ verwaltungen der Staaten, die sich zur Beschickung der Kon¬ ferenz bereit erklärt haben, sondern auch deren Ansichten ein¬ geholt wird. 3. Zu der Konferenz sind auch je ein Vertreter der Akademien der Medizin und der pharmazeutischen Gesell¬ schaften der betheiligten Länder einzuladen, und es erscheint wünschenswert!), dass der Gegenstand auch im Schosse dieser Körperschaften vorberathen wird. 4. Nur eine sorgfältig durch die einladende Regierung vorbereitete Konferenz von beglau¬ bigten Delegirten der Regierungen einerseits und der pharma¬ zeutischen Körperschaften andrerseits, nicht ein beliebig zu¬ sammengesetzter, ungenügend vorbereiteter pharmazeutischer Kongress kann das Ziel erreichen, dessen Erreichung von allen betheiligten Kreisen auf das lebhafteste gewünscht wird. (Allg. Med.-Centr.-Z.) Gegen die Zuziehung von Kurpfuschern bei Unfällen. Unter diesem Titel bringt das Organ der Knappschafts- berufsgenossenschaft folgende kurze, aber inhaltsschwere Mit¬ theilung. Zur Kenntniss der Berufsgenossenschaften ist es mehrfach gelangt, dass Personen, die in dem Rufe von Kur¬ pfuschern stehen, sich auffällig und unter allerhand falschen Vorspiegelungen darum bemüht haben, die Behandlung Unfall¬ verletzter zu übernehmen, was ihnen auch verschiedentlich ge¬ lungen ist. Da in allen diesen Fällen die Heilerfolge fast negativ gewesen sind, ist angeordnet worden, dass solche Personen unter keinen Umständen, auch wenn sie eine bedeutende Privatkundschaft haben sollten, für die Zwecke der Unfallver¬ sicherung bei Unglücksfällen herangezogen werden dürfen. — Es freut uns, dass die Herren Pfuscher Gelegenheit gehabt haben, ihren Werth einmal unter Verhältnissen zu demonstriren, die ihnen die Ausübung ihrer beliebten Suggestionswirkungen einigermassen erschwerten. Da ist dann von der Ueberlegen- heit über die Schulmedizin nichts mehr zu merken. Verantwortlich für den Inhalt: Dr. F. Leppmann in Berlin. — Verlag und Bigenthum von Richard fichoetn in Berlin. — Druck von Albert Damcke, Berlln-8ch0neberf. Digitized by * Google Die „A*r*tlich* SxehTerftEudigen-Zultung“ enoheint monatlich iwelmiL Dleaolbe lat an boalehen durch den Bachhandel, die Poet (No* 86) oder durch die Verlagsbuchhandlung ron Biohard Sohoets, Berlin NW., Laitenatr. 86, inm Preise ▼on Mk. 6.— pro Vierteljahr« Aerztliche Alle Manoekrlpte, Mittheilungen und redaktionellen Anfragen beliebe man an «enden an Dr. F. Leppmann, Berlin W n KnrfQratenatr« No. 8. Korrekturen, Rezension*-Exemplare, SonderabdrUoke an die Verlagsbuchhandlung, Inserate und Beilagen an die Annoncen-Kxpedltiun von Rudolf Moese. Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene nnd Unfall-Heilkunde. Herausgegeben ▼OB Dr. L. Becker Dr. A. Leppmann Dr. F. Leppmann Geh. fianltKtsrath, Könlgl. Phjsikue, Vertrauensarzt Sanitltsrath, Königlicher Physlku«, Arzt der Beobachtnngianstalt för geistes- prakt. Arzt, ron Bernftgenoeaenaohaften und Schiedsgerichten. kranke Gefangene in Moabit-Berlin, Spezialarzt für Herren, u. Geisteskranke. P Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstraase 36. VI. Jahrgang 1900. M 20. Ansgegeben am 15. Oktober. Inhalt: Originalton : Bähr, Chronische Bleivergiftung und Unfall. S. 405. Lennhoff, Ueber die Beziehungen zwischen Unfall und Diabetes mellitus. S. 406. Marcinowski, Epileptisches Irresein nach Trauma. Diebstahl im Dämmerzustände. 8. 408. Referate: Allgemeines. Dünschmannn, Diagnose des Hungertodes. S. 411. Ko ekel, Darstellung der Spuren von Messerscharten. S. 411. MÖnkemÖller und Kaplan, Methode zur Fixiruug der Fuss- spuren. 8. 411. Bauer, Verletzung durch einen Prellschuss ohne Beschädigung der unmittelbar über der Verletzung befindlichen Kleider. S. 411. Chirurgie. Sudeck, Ueber den schnellenden Finger. S. 412. Tietze, Subakute Zellengewebsentzündungen. S. 412. Salomon, Völlige Wiederanheilung des durch ein schneidendes Instrument gänzlich vom Mittelglied abgetrennten Endgliedes des Daumens. 8. 412. Schuchard, Subcutane Knochenbrüche. S. 412. Heidonhain, Tragfähige Amputationsstümpfe. S. 413. Klapp, Gelenkorgüsse mit heisser Luft. S. 413. Innere Medizin. Arnold, Croup in Württemberg. S. 413. Hei mann, Verbreitung der Zuckerkrankheit. S. 414. Williamson, Blut-Reaction bei Zuckerkrankheit. S. 414. Neurologie und Psychiatrie. Schultze Epileptische Aequlvalente. S. 414. Burgl, Reise im epileptischen Dämmerzustände. S. 415. Salomonson, Tromoparalysis tabioformis. S. 415. Ohrenheilkunde. Bezold, Analyse dos Rinne’schen Versuches. S. 416. vonGaessler, Betheiligung des Mittelohres bei Scarlatina. S.416. Bur nett, Zorreissung der Ohrmuschel. S. 416. Hygiene. Nussbaum, Rauchbelästigung in deutschen Städten. S. 416. Walter, Hygienische Bedeutung der Benützung von Wasser¬ gas. S. 417. Roeselor, Gefahren der Acetylenbeleuchtung. S. 417. Aut Vereinen und Versammlungen. XVI. Hauptversammlung des Preussischen Medizinal beamten-Vereins. (Versammlungs¬ bericht.) S. 418. Gerichtliche Entscheidungen: Aus dem Reichs-Versicherungs-Amt: Verweigerte Krankenhausbehandlung. — Dor ursächliche Zu¬ sammenhang zwischen Unfall und Tod liegt nicht nur dann vor, wenn der Unfall die unmittelbare Ursache des Todes ist, sondern auch dann, wenn dieser sieh als die mittelbare Folge des Un. falls darstellt. S. 421. Aus dem Oberlandes-Gerieht Rostock. Delirium und Trunk¬ sucht bei Versicherung auf Todesfall. S. 422. BOoherbesprechungen: Rothschild, Der Sternalwinke! (Angulus Lu- dovici) in anatomischer, physiologischer und pathologischer Hin¬ sicht. — Guttstadt, Prof. Dr. A., Krankenhauslexikon für das Deutsche Reich. S. 423. Tagesgeschlohte: Die Stempelpflichtigkeit des Titels Sanitätsrath. — Unterbringung und Zurückbehaltung von Geisteskranken in Irren- anstalteu. — Vorträge über Geschlechtskrankheiten. — Bestrafte Rentenerschleichungen. — Die Deutsche Gesellschaft für Volks¬ bäder. S. 423. Aus dem Rekonvaleszentenhaus Hannover. Chronische Bleivergiftung und Unfall. Von Dr. Ferd. Bfihr. Am schwierigsten ist in der Unfallpraxis die Beurtheilung derjenigen Fälle, in welchen es sich um den Einfluss des Un¬ falles auf einen bestehenden, aber latenten Krankheitszustand handelt. Hierin kann unser positives Wissen nur durch die Mittheilung geeigneter kasuistischer Beobachtungen gefördert werden. In dieser Absicht sei auch die nachfolgende Kranken¬ geschichte mitgetheilt. Der Wächter W. S. von Clausthal, 45 Jahre alt, wurde am 23. August bei uns aufgenommen. Die Anamnese ergiebt, dass S. früher Hüttenarbeiter war, dass er anfangs der neunziger Jahre an chronischer Bleivergiftung erkrankte mit Erbrechen, Kolik und Lähmung beider Hände. Er hat mit dieser Er¬ krankung etwa acht Jahre zu thun gehabt und will in den letzten zwei Jahren keinerlei diesbezügliche Erscheinungen mehr gehabt haben. Am 6. November 1899 fällt S. in eine Grube und zieht sich dabei einen Bruch des linken Vorderarmes in der Nähe des Handgelenks zu. Er wird an dieser Verletzung und deren Folgen bis in den Sommer dieses Jahres behandelt. Der be¬ handelnde Arzt schreibt unter Anderem in einem Bericht vom 19. April 1900, dass sich wohl die Beweglichkeit der Hand gebessert habe, dass indess in letzter Zeit sich eine „rheuma¬ tische Affektion* 1 des Handgelenks eingestellt habe und dass in Folge dessen der S. immer noch um 50 Prozent in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt sei. Am 1. August 1900 wurde S. im Aufträge der Berufsgeuossenschaft von einem weiteren Arzte untersucht, der zu dem Schlüsse kam, dass S. wahr¬ scheinlich der Simulation oder starken Uebertreibung sehr ver¬ dächtig sei. Es war hier ausgeführt, dass S. den passiven Bewegungen sehr energisch Widerstand entgegensetzte, dass er bei den leisesten Bewegungen stöhnte und ächzte und sich geberdete, als wenn er die wahnsinnigsten Schmerzen hätte. Zur Feststellung der Simulation resp. der Uebertreibung wurde er uns überwiesen. Hervorgehoben muss werden, dass S. bei der Aufnahme, wie so oft, unter Alkoholwirkung stand und deshalb uns erst recht, insbesondere auf Grund des Vorausgegangenen, den Ein¬ druck der grenzenlosen Uebertreibung machte. Er giebt an, dass das linke Handgelenk von Zeit zu Zeit dick anschwelle, das Handgelenk sei steif, bei Bewegungen knarre das Gelenk, Digitized by AjOOQle 406 Aerztliche 8 ach verständigen-Zeitung. No. 20« er habe beständig Schmerzen im Handgelenk. Bisweilen strahlen dieselben vom Oberarm nach der Hand hin ans. Die ganze knöcherne Handgelenkgegend links ist sichtbar verdickt, in Sonderheit das untere Ende des Radius und der Ulna. Ausserdem ist der dorsovolare Durchmesser der Hand¬ wurzel vergrössert. Die ganze Handgelenkgegend ist angeb¬ lich schon bei leiser Palpation schmerzempfindlich. Eine wesent¬ liche Weichtheilschwellung ist nicht vorhanden; ebenso erscheint die Beschaffenheit der Haut normal. Die Dorsalflektion der Hand zeigt l / 4 Ausfall; Palmarflexion ist nur andeutungsweise aus einer Beugestellung von 15 Grad möglich, in der bei Ruhe die Hand gehalten wird. Der Vorderarm steht in Pronations- Horizontalstellung, weitere Pronation ist unmöglich, Supination bis zur Vertikalstellung der Hand ausführbar. Die Streckung der Finger ist normal. Beim aktiven Faustschluss bleiben die Fingerspitzen noch 5,5 cm von der Handflächenmitte entfernt, passiv können Klein-, Gold- und Mittelfinger leicht zur Be¬ rührung, der Zeigefinger bis auf 4 cm genähert werden. (Diese Beschränkung des Zeigefingers ist auf eine frühere Verletzung zurückzuführen.) Dabei äussert S., trotzdem der Faustschluss passiv mit grösster Leichtigkeit gelingt, die grössten, fast un¬ normalen Schmerzen. Die Beweglichkeit des Daumens ist um Y 3 eingeschränkt. Der Vorderarmumfang misst links 26,2 zu rechts 26,4 cm. Die Sensibilität ist nicht nachweisbar verändert. An den Zähnen Bleisaum, bei ausgestreckten Armen Tre¬ mor, im Uebrigen keine manifesten Erscheinungen einer Blei¬ intoxikation. In der Folge war besonders auffallend das verschiedene Verhalten der Schmerzhaftigkeit der Hand, sodass sogar voll¬ ständig freie Intervalle angegeben wurden. In diesen war die Beweglichkeit des Handgelenks und der Finger so gut wie gar- nicht behindert. Die Schmerzanfälle wurden als ein krampf¬ artiges Gefühl bezeichnet, das theils im Handgelenk seinen Sitz hatte, theils aber auch in den Flexoren des Unterarmes. Dabei war die Hand meist in Volarflexion gezogen. Diese „Anfälle“ dauerten in der Regel einige Tage, um dann ebenso vorübergehend einem völligen Wohlbefinden Platz zu machen. Erst das Typische in diesen Anfällen legte den Gedanken nahe, dass es sich hier um die Konsequenz der Bleiintoxikation handelte, dass wir es mit einer Arthralgia saturnina zu thun hatten, auf deren Symptomatologie ich hier nicht des Näheren einzugehen brauche. Da im Uebrigen keine Intoxi¬ kationserscheinungen nachweisbar waren, und die Arthralgie sich lediglich auf das durch den Unfall betroffene Gelenk und dessen Umgebung lokalisirte, so habe ich es nicht zweifelhaft gelassen, dass in diesem Falle durch den Unfall die Bleiintoxi¬ kation wieder in Wirkung trat. Wenn man von einer Lokali¬ sation der Bleiwirkung selbst reden darf, so wäre es ja denk¬ bar, dass unter den veränderten lokalen Cirkulationsbedingungen, wie sie ein derartiges Trauma immer mit sich bringt, das Handgelenk in besonderem Maasse der schädlichen Wirkung des Giftes ausgesetzt wurde. So wäre es wohl der Mühe werth, wenn Aerzte in Distrikten, wo gewerbliche Bleierkrankungen häufig sind, ihre Aufmerksamkeit auf die Beeinflussung der Unfallsfolgen durch eine etwa bestehende Bleiintoxikation und umgekehrt richten würden. Wenn schliesslich im vorliegenden Falle der Zufall eines Zusammentreffens von Unfallsfolgen und Bleiintoxikationserscheinungen einwandfrei ausgeschlossen wäre, wenn analoge Fälle den hier angenommenen Zusammenhang erhärten würden, so würde damit in der vielumstrittenen Frage, wie die Arthralgie zu Stande kommt, meiner Ansicht nach der Schluss nahegelegt werden, dass es sich um die lokale Wirkung des Bleies handelt. Aus der Poliklinik für innere Krankheiten des Herrn Prof. Dr. Litten-Berlin. Ueber die Beziehungen zwischen Unfall und Diabetes mellitus. Von Dr. Rudolf Lennhoff, Assistent der Poliklinik. Lange Zeit, bevor die Unfallversicherungs Gesetzgebung die Aerzte nöthigte, dem ursächlichen Zusammenhang zwischen Krankheiten und Verletzungen erhöhte Aufmerksamkeit zu¬ zuwenden, war durch Claude Bernard's Zuckerstich die Möglichkeit einer traumatischen Entstehung von Diabetes mellitus erwiesen. In der Folge-Zeit wurde festgestellt, dass auch Verletzungen anderer Stellen des Gehirns, als des Bodens des IV. Ventrikels Zuckerharnruhr veranlassen können, sowie Verletzungen der Leber, des Pankreas, verschiedener Nerven- stämme, ferner schwere Erschütterungen des ganzen Körpers, wie auch starke psychische Erregungen. Nichts destoweniger bietet die Begutachtung im Einzelfalle meist erhebliche Schwierigkeiten dar. Versucht man im gegebenen Falle aus der Literatur Aufklärung zu erhalten, so findet man, dass die Zahl der mitgetheilten gänzlich einwandsfreien Fälle eine ausserordentlich geringe ist. Selbst die ausgezeichneten neusten Bearbeitungen des Diabetes mellitus, so die von v. Noorden und Naunyn, wie auch das bezügliche, sehr ein¬ gehend behandelte Kapitel in dem Handbuch von Stern, ver¬ mögen, was die Art der mitgetheilten Fälle anbetrifft, dem Gutachter nur geringe Aufklärung zu geben. Handelt es sich um schwere Verletzungen, so tritt meist der neben den übrigen Folgeerscheinungen beobachtete Diabetes als aus¬ schlaggebende Störung in den Hintergrund, bildet aber die hauptsächlich durch Zuckerharnruhr bedingte Berufsstörung die Grundlage der Begutachtung, so ist es nur selten möglich, mit Sicherheit nachzuweisen, dass die in Frage stehende Ver¬ letzung die Ursache der Erkrankung abgegeben hat. Gerade die ätiologisch klarsten Fälle kommen für den Gutachter am wenigsten in Betracht, da die wesentliche gemeinschaftliche Eigentümlichkeit dieser Fälle darin besteht, dass die Zucker¬ ausscheidung meistens sehr bald nachlässt und verschwindet. Diese Tbatsache ist nur geeignet, die Schwierigkeit bei chronischem Diabetes noch zu erhöhen. Es kommt hinzu, dass nur ausnahmsweise des Fehlen von Zuckerausscheidung innerhalb einer angemessenen Zeit vor dem Unfälle mit Sicherheit nachgewiesen werden kann. Die Schwierigkeit wird noch grösser, wenn erst längere Zeit nach dem Unfälle der Urin zum ersten Male auf Zucker untersucht wurde, so dass dann die Möglichkeit offen bleibt, dass erst später und un¬ abhängig von dem Unfall der Diabetes entstanden ist Die Forderung von Stern ist daher nachdrücklichst zu unterstützen, dass möglichst bald nach jedem Unfall eine Urinuntersuchung vorgenommen wird. Auch die Begutachtung derjenigen Fälle macht häufig grosse Schwierigkeiten, bei denen der Unfall einen bestehenden Diabetes verschlimmert haben soll. Dieser Stand der Dinge veranlasst mich, einen Fall mit- zutheilen, welcher vor Kurzem der Begutachtung des Herrn Prof. Litten unterlag. Ein städtischer Wassermesser-Kontroleur glitt am 13. De¬ zember 1899 beim Verlassen eines Hauses, nach Ausübung einer dienstlichen Handlung aus und kam zu Fall. Er klagte sofort über grosse Schmerzen im linken Hoden, war aber noch im Stande, sein Bureau aufzusuchen. Nach vier Stunden kam er nach Hause und legte sich sofort zu Bett. Am nächsten Vormittag begab er sich in eine Poliklinik, m Digitized by Google 15. Oktober 1900. Aerztliohe Saohverständigen-Zeitung. 407 welcher starke Schmerzhaftigkeit und eine pflaumengrosse Geschwulst des linken Hoden festgestellt wurde. Nach An wendung der verordneten Mittel liessen die Beschwerden am Hoden im Laufe des Tages nach, dagegen traten Nachts also vom 14. zum 15. Dezember, Magenschmerzen und Er¬ brechen auf, so dass ein Arzt ins Haus gerufen werden musste. Dieser ordnete am 21., weil die Beschwerden ständig zuge¬ nommen hatten, die Ueberführung in das Krankenhaus am Friedrichshain an. Im Krankenhause langte der Patient in comatösem Zustande an, im Urin wurde das Vorhandensein von 3 Prozent Zucker und geringen Mengen Eiweiss nach¬ gewiesen, ausserdem wurde eine nicht sehr ausgedehnte Tuberkulose der Lungen diagnostizirt. Das Krankheitsbild wurde vom Coma diabeticum beherrscht, die charakteristischen Zeichen desselben nahmen zu, und am 23. Dezember Mittags trat im Coma der Tod ein. Die Sektion bestätigte die Diagnose in allen Theilen, ohne Neues zu Tage zu fordern. Die genaue ärztliche Beobachtung dieses Falles gestattete mit Sicherheit den Schluss, dass der Verletzte im Coma dia¬ beticum gestorben war, ohne das Bestehen des Diabetes hätte ihn also diese Todesart nicht treffen können. Somit blieben für die Begutachtung die zwei präzisen Fragen 1. steht der am 23. Dezember erfolgte Tod mit dem Unfall vom 13. Dezember in ursächlichem Zusammenhang, d. h. ist die Zuckerharnruhr durch diesen Unfall hervor¬ gerufen worden, oder 2. erscheint die Annahme ausreichend begründet, dass der Unfall ein bereits vorhandenes Leiden wesentlich ver¬ schlimmert und dadurch das Ableben des Verletzten früher herbeigeführt hat, als es sonst zu erwarten gewesen wäre? Die Frage zu 1 wäre sofort im negativen Sinne erledigt gewesen, wenn der Nachweis von einem Vorherbestehen des Diabetes zu führen gewesen wäre. Aus der Anamnese ergab sich aber hierfür keinerlei Anhalt. Von früheren Krankheiten konnte mit Bestimmtheit nur ermittelt werden, dass der Ver¬ letzte im März 1899, also etwa 9 Monate vor dem Unfall, in der chirurgischen Universitätsklinik wegen einer Mastdarm¬ fistel operirt worden war. Insbesondere erinnerten sich die Hinterbliebenen nicht, dass er jemals über Beschwerden, die auf das Bestehen von Diabetes hindeuteten, geklagt hätte; er hatte in der Zwischenzeit keine Veranlassung gehabt, einen Arzt zu Rathe zu ziehen, und seinen Berufspflichten hatte er bis zum Unfall durchaus nachkommen können. Ueberdies ergab eine Anfrage in der chirurgischen Universitätsklinik, dass über den Befund von Zucker im Ham in der Kranken¬ geschichte vom März 1899 nichts verzeichnet stand. Es war also zu erwägen, ob diese Thatsachen genügten, mit Bestimmtheit das Vorherbestehen von Zuckerharnruhr zu verneinen, und ob wissenschaftliche Beobachtungen die An¬ nahme gestatten, dass in Folge des Unfalles die innerhalb 10 Tagen zum Tode führende Erkrankung entstanden wäre. Mangels jeden Beweises für das Vorherbestehen des Diabetes ist man, zumal bei einer Unfallbegutachtung, berechtigt anzu¬ nehmen, dass die Krankheit vordem nicht vorhanden war; durchblickt man die in der Literatur niedergelegten Fälle von angeblich traumatischem Diabetes, so wird man finden, dass vielfach mit viel weniger Berechtigung, als in dem vorliegenden Falle, die Präexistenz der Krankheit ausgeschlossen wird. Auch Stern sagt bei Zusammenfassung der Punkte, nach denen wir den Zusammenhang zwischen einem Unfall und Diabetes als wahrscheinlich annehmen dürfen, meines Erachtens mit Recht, dass die Präexistenz auszuschliessen ist, u. A. wenn keinerlei Anhaltspunkte für das Bestehen der Krankheit vor dem Unfall zu ermitteln sind . . . Für eine streng wissenschaftliche Be¬ trachtung genügen aber die vorhandenen negativen Beweise nicht. Es ist durchaus möglich, dass der Verletzte schon längere Zeit zuckerkrank war, ohne entsprechende Beschwerden zu empfinden; auch die negativen Angaben in der Kranken¬ geschichte der chirurgischen Klinik vom März 1899 sprechen nicht hiergegen. Es ist sehr wohl möglich, dass bei der ein¬ maligen Untersuchung zufällig der Urin zuckerfrei war, bei der Natur des damaligen Leidens lag aber für regelmässige Untersuchungen keinerlei Veranlassung vor. Diese Möglich¬ keiten werden durch zahlreiche Beobachtungen in der Litera¬ tur bestätigt. Weiterhin war zu erwägen, ob die Art des Unfalles und Charakter und Verlauf des hinterher beobachteten Diabetes einen Rückschluss auf ursächlichen Zusammenhang gestatteten. Ein solcher ist nur auf Grund zutreffender Experimente, oder bekannt gewordener, einwandsfreier Fälle ähnlicher Art mög¬ lich. Da dieselben an anderen Stellen, insbesondere an den bereits zitirten, in sorgfältiger kritischer Beleuchtung zusammen¬ gestellt sind, kann ich hier auf eine Wiederholung verzichten. Einen auch nur annähernd analogen Fall haben wir nicht ge¬ funden. Die Mehrzahl der ähnlich schwer verlaufenden Fälle betrifft erhebliche Schädel- bezw. Gehirn-Verletzungen. So verzeichnet Stern in seiner Zusammenstellung einen Fall von Fischer, bei dem im Anschluss an eine komplizirte Schädelfraktur Glycosurie, Coma und nach 13 Tagen der Tod eintrat. Wenn die Verletzten aber eine Heilung der Ver¬ letzungen erleben, so pflegt eben meist die durch sie be¬ dingte Glycosurie zu verschwinden, oder aber der Diabetes nimmt einen langsamen Verlauf. Die Art der Verletzung selbst spricht in unserem Falle nicht gegen einen ursächlichen Zu¬ sammenhang. Neben Schädelverletzungen sind in erster Linie schwere körperliche Erschütterungen und seelische Erregungen als Veranlassungen anzusehen. Inwieweit die Erschütterung, die unser Verletzter erfahren hat, eine schwere war, ist aller¬ dings schwer zu sagen. Die Thatsache, dass er kurze Zeit hinterher in sein Bureau, von da nach Hause und am anderen Vormittag zur Poliklinik gehen konnte, lässt sie nicht gar zu schwer erscheinen. Der Sturz hatte aber eine schmerzhafte Kontusion des rechten Hoden zur Folge, und eine solche ist wohl geeignet, auf die Psyche in erheblichem Masse einzu¬ wirken. Das Trauma konnte um so schwerer empfunden werden, als der Verletzte tuberkulös war und somit wahrschein¬ lich eine verminderte Widerstandskraft besass, selbst wenn die Tuberkulose vorher keine speziellen Beschwerden hervorgerufen hatte. Der Eiweissbefund und die ihn bedingenden Verände¬ rungen in den Nieren lassen sich nicht verwerthen, da sie eine Begleiterscheinung des Coma sein können. Wenn also die Art des Trauma wohl als geeignet ange¬ sehen werden kann, den Diabetes hervorzurufen, so spricht doch der Verlauf desselben gegen die plötzliche Entstehung; es wurde daher der Standpunkt eingenommen, dass wahr¬ scheinlich der Diabetes schon vorher bestanden hatte. Eine gleiche Ansicht hatte der Vordergutachter geäussert. Die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges wird aber auch nicht zu bestreiten sein, sie würde noch grösser werden, wenn noch mehr Fälle ähnlicher Art zur Beobachtung und Veröffentlichung gelangen sollten. Unter der Voraussetzung, dass die Zuckerharnruhr schon vor dem Unfall bestand, war die Beantwortung der zweiten zur Begutachtung stehenden Frage sehr einfach, denn jeder Arzt weise aus seiner Erfahrung, dass schwere körperliche An¬ strengungen, Erschütterungen, seelische Erregungen und der¬ gleichen eine Steigerung der Zuckerausscheidung bewirken können. Und gerade das Coma pflegt sehr häufig durch der¬ artige Ereignisse hervorgerufen zu werden. So sagt N au ny n: „Im allgemeinen ist der Diabetiker, wenigstens der Schwer- Digitized by Google 408 AerEtliche Saohvorstfindigen-Zeitung. No. 20. kranke, weniger widerstandsfähig und erliegt leicht jedem Unfall“ . . . Das Coma tritt auch bei niedrigem Zuckergehalt auf; meist gehen Störungen im Befinden voraus, Gemüths- bewegungen etc. Der Sturz, die Körpererschütterung, die Quet¬ schung des Hoden und die mit dieser verbundenen Schmerzen und Gemüthserregung sind reichliche Veranlassungen, auch bei quasi latentem Diabetes ein Coma hervorzurufen. Epileptisches Irresein nach Trauma. Diebstahl im Dämmerzustände. Von Dr. Marcinowski-Saarmund. Nachstehend gebe ich die Geschichte eines Krankheits¬ falls, der vom Standpunkte des gerichtlichen wie von dem des Unfallgutachters bemerkenswerth scheint, in der Form wieder, wie sie die praktischen Verhältnisse mit sich brachten. ln folgendem Schreiben forderte mich die Staatsanwalt¬ schaft auf, über den vorliegenden Fall ein Gutachten abzugeben: Der am 10. Januar 1870 in R. geb. Handarbeiter X. in R. ist beschuldigt, am 2. Februar 1898 vom Bahnhof R. einen Sack Kartoffeln im Werthe von 8 M. gestohlen zu haben. Der Diebstahl ist sofort entdeckt und der Beschuldigte in einem Bö8ohungsgraben flach hinter dem Korbe liegend vorgefunden worden. Dem Arbeiter B. hat der Beschuldigte 10 M. geboten, wenn er ihn nicht anzeigen würde. Der Beschuldigte giebt, ohne den Diebstahl zu bestreiten, vor, nichts von dem ganzen Vorfall zu wissen, und begründet das damit, dass er etwas angetrunken gewesen sei und noch an den Folgen einer schweren Gehirnerschütterung leide, die er sich im Jahre 1893 in R. in Folge eines Stosses mit dem Kopfe an eine Eisenschiene zugezogen habe. Es komme nooh jetzt des öfteren vor, dass er willenlos etwas vornehme, was er bei späterer Ueberlegung als unwahr und unerklärlich halte. Nach einer Auskunft des Krankenhauses zu R. ist der Be¬ schuldigte vom 1. bis 8. August 1898 wegen Gehirnerschütte¬ rung in diesem Krankenhause verpflegt worden. Bei seiner Aufnahme hat er dort angegeben, dass er mehrere Stunden in Folge des Stosses bewusstlos dagelegen habe. Sie werden um Untersuchung des Beschuldigten und um ein Gutachten darüber ersucht, ob der Thäter zur Zeit der Be¬ gehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusst¬ losigkeit oder krankhafter Störung seiner Geistesthätigkeit be¬ funden hat, durch welche seine freie Willensbestimmung aus¬ geschlossen war. Der Kgl. Amtsanwalt. Mein Gutachten lautete: Am 13. d. M. erschien bei mir der Arbeiter X., welcher mir persönlich bekanut ist, da ich ihn im Laufe des Winters wegen einer Verletzung am Bein behandelt habe und auch ein Gutachten über diesen Fall auszuarbeiten hatte. Ich habe schon damals an seinem Körper keine wesentlichen Abweich¬ ungen von der Norm gefunden, ich gehe deshalb gleich zur Untersuchung des hier hauptsächlich interessirenden psy¬ chischen Zustandes über. X. giebt an, dass er von gesunden Eltern stamme, und dass in seiner Familie, auch bei den entferntesten Blutsver¬ wandten, seines Wissens niemals Krämpfe oder geistige Störungen vorgekommen seien. Auch von seiner eigenen Jugendzeit sei ihm nichts Derartiges bekannt geworden, im Gegentheil sei er bis zum Jahre 1891 frisch und gesund ge¬ wesen. Er habe damals einen schweren Typhus durchge¬ macht, von dem er sich wieder gut erholt habe. Im Jahre 1893 habe sich dann der in den Akten bereits erwähnte Unfall zuge¬ tragen und zwar folgendermassen: X. war in einer Ziegelei beschäftigt. Er führte einen kleinen Förderwagen in einem stark geneigten, mit Schienen versehenen Gange abwärts, glitt dabei auf dem schlüpfrigen, nassen Boden aus und sauste mit dem Schädel gegen eine eiserne Schiene, welche die Bedeckung der niedrigen Thür bildete und also quer verlief. Zunächst vermochte X. sich nooh für wenige Minuten aufrecht zu halten und weiter zu schleppen, danach brach er bewusstlos zusammen und kam erst nach mehreren Stunden wieder zu sich, als er bereits im Krankenhause war. X. weist zur Bestätigung des Gesagten eine in der Höhe des Scheitels quer laufende, etwa 2 Zqll lange Knochenverdickung auf, welche von dieser Verletzung herrühre. Als Folgen derselben giebt er an, an Kopfschmerzen zu leiden, die namentlich in den .ersten Monaten ungemein heftige waren. Er beschreibt dieselben als ein Gefühl, „als wäre ihm der Schädel zu eng, und als wolle etwas nach der Gegend der verletzten Stelle hinaus und wolle den Schädel zertreiben.“ Besonders heftig sollen die Schmerzen bei Erre¬ gungen und beim geringsten Alkoholgenuss sein. Ueberhaupt könne er auffallend wenig Alkohol vertragen, er selbst kaufe sich kaum für 10 Pfennige Schnaps in der Woche. Seine Arbeitskameraden neckten ihn häufig deswegen, nennten ihn geizig und trieben ihren Spott mit ihm, indem sie ihm heimlich Schnaps ins Bier gössen, weil sie wüssten, dass er dann Dummheiten und verkehrtes Zeug bei der Arbeit mache, ohne selbst darum zu wissen. Er habe oft bitten müssen, solches zu unterlassen, da er doch für seine den Arbeitern bekannte Gedächtnisschwäche nichts könne. Dieselbe äussere sich auch nooh in mannigfacher anderer Weise. So sei es ihm mehrfach passirt, dass er sich auf einem ganz falschen Wege befunden habe. So habe er z. B. vor drei Wochen seinen Schwager in Grüna besuchen wollen, als er plötzlich zu dem Bewusstsein kam, dass er falsch gegangen und nach Mittelbaeh unterwegs sei. Selbst auf der Eisenbahn sind ihm derartige Dinge zugestossen. So wollte er vor 2 Jahren von Freiberg nach Siegmar fahren und befand sich plötzlich in einer fremden Stadt, ohne zu wissen, wie er dahin gekommen sei; geschlafen habe er in der Bahn sicher nicht, die Stadt sei Glauchau gewesen. Was das Fortnehmen ihm nicht ge¬ höriger Gegenstände anbeträfe, so sei auch dies ihm mehrfach passirt. Er habe wiederholt aus der Kneipe Schnapsgläser und ähnliche Sachen mitgebracht, oder vielmehr man habe dieselben nachher zu Hause in seinen Taschen gefunden. Er selber habe niemals auch nur einen Schimmer von Erinnerung gehabt, wie diese Sachen in seine Taschen gekommen seien. Er hätte meist geglaubt, man habe sie ihm scherzweise hin¬ eingesteckt, man hätte ihm indessen stets versichert, dass dies nicht der Fall gewesen sei. Bei dieser Gelegenheit giebt X. in gewissem Widerspruch mit seiner oben behaupteten Solidität zu, des öfteren die Kneipe auf gesucht zu haben. Das käme meist an Lohntagen vor, und er wisse, dass er dann häufig ohne Geld heimkomme, ohne indessen hinterher angeben zu können, wofür er dasselbe verwendet habe. Er glaube, dass er es auch manchmal liegen gelassen oder sonst wie verloren habe. Er gäbe infolgedessen das Geld immer seiner Frau ab und stecke nur ganz wenig zu sich, da er in seiner „Gedankenschwäche“ für den Verbleib desselben nicht einstehen könne und sich erfahrungsgemäss bei Besitz von Geld betrinke. Ueber die Aussagen befragt, die er in Betreff des Kartoffeldiebstahls zu Protokoll gegeben habe, zeigt er im Gegensatz zu den bisherigen Aussagen eine gewisse Unruhe, und will sich auf die Einzelheiten desselben nicht recht be¬ sinnen können. Zu der Thatsache selbst meint er, dass er es nicht recht bestreiten könne, die Kartoffeln genommen zu haben, wie er aber dazu gekommen sei, sei ihm völlig unver- Digitized by Google 15. Oktober 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 409 stündlich. Er könne sich die Sache nur so erklären, dass er auch hier in einem Anfall von „Gedankenschwache“ gehandelt habe, ohne dabei zu wissen, was er that, ähnlich, wie es ihm bei den oben erwähnten Unregelmässigkeiten und Verkehrt¬ heiten in der Arbeit passire. Auch hier habe er, da er eben Lohn erhalten, Geld in den Händen gehabt, und Alkohol, wenn auoh nur sehr wenig, zu sich genommen. Von Krampfanfällen oder Zuständen, in denen man ihn irgend wo bewusstlos oder liegend aufgefunden hätte, weiss er nichts anzugeben und leugnet deren Vorkommen. Objektiv sinnfälligere Zeichen von Erkrankung, speziell Zungennarben und Spuren von Verletzungen, Zittern der Hände etc. sind nicht nachzuweisen. Diese Angaben wurden nun nicht etwa in dieser fliessen¬ den Form gemacht, die ich ihnen mit einer der klareren Er¬ fassung dienenden Absichtlichkeit gegeben habe. Sie wurden im Gegentheil sehr schwerfällig gemacht, und mussten mühsam aus ihm heraus geholt werden; nur einzelne kleine Episoden erzählte er ruhig und vollständig. Die ganzen Angaben machen durchaus nicht den Eindruck des Absichtlichen, schon weil man die Daten schwer herausbekommt, auch nicht den, als ob sie ihm von jemand Anderem in den Mund gelegt wären. Die Art meiner Fragestellung war mit auf diese Gesichtspunkte besonders zugeschnitten. Im Gegentheil erzählte er alles mit einer gewissen kindlichen Heiterkeit, wenn man ihn auf etwas gebracht hatte, ohne dabei im Geringsten den Versuch zu machen, den Dingen eine Darstellung zu geben, die zu seiner Verteidigung dienen könne. Es macht sogar den Eindruck, als sei ihm der Zusammenhang zwischen all diesen Vorkomm¬ nissen nicht ohne Weiteres klar, wie er denn überhaupt ent¬ schieden ein sehr beschränkter Mensch ist. Zur Feststellung des Werthes dieser Angaben hielt ich es für notwendig, noch andere Personen als den Kranken selbst über dessen Verhalten zu befragen, und zwar seinen Arbeit¬ geber Herrn Bauunternehmer M. und seine Ehefrau. Herr M. giebt an, ohne zu wissen, um was es sich han¬ delt, dass ihm X. stets als ein sehr simpler, stupider Mann auf¬ gefallen sei; seine Arbeit habe er gut verrichtet, indessen sei es ihm häufig so vorgekommen, als ob X. betrunken gewesen sei. Die Ehefrau des X. ist ganz im Gegensatz zu ihm eine frische, kräftige Erscheinung, die sich der ganzen Angelegenheit sehr schämt. Sie giebt an, dass sie ihren Mann vor dem Un¬ fall kennen gelernt habe, und zwar haben sie sich in einer Gast Wirtschaft verlobt, in der sie im Dienst war. X. sei damals einer der fröhlichsten und trinkfestesten Burschen ge¬ wesen. Seit dem Unfall sei er ein ganz anderer Mensch ge¬ worden, so simpel, so still und unumgänglich. Sie habe oft gesagt, dass sie gar keinen richtigen Mann habe, sie müsse sich um Alles selber kümmern und sorgen. Die Angaben X. bez. des Geldes bestätigt sie. Sie dürfe ihn auch sonst in nichts um Rath fragen oder ihm mit Wirthschaftssachen kommen; dann werde er sofort verdriesslich und ungeduldig, verlange Ruhe, sie solle nur machen, was sie für gut halte und ihn zufrieden lassen. Das sei ihm also Alles schon zu viel. Oft bekäme er dann wieder seine Kopfschmerzen, die manchmal sehr heftig seien; sie kühle ihm dann den Kopf mit kaltem, Wasser, was ihm einige Erleichterung gäbe. Die Angaben ihres Mannes betreffs des GläBerdiebstahls und dergleichen bestätigt sie alle, besonders auch, was X. über die Wirkungen des Ge¬ nusses geistiger Getränke gesagt hat. Es sei ganz merkwürdig, wie wenig er vertrüge, während er doch früher ohne Schaden so viel trinken konnte. Er komme ihr selber oft so dösig vor, oft wie nicht recht bei sich, wogegen er dann zeitweise auch wieder bessere Tage habe. Im Gegensatz zu den Aussagen des Mannes bestreitet sie mit Entschiedenheit, dass man ihn niemals liegend oder bewusstlos gefunden hätte. Von Krampf¬ anfällen wisse sie zwar auoh nichts, wenigstens habe es ihn niemals dabei geschüttelt, aber er sei wiederholt vor ihren eigenen Augen ohne Grund plötzlich hingestürzt und bliebe dann Minuten lang starr und steif liegen. Erst kürzlich sei er bald nach dem zu Bett Gehen ohne jede erkennbare Veranlas¬ sung aus dem Bett aufgestanden und sei dann mitten in der Kammer in der eben beschriebenen Weise hingeschlagen. Nachdem er aus diesem Zustand erwacht war, stieg er ruhig wieder ins Bett, ohne von dem ganzen Vorgang eine Ahnung zu haben. Viel reden könne man dann überhaupt nicht mit ihm, denn er sei dann ganz dösig; erst am nächsten Morgen habe sie ihn gefragt, aber da habe er sich erst recht an nichts mehr erinnern können; so sei das stets. Sie merke es übrigens schon an seinem ganzen Benehmen, wenn so etwas im Anzuge sei. Auch an dem Abend, wo er die Kartoffeln gestohlen haben solle, hätte er zu Hause kein Wort gesprochen, er sei wie geistesabwesend gewesen und hätte sogar die Kinder nicht beachtet; sie seien für ihn wie Luft gewesen, während sie sonst seine grösste Freude im Leben wären und er so gerne mit ihnen spiele. Die Kinder wären wiederholt auf ihn zu¬ gekommen und hätten mit ihm anbinden wollen, er habe sie aber garnicht gesehen. Von der Angelegenheit selbst habe sie erst später erfahren. So weit im Wesentlichsten die Aussagen der Eheleute, aus welchen hervorgeht, dass es sich hier zweifellos um eine typische Erkrankungsform handelt, deren Symptome die Leute ohne inneren Widerspruch geschildert haben. Bei der Beurtheilung derselben handelt es sich nun m. E. nach um zwei Punkte: 1. Leidet X. überhaupt an Zuständen, in denen er imstande ist, bei vorübergehender Bewusstseinstrübung einen Dieb¬ stahl zu begeben? 2. Ist in dem genannten konkreten Falle die Annahme be¬ rechtigt, dass es sich dabei um eine solche Bewusstseins¬ störung handelt? Die erste Frage ist zunächst unbedingt zu bejahen. Nach der Untersuchung des Mannes und den Angaben der Frau halte ich es für erwiesen, dass X. an wesentlichen Störungen seiner Verstandesthätigkeit leidet. Sein Zustand lässt unschwer und ohne jeden inneren Widerspruch ein typisches Krankheitsbild erkennen, welches wir mit dem Namen epileptisches Irresein bezeichnen. Die grosse Gruppe der epileptisohen Erkrankungen umfasst eine Reihe von Erscheinungen, die sich bei den verschiede¬ nen Fällen in sehrgroBserMannigfaltigkeitäussern, und welche sich der Hauptsache nach in den bek. epileptischen Krämpfen und in vorübergehenden eigenthümlichen Geistesstörungen bekunden. Die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen wird noch dadurch erhöht, dass die einzelnen Symptome gewissermassen für ein¬ ander eintreten können und deshalb z. B. die ganze Haupt¬ gruppe der Krampfanfälle in einem solchen Krankheitsbilde fehlen kann. Dasselbe besteht dann lediglich aus den er¬ wähnten vorübergehenden Geistesstörungen, welche demnach theils zusammen mit Krampfanfällen, vor oder nach solchen, als prä- oder postepileptisches Irresein auftreten, oder an Stelle des Krampfanfalles als sogen, epileptische Aequivalente. Diese letzte Form der Erkrankung entsteht erfahrungsgemäss häufig nach Kopfverletzungen, und zwar unabhängig von der Schwere derselben. Die geistigen Störungen haben das mit den eigentlichen Krämpfen gemein, dass die Kranken nach Ablauf der Erscheinungen keine Erinnerung an dieselben besitzen. Sie wissen also auch nicht, was mit ihnen in einem solchen Zustand vorgegangen ist oder was sie selber getrieben haben. Nur gleich nach Ablauf des Zustandes geistiger Störung, gewissermassen im Abklingen desselben, besteht Digitized by Google 410 Aerztllohe Sachverständigen-Zeitung. No. 20. manchmal ein schwaches Erinnern, welches später verlöscht, Im Uebrigen charakterisirt sich ein solcher psychischer Anfall, als eine vorübergehende Trübung des Bewusstseins, von leichter Benommenheit bis zu heftigen Delirien, von leichten Schwindel¬ anfällen bis zur schweren völligen Ohnmacht alle Grade aufweisend. In solcher Benommenheit verstehen die Leute an sie gerichtete Fragen nicht und geben falsche Antworten handeln augenscheinlich verkehrt und sichtlich unter dem Eindruck hallucinatorischer Vorgänge. Diese Handlungen sind demnach nicht an sich unvernünftige, sie basiren nur auf lebhaften Sinnestäuschungen, werden also immerhin durch Affekte und Vorstellungen geleitet und lassen deshalb auch meist ein gewisses Ziel, eine gewisse Zweckmässigkeit er¬ kennen. Manchmal wird man erst beim genaueren Beobachten inne, dass es sich dabei um einen traumhaften Zustand handelt, der den Kranken momentan unzurechnungsfähig erscheinen lässt. Man bezeichnet diese Zustände mit einem Wort, welches sie vorzüglich und treffend charakterisirt, als Dämmerzustände. Am Häufigsten kommt es in solchen Anfällen zu vier Gruppen von Handlungen, welche die Kranken in Konflikt mit der Oeffentlichkeit bringen; diese sind 1. Brandstiftung, 2. Weg¬ nahme von in der Nähe befindlichen fremden Gegenständen, also Diebstahl, 3. unsittliche Handlungen (Exhibitionismus, Sittlichkeitsvergehen mit Kindern, Nothzucbt), 4. Körperver¬ letzung bezw. Totschlag. Dann wieder ist in den Anfällen nichts von eigentlichem Handeln zu erkennen, sondern die hochgradige Benommenheit ist das Ueberwiegende, die Be¬ wusstseinstrübung steigert sich zum sog. epileptischen Stupor. Auch in der Zeitdauer der einzelnen Anfälle und Zustände besteht eine unendliche Mannichfaltigkeit, von wenigen Augenblicken können sich dieselben über Tage, ja über mehrere Wochen erstrecken. Das Vorkommen, auch das nur einmalige, solcher Dämmerzustände mit oder ohne periodisch auftretenden Krämpfen ist entscheidend für die Diagnose: Epilepsie. Eine grosse Bolle in dieser Krankheit spielt ferner der Alkohol. Einmal ist das Auftreten schwerer Epilepsie bei chronischem Alkobo- lismus nicht selten, weit häufiger aber und überzeugender ist die verderbliche Wirkung, welche selbst sehr geringe Alkohol¬ gaben bei bestehender Epilepsie auszuüben pflegen. Das epileptische Gehirn ist in seiner erhöhten Erregbarkeit eben besonders intolerant gegen das Alkoholgift, und so wird bereits eine kleine Menge geistiger Getränke zur Ursache des Aus¬ bruches von Krampfanfällen und schweren Ohnmächten oder von Dämmerzuständen der beschriebenen Art. Ausser diesen periodischen Störungen bildet sich nun aber noch eine dauernde Veränderung des ganzen psychischen Individuums heraus, die wir in schweren, lange bestehenden Fällen selten vermissen: die typische Veränderung des ganzen Charakters der Kranken. Erstens leidet die Verstandesthätig- keit, die Leute werden beschränkt, ihr Vorstellungsschatz ver¬ armt, sie werden schliesslich schwachsinnig. Zweitens aber erleidet das Gemüth eine tiefe Umwandlung, auch da, wo die Verstandesthätigkeit noch nicht beeinträchtigt ist So bildet sich eins der hervorstechendsten Symptome heraus, der dege- nerirte Charakter der Epileptischen, der sich als verdriesslich, mürrisch, launenhaft, empfindlich, rechthaberisch, bornirt, eigen¬ sinnig, reizbar, hochgradig egoistisch bezeichnen lässt. Unschwer wird man in diesen Aeusserungen der Krankheit das Bild unseres X. wieder erkennen. Wir erfuhren von ihm, dass er ein fröhlicher, trinkfester Bursche war, bis er sich eine schwere Kopfverletzung zuzog. Von diesem Zeitpunkt datirt die weitgehende, von der Frau in ganz charakteristischer Weise geschilderte Veränderung seines ganzen Gemüthslebens und seiner Verstandesthätigkeit; Beine Beschränktheit fällt auch ferner Stehenden auf. Die Bezeichnung „dösig" greift schon mehr in das Gebiet der Dämmerzustände über, welche hier in mannichfacher Form und stark gehäufter Zahl auftreten und als typische epileptische Aequivalente zu bezeichnen sind. Alle Grade sind vertreten: schwere vollständige Bewusstseinsstörungen, starke Benommen¬ heit, tiefe Ohnmächten, wie sie die Frau am Abend des Dieb¬ stahls und bei den nächtlichen Vorkommnissen beobachtet hat; ferner leichtere Bewusstseinstrübungen und Dösereien, aus denen er plötzlich erwacht und sich erstaunt einer zu¬ nächst unverständlichen Situation gegenüber befindet, wie bei seinem wiederholten Verlaufen; ferner verkehrte Handlungen auf Grund lebhafter Sinnestäuschungen, wie er sie namentlich in Folge von Alkohol bei der Arbeit oder in der Kneipe be¬ gangen hat. Des weiteren ist bezeichnend für sein Leiden die auffallend grosse Intoleranz den geringsten Alkoholgaben gegenüber und das Fehlen jeglichen Erinnerns an die be¬ treffenden Vorgänge. Nach dem Gesagten halte ich es für erwiesen, dass X. an epileptischem Irresein leidet. Wenn man nun zweitens entscheiden soll, ob der be- regte Kartoffeldiebstahl in einem Zustand von Unzurech¬ nungsfähigkeit begangen ist, so hat man sich die Frage vor¬ zulegen, ob ein solcher Diebstahl in den betreffenden Zu¬ ständen überhaupt möglich ist. Auch diese Frage ist zu be¬ jahen. Die wissenschaftliche Erfahrung kennt ähnliche Fälle in Menge. Wir haben Beispiele, in denen die Dämmerzustände sich über längere Perioden erstrecken, und die darin vor¬ genommenen Handlungen entbehren dabei keineswegs des Zweckmässigen, wie weiter oben bereits auseinander gesetzt wurde. Die Handlungen können dabei sehr komplizirte sein, und es giebt naturgemäss eigentlich nichts, was ein solcher Kranker in solchem Zustande nicht thun könnte. Somit kann er sehr wohl den Kartoffeldiebstahl in einem Zustande be¬ gangen haben, der seine freie Willensbestimmung ausschloss. X. hatte tagsüber in der Nähe der mit Kartoffeln beladenen Lowre gearbeitet, er hatte als am Lohntage Geld in die Hände bekommen und Lagerbier getrunken, der Alkohol versetzte ihn in den als Dämmerzustand beschriebenen Zustand von Geistes¬ störung, Affekt und Vorstellung zogen ihn dumpf bewusst zu den Kartoffeln zurück, er beging den Diebstahl, ohne dabei noch das klare Bewusstsein eines solchen zu haben. Bis hierhin lässt sich alles zwanglos mit dem Begriff der Dämmerzustände vereinigen; aber was X. weiter that, das Ver- steoken im Graben und die Worte, welche er dem Arbeiter gegen¬ über geäussert hat, der ihn abfasste, lassen es dem Laien zu¬ nächst als vollkommen undenkbarerscheinen, dass wir es hier mit einer momentanen Geistesstörung zu thun haben sollten, da gerade die charakteristische Bewusstseinstrübung zu fehlen scheint, wo jeder Schritt, jedes Wort, die Angst u. s. w., die volle Einsicht des Verwerflichen der Handlung scheinbar klar erkennen lässt. Demgegenüber die Verantwortlichkeit ab- streiten und einen Zustand von Willenlosigkeit behaupten zu wollen, wird der Laie stets für ein Unding halten; denn — so argumentirt er — hätte der Mann in geistiger Verwirrung ge¬ handelt, so würde er die Kartoffeln mit anscheinender Frech¬ heit offen heimgetragen haben, und würde sehr verwundert dreingeschaut haben, wenn man ihm das hätte verwehren wollen. Mit dem Moment aber, wo er dem Entdecker für sein Stillschweigen Geld bietet, gäbe es keine krankhafte Bewusst¬ seinstrübung mehr, welche das entschuldigen könne. Und dennoch muss die ärztliche Erfahrung dem allen widersprechen und die volle Unzurechnungsfähigkeit für den ganzen Komplex der Handlungen behaupten, welche durch ihre Zweckmässig¬ keit und Geriebenheit nichts an dem für Dämmerzustände Charakteristischen einbüssen. Die zweite Hauptfrage des Gutachtens, wie sie eben auf- Digitized by Google 15. Oktober 1900. Aerztllche Baohverständigen-Zeitung. 411 gestellt war, ist demnach ebenso zu bejahen, wie die erste. Der Umstand, dass X. an diesem Abend schwere Zeichen von Be¬ nommenheit gezeigt hat, spricht mit grosser Wucht für diese Beurtheilung der Sachlage, welche sich aus den Wirkungen des Alkohols heraus entwickelte, wie wir diese bei ihm kennen ge¬ lernt haben. Von da, wo dieselben erfahrungsmässig bei ihm eintreten, bis zu dem Zustande, wie ihn die Ehefrau für die auf den Diebstahl unmittelbar folgenden Stunden schilderte, ist keine Unterbrechung des Dämmerzustandes eingetreten. Ich fasse nach diesen Ausführungen mein Gutachten dahin zusammen, dass X. in Folge der erlittenen Kopfverletzung an sogen, epileptischem Irresein leidet, im Verlauf welcher Krank¬ heit Zustande von Bewusstseinsstörung Vorkommen, in denen beispielsweise auch Diebstähle häufig sind. Die näheren Um¬ stände, unter denen der vorliegende Diebstahl erfolgte, ge¬ statten nach medizinischem Wissen den Schluss, dass derselbe in einem solchen Dämmerzustände geschehen ist. Demnach hat X. sich zur Zeit des Diebstahls in einem Zustande krank¬ hafter Störung der Geistesthätigkeit befunden, durch den seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Referate. Allgemeines. Zar Diagnose des Hungertodes. Von Dr. H. Dünschmann-Wiosbaden. (M. M. W. 1900, No. 39.) Gegenüber Hartmann, über dessen Aufsatz wir kürzlich berichteten, ist D. nicht der Meinung, dass die Erkennung des Hungertodes gar so schwierig sei und dass die Versuche Cettis und anderer Hungerkünstler hierfür kein brauchbares Material geliefert hätten. Es ist vielmehr grade durch diese Versuche mit Sicherheit festgestellt, dass sioh im Harn Ver¬ hungernder bezw. Verhungerter, solange keine starke Zersetzung eingetreten ist, Acetessigsäure findet, die durch die Eisen¬ chloridprobe nach Gerhardt leicht nachzuweisen ist. Eine noch schärfere Probe auf jene Säure hat Arnold neuerdings angegeben, nämlich mit Paradiazoacetophenon, aber die Ger¬ hardt’sehe dürfte in der Praxis ausreichen. Gerade in dem Hartmann’schen Falle war die Grundbedingung der Anwendbarkeit dieser Probe erfüllt, da die Blase klaren, nicht übelriechenden Harn enthielt. Ueber die Darstellung der Spuren von Messerscharten. Von Prof. Dr. Ko ekel- Leipzig. (Arch. f. Krim. 27. IX. 1900.) In den strafrechtlichen Fällen, in denen festzustellen ist, ob die an irgend einer Stelle Vorgefundenen Schnittspuren mit einem bestimmten Messer hervorgebracht sind, können die an dem betreffenden Messer vorhandenen Scharten von ausschlag¬ gebender Bedeutung für die Ermittelung sein. Es ist nun aber nicht ganz leicht, nach der Besichtigung des Messers darüber zu urtheilen, ob die Unebenheiten der Schnittfläche denen des Messers entsprechen: jene sind erhöht, diese ver¬ tieft. Ein unvollkommenes Hilfsmittel ist es, mit dem in Frage kommenden Messer Probeschnitte in grünes Holz zu machen und die Schnittfläche mit dem Corpus delicti zu ver¬ gleichen. Holz hat keine gleichmässige Dichtigkeit und Festigkeit, auch rücken die Schartenspuren beim Probeschnitt näher zusammen als in Wirklichkeit. Statt dessen bedient sich Kockel folgenden Verfahrens: Ein Block aus Gipsmasse wird in die Objektklammer eines Mikrotoms, das zu untersuchende Messer senkrecht zur Führungsrichtung in die Messerklammer eingeschraubt mit der Schneide nach abwärts. Nun schabt man mit dem Messer, als ob man mikroskopische Schnitte machen wollte, den Gips solange ab, bis sich das Abbild der Schneide mit ihren Scharten in ganzer Ausdehnung auf dem Block vorfindet. Den Scharten entsprechen kammartige Erhebungen auf dem Gipsblock, die besonders bei seitlicher Beleuchtung scharf hervortreten und eine photographische Wiedergabe, die den Nachweis vor einer grösseren Anzahl von Menschen sehr er¬ leichtert, leicht gestatten. Als Beispiel bringt K. auf einer sehr anschaulichen Tafel erst das Schartenphotogramm eines Messers und dann die Schnittflächenbilder, einer Anzahl von Chausseebäumchen, die ein Mutwilliger mit Hilfe des Messers abgeschnitten hatte. Eine neue Methode der Fixirung der Fussspuren zum Studium des Ganges. Von Dr. 0. Mönkemöller-Osnabrück und Dr. L. Kaplan- Herzberge. (Neur. Cent. 1900, Nr. 17.) Die anspruchlose kleine Arbeit der beiden auf dem Ge¬ biete der Irrenheilkunde bekannten Verfasser scheint berufen, weit über dies Gebiet hinaus praktischen Nutzen zu bringen. Vor allem ist die genaue objektive Feststellung von Eigen¬ tümlichkeiten des Ganges in der Unfallheilkunde von grösster Wichtigkeit. Nicht blos nervöse, sondern auch chirurgische Unfallfolgen geben dem Gang nicht selten ein besonderes Ge¬ präge, das genau festzustellen von Wichtigkeit sein kann. Das Verfahren ist sehr einfach: man lässt die Kranken in Strümpfen, die mit 10prozentiger spirituöser Eisenchlorid¬ lösung getränkt sind, auf einem grossen Streifen Reisspapier entlang gehen. Nachdem die Fussabdrücke auf dem Papier getrocknet sind, werden sie mit einer Spiritus-Aetherlösung von Sulfo-Cyanammonium befeuchtet und treten nun, durch Rbodaneisen dunkelrothbraun gefärbt hervor. Diese Färbung ist der photographischen Wiedergabe besonders günstig. Freilich sind manche Kranke beim Gehen in den nassen Strümpfen anfangs befangen, auch ist die Wiedergabe des Fuss-Umrisses durch den Strumpf etwas beeinträchtigt, doch ist die Methode schon jetzt recht leistungsfähig. An den beigegebenen Bildern merkt man, wie viele Einzel¬ heiten erst durch diese Sichtbarmachung der Fussspur so recht zum Bewusstsein kommen. Da sieht man bei halbseits Ge¬ lähmten verschiedenen Grades, wie die Fussspitze hier nur ganz wenig am Boden geschleift wird, dort durch stärkeres Schleifen ganz verwischt wird, während bei bestehender Kon- tractur nur die Fussspitze zum Abdruck gelangt. In einem Fall von spastischer beiderseitiger Schwäche erkennt man — was klinisch vorher nicht aufgefallen war wie der linke Fuss auf¬ fallend auswärts gesetzt wird. Wieder anders kennzeichnet sich in den Fussspuren die Gehart des Tabikers, die bei Veitstanz und so weiter. Aber auch seelisch Kranke bieten Eigenthümlichkeiten des Gehens, die durch Sichtbarmachung der Fussspur zum Theil deutlich fixirt, zum Teil sogar erst entdeckt werden. Verletzung durch einen Prellschuss ohne Beschädigung der unmittelbar über der Verletzung befindlichen Kleider. Von Dr. Richard Bauer-Troppau. (Arch. f. Crim. 27. IX 1900.) Ein übelberüchtigter Mensch schoss auf einen andern Mann aus der Nähe einen Revolver ab. Unmittelbar nachher erblickten Zeugen auf der blossen Brust des Angegriffenen einen röthlichen Fleck und an genau entsprechender Stelle in der Klappe der Weste ein Loch von dreieckiger Form. Da¬ gegen war die eigentliche Weste unter dem Loche unversehrt, ebenso das Hemd des Getroffenen. Der Revolver war. in Digitized by Google 412 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 20. gutem Zustande und ein Geschoss daraus durchbohrte auf 15 Schritt ein zwei Centimeter starkes Brett. Es tauchte in Anbetracht dieses Befundes der Verdacht auf, dass der Verletzte, um dem Angreifer einer strengeren Bestrafung zuzuziehen, sowohl das Loch in der Weste wie den rothen Fleck auf der Brust sich selbst beigebracht haben könnte. Der erste Gerichtsarzt, welcher den Verletzten unter¬ suchte, fand noch eine Röthung der Haut an der Knorpel¬ knochengrenze der zweiten Rippe, kreisrund geformt und von einem grösseren gelblichen Hof umgeben. Spätere Unter¬ sucher konnten diese Veränderung nicht mehr wahrnehmen. Infolgedessen gelangte man zu keiner rechten Einigkeit über die Ursache der Vorgefundenen Beschädigungen. Nunmehr wurden Fachlehrer einer Webeschule als Sachverständige zu¬ gezogen. Diese bekundeten (auf Grund welcher Untersuchungen ist nicht angegeben), dass das Loch in der Westenklappe be¬ stimmt nicht durch einen Messerschnitt oder durch Schlag mit einem stumpfen Werkzeug, höchst wahrscheinlich vielmehr durch einen Schuss hervorgebracht sei, der an der rechten Spitze der dreieckigen Oeffnung einsetzend nach links unten weitergegangen sein dürfte. In der Hauptverhandlung wurde nur noch festgestellt, dass die beiden Gegner einander ungefähr in zwei Schritt Entfernung schräg gegenüber gestanden hatten. Das gerichts¬ ärztliche Gutachten ging nunmehr dahin, dass thatsächlich ein Prellschuss vorliege. Das Geschoss habe unter sehr spitzem Einfallswinkel und infolgedessen nur mit einem Theil seiner abgerundeten Seitenfläche die Brust des Angegriffenen ge¬ troffen, die zufällig etwas abstehende Westenklappe durch¬ löchert, sei aber dann in gleichem Winkel wieder abgeprallt, nachdem es nur mit seiner Hinterwand eine Quetschung der Brusthaut verursacht habe. Chirurgie. Ueber den schnellenden Finger. Von Dr. P. Sudeck. (Beiträge sur klinischen Chirurgie Bd. 26, 2. Heft 8 . 311.) Ein 23jähriger Einjährig-Freiwilliger zeigte nach 6 Wochen in Folge der Gewehrgriffe Bewegungsstörungen des linken Ringfingers. Bei der Beugung bemerkte der Untersucher nichts. Pat. selbst aber fühlt in einer gewissen Stellung des Fingers etwas Abnormes, ein Uebergleiten ohne bemerkbaren Widerstand. Bei Streckung des gebeugten Fingers bleibt dieser immer in derselben Bewegungsphase, halbgestreckt, plötzlich stehen und kann nur mit grösserem Kraftaufwand gestreckt werden. Die Streckung geht dann plötzlich, schnellend vor sich. Der Sitz der Hemmung ist die Endphalanx. Nachts war der Widerstand gegen die Streckung manchmal so gross, dass Pat. den Ringfinger nur passiv mit Hülfe der anderen Hand strecken konnte. Bei der Operation zeigte die Sehne des profundus an der Stelle wo sie durch den Sublimisschlitz geht, eine plötzlich eintretende Verdünnung auf die Hälfte des normalen Umfanges. Das dicke zentrale Stück der Sehne erfährt am Sublimisschlitz einen Widerstand. Eine Spaltung des Schlitzes erzielte Heilung. Die verdünnte Sehne war grau und glasig durchscheinend. Der degenerative Vorgang ist nach Sudeck durch die wiederholten Insulte, denen die ge¬ spannte Sehne bei den Gewehrübungen ausgesetzt war, her¬ vorgerufen. Auch in den Fällen Schultes, der ganz ähnliche Beobachtungen an5Einjährig Freiwilligen machte,meintSudeok ähnliche Befunde annehmen zu dürfen. G. Ueber subaknte Zellgewebsentzündungen an Fingern and Zehen. Vom Privatdozenten Dr. Tiotze-Breslau. (Aus der Poliklinik des Augustahospitals in Breslau.) (Zeitschrift für praktische Aerste. 9. Jahrgang, No. 9.) Das Krankheitsbild, welches einigermassen demjenigen ab¬ klingender, akuter Zellgewebsentzündungen gleicht, giebt, weil eine Ursache, meist in unbeachteten, wieder geheilten kleinen Verletzungen bestehend, den Erkrankten unbekannt ist, oft zu Verwechselungen und mangelhafter Behandlung Anlass. Von abklingender akuter Entzündung unterscheidet es sich durch fort¬ bestehende Druckempfindlichkeit an Sehnenscheide oderKnochen- haut. Einschnitte in die erkrankten Theile, Eröffnung der Sehnenscheiden förderten Granulationen, Flüssigkeiten und Fibringerinnsel zu Tage, welche durch ihren Gehalt an Eiter¬ erregern das Krankheitsbild erklärten. In weitervorgeschrittenen Fällen findet man das Granulationsgewebe schon bindegewebig verändert, die Sehnenscheide verengernd, sodass es nicht un¬ wahrscheinlich ist, dass die beschriebene Art der Entzündung mit unter die Ursachen der Entstehung der „schnellenden Finger* gerechnet werden darf. Die Behandlung war in des Verfassers Fällen operativ. Die Ausheilung erfolgte sofort auf Incision, während vorher mit Verbänden ein Erfolg nicht er¬ zielt war, ein Verband von lproz. Formalinlösung brachte in einigen Fällen ein Nachlassen der Erscheinungen hervor. Seelhorst. Völlige Wiederanheilung des durch ein schneidendes Instrument gänzlich vom Mittelglied abgetrennten End¬ gliedes des Daumens. Von Dr. Salomon in Savign6-L6vöque. (Progrds med. 1900, No. 34.) Das fünfjährige Kind eines Bauern schnitt sich mit einem sehr scharfen Werkzeug, einer Art Faschinenmesser, das End¬ glied des Daumens glatt ab. Nur ein schmaler Streifen der Oberhaut — nicht etwa ganze Haut — hielt das Stückchen fest. Zwei Stunden darauf wurde das Kind dem Arzte zuge¬ führt. Dieser liess es die verletzte Hand % Stunden lang in mehrmals erneuertem, heissem, sterilisirtem Wasser mit etwas Alkoholzusatz baden. Als er dann das abgetrennte Stück mit Catgutfäden annähte, zerriss die letzte dünne Brücke, die der Schnitt zwischen den Theilen übrig gelassen hatte. Die Heilung erfolgte keineswegs ganz glatt. Einmal schien es sogar, als wollte das angenähte Glied sich lösen. Die ganze Oberhaut desselben stiess sich ab, eine kleine Eiterung hielt die Heilung auf, die Vernarbung erfolgte langsam. Schliess¬ lich behielt das Kind aber das Fingerglied. Freilich ist es etwas nach hinten verschoben, und der Knochen hat, wie ein beigegebenes Röntgenbild zeigt, eine etwas plumpe Form an¬ genommen. Unter 10 Fällen von Wiedervereinigung solcher getrennter Glieder hat Verf. zweimal einen vollen, einmal einen halben Erfolg gehabt. Seine Misserfolge ist er geneigt, der Verwen¬ dung antiseptischer Bäder mit Sublimat, Kaliumpermanganat, Karbol — „le plus ddsastreux des bains antiseptiques“ — oder dergl. zuzuschreiben. Ueber die Behandlung der subcutanen Knochenbrüche. Von Prof. Dr. Karl Schuchard, Direktor der cbir. Abtblg. des städt. Krankenhauses in Stettin (Vortrag, gehalten in der Herbst Versammlung des Vereins der Aorzte des Reg.-Bez. Stettin am 9. Novbr. 1899.) (Deutsche Aerste-Zeitung 1900, Heft 9.) Nach einem Ueberblick über die Wandlungen in den Grund¬ sätzen der Behandlung der Knochenbrüche und Auseinande.- setzung der allgemein üblichen gegenwärtigen Anschauungen Digitized by Google 15. Oktober 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 413 theilt Vortragender die Knochenbrüche für die Praxis in zwei Gruppen: a) solche, in denen ein endgiltiger Verband sogleich angelegt werden kann und bei denen eine besondere »Ein¬ richtung* nicht vonnöthen ist, und b) solche, bei denen die »Einrichtung“ mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist und erst zweckmässigerweise erfolgt, wenn mit Sicherheit auf Unschädlichkeit der Eepositions- und Fixationsversuche und Ver¬ harren der Bruchstücke in eingerichteter Stellung gerechnet werden kann. Zu a) werden ausser den Brüchen der kleineren Knochen noch die für Streckbehandlung sich eignenden Brüche der nicht dicht am Kniegelenk gelegenen Theile des Oberschenkels und die Brüche der oberen Theile des Ober- armknochens gerechnet; der Extensionszug muss, wenn er wirkungsvoll sein soll, ein starker sein, bei Oberschenkelbrüchen bis 30 Pfund, massgebend zur Wirkung ist die Aufhebung des reflektorischen Krampfes der an die Bruchstücke ansetzenden Muskeln. Bei b) werden die allgemein anerkannten Grundsätze einer zeitigen Beseitigung der Blutergüsse, möglichste Früh¬ massage und Erhaltung der Gelenkbeweglichkeit empfohlen, zur vernünftigen Einschränkung des Strebens nach »Gehver¬ bänden“ gerathen. Zur Herstellung von Gipsverbänden mit beweglichen Gelenken, in denen die Patienten auch umher¬ gehen können, werden Gehbügel und Scharniere empfohlen und abgebildet. (Die Extension wird auch für rebellische Schrägfrakturen des Unterschenkels empfohlen, leider dabei nicht des die Re¬ position am leichtesten und übersichtlichsten bewerkstelligenden und erhaltenden Hansmannschen Extensions- und Lagerungs- apparates gedacht (beschrieben und in Anwendung und Wirkung illustrirt von Dr. Seil im Heft 4 des 56. Bandes des Archivs für klinische Chirurgie), welcher viel allgemeiner gekannt und angewendet zu werden verdiente. Ref.) Seelhorst. Ueber tragfähige Ampntationsstftmpfe nebst Bemerkungen Aber die Exarticulatio pedis sub talo (Malgaigne). Aus d. städt. Krkh. zu Worms a. Rh. Von Prof. Dr. L. Heidenhain. (Zeltsobr. f. pralct. Aerate No. 13, 1900.) Nach seinen Erfahrungen bevorzugt Verfasser im All¬ gemeinen behufs Erzielung tragfähiger Amputationsstümpfe das Bier’sche Verfahren, welches die Druckempfindlichkeit des Stumpfes bekanntlich dadurch beseitigt, dass die eröffnete Markhöhle durch einen übergelegten Periost-Knochenlappen abgeschlossen wird. Doch hat er auch in einem Falle, wo sich diese immerhin etwas umständliche Operation nicht gut durchführen Hess, mit Erfolg von dem im vorigen Jahre von Hirsch (Bardenheuer’sche Abtheilung in Köln) empfohlenen Verfahren Gebrauch gemacht, welches darauf beruht, dass man durch zielbewusste Massage und Tretübungen den gewöhnlichen Amputation8stumpf tragfähig zu machen sucht. Im Anschluss an diese Erörterungen berichtet Verfasser über einen Fall von doppelseitiger Exarticulatio sub talo, ein Eingriff, der bekannt¬ lich selten ausgeführt wird. Der Erfolg war in funktioneller Beziehung ein vortrefflicher, der Kranke konnte beiderseits den Talus bewegen, Beugung und Streckung im Sprunggelenk waren also erhalten geblieben. y. — Ueber die Behandlung von Gelenkergflssen mit heisser Luft. Von Dr. Rudolf Klapp, Assistenzarzt a. d. Kgl. Universitätsklinik zu Greifswald. (Münch, med. Woch. No. 23.) Die Anwendung von trockner Hitze hat sich bei einer Anzahl von Fällen traumatischer und rheumatischer Gelenk¬ ergüsse aufs Beste bewährt. Die Gelenke wurden mit den Bier’schen Heizkästen behandelt und zwar täglich 1—2 Stun¬ den lang einer Hitze von 120 bis 150° Gels, ausgesetzt. Stets verschwanden nach wenigen Sitzungen die Schmer¬ zen, oft konnte an jedem der ersten drei Tage eine Umfangs¬ verminderung von je 1 cm bemerkt werden. Die anfänglich rapid vor sich gehende Aufsaugung der Ergüsse wird nach einigen Tagen langsamer, was durch das Geringerwerden der Kapselspannung zu erklären ist. Kombination mit Massage wird für geeignete Fälle empfohlen. Abgesehen von dem Er¬ folge der schnellen Aufsaugung hat die Methode vor den mit ihr konkurrirenden, Punktion, Kompression, besonders den Vortheil, dass eine Ruhigstellung der Gelenke nicht nothwen- dig ist. Mit Erfolg wurden die Bier’schen Heizkästen zur Be¬ seitigung von Oedemen bei Frakturen, ferner bei Hüftweh sowie zur Kräftigung schlaffer Granulationen und bei Unter¬ schenkelgeschwüren angewendet. Die Heilwirkung der Heiz¬ kästen beruht auf Hervorrufung von Blutfülle in den der Hitze ausgesetzten Körpertheilen. Applikation höherer Hitzgrade als der erwähnten hatte Auftreten von Oedemen und Steigerung der Ergüsse zur Folge. Die Versuche, welche der Verf. an Tieren mit der Anwendung heisser Luft anstellte, bestätigten sowohl die grosse Aufsaugungskraft der Hitze als auch die Veimuthung, dass die Hyperämie die dabei wirksame Kraft sei, iodem nämlich die in die Bauchhöhle von Kaninchen ein¬ gespritzten Flüssigkeiten, statt eine vermehrte Ausschwitzung von Flüssigkeiten in das Bauchfell hervorzurufen, unter dem Einfluss der Hitze sehr vermindert wurden, und die Gefässe der Darmwand und Bauchwand sich stark blutgefüllt er¬ wiesen. Die Erfolge der Greifswalder Klinik in Bezug auf die Anwendung der heissen Luft werden von Thiem-Cottbus be¬ stätigt, ebenso die von Bier gemachte Beobachtung, dass auf tuberkulöse Erkrankung die heisse Luft ungünstig einwirke. Seelhorst. Innere Medizin. Der Croup in Württemberg im 19. Jahrhundert bis zum epidemischen Auftreten der Diphtherie. Von Hofrath Dr. B. Am old-Stuttgart. (Med. Corr.-Bl. d. Württ. ftntl. L.-V. 1900, No. 39.) Die sorgfältige Durchsicht der älteren Literatur bringt den Verf. zu folgenden Schlüssen: Der bis etwa 1805 in Württemberg seltene Croup häufte sich in den Jahren 1807 bis 1810 auffallend. Dabei aber kam es selten vor, dass in einer Familie mehrere Mitglieder er¬ krankten, von Ansteckungsfähigkeit war nichts zu merken. Die Krankheit betraf vorwiegend Kinder von 4—6 Jahren. Die ärztlichen Schriftsteller aus den ersten drei Jahrzehnten des Jahrhunderts erwähnen nirgends etwas von Miterkrankung des Rachens, trotzdem sie gute und zuverlässige Beobachter sind. Von 1835 ab taucht eine hochgradig bösartige Krankheit mit Kehlkopf- und Rachenbelägen auf, die z. T. in sonst von Croup selten befallenen Gegenden und ausgesprochen epide¬ misch auftritt: die Diphtherie. Jetzt erst hört man von Be¬ lägen in der Nase, Eiweissharn, Blutungen, Lähmungen, auf¬ fälligem plötzlichem Tode. Dann mehrten sich allmählich die Diphtheriefalle, bis schliesslich der Croup als eigenartige Krankheit ganz verschwand. So die Thatsachen — warum es so gekommen, das ist uns bis jetzt verborgen. Digitized by Google 414 Aerstliohe Sachverständigen-Zeitung. No 20. Zur Yerbreitung der Zuckerkrankheit im preussischen Staate. Von Dr. Georg Heimann-Berlin. (Deutsche medizinische Wochenschrift, No. 31 ( 1900.) Den vorliegenden Mittheilungen, aus denen unter Beiseite- lassung der ziffernmässigen Belege einige Thatsachen wieder¬ gegeben seien, liegen amtliche Erhebungen des königlich preussischen statistischen Bureaus zu Gründe. Aus den Auf¬ zeichnungen erhellt, dass die Zahl der Todesfälle an Zucker¬ krankheit in den letzten Jahrzehnten erheblich gestiegen ist; die Zunahme ist freilich grossentheils wohl nur auf eine bessere Erkenntniss des Leidens zurückzuführen. Das Gleiche gilt von der Anzahl der Erkrankungsfälle, von denen übrigens begreif¬ licher Weise nur ein kleiner Theil, die in Heilanstalten beob¬ achteten, zur amtlichen Kenntniss gelangen. Es erkrankten durchschnittlich weit mehr Männer, als Frauen an Diabetes; bei letzteren pflegt die Krankheit im Allgemeinen einen un¬ günstigeren Verlauf zu nehmen. Bezüglich der Betheiligung der Altersklassen ergiebt sowohl die Krankenhaus-, wie die Sterblichkeits8tatistik, dass die Krankheit nicht oft bei Per¬ sonen unter 30 Jahren, am häufigsten bei solchen über 40 Jahren auftritt. Unter den Angehörigen der verschiedenen Berufe ist die Zahl der Zuckerkranken besonders gross bei den in der Landwirtschaft, dem Handel und Versicherungswesen beschäftigten Personen. Mit einer unverhältnissmässig hohen Ziffer sind die wohlhabenderen Kreise vertreten, wenngleioh auch arme Personen unter den Zuckerkranken nicht fehlen. Verhältnissmässig häufig trifft man die Krankheit bei den Juden. Hinsichtlich des Einflusses der Jahreszeit und der Häufigkeit des Vorkommens der Krankheit in den verschiedenen Landestheilen Hessen sich aus dem zu Gebote stehenden Ma¬ terial keine einwandsfreien Schlüsse ziehen. —y. Eine Blnt-Beaction bei Zuckerkrankheit. Ihr Ursprung und ihr diagnostischer Werth. Von R. T. Williamson. (The lancet 4. August.) Es ist für die Sachverständigen-Thätigkeit zweifellos von Werth, ein Mittel zu besitzen, mit dessen Hilfe man auch längere Zeit nach dem Tode mit Sicherheit die Zuckerkrankheit er¬ kennen kann, auch wenn die inneren Organe kein charakte¬ ristisches Zeichen dafür bieten und Urin zur Untersuchung nicht erhalten werden kann. Dieses Mittel besitzen wir in einer Re¬ aktion des Blutes, auf welche zuerst von Williamso n im Jahre 1896 aufmerksam gemacht wurde. Das Blut von Zuckerkranken hat, wie er fand, die Eigenschaft, eine warme alkalische Lösung von Methylenblau, wenn sie in bestimmten Verhältnissen ge¬ mischt ist, zu entfernen. Das Blut von gesunden Personen und solchen, welche an irgend welcher anderen Erkrankung leiden, giebt diese Reaktion nicht. Dieselbe beruht auf der stärkeren Reduktionsfähigkeit des diabetischen Blutes. Die Reaktion wird in folgender Weise ausgeführt. Man bringt einen Tropfen Wasser (40 cbmm) in ein Reagensröhrchen, fügt dazu 20 cbmm Blut eines Zuckerkranken, bringt dazu 1 cbcm wässe¬ riger Methylenblau-Lösung (1 : 6000) und mischt zu dem Ganzen 40 cbmm Liquor Kali carbonici. In einer zweiten Röhre stellt man dieselbe Mischung dar, nur nimmt man statt des Blutes von Zuckerkranken, das Blut von gesunden Menschen oder solchen, die mit einem anderen Leiden behaftet sind. Beide Mischungen haben ziemlich tiefblaue oder blaugrüne Farbe. Nun werden die Röhrchen durch ein Wasserbad erhitzt und vier Minuten lang gekocht. Dadurch verliert die Mischung mit dem Blut von Zuckerkranken die blaue Farbe und nimmt eine schmutziggelbe Verfärbung an, die andere Mischung dagegen behält ihre blaue oder blaugrüne Farbe. Es ist nothwendig, sich genau an diese Vorschrift zu halten, da auch das normale Blut, wenn es in grösserer Menge zugesetzt wird, eine redu- zirende Wirkung ausübt und unter gleichen Bedingungen die blaue Farbe verliert und sich schmutziggelb färbt. Dies tritt bereits ein, wenn man statt 20 cbmm 60 cbmm verwendet. Die Versuche sind von mehreren bekannten, zuverlässigen Autoren bestätigt worden. Die Reaktion ist ziemlich fein und zeigt sich schon, wenn der Urin sehr kleine Mengen Zucker enthält. Ihr diagnostischer Werth kommt bei Lebzeiten dann in Betracht, wenn Coma diabeticum eingetreten ist und der Urin nicht gewonnen werden kann. Von grösserer Wichtigkeit kann sie nach dem Tode sein. Bekanntlich kann man in vielen Fällen von Zuckerkrankheit bei der Sektion keinen Anhalts¬ punkt für die überstandene Erkrankung finden und so ist wohl mancher Fall von Zuckerkrankheit, wenn er bei Lebzeiten nicht erkannt worden war, auch noch nach dem Tode nicht aufge¬ klärt worden. Dies war um so leichter möglich, wenn die Blase leer war, und die Untersuchung des Urins unterbleiben musste. Die oben angegebene Methylenblau-Reaktion konnte nicht nur nach Stunden, sondern sogar mehrere Tage nach dem Tode eines Zuckerkranken noch erhalten werden, ln einem Falle war das Blut 10 Stunden nach dem Tode entnommen worden, eine ganze Woche lang in einer Flasche stehen ge¬ blieben und zeigte doch noch deutlich die Reaktion. Das Blut wird am Besten der inneren Iugularvene entnommen, weil an dieser Stelle bei der Sektion weniger leicht eine Verunreini¬ gung des Blutes zu Stande kommen kann als an anderen Theilen des Körpers. Franz Meyer Berlin. Neurologie und Psychiatrie. Ueber epileptische Aequivalente. Von Dr. Ernst Schnitze-Andernach. (Müochn. Med. Woch. 1900, Nr. 13.) Wie die Epilepsie dem Kliniker immer neue Gesichtspunkte bietet, so fordert sie auch von dem Gerichtsarzt immer neue Forschungen, und in manchen Punkten schon sind wir ge- nöthigt gewesen, unsere Anschauungen von ihr sehr erheblich umzumodeln. Das bestätigen wieder einmal die hier vorliegenden Mittheilungen von Ernst Schultze, die wir daher mit einiger Ausführlichkeit zu besprechen veranlasst sind. Verf. hatte ein Gutachten über einen mehrfach vorbestraften Menschen abzu¬ geben, dem zwei Diebstähle zur Last gelegt waren, von denen er den einen ohne Weiteres zugab. Genauere Nachforschungen ergaben, dass dieser Mann in seiner Knabenzeit eine heftige Soharlacherkrankung durchgemacht und seitdem sich seelisch völlig verändert habe. Insbesondere habe er zeitweise einen unbezwinglichen Drang gehabt, fortzulaufen und irgendwo um¬ herzuirren und habe nach seiner Rückkehr immer in dumpfem Brüten eine Zeit lang verharrt Dabei sei er sonst ein braver Mensch und auch kein Trinker gewesen. Es ergab sich ferner, dass der Betreffende beim Militär wegen mehrfachen Deser- tirens bestraft war. Die Beobachtung lehrte, dass der Mann für die seelische Verstimmung, in der er den Trieb zum Fort¬ laufen hatte, immer volle Erinnerung besass, nicht dagegen für all das, was er während seiner Irrfahrten ausführte. Auf einer solchen Irrfahrt hatte er auch die beiden Diebstähle ver¬ übt. In der Anstalt zeigt der Angeklagte sich für gewöhnlich ruhig und geordnet, dazwischen aber zeitweise gedrückt, leicht ermüdbar und reizbar. Zweimal hatte er Schwindelanfälle, nie einen echten Krampfanfall. Gleichwohl erkannte das Gutachten an, dass der Angeklagte an Epilepsie leide und möglicherweise in einem Zustande von epileptischem Bewusstseinsverlust die ihm zur Last gelegten strafbaren Handlungen begangen habe. Dieser Fall führte den Verfasser darauf, an dem ihm zur Digitized by Google 15. Oktober 1900. Aentliehe Sachverstftndigen-Zeitung. 415 Verfügung stehenden Krankenmaterial zu prüfen, wie weit über¬ haupt epileptische Aequivalente ohne Bewusstseins- und nachfol¬ gende Oedächtnissstörung Vorkommen. Es war nämlich bei einer früheren Beurtheilung des gleichen Kranken, die sich auf seine Desertion beim Militär bezog, der Verdacht der Epilepsie zurück¬ gedrängt worden, weil der Mann sich der Thatsache seines Weglaufens ohne Weiteres erinnerte. Vier Fälle sind es nun, an denen Schultze erläutert, wie bei epileptischen Aequivalenten das Bewusstsein bezw. die Er¬ innerung völlig erhalten sein kann. Vorausgeschickt sei, dass es sich in allen diesen Fällen um unbestreitbare Epilepsie mit woblausgebildeten Anfällen handelt. Einem Kranken kam es öfters so vor, als spreche eine völlig deutliche Stimme, an deren Wirklichkeit er jedoch nicht glaubte, zu ihm irgendwelche Sätze, die einen Vorwurf für ihn enthielten. Er bekam meist unmittelbar nach dieser Sinnes¬ täuschung einen Krampfanfall, manchmal aber auch nur leichte Zuckungen ohne Bewusstseinsverlust, und auch diese blieben gelegentlich aus, sodass sich die Sinnestäuschung als alleiniges Aequivalent darstellte. Die Erinnerung an die Sinnestäuschung war regelmässig voll erhalten. Bei demselben Kranken ging dem Krampfanfall manchmal eine Erinnerungstäuschung vor¬ aus, die auch wiederum zu andern Zeiten isolirt als Aequivalent auftrat und ohne Bewusstseinsstörung verlief. Der zweite Fall betrifft ein junges Mädchen, das manch¬ mal kurz vor den Anfällen, in einzelnen Malen auch ohne nachfolgenden Krampf oder auch nur Bewusstseinsverlust plötzlich in schamlosester Weise ihre Kleider bis unter die Schultern hochhob oder sich auf den Abort begab, um Kot zu essen. Sie erinnerte sich dieser Handlungen genau, schämte sich der Schamverletzung tief und hatte wahren Abscheu vor der Coprophagie. Sie gab an, unter zwangsartigem Triebe zu handeln, ebenso wie sie vor anderen Anfällen zwangsmässig Uber allerlei allgemeine Fragen grübelte. Eine andere Kranke hatte vor den Anfällen oder anstatt derselben ohne Bewusstseinstrübung Urinabgang, wobei sie gleichzeitig erbleichte. Merkwürdig ist ein vierter Fall, der sich nicht ganz eng, aber doch wohl eigentlich an die bisher erwähnten anschliesst. Ein erblich schwer belasteter Techniker schoss sich in einem Zustand trüber Verstimmung drei Kugeln in den Kopf. Sie drangen in beide Schläfen. Ausser allgemeinen Hirndruck¬ erscheinungen folgte eine sich langsam bessernde Sprach¬ störung. Es bildeten sich epileptische Anfälle heraus. Nach einem der ersten Anfälle bemerkte der Kranke eine Vertaubung der linken Gesichtshälfte. Die Untersuchung ergab völlige Unempfindlichkeit derselben für alle Reizarten. Die Reflexe waren im Gebiet aller Aeste des V. Hirnnerven links erloschen, stellenweise bildeten sich Quaddeln. Die Nervenlähmung ging nach einigen Stunden zurück, sie kam manchmal wieder, um das Nahen eines Krampfanfalles anzukündigen, manchmal aber auch allein ohne folgende Attacke. Dabei bestand dann nicht die geringste Benommenheit, und für die Zeit der Nerven¬ lähmung nicht die geringste Erinnerungsstörung. Verf. trägt Bedenken, diesen Fall ohne weiteres mit den vorigen in eine Reihe zu stellen, weil es sich doch vielleicht um Reflex- Epilepsie, wahrscheinlich zum mindesten um traumatische und nur mit geringer Wahrscheinlichkeit um eine echte, selbstständige Epilepsie gehandelt hat, während doch, was von der einen gilt, nicht ohne weiteres auf die andere über¬ tragbar ist. Jedenfalls genügen auch die übrigen Fälle, um zu zeigen, dass die Trübung des Bewusstseins, der Verlust, ja die Ver¬ wischung der Erinnerung keine absoluten Erfordernisse für epileptische Aequivalente jsiud. Eine Reise in die Schweiz im epileptischen Dämmer¬ zustände, und die transitorischen Bewusstseinsstörungen der Epileptiker vor dem Strafrichter. Von Landgerichtsarzt Dr. Bur gl- Nürnberg. (M. M. W. 1900. No. 37.) Es handelt sich um einen erblich Belasteten, der in frühester Jugend öfters Krämpfe gehabt, als Erwachsener manchmal nachts gezuckt und sich in die Zunge gebissen hat, um dann mit Kopfschmerzen zu erwachen, und der auch öfters von Schwindelanfällen befallen wurde. Bisweilen war er ganz ver¬ wirrt, so dass er am Sonntag zur Arbeit gehen wollte, eine Schrankthür für die Wohnungsthür hielt und dergleichen mehr, ln solohen Zuständen lief er, ein sonst braver, anständiger Mensch, zweimal mit heraushängendem Geschlechtstheil auf die Strasse, was ihm zuerst, ehe seine Krankheit erkannt war, eine Gefängnissstrafe eintrug. Offenbar also ein echter Epi¬ leptiker. Dieser Mann hatte nach neunjähriger glücklicher Ehe zu einer Zeit, als seine ganze Familie krank lag, plötzlich das Haus verlassen und war nicht wiedergekommen. Vorher war sein tiefsinniges Wesen aufgefallen, er hatte an Kopfschmerz, Schlaf- und Appetitlosigkeit gelitten. Nach wenigen Tagen tauchte er in Basel in seinem Arbeitsanzug mit Handwerkszeug bei seinen Eltern auf, die er fröhlich begrüsBte. Dann hatte er einige Tage starkes Schlafbedürfniss. Später erinnerte er sich der Reise nur in groben Umrissen und des Grundes, wes¬ wegen er sie unternommen, garnicht. B. bespricht nun zunächst die Frage, wann eine vorüber¬ gehende Bewusstseinsstörung als epileptisch aufzufassen ist. Er beantwortet sie dahin: wenn, bei Ausschluss aller anderen in Betracht kommenden Krankheitsformen bei dem Kranken entweder typische Krampfanfälle oder einige gut gekennzeichnete Dämmerzustände oder rasch vorübergehende Schwindelanfälle mit Blässe und dem Gefühl umzusinken bezw. rasch vorüber¬ gehende Bewusstseinsverluste nachgewiesen sind. Wichtig ist es, dass Epilepsie von Angeklagten oft als Strafausschliessungsgrund zu Unrecht geltend gemacht wird. Einen schweren Stand hat der Gerichtsarzt Leuten gegenüber, die wirklich epileptisch sind, aber zur Zeit ihrer Strafthat bei voller Besinnung waren, wenn sie Geisteskrankheit vorschützen. Dann muss man sich eben drein finden, dass mal ein Epileptiker zu Unrecht freigesprochen wird — gegenüber den Vielen, die zu Unrecht verurtheilt werden. Den Schluss der Abhandlung bilden die Krankengeschichten dreier Epileptiker, die im Dämmerzustände Betrug bezw. exhi- bitionistische Handlungen bezw. Sachbeschädigung verübt hatten. Tromoparalysis tabioformis (cum Dementia.) Von Prof. Dr. Wertheim Salomonson. (New. Centr. 1900, No. 10.) Im Anschluss an einen einschlägigen Fall wird die Frage erörtert, ob das bisweilen beobachtete Zusammentreffen von Erscheinungen der Rückenmarksschwindsucht mit denen der Zitterlähmung zufällig oder bedeutungsvoll im Sinne eines be¬ sonderen Krankheitsbildes ist. Verf. entscheidet sich für die letztere Möglichkeit. Er meint, die erfahrungsgemässe Wahr¬ scheinlichkeit des inneren Zusammenhangs von Störungs¬ gruppen, die gleichzeitig bei einem Kranken vorhanden sind, steigere Bich fast zur Gewissheit, wenn ein solcher Zusammen¬ hang „möglich“ sei. (?) Zudem müsse es auffallen, dass innerhalb verhältnismässig kurzer Zeit (seit 1888) sechs solche Fälle vorgekommen seien. Ferner seien aber in den vor¬ liegenden Fällen die KrankheitseiBcheinungen der Rücken¬ marksschwindsucht nicht ganz der gewöhnlichen Grundform gefolgt. Seelische Veränderungen (Stilles Wesen, Gedächtniss- Digitized by Google 416 Aerztllohe Sachverständigen-Zeitung. No. 20. schwäche) seien hervorgetreten, die Ataxie dagegen in den Hintergrund. Ebenso fehle von der Zitterlähmung in allen sechs Fällen die wichtige Erscheinung, dass die Kranken, vorwärts gestossen, ihrem Laufe nicht Einhalt thun können. Es handelt sich also nach W. S. um eine neue, eigen¬ artige Krankheit, der er den etwas seltsam klingenden Namen giebt, den der Titel ausspricht. Nach vereinzelten pathologisch - anatomischen Befunden bei Zitterlähmung, die Veränderungen in den Hintersträngen des Rückenmarks erkennen Hessen, ist an die Möglichkeit einer Hinterstrangserkrankung durch inselförmige Verhärtung in der Umgebung der Gefässe zu denken. Ohren. Eine Analyse des Binne’schen Versuches. Von Prof. Bezold-München. (ZeiUchr. f. Ohrenheilk., XXXVU. Band, S. 197 ff.). Bezold hat sich auf dem Gebiete der funktionellen Prüfung des Gehörorgans hohe Verdienste erworben; die Er¬ gebnisse seiner Forschungen sind Gemeingut aller Ohrenärzte geworden, haben aber auch für den ärztlichen Sachverständigen grosses Interesse gewonnen. Stimmgabeluntersuchungen ohren¬ leidender Unfallverletzter sind auch lür den Nichtohrenarzt, wenn er zur Beurtheilung als Sachverständiger zugezogen wird, unentbehrlich geworden. Und hier wieder ist es der Rinne’sohe Versuch, der für die Frage, ob ein Ohrenleiden seinen Sitz im mittleren oder im inneren (Labyrinth und N. acusticus und Cerebrum) Ohre hat, von grösster Bedeutung sein kann. Der Rinne’scbe Versuch misst die Zeit, welche eine Stimm¬ gabel noch vor dem Ohre durch die Luft gehört wird, wenn sie am Warzenfortsatz, auf den sie vorher mit ihrem Stiele aufgesetzt worden war, abgeklungen ist, — oder, wo (bei Er¬ krankungen des Schall-Leitungsapparates) die Knochenleitung länger dauert, umgekehrt die Zeit, um welche die Luftleitung von der Knochenleitung überwogen wird. — Beim gesunden und beim rein nervös erkrankten Ohr überwiegt die Luftleitung, wenigstens für tiefere Stimmgabeln. Zu dieser Thatsache hat Bezold eine neue Beobachtung gemacht, über die Interessenten das Nähere an Ort und Stelle nachlesen mögen. Zweck dieser Zeilen ist es hauptsächlich, auf den Werth der Stimmgabel¬ prüfungen auch für den ärztlichen Sachverständigen hin¬ zuweisen. Richard Müller. Ueber die Betheiligung des Mittelohres bei Scarlatina mit 12 Sektionen des Gehörorganes. Aus der K. Universitäts-Kinderklinik des Herrn Prof. v. Ranke und dem otiatrischen Ambulatorium des Herrn Prof. Bezold. Von Dr. B. von Gaessl er-München. (ZeiUchr. f. Ohrenheilk.. XXXVII. Bend, 8. 143 ff.). Zum Beweise, wie wichtig Scharlach als ursächliches Moment für Ohrenkrankheiten ist, giebt Verf. in Anlehnung an andere Autoren zunächst einen statistischen Ueberblick, der darin gipfelt, dass 4—7 Prozent aller Ohrenkrankheiten auf Scharlach zurückzuführen sind, während 10 Prozent aller Fälle von Scharlach mit einer Otitis einhergehen. Letztere Angabe stammt Von Hildebrand, ist aber, wenn man alle während einer Scarlatina auftretenden Ohraffektionen, also auch die vorübergehenden bezw. nicht zur Otorrhoe führenden, ins Auge fasst, — wie jetzt allgemein bekannt, — entschieden zu niedrig gegriffen. Untersuchungen des Gehörorganes, die Verf. intra vitam an 54 Scharlachkindern vornahm, bestätigen das; ganz allein Otorrhoe fand er in 7,69 Prozent der Fälle. Verf. giebt dann ausführlicher die Geschichte von 12 tödtlich verlaufenen Scharlachfällen; bei allen wurde die Sektion des Schläfenbeins gemacht. Dabei ergab sich, dass die Pauken¬ höhle mit ihren Nebenräumen in keinem Falle ganz frei von krankhaften Erscheinungen war, während intra vitam nur in 2 Fällen eine Ohrenaffektion festgestellt worden war; der 8ektionsbefund schwankte zwischen einfacher Gefässinjektion der Schleimhaut bis zur Ausfüllung der Mittelohrräume mit dickem, rahmigen Eiter. Nur in einem Falle zeigten sich in der knorpeligen Tube entzündliche Veränderungen, in allen anderen Fällen war die Tube frei, was gegen eine kontinuir- liche Ausbreitung des Krankheitsprozesses vom Nasenrachen¬ raum auf das Ohr, vielmehr für die Auffassung der Mittelohr¬ erkrankung als einer selbstständigen Theilerscheinung der allgemeinen Infektion bei Scharlach spricht. Die verdienstvollen und interessanten Ausführungen des Verf. machen es wahrscheinlich, dass das Gehörorgan an der Scharlacherkrankung — so wie dies für Masern und Diphtherie schon nachgewiesen ist — regelmässig Theil nimmt, wenn auch in Rücksicht auf die geringe Anzahl der Sektionen ein endgiltiger Beweis dafür uoch nicht erbracht ist. Richard Müller. Ausgedehnte Zerreissung der Ohrmuschel und voll¬ ständige Durehtrennung des äusseren Gehörganges mit theil weiser Ablösung der Sehne desSternodeidomastoideus und Absplitterung der Warzenfortsatzspitze durch Schlag mit einem Ziegelstein. Operation zur Wiederherstellung der Ohrmuschel und des Gehörganges. Von Dr. Swan M. Burnett-Washington. Uebersetzt von Dr. Th. Schröder-Rostock. (ZeiUchr. f. Ohrenheilk., XXXVII. Band, 8. 137 ff.). Die lange Ueberschrift sagt, nach einer bei englisch schreibenden Autoren vielfach anzutreffenden Gepflogenheit, das Wesentliche über den Inhalt des Aufsatzes. Nach einer einleitenden Erörterung der in der That auffälligen Seltenheit von Verletzungen der Ohrmuschel und der noch grösseren Seltenheit operativer Eingriffe an dem verletzten äusseren Ohr stellt Verf. als Haupterfordemiss solcher Operationen die Offenhaltung des Gehörgangslumens hin. Diesem Gesichts¬ punkte ist bei der geschilderten Operation, die übrigens nichts weiter als ein sorgfältiges und im Gehörgang wegen der engen Verhältnisse besonders schwieriges Aneinandernähen der Vorgefundenen Bruchstücke darstellt, Rechnung getragen. Das Ergebniss war befriedigend; das Lumen des verletzten Gehörgangs war nach der Heilung nur wenig enger als das der anderen Seite; und das Gehör war nachher auf dem ver¬ letzten Ohr sogar besser als auf dem gesunden. Richard Müller. Hygiene. Die Ranchbelästigung in deutschen Städten. Von H. Chr. Nussbaum. (DeaWche Vierteljnhrssohrift für öffentl. Gemndheitopflege Bd. 32, 8. 562 a. f.) Der Ausschuss des deutschen Vereins für öffentliche Ge¬ sundheitspflege hatte im Jahre 1899 einen Fragebogen an die Verwaltungen deutscher Städte mit einer Einwohnerzahl von 15000 und mehr versandt, um Aufschlüsse über den Grad der in ihnen etwa herrschenden Ranch- und Russbelästigung, über deren jeweilige Ursachen und die Mittel, welche zur Abhülfe ergriffen worden sind oder geführt haben, zu erhalten. Da die Ergebnisse dieser Umfrage bei den Verhandlungen des Vereins für öffentl. Gesundheitspflege über diesen Gegenstand auf der Nürnberger Versammlung im Jahre 1899 keine volle Digitized by Google 15. Oktober 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 417 Berücksichtigung finden konnten, weil es an Zeit gebrach, hat der Verf. sich der dankenswerthen Mühe unterzogen, die ein¬ gegangenen Fragebogen einer Sichtung zu unterwerfen. Aus dem vorliegenden Bericht ergiebt sich, dass 75 Proz. der in Frage kommenden Städte sich an der Umfrage bethei¬ ligt haben, und dass etwa Vs bis l / 4 der deutschen Städte mit 15000 und mehr Einwohnern unter der Rauchbelästigung in mehr oder minder hohem Grade zu leiden haben. Da in diese Zahl die meisten grösseren Iudustriecentren und die sämmtlichen Grossstädte einbegriffen sind, während in mittel¬ grossen und kleineren Städten günstigere Verhältnisse herr¬ schen, so darf schätzungsweise angenommen werden, dass etwa die Hälfte der Stadtbewohner im deutschen Reich und die weit¬ aus bedeutendste Mehrzahl der Grossstädter unter den Folgen des Austretens unvollkommener Verbrennungserzeugnisse in die Luft zu leiden haben, denen vielfach auch schwellige Säure und andre ätzend oder giftig wirkende Gase sich beimischen. Die Grösse der Rauch- und Russbelästigung ist nicht allein von dem Brennstoffverbrauch abhängig, sondern wie die Unter¬ schiede in den verschiedenen Städten darthun — beispiels¬ weise weist Berlin einen erheblich geringeren Gehalt des Russ- und Rauchgehalts der Luft auf, als Dresden, Leipzig, Hannover, Nürnberg und viele Iudustriestädte — einmal von örtlichen und klimatischen Verhältnissen und von der Lage des Orts, von der Lage der Gewerbebetriebe zur Stadt und ganz beson¬ ders von dem ortsüblichen Brennstoff. Mit vollster Klarheit geht aus sämmtlichen Berichten hervor, dass dort, wo Mager¬ kohle, Koke und Presskohle eine ausgedehnte oder alleinige Verwendung finden, die Belästigung eine unter allen Umständen erträgliche bleibt, während Flammenkohlen, Holz und ganz be¬ sonders die Böhmische Braunkohle als Erzeuger von erheb¬ lichen Rauch- und Russmengen zu gelten haben. Zu diesen letzteren zählen in erhöhtem Grade die Abfälle von Kohle, Holz und Torf. Berlin verdankt seine relative Russ- und Rauch¬ freiheit vornehmlich dem Umstande, dass hier vornehmlich Magerkohle, Koke und Presskohle Verwendung finden. Ferner konnte eine günstige Einwirkung vielfach an Orten festgestelit werden, in welchen die Anwendung von Leucht¬ gas zum Kochen und Backen eine allgemeine geworden ist, während früher Holz oder Flammenkohle diesem Zweck diente. Es ergiebt sich hieraus, dass der Auswahl geeigneter Brenn¬ stoffe eine besondere Bedeutung in der Bekämpfung der Rauch- und RusBplage zukommt. Besonderes Interesse bieten die Angaben über den An- theil, welchen die Grossbetriebe, die Kleinbetriebe und die häuslichen Feuerungsstätten an der RauchentBendung nehmen. Die Klagen und Beschwerden der Nachbarn von Gewerbe¬ betrieben über Rauchbelastigung beziehen sich in ganz wesent¬ lich bedeutenderem Masse auf Kieiubetriebsfeuerungen als auf Kesselfeuerungen, und zwar stellt sich dies Verhältniss an¬ nähernd wie 4:1. In erster Linie stehen die Feuerstätten der Bäckereien, über die allgemein Klage geführt wird, selbst in Städten, die sonst eine Rauchbelästigung nicht kennen. Dann folgen die Brauereien, Brennereien, die grösseren Schmieden und Schlossereien sowie die Tischlerwerkstätten mit Maschinen¬ betrieb und die Wäschereien. Ein recht bedeutender Antheil fällt auch den häuslichen Feuerstätten zu, wo Kohlenbeschickung die Regel bildet. Von den Grossbetrieben wurden arge Belästigungen in solchen Fällen verzeichnet in welchen das Mass der Kessel- fiächen den von ihnen ständig oder zeitweise geforderten Lei¬ stungen gegenüber zu klein gewählt war. Bei den Kleinbetrieben und den häuslichen Feuerungs- stätten beschränkten sich die Mittel zur Abhülfe in der Regel auf eine Erhöhung und Quersohnittserweiterung der Sohom- steine oder auf die Anwendung eines andern weniger Rauch und Russ entwickelnden Brennmaterials. Gegenüber den Gross¬ betrieben führte die Erhöhung oder Erweiterung der Schorn¬ steine nur in wenigen Fällen zum Ziele, während die Ver- grösserung der Kesselflächen stets ein unerwartet günstiges Ergebniss lieferte. Daneben kommt, wie allseitig anerkannt, der Schulung und Beaufsichtigung der Heizer eine bedeutsame Rolle zu, während die verschiedenen Rauchverzehrungsein¬ richtungen einen nachweisbaren Erfolg nicht erkennen Hessen. Wenn dem Verf. darin beizustimmen ist, dass für alle ge¬ nehmigungspflichtigen Feuerstätten die in den verschiedenen Staaten durch Gesetze, Verordnungen und Ortsstatute gegebenen Bestimmungen im Allgemeinen ausreichen, erhebliche Rauch- und Russbelästigung zu verhüten, und zwar besonders dann, wenn die Fabriken überall von den Wohnungen genügend ent¬ fernt und der vorherrschenden Windrichtung abgewandt er¬ richtet werden, so hat dies zur Voraussetzung, dass seitens der Verwaltungsbehörden gegen alle durch Rauch oder Russ hervorgebrachten Belästigungen und Schädigungen in jedem Fall mit aller Energie vorgegangen wird. Dasselbe gilt gegen¬ über den Kleingewerbsbetrieben, die, wo die Belästigungen in anderer Weise nicht zu beseitigen sind, gleichfalls ausser¬ halb der eigentlichen Wohnviertel zu errichten sind. Ein ener¬ gisches Vorgehen gegen diese Rauch- und Russbelästigung, als eine der grössten und mit Rücksicht auf die fortschreitende Zunahme der Industrie sich stetig steigernde öffentHche Gefahr ist um so mehr geboten, als neben der Grossindustrie, den Kleinbetrieben und den häuslichen Feuerungsstätten die Lo¬ komotiven der Eisenbahn und Strassenbahnen zur Vermehrung der Rauch- und Russplage, tagaus, tagein in erheblichem Masse beitragen. Roth-Potsdam. Die hygienische Bedeutung der Benützung von Wassergas. Von James Charles Mc. Walter-Dublin. (The Brit, med. Journal 18. Aug. 1900.) Der zunehmende Verbrauch von Wassergas durch viele Gasgesellschaften ist eine Quelle von ausgesprochener Gefahr für die Konsumenten und zwar aus verschiedenen Gründen. Einmal kann die Anlage der Röhren undicht sein und lecken, dann aber bildet das gelegentliche Oftenbleiben des Hahnes, weil das Gas geruchlos ist, eine Hauptgefabr. Weiter ist es möglich, dass Kohlenoxyd zusammen mit den anderen Gasen durch die bleiernen und zusammengesetzten Röhren vermittelst Osmose hindurchtritt und zwar Kohlenoxyd leichter als die an¬ deren Gasarten: So war die Folge der Einführung von Wassergas in den Städten eine sofort eintretende enorme Zunahme der Todesfälle, welche Kohlenoxydvergifrung als Ursache hatten. Deshalb sind gesetzliche Massregeln nothwendig, welche die Beimischung von Kohlenoxyd beschränken und die Gas¬ gesellschaften verhindern, ohne Warnung Kohlengas und Wassergas beliebig zu mischen. Und wenn man der Frage grössere Aufmerksamkeit schenkt, dürfte es auch wohl möglich sein, bessere und exaktere Mittel zu finden, kleinste Mengen dieses Gases zu bestimmen, als die Methode, welche auf der Absorbirung durch Kupferchlorid beruht. Franz Meyer-Beriin. Gesundheitliche Uebelstände und Gefahren der Acetylen¬ beleuchtung und ihre Verhütung. Von P. Roeseier. (Dentsohe Vierteljahmchrlft für öffenll. Qesandheiupflege Bd. 82, 8. 517 n. 7.) Bei der Herstellung des Acetylens ist erstes Erforderniss, dass es von allen Verunreinigungen, namentlich Phosphorwasser¬ stoff, Schwefelwasserstoff, organischen Schwefel- und Phosphor¬ verbindungen befreit wird, um einer Luftverschlechterung und Digitized by Google 418 Aerztliche Sachverständlgen-Zeltung. No. 20. Explosiongefahr nach Möglichkeit vorzubeugen. Diesem Zwecke dienen die Reinigungsvorrichtungen. Von den ReinigungB verfahren sind es namentlich drei, die Eingang in die Praxis gefunden haben, die Chlorkalkreinigung von Lunge und Ceder- kreutz, verbessert von Wolff, die Reinigung mittels sauer Metall¬ salze von Alb. R. Frank und die Reinigung mittels angesäuerter Chromsäurelösung nach Ullmann. Wenn auch keines von diesen Reinigungsverfahren eine vollkommene Reinigung gewähr¬ leistet, so ergeben sie doch im grossen Ganzen für die Praxis genügende Resultate, indem sie vor Allem auch eine wesent¬ liche Luftverderbniss ausschliessen. Bei der Verwendung des Acetylens beruht die grösste Ge¬ fahr in der gewaltigen explosiven Kraft dieses Gases. Diese Explosionsgefahr steigert sich bei Vermischung des Acetylens mit Luft. Solche Acetylen-Luftgemische bilden sich nament¬ lich bei der Inbetriebsetzung neuer und gereinigter Apparate und beim Oeffnen der Apparate zum Zwecke der Reinigung. Diese Explosionsgefahr wird ferner unter dem Einfluss er¬ höhten Drucks gesteigert, eine Gefahr, der durch Vermischen des Acetylens mit indifferenten Gasen, Fett- oder Steinkohlen¬ gas vorgebeugt werden kann. So wurde auf Gerdes Empfeh¬ lung für die Eisenbahnbeleuchtung ein Gemisch von 30 Proz. Acetylen und 70 Proz. Fettgas in Anwendung gebracht, welches ohne Explosionsgefahr auch im komprimirten Zustande mit¬ geführt werden kann. Ausserordentlich gefährlich ist das Acetylen in kompri- mirtem, flüssigem Zustande, und zwar ist die explosive Kraft des flüssigen Acetylens nach Berthelot ungefähr der der Schiess¬ baumwolle gleich zu erachten. Flüssiges Acetylen ist daher als Sprengstoff im Sinne des Gesetzes zu erachten und fällt unter die Bestimmungen des Gesetzes vom 9. Juni 1884. Auf die nicht fabrikmässige Herstellung und die Verwendung des Acetylens bezieht sich der Min.-Erlass vom 2. November 1897 und die Polizei Verordnung für Berlin vom 25. November 1897. Am besten wäre es, die Abgabe von flüssigem Acetylen gänz¬ lich zu verbieten. Auch bezüglich der für das gasförmige Acetylen geltenden Vorschriften hält der Verf. eine Abände¬ rung für angezeigt, und zwar würden sich diese Bestimmungen nicht sowohl gegen die sog. Acetylenfabriken zu richten haben, welche schon jetzt als „chemische Fabriken“ im Sinne des §16 der Gew.-Ordnung konzessionspflichtig sind und einer ständigen Kontrole seitens der Gewerbeaufsichtsbeamten unter¬ liegen, sondern vielmehr gegen die schon vielfach von kleineren Gemeinden und Fabriken angelegten Acetylen-Gasanstalten und gegen die Hausanlagen, welche bisher nur einer polizeilichen Abnahme bedürfen. Zu den in dieser Hinsicht für Berlin er¬ lassenen Vorschriften müssten noch weitere, vom Verf. aus¬ geführte Vorschriften über Einrichtung und Ausführung der Apparate, wie über die Art der Bedienung und den gesammten Betrieb hinzukommen, welche als Richtschnur für eine behörd¬ liche Kontrole seitens besonderer, mit den einschlägigen Ver¬ hältnissen vertrauter Sachverständiger zu dienen hätten, um auf diese Weise den mit dieser namentlich für den Kleinbetrieb ausserordentlich geeigneten Beleuchtungsart verbundenen Ge¬ fahren und sanitären Uebelständen nach Möglichkeit vorzu¬ beugen. Roth-Potsdam. Aus Vereinen und Versammlungen. XVI. Hauptversammlung des Preussischen Medizinal- beamten-Verelns am 28. und 29. September. Reg.- und Med.-Rath Dr. Penkert-Merseburg: Verkehr mit Arzneimitteln ausserhalb der Apotheken.. Die Ausführungen des Vortrages gipfelten in einer Reihe von Leit¬ sätzen folgenden Inhalts: 1. Die Zunahme der Drogenhandlungen und die damit verbundene Gefahr für das öffentliche Wohl macht eine strenge staatliche Beaufsichtigung des Verkehrs mit Arzneimitteln ausserhalb der Apotheken immer mehr erforderlich. 2. Die Kaiserliche Verordnung vom 27. Januar 1890 hat nach ihrem Wortlaute eine vielfach auseinandergehende Recht¬ sprechung zur Folge gehabt und den Schutz des Publikums vor Gesundheitsgefährdungen nicht genügend gewährleistet. Es ist daher eine Revision derselben nothwendig geworden. Der vorliegende Entwurf zu ihrer neuen Fassung bedarf noch mehrfacher Abänderungen. 3. Auch die gesetzlichen Bestimmungen über den Vertrieb von Geheimmitteln sind nicht ausreichend und erheischen eine einheitliche Regelung in allen Bundesstaaten. 4. Eine umfassende wirksame Durchführung der Ueber- wachung des Arzneimittelverkehrs ausserhalb der Apotheken setzt eine Anmeldung aller in Frage kommenden Handlungen voraus. 5. Die von den Ortspolizeibehörden vorzunehmenden Be¬ sichtigungen der Drogen- und Gifthandlungen sind stets unter Zuziehung des ständigen Medizinalbeamten auszuführen, er¬ forderlichenfalls auch unter Beihilfe eines approbirten Apothekers oder eines für die Thätigkeit geeigneten Drogisten. 6. Der Erlass gleichlautender Vorschriften über Ein¬ richtung, Betrieb und Beaufsichtigung der Drogenhandlungen für das gesammte Staatsgebiet ist dringend nöthig. Hierbei bedarf insbesondere auch die Frage der Einziehung und Ver¬ nichtung verdorbener und verfälschter Arzneiwaaren der Lösung. In der angeregten Debatte wurde den Leitsätzen allge¬ meine Zustimmung zu Theil, nur der fünfte erfuhr eine Ver¬ änderung, insofern statt „Zuziehung“ „Leitung“ gesetzt und die Möglichkeit der Zuziehung eines Nahrungsmittelchemikers bei grösseren Geschäften offen gelassen wurde. Prof. Dr. Lubarsch-Posen: Ueber die Veränderung vergrabener Leichentheile. L. prüfte experimentell, wie lange gewisse krankhafte Veränderungen der Organe beim Aufenthalt der Leichen in der Erde, insbesondere im Sarge, erhalten bleiben, indem er kranke Organe in Kisten unter Beifügung faulender Stoffe vergrub. Entzündliches Lungen¬ ödem war schon nach zwölf Tagen, meist nicht mehr nach¬ weisbar. Länger hielten sich Ausschwitzungen im Lungen¬ gewebe (Hepatisationen), die je nach ihrer Ausdehnung noch nach fünf bis acht Wochen erkennbar waren. Sehr rasch, nach einer kurzen Reihe von Tagen verschwanden in Folge der Fäulnissneigung des Blutes kleine Blutungen unter die serösen Häute, ebenso Fettembolien. Organverfettungen ver¬ lieren gleichfalls schnell ihre Erkennbarkeit, weil das ganze mikroskopische Bild zellreicher Theile bald undeutlich wird. Aus der Diskussion ist hervorzuheben, dass Gericbts- physikus Puppe-Berlin seine Bedenken gegen die unbedingte Uebertragbarkeit solcher an einzelnen Organstücken ange- stellten Versuche auf die ganze menschliche Leiche aussprach. Dr. Hildebrandt-Berlin: Zur gerichtsärztlichen Kennt- niss des Sadebaumöls. Es handelt sich hier nur um eine vorläufige Mittheilung, dahin gehend, dass der giftigste Be¬ stand theil des Oels, das Sabinol C 10 + 16 O (Fromm), welches bei Thieren zum Auftreten von Blutfarbstoff, Methaemoglobin und Blutkörperchen im Harn führt, in diesem auf chemischem Wege nachgewiesen werden kann. Dr. Ziemke - Berlin: Die neueren Methoden des forensischen Blutnachweises. Der Vortrag enthielt im Wesentlichen dieselben Thatsacben wie das in No. 18 dieser Digitized by Google 15. Oktober 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 419 Zeitschrift gebrachte Sammelreferat. Wir können uns daher damit begnügen, dieses aus jenem durch einige Einzelheiten zu ergänzen. Was die Darstellung der Blutkörperchen aus eingetrocknetem Blute betrifft, so empfiehlt sich neben dem von Puppe aus¬ gegebenen Gemisch von gleichen Theilen Formalin und offizineller Kalilauge die Methode von M. Richter. Dieser benützt Pepsinglycerin, welches bei Zimmertemperatur das Fibrin viel früher auflöst als die Blutkörperchen, diese daher scharf hervortreten lässt. Die Ipsensche Angabe, dass man bei der Kratter’schen Probe störende organische Substanzen leicht entfernen kann, indem man die Schwefelsäure, wenn sie sich geschwärzt hat, immer wieder abgiesst und erneuert, kann Z. nach eigener Anschauung nicht bestätigen. Für die Unterscheidung von Menschen- und Thierblut wollte Magnanimi die verschiedene Widerstandsfähigkeit des Oxyhaemoglobins verschiedener Thierklassen gegen die Um¬ wandlung in Haematin durch Kalilauge benützen, wobei in der Stufenleiter Menschenblut am niedrigsten steht. Zie mke kann die Angaben M. bestätigen, aber die individuellen Schwankungen sind zu gross, als das die Methode vorläufig praktisch ver- werthbar wäre. Die Unterscheidung der verschiedenen Thier-Haemoglobine aus ihren Krystallformen, die Dwornitschenko vorgeschlagen hat, hält Ziemke mit Filomusi-Guelfi für undurchführbar. Eingehendstes Interesse beansprucht die letzte Diskussion, deren Gegenstand die Durchführung der Desinfektion bei an¬ steckenden Krankheiten war. Sie wurde eingeleitet durch den Vortrag von Prof. Wernicke-Posen, Direktor des hygienischen Instituts: Die neueren Fortschritte auf dem Gebiete der Wohnungsdesinfektion. Die bisher gebräuchliche Wohnungsdesinfektion, welche die in der Behausung des Er¬ krankten, in den Wohnräumen, an den Gegenständen der Krankenwohnung, den Effekten etc. verbliebenen Krankheits¬ keime durch Anwendung mechanisch-chemisch wirkender Mittel und durch die Verwendung des siedenden Wasserdampfes zu beseitigen erstrebte, hat durch die Verwendung des Formalins eine äusserst schätzenswerthe Bereicherung erfahren, wenn damit bei einer Reihe von Krankheiten die bisher übliche Wohnungsdesinfektion auch nicht verdrängt worden ist. Jeden¬ falls hat die Formalindesinfektionsmethode auf Grund der bis¬ herigen Erfahrungen, auch nach denen des Vortragenden in Posen, sich Bürgerrecht erworben, um in der zuerst von Flügge empfohlenen Art und Weise Verwendung zu finden. Der Vortragende erörtert darauf die verschiedenen Me¬ thoden der Verwendung des Formalins zu Desinfek¬ tionszwecken. Die richtige Handhabung der Formalin¬ desinfektionsmethode setzt aber die Ausbildung von Desinfek¬ toren voraus. Ja, der ganze Erfolg der Desinfektion hängt von gut geschulten Desinfektoren ab. Eine der wichtigsten Forderungen für die Ausführung von Desinfektionen überhaupt, für die Bekämpfung der Infektionskrankheiten namentlich in den kleinen Städten und auf dem platten Lande sei die Aus¬ bildung und das Vorhandensein von Desinfektoren in jeder, auch der kleinsten Ortschaft. Da Formalindesinfek- tionsapparate mit geringen Kosten zu verschaffen sind, während die Beschaffung grösserer Dampfdesinfektionsapparate wegen der hohen Kosten schwierig ist, so sei bei der Ausbildung der Desinfektoren namentlich Werth auf die Herstellung von im- provisirten Dampf-Apparaten zu legen, wie Fässern, grösseren kastenartigen Vorrichtungen, in welche man heißsen Wasser¬ dampf leicht durch Kochen von Wasser in Kesseln oder von Lokomobilen aus hineinbringen könne. Namentlich auf dem Lande und den kleinen Städten liege die Wohnungsdesinfek¬ tion darnieder. Eine der wichtigsten Funktionen des Kreisarztes müsse es sein, die Desinfektion in seinem Bezirk zu überwachen, die Desinfektoren auszubilden und Repetitionskurse mit denselben abzuhalten. Jeder Wohnungsdesinfektion bei Diphtherie, Typhus, Tuberkulose habe die bakteriologische Diagnose der Krankheit voranzugehen. Die Sicherung dieser Diagnose habe durch besondere hygienische Institute zu erfolgen, welche bei jeder Regierung eines Regierungsbezirkes errichtet werden sollten, und mit welchen die zukünftigen Kreisärzte in regstem Konnex zu stehen hätten. Diesen Instituten müsse die Sorge für die Hygiene der Regierungsbezirke übertragen werden. Die Wohnungsdesinfektion nach Ablauf der Krankheit sei aber nur eine halbe Massnahme, wenn nicht ganz besonders desinfektorische Massnahmen während des ganzen Verlaufs der Krankheit Platz griffen; denn der Kranke stehe während der ganzen Krankheit im Mittelpunkt des Infek¬ tionsherdes und von ihm ausgehend werde der Krankheitsstoflf verschleppt. Mit der Desinfektion während der Krankheit hapere es ganz besonders. Vielfach läge es an dem Mangel von Mitteln, vielfach aber auch an den ganzen Wohnungsver¬ hältnissen und der Armuth der niederen Stände, vielfach ferner an der Nichtbefolgung der ärztlichen Anordnungen oder am Mangel ärztlicher Anordnungen sowie am Mangel von zweck¬ mässigem Pflegepersonal. Um hier Abhülfe zu schaffen, sei in erster Linie die möglichst häufige Verbringung von Kranken mit ansteckenden Krankheiten (in praxi namentlich Diphtherie, Typhus, Scharlach) in Krankenhäusern nothwendig; weiterhin müsse das Krankenpflegepersonal vermehrt werden; des¬ gleichen sei eine sorgfältige Instruktion desselben betreffs der desinfektorischen Massnahmen je nach der Krankheit durch¬ aus nöthig; für Unbemittelte sei die Krankenpflegerin, die Mittel zur Desinfektion unentgeltlich behördlicherseits zu liefern bezw. zu bezahlen. In grösseren Städten seien in den Stadt- theilen, die von der ärmeren Bevölkerung bewohnt würden, in den grossen Miethskasernen immer einige Zimmer mit Küche und Zubehör frei zu halten, in welche bei Ausbruch ansteckender Krankheiten wenigstens einige Kranke und eine Pflegerin untergebracht werden könnten. Als Korreferent folgte*. KreiBphys. Dr. Keferstein-Nimptsch: Ueber Ausbildung und Anstellung von Desinfektoren, zugleich eineEr- örterung der Formalindesinfektion. Zur wirksamen Be¬ kämpfung der ansteckenden Krankheiten ist die Desinfektion unentbehrlich, doch muss dieselbe sachgemäss ausgeführt werden. So lange Desinfektorenschulen nicht vorhanden sind, hat der Kreisphysikus am besten die Ausbildung und Prü¬ fung des Desinfektorenpersonals zu übernehmen. Die Prüfung könnte ähnlich sein, wie sie jetzt für die Heilgehülfen oder Fleischbeschauer festgesetzt sind. Demnach sind zur Prüfung als Desinfektoren Personen beiderlei Geschlechts zu¬ zulassen die als Zeugnisse beizubringen hätten: 1. Ein polizeiliches Führungsattest über ihren unbeschol¬ tenen Ruf. 2. Sobald sie dem Physikus nicht persönlich bekannt sind, ein Zeugniss darüber, dass sie in dem betreffenden Ort oder Bezirk, in welchem sie angestellt werden sollen, ihren dauernden Wohnsitz haben. 3. Falls der Physikus sie nicht selbst ausgebildet hat, ein Zeugniss über eine ausreichend lange Ausbildung in der Des¬ infektion. Die Prüfungen können jederzeit stattfinden; der Prüfungs- Digitized by Google 420 Aerztliohe Sachverst&ndigen-Zeitung. No. 20. termin wird vom Physikus festgesetzt. An einem Termin dürfen höchstens drei Kandidaten zugleich geprüft werden. Die Prüfung zerfällt in einen theoretischen und praktischen Theil. Im ersteren ist festzustellen, ob der Prüfling eine all¬ gemeine Uebersicht über das Entstehen der ansteckenden Krankheiten und über das Vorkommen und die Lebensweise der Bakterien als Krankheitserreger hat, wie auch über die Wirkungsweise der Desinfektion. Im praktischen Theile hat er seine Fertigkeit im Ge¬ brauche der Desinfektionsapparate und Desinfektionsmass¬ nahmen darzuthun. Beide Theile werden an einem Termin abgehalten. Nach bestandener Prüfung ertheilt der Gesundheitsbeamte ein amtliches Zeugniss, worin ausgesprochen wird, dass der Prüfling die für die Ausführung der Desinfektion erforder¬ lichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt. Unter den Heilgehülfen, Barbieren, Krankenwärtern und Krankenwärterinnen, Fleischbesohauern und Fleischbeschaue¬ rinnen, Amfsdienern, Gemeindedienern und Todtengräbern giebt es geeignete Kräfte genug, die gerne die Beschäftigung als Desinfektor mit übernehmen werden. Denn wenn auch in der Grosstadt ein oder mehrere Desinfektoren vollauf zu thun haben werden, so wird doch in der Mittel- und Klein¬ stadt der Betreffende noch eine andere Beschäftigung haben müssen. Besonders eignen sich auf dem Lande die Gemeinde¬ diener, die an und für sich schon als Beamte ein gewisses Ansehen geniessen, was für einen Desinfektor sehr werth¬ voll ist. In welcher Art der Desinfektion soll die Ausbildung geschehen? Nachdem durch Professor Flügge in Breslau ein Verfahren der Wohnungsdesinfektion durch Formaldehyd ein¬ geführt ist, das die Infektionserreger abtödtet, ohne die Möbel und andere Utensilien zu schädigen und die Bewohner allzu sehr zu belästigen, scheint die Formalindesinfektion nach Breslauer Muster am geeignetsten. Es ist dieses Verfahren durch mehrere Hunderte von Desinfektionen praktisch erprobt worden; der desinfektorische Effekt war vollkommen befrie¬ digend, desgleichen sind nie Klagen über Beschädigung von Kleidern, Betten und dergleichen laut geworden, was bei der früheren Dampfdesinfektion nicht der Fall war. Auch im Kreise Nimptsch wird die Flügge’sche Formaldehyddesin¬ fektion geübt zur vollkommenen Zufriedenheit aller Bethei¬ ligten. Das Dampfdesinfektionsverfahren dagegen war wenig beliebt; denn der Eingriff der Desinfektoren in das Eigenthum der Bewohner, das Fortschaflfen der Sachen in die Desin¬ fektionsanstalt und die oft vorkommende Beschädigung der¬ selben und der Wohnung durch die Desinfektion war wenig angenehm. Referent erörtert hierauf das Flügge’sche Verfahren und dessen Grundsätze; er betont hierbei, dass das Formaldehyd nur Oberflächendesinfektion leistet, worauf Flügge in seiner Instruktion auch gebührende Rücksicht genommen hat. Als Anlage zu seinem Vortrage ist die Breslauer Polizeiverord¬ nung, betreffend Desinfektion bei ansteckenden Krankheiten, welche das Flügge’sche Desinfektionsverfahren mit Formal¬ dehyd enthält, mitgetheilt. Dem Verfahren ist zwar der Vor¬ wurf nicht erspart geblieben, dass es nicht alle Dauerformen der Bazillen abtödtet; doch ist dies für die Praxis unwesent¬ lich ; denn der Formaldehyd entfaltet kräftige Wirkung gegen¬ über Diphteriebazillen, Pestbakterien, Tuberkelbazillen, Milz¬ brandsporen, Influenza-, Cholerabakterien, Streptokokken; seine Wirkung ist unsicher nur gegenüber dem Staphylococcus pyogenes aureaus und sehr widerstandsfähigen Sporen von Saprohyten. Demnach hat der Formaldehyd fast bei allen be¬ kannten Krankheitserregern eine ausgezeichnete Wirksamkeit. Man dürfe nicht zu viel verlangen; wäre ein Universaldesin¬ fektionsmittel bekannt, das alle Krankheitserreger rasch und sicher abtödtet, leicht in die zu desinfizirenden Gegenstände eindringt, diese nicht beschädigt, ungiftig oder doch wenig giftig und dabei billig ist, sich auch nicht leicht bei der Be¬ rührung mit Exkreten zersetzt und sich möglichst mechanisch ohne besondere Kunsthülfe im Raum überall hin verbreitet, so würde dieses Universalmittel gebraucht werden. Ein solches Mittel giebt es aber bisher nicht, doch kommt der Formal¬ dehyd ihm am nächsten. Nachdem Referent noch die übrigen Verfahren zur For¬ malindesinfektion von Trillat, Schering (Formalinpastillen), Walter-Schlossmann (Formalin mit Glycerinzusatz), Krell- Elb (Karbolformal-Briquettes), Czaplewski und Praussnitz (mit Sprayapparat) sowie die Rosenberg’sche Methode mit Holzin und das neueste, der Sc hering’schen Fabrik patentirte Verfahren (Uebergiessen von zerkleinertem Aetzkalk mit ver¬ dünntem Formalin, ein Verfahren, das bisher von sach¬ verständiger Seite noch nicht genügend erprobt ist) geschildert hat, kommt er auf die Befugniss der Polizei zur Erlassung einer Desinfektionsordnung zu sprechen. Dieselbe gründet sich auf die §§ 5, 6 und 15 des Gesetzes über die Polizeiverwal¬ tung vom 11. März 1850 und für Landkreise auf den § 142, für Stadtkreise auf §§ 148 und 144 des Gesetzes über die All¬ gemeine Landesverwaltung vom 30. Juli 1883. Auch der §327 des Strafgesetzbuches ist hier wichtig. Die amtliche Bestallung als Desinfektor wird auf Ansuchen der Betreffenden, welche die Prüfung als Des¬ infektoren bestanden haben, von der Ortspolizeibehörde nach dem Bedürfniss für einen bestimmten Bezirk auf Widerruf er¬ theilt. Wieviel Desinfektoren für die einzelnen Kreise und Städte erforderlich sind, richtet sich nach der Ausdehnung und Einwohnerzahl. Breslau mit seinen fast 400000 Einwohnern brauoht nur 5 Desinfektoren, die täglich 4 bis 5 Desinfektionen oder auch noch mehr ausführen können. In den Landkreisen rechnet man am besten auf 6000 bis 10000 Einwohner einen Desinfektor, der dann einen Umkreis von etwa einer Meile zu versorgen hat, so dass die einzelnen Desinfektoren etwa zwei Meilen von einander entfernt wären. Sind zu viel Des¬ infektoren angestellt, so treten sie zu selten in Thätigkeit, wodurch bald Mangel an Uebung entsteht. Im Kreise Nimptsch sind 300 bis 500 Mark zu Des¬ infektionszwecken jährlich ausgeworfen. Der Kreis kauft die Desinfektionsmittel durch den Kreisphysikus, der sie nach Be¬ darf an die Desinfektoren abgiebt. Der Desinfektor bekommt für die Desinfektion 3 Mark aus Kreismitteln; machen sich Desinfektionen im Dampfapparat nothwendig, so erhält er, falls er den Transport begleitet, für die erste Stunde 1 Mark, für jede folgende augefangene Stunde 50 Pfg. Die Kosten der Desinfektion sollen durch den Kreis von den bemittelten Haus¬ haltungen zwar wieder eingezogen werden, doch erstreckt sich das nur auf die 3 Mark, die der Desinfektor bekommt. Um den Desinfektoren anf dem Lande das giftige Subli¬ mat nicht in die Hand zu geben, wird als Desinficiens Kresol- seifenlösung gebraucht oder nur Schmierseifenlösung. Bei letzterer muss die Wäsche aber nachher noch in Wasser aus¬ gekocht werden. Wollsachen vertragen heisses Wasser nicht, da sie sonst filzig werden. Um den Transport zum Dampf-Desinfektionsapparat zu vermeiden, mit welchem oft auf dem Lande ein Meilen weiter Weg verbunden ist, kann man auch die Kleider und Betten, nachdem dieselben der Formalindesinfektion unterzogen waren, an einen warmen, trockenen, vor Regen geschützten Ort bringen und dort möglichst im Sonnenlicht mehrere Tage gründlich lüften lassen. Dieses Verfahren ist bei Unterleibs- Digitized by Google 15. Oktober 1900« Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 421 typhus und Ruhr anwendbar, nur ist das Bettstroh aus den in- fizirten Betten zu verbrennen oder tief zu vergraben, was sich auf dem Lande leicht durchführen lässt, da hier Matratzen nur in den besseren Familien angetroffen werden. So ist die Formalindesinfektion bei fast allen ansteckenden Krankheiten anwendbar und scheint dieselbe besonders dazu berufen, mitzuhelfen an der zielbewussten Bekämpfung der Volksseuchen. (Autorreferat.) Die Diskussion eröffnete Kreisphys. San.-R. Rubensohn- Graetz. Seinei Meinung nach genügt auf 15—16000 Einwohner je ein Desinfektor. Wenn mehr vorhanden sind, kommen sie nur aus der Uebung. Im Kreise Graetz funktionirt das Des¬ infektionswesen seit 1895 mit 2 Desinfektoren vorzüglich. Besondere Schäden au Gegenständen durch Dampfdesinfektion sind nie vorgekommen. Ersatz für die Desinfektionskosten wird erst von einem bestimmten Steuersatz an gefordert. Wernicke befürwortet gegenüber Keferstein die Aus¬ bildung der Desinfektoren nicht durch die Physiker, sondern an Instituten. Gleichzeitig schlägt er als Thema für die nächste Versammlung vor: Welche Massnahmen sind zur Desinfektion während einer Krankheit zu ergreifen? Rapmund-Minden geht auf diesen letzteren Punkt näher ein. Er hält die Desinfektion nach den Krankheiten durch Desinfektoren auch bei der Formalinmethode für misslich, sie wird unbeliebt bleiben und treibt die Kranken den Pfuschern in die Hände. 95 Prozent aller Seuchenverschleppungen kommen während der Krankheit zu Stande. Er hat daher probeweise in seinem Regierungsbezirk folgendes System seit 1 1 / 2 Jahren eingeführt: Wenn ein approbirter Arzt bescheinigt, dass wäh¬ rend der Krankheit eine Desinfektion ordnungsmässig durch¬ geführt ist, braucht die Nach-Desinfektion nicht zu erfolgen, ausser bei Pocken, Flecktyphus, Pest. Seitdem sind die an¬ steckenden Krankheiten eher seltener als zahlreicher geworden. Dies Verfahren wirke gleichzeitig der Kurpfuscherei entgegen, da Kurpfuscher-Atteste natürlich ungiltig seien. Lebhafte Erörterungen knüpften an die Wahl der Personen zu den Desinfektor-Stellen an. Vor der Verwendung der Ge¬ meindediener warnten eindringlichst Rapmund und Stein- berg-Lauban. Schmiele-Weissenfels regte die Verwendung von Mitgliedern der Sanitätskolonnen an, die jedoch von Steinberg, Wenck-Pinneberg, Ho Ith off-Salz wedel durchaus verworfen wurde. Es wurde angeführt, dass in Kriegszeiten die Sanitäts-Kolonnen nicht im Lande seien, und dass sie sich thatsächlich im Kreise Pinneberg bei Choleratransporten gänz¬ lich versagten. Allgemein günstig war die Stimmung für Aus¬ bildung von Frauen als Desinfektoren; von ihnen könne man Reinlichkeit, Behutsamkeit, Nüchternheit und — last not least — Billigkeit erwarten. Rapmund sucht eine Haupt¬ schwierigkeit bei der Erlangung guter Desinfektoren in der Geldfrage. Gewöhnlich sind die Leute zuerst willig und fleissig. Wenn sie aber sehen, dass sie nur selten in Thätigkeit treten, daher nur wenig an Gebühren verdienen, lassen sie nach. Ein festes Gehalt müsste gewährt werden. Befürchtungen Steinbergs, dass die Formaldehyd - Desinfektion sich in Proletarierwohnungen, die schlecht abzudichten sind, nicht be¬ währen wird, wies Wernicke zurück. Wenn man nicht gut abdichten könne, brauche man nur mehr Formalin zu ver¬ dampfen, das genüge schon. Ueber die Ausbildung der Desinfektoren machten0ebbeke- Breslau, Bar nick-Frankfurt a. 0. und Steinberg-Lauban kürzere Bemerkungen. Gerichtliche Entscheidungen. Ans dem Reichs-Tersiclierungsamt. Verweigerte Krankenhausbehandlung. Rek.-Entsch. vom 12. März 1900. Gegen eine Entscheidung des Schiedsgerichts hatten beide Parteien Rekurs eingelegt. Die Genossenschaft hatte bean¬ tragt, ihre Bescheide vom 24. Juni und 5. Juli 1899 wieder herzustellen, und die zulässigen und aussergerichtlichen Kosten beider Instanzen, insbesondere die durch die Gegenpartei ver- anlasßten, dem Verletzten aufzuerlegen. Der Kläger P. hat auf Zurückweisung des Rekurses der Genossenschaft und Ver¬ urteilung derselben zur Fortgewährung der Kosten des Heil¬ verfahrens angetragen. Im Termin zur mündlichen Verhand¬ lung vor dem Reichs-Versicherungsamt hat der erschienene Vertreter des Klägers zum Beweise des verwandtschaftlichen Verhältnisses des Klägers zu dem Gastwirth Sch. in L. eine Bescheinigung des evangelischen Pfarramts in W. vom 9. März 1900 überreicht. Das Reichs-Versicherungsamt wies dann beide Rekurse aus folgenden Gründen ab: Dem Rekurse des Klägers zunächst konnte deshalb nicht stattgegeben werden, weil das Rechtsmittel erst nach Ablauf der vierwöchigen Re¬ kursfrist beim Reichs-Versicherungsamt eingegangen ist. Denn das schiedsgerichtliche Urtheil ist dem bevollmächtigten Ver¬ treter des Klägers nach postamtlicher Auskunft am 27. Okto¬ ber 1899 zugestellt worden, während die Rekursschrift beim Reichs -Versicherungsamt erst am 25. November 1899, also einen Tag zu spät einlief. Der Rekurs der Genossenschaft andererseits ist zwar rechtzeitig erhoben, indessen sachlich unbegründet. Denn nach Lage der Akten muss die streitige Frage, ob die Genossenschaft auf Grund des § 7 des Unfall¬ versicherungsgesetzes befugt war, dem Kläger an Stelle der Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit und der besonderen Kosten des Heilverfahrens (§ 5 a. a. 0.) die freie Kur und Verpfle¬ gung in der Heilanstalt des Dr. S. in A. zu gewähren und bei seiner Weigerung, ihm jede Entschädigung bis auf Weiteres zu versagen, mangels der thatsächlichen Voraussetzungen des § 7 a. a. 0. verneint werden. Allerdings ist der Genossen¬ schaft darin beizutreten, dass jedenfalls zur Zeit des Erlasses der angefochtenen Bescheide das Heilverfahren bei dem Kläger noch nicht abgeschlossen war. Es kann ihr jedoch darin nicht gefolgt werden, dass der Kläger nicht „bei einem Mitgliede seiner Familie gewohnt“ habe bezw. wohne, und dass er deshalb auch wider seinen Willen gemäss der freien Entschliessung des berufsgenossenschaftlichen Organs in ein Krankenhaus zur Heilbehandlung verbracht werden könne. Durch die vom Kläger vorgelegte pfarramtliche Bescheinigung ist erwiesen, dass die uneheliche Mutter des Klägers und der Gastwirth Sch., bei dem der Kläger wohnt, von ein und der¬ selben Mutter abstammen, der Gastwirth Sch. also der bluts¬ verwandte Oheim des Klägers ist; denn die Unehelichkeit der Geburt des Klägers und seiner Mutter hindern nicht die Ver¬ wandtschaft — zu vergleichen Bürgerliches Gesetzbuch §§ 1589 und 1705 —. Wird nun ferner in Betracht gezogen, dass der Kläger schon früher als Lehrling und Geselle fünf Jahre lang und dann seit dem Tode seiner Mutter dauernd in häuslicher Gemeinschaft mit Sch. gelebt hat, so muss Letzterer als ein „Mitglied der Familie“ des Klägers im Sinne der angezogenen Gesetzesbestimmung betrachtet werden. Der Auffassung der Genossenschaft, dass als Mitglieder der Familie nur die Ehe¬ frau, Aszendenten und Deszendenten und allenfalls Geschwister gelten könnten, hat sich das Reichs-Versicherungsamt nicht angeschlossen. Der Begriff des Familienmitgliedes ist erheb¬ lich weiter, als der der Angehörigen im § 7 Abs. 2 des Un¬ fallversicherungsgesetzes. Er ist jedenfalls auch auf solche Digitized by Google 422 Aerztliche Sachverständigen- Zeitung. No. 20. näheren Blutsverwandten auszudehnen, mit welchen der Ver¬ letzte — hauptsächlich wegen seiner verwandtschaftlichen Be¬ ziehung — für längere Zeit in eine häusliche Gemeinschaft getreten ist. Es kann hiernach die Krankenhausbehandlung gegen den Willen des Klägers — so lange er bei Sch. wohnt —, nur dann über ihn verhängt werden, wenn die Art der Ver¬ letzung Anforderungen an die Behandlung oder Verpflegung stellt, denen in der Familie nicht genügt werden kann. Nach den vorliegenden ärztlichen Gutachten, insbesondere dem des Geheimen Medizinalraths Professors Dr. H. in L. vom 20. Sep¬ tember 1899, ist aber diese Bedingung zweifellos nicht erfüllt; es könnte danach viel eher bezweifelt werden, ob die Behand¬ lung des Klägers in einer Krankenanstalt überhaupt geeignet ist, die weitere Heilbehandlung zu fördern. Nicht einer der befragten Aerzte hat diese gesetzliche Voraussetzung bejaht und der bisherige gute Erfolg der Behandlung und Verpflegung in der Familie spricht überzeugend dagegen. Auf Grund des § 7 des Unfallversicherungsgesetzes war die Genossenschaft mithin nicht befugt, dem Kläger ohne seine Zustimmung die Krankenhausbehandlung an Stelle der ihm zustehenden Rente zu gewähren. Die angefochtenen Bescheide sind also mit Recht aufgehoben worden. M. Der ursächliche Zusammenhang zwischen Unfall und Tod liegt nicht nur dann vor, wenn der Unfall die unmittelbare Ursache des Todes ist, son¬ dern auch dann, wenn dieser sich als die mittelbare Folge des Unfalls darstellt Rek.-Entsch. v. 11. Juli 1900. Am 16. August 1899 hat der Schlepper Anton M. auf der Zeche General Blumenthal eine Verletzung des 5. Fingers der rechten Hand erlitten. Der Verletzte ist von dem behandeln¬ den Arzt in das Prosper-Hospital geschickt worden, wo der Finger abgenommen wurde. Im Krankenhause brach während der Anwesenheit des M. eine heftige Ruhrseuche aus, von welcher derselbe ergriffen wurde und daran am 11. September 1899 starb. Der Anspruch der Hinterbliebenen auf Unfallrente wurde vom Sektionsvorstande abgelehnt, weil die Erkrankung weder in unmittelbarem, noch in mittelbarem ursächlichen Zusammenhänge mit dem Unfall stehe, auch beruhe die Ueber- weisung des M. in das Krankenhaus nicht auf einer von der Berufsgenossenschaft getroffenen Anordnung. Mit der Be¬ rufung vom Schiedsgerichte zurückgewiesen, legten die Hinter¬ bliebenen Rekurs ein und beantragten Gewährung der gesetz¬ lichen Renten, sowie Erstattung der ihnen in der Rekurs¬ instanz erwachsenen Kosten. Sie führten aus, dass die Ruhr nicht in allen Fällen und namentlich nicht immer bei Männern im besten Alter einen tödtliohen Ausgang nehme, und dass der Verstorbene dieser Krankheit auch nicht erlegen sein würde, wenn sein Körper nicht durch die Verletzung weniger widerstandsfähig gemacht worden wäre. Auch müsse entgegen den Ausführungen des Schiedsgerichts angenommen werden, dass der Verstorbene wegen der in Folge der Fingerverletzung erfolgten Aufnahme ins Krankenhaus in erhöhtem Masse der Gefahr ausgesetzt gewesen sei, an der Ruhr zu erkranken. Dem Rekurse wurde stattgegeben und die Berufsgenossen¬ schaft unter Auferlegung von 20 Mk. Kosten verurtheilt, die Hinterbliebenen gemäss § 6 des Unf.-Vers.-Ges. zu entschädigen. Gründe: Der Tod eines Versicherten ist als die auf Grund der Unf.-Vers.-Ges. zu entschädigende Folge eines Betriebsunfalls dann anzusehen, wenn Unfall und Tod in einem ursächlichen Zusammenhänge mit einander stehen. Dieser Zusammenhang liegt nicht nur dann vor, wenn der Unfall die unmittelbare Ursache des Todes ist, sondern auch dann, wenn dieser sich als die mittelbare Folge des Unfalls darstellt. Einen solchen mittelbaren Zusammenhang zwischen Unfall und Tod hat das Rekursgericht im vorliegenden Falle nach dem schlüssigen und bestimmten Gutachten des Dr. B. als gegeben erachtet. Der verstorbene Schlepper Anton M. ist wegen einer Ver¬ letzung des 5. Fingers der rechten Hand von dem Kranken¬ kassenarzt Dr. J. ins Prosper-Hospital geschickt worden. In Chloroformnarkose wurde der verletzte Finger abgenommen. Der Verlauf der Heilung war ohne jede Störung, und M. hätte in wenigen Tagen als geheilt entlassen werden können. Da brach die heftige Ruhrseuche im Krankenhause aus; M. wurde von der Krankheit ergriffen und starb daran. Allerdings trat die Seuohe auch in Recklinghausen-Bruch, dem Wohnorte des M, auf, jedoch nicht mit solcher Heftig¬ keit, wie in dem Krankenhause. Von den in Recklinghausen- Bruch zurückgebliebenen Angehörigen des Verstorbenen ist beispielsweise Niemand von der Krankheit ergriffen worden. Das Rekursgericht hat sich unter diesen Umständen dem Gutachten des Dr. B. dahin angeschlossen, dass M. dadurch, dass er zur Zeit der heftigen Hausepidemie gerade im Kranken¬ hause in Folge der Verletzung verweilen musste, in weit höherem Masse der Gefahr der Ansteckung an der Ruhr aus¬ gesetzt war, als wenn er sich in seinem Wohnorte aufgehalten hätte. Das Rekursgericht hat weiterhin in Uebereinstimmung mit dem Sachverständigen angenommen, dass M., der in Folge der Operation noch geschwächt war, hierdurch für die An¬ steckung an der Ruhr empfänglicher gewesen, und dass sein Körper auch weniger widerstandsfähig gewesen ist, so dass er der Krankheit erliegen musste. (Kompass.) Ans dem Oberlandesgerleht Rostock. Delirium tremens und Trunksucht des Versicherten bei Versicherung auf den Todesfall. Entscheidung vom 13. Februar 1900. Nach § 20 der Versicherungsbedingungen der beklagten Gesellschaft „sind alle Ansprüche eines Versicherten oder einer dritten Person aus einer Police erloschen und die ge¬ zahlte Prämie der Gesellschaft verfallen, wenn der Versicherte durch muthwillige oder gefahrvolle Handlungen seinen Tod herbeiführt oder beschleunigt, oder wenn er an Säuferwahnsinn (delirium tremens) gelitten hat“. Das Perfektum „gelitten hat“ kann, da der Rechtsverlust selbstverständlich nicht mit dem Ende der Krankheit hat verknüpft werden sollen, logisch richtig nur gebraucht sein, wenn ausgesprochen werden soll, dass die Ansprüche verfallen sein sollen, wenn der Säufer¬ wahnsinn beim Eintritt eines gewissen anderen Ereignisses vorhanden gewesen ist. Dieses andere Ereigniss kann bei der auf den Todesfall geschlossenen Versicherung nur der Tod des Versicherten sein. Die Richtigkeit dieser Auslegung wird dadurch bestätigt, dass an der fraglichen Stelle der Ver¬ sicherungsbedingungen auch noch von anderen Vorgängen die Rede ist, durch welche der Tod des Versicherten herbeigeführt oder beschleunigt worden ist. Unbestritten ist unter den Parteien, dass der Versicherte nur im Jahre 1895 an Säufer¬ wahnsinn gelitten hat, nicht aber bei seinem Tode am 3. Juni 1899. Wenn der Versicherte, wie die Beklagte behauptet, nachdem er das Delirium überstanden hatte, sich wiederum dem Trünke ergeben, dadurch eine Anschwellung der Leber sich zugezogen hat und schliesslich den Folgen des Trunkes erlegen ist, so fällt ein solches Verhalten nicht unter die vor¬ hin erwähnten „muthwilligen oder gefahrvollen Handlungen“, durch welche der Versicherte seinen Tod herbeiführt oder be¬ schleunigt. In dem § 20 sind einzelne bestimmt zu individua- lisirende Handlungen bezielt, durch welche der Versicherte Digitized by Google 15. Oktober 1900. Aerztliohe Sach verständigen-Zeitung. 428 sich in Gefahr für Leben und Gesundheit begiebt. Dass der Fall eines gesundheitswidrigen Lebenswandels, insbesondere die Trunksucht, nicht zu den „muthwilligen und gefahrvollen Handlungen" des § 20 zu rechnen ist, ergiebt sich mit Sicher¬ heit daraus, dass der Fall des Säuferwahnsinns neben den fraglichen Handlungen als besonderer Verwirkungsgrund auf¬ geführt ist. Würde die Trunksucht des Versicherten schon den Verlust seiner Ansprüche aus dem Versicherungsverträge zur Folge haben, so brauchte der Säuferwahnsinn, der nur als Folge der Trunksucht eintreten kann, nicht besonders hervor¬ gehoben zu werden. Daneben ist zu beachten, dass eine Rechtsverwirkung nur mit bestimmt wahrnehmbaren Vorgängen verbunden zu werden pflegt, und dass deshalb nicht vermuthet werden darf, dass in dem § 20 auch der Fall der Trunksucht bat bezieh werden sollen. (D. Jur.-Ztg.) Bücherbesprechungen und Anzeigen. David Rothschild. Der Sternalwinkel (Angulus Ludovici) in anatomischer, physiologischer und pathologi¬ scher Hinsicht. Frankfurt a. M. Verlag von Johannes Alt. 1900. Preis 2,60 M. Aus den Ergebnissen der Abhandlung sei folgendes her¬ vorgehoben: Die Oberflächen von corpus und manubrium sterni liegen bei normalem Thoraxbau nicht in einer Ebene; vielmehr ist das manubrium etwas nach hinten geneigt. Der so ent¬ stehende Winkel wird vom Verfasser als Sternalwinkel bezeichnet. Manubrium und corpus sterni bleiben bis gegen das sech¬ zigste Lebensjahr durch einen elastischen beweglichen Zwischen¬ knorpel getrennt. Um diese Zeit beginnt die physiologische Verknöcherung der Knochenverbindung. Durch inspiratorische Vergrösserung des Sternalwinkels kommt eine Auswärtswendung des unteren Randes des manu¬ brium und damit eine erhebliche Erweiterung des oberen Brust- raumes zu Stande. Diese Veränderung des Sternalwinkels bei der Inspiration ist bedingt durch die gleichzeitige Drehung der mit dem Manubrium eng verbundenen ersten Rippe um ihre Längsaxe. Der Sternalwinkel beträgt bei ruhiger Athmung bei Männern durchschnittlich 15,85, bei Frauen 12,85 Grad. Die Feststellung der Grösse des Sternalwinkels und seiner Veränderung bei der Athmung geschieht durch einen einfachen, vom Verfasser aus¬ führlich beschriebenen Apparat: „Sternogoniometer“. Von den pathologischen Veränderungen des Sternalwinkels sei hier erwähnt, dass Emphysem gewöhnlich mit einer Ver¬ grösserung, Phthise meist mit einer Verkleinerung des Winkels einhergeht. (Mit „Angulus Ludovici" soll man nach dem Vor¬ schläge des Verfassers nicht den Sternalwinkel in dem oben definirten Sinne, sondern die — bei der Phthise häufigen — Exostosen benennen, die sich über dem verknöcherten Knorpel zwischen Manubrium und Corpus erheben. Diese Exostosen täuschen eine stärkere Neigung des Manubriums vor, während der Sternalwinkel bei Phthise fast ausnahmslos stark abge¬ flacht ist.) R. Stern-Breslau. Guttstadt, Prof. Dr. A. Krankenhauslexikon für das Deutsche Reich. Berlin 1900, Georg Reimer. 939 Seiten. Brosch. 22 M., gebd. 24 M. Das uns vorliegende imposante Werk verdankt seine Ent¬ stehung einer Anregung des deutschen Reichs-Comitds für die Weltausstellung in Paris, wo es den Zweck haben sollte, den Stand der Anstaltsfürsorge für Kranke und Gebrechliche am Anfang des 20. Jahrhunderts zu veranschaulichen. Und wahr¬ lich, mit Stolz konnten die Deutschen die Ergebnisse einer über¬ aus sorgsamen Zusammenstellung, welche dieses Buch enthält, dem Auslände vorführen. Im ganzen Reiche bestehen zur Zeit rund 6300 Kranken¬ anstalten mit 370000 Betten, und die Zahl der Krankenhaus¬ betten hat sich in Preussen, wo in dieser Hinsicht die ge¬ nauesten Ermittelungen möglich waren, seit 1876 mehr als verdreifacht. Aber war auch der äussere Anlass zur Schaffung dieses Buches eine vorübergehende Veranstaltung, so behalten wir in dem Krankenhaus-Lexikon selbst ein Werk von bleibendem Werth. Da es ausser sehr genauen Daten über Entstehung, Belagziffer, Pflegepersonal, Verpflegungspreise der einzelnen Krankenhäuser auch noch Ueberblicke über die gesundheit¬ lichen Einrichtungen aller grösseren Städte giebt, wird es nach manchen Richtungen unentbehrlich werden: als Nachschlage- buch für Jeden, der sich über die näheren Verhältnisse eines einzelnen Krankenhauses unterrichten will, als zuverlässige Quelle für den Historiker der Medizin, für den Hygieniker und Verwaltungsbeamten. Dass es für alle diese Zwecke bequem verwendbar sei, dafür sorgt die ungemein übersichtliche Anordnung des Stoffes, die Beifügung eines guten Sach- und Ortsregisters, und im tech¬ nischen Sinne die zweckmässige Ausstattung des Werkes. Tagesgeschichte. Die Stempelpflichtigkeit des Titels Sanitätsrath. In der seit längerer Zeit schwebenden Angelegenheit eines Frankfurter Arztes, der sich weigerte, die 300 Mark Stempel¬ gebühren für den ihm ohne sein Zuthun verliehenen Sanitäts¬ rathstitel zu entrichten, hat nunmehr das Reichsgericht end- giltig, und zwar zu Ungunsten des Klägers entschieden. Ueber die Begründung dieses für Manche gewiss überraschenden Urtheils theilt die Allg. Med. Centr. Ztg. näheres mit: In der ganzen Angelegenheit sind zwei Momente auseinander zu halten, ein generelles und ein individuelles. Erstlich handelte es sich nämlich um die Feststellung, ob die Verleihung des Sanitäts¬ rathstitels überhaupt eine Stempelpflicht begründe, zweitens darum, ob in dem vorliegenden Falle die uothwendige Voraus¬ setzung der Stempelpflichtigkeit gegeben war, wonach die Aus¬ zeichnung von dem Ausgezeichneten „veranlasst" gewesen sein muss. Beide Punkte beantwortet das Reichsgericht in seinem Urtheil bejahend, und zwar ersteren gestützt auf eine mündliche Aeusserung des Finanzmiuisters bei der Berathung des Gesetzes, der im Plenum des Abgeordnetenhauses im Gegen¬ satz zu früheren Aeusserungen des Regierungsvertreters in der Kommission bemerkt hatte, der Stempel bei der Verleihung des Sanitätsrathstitels könne ja „im Gnadenwege" erlassen werden. — Was den zweiten Punkt anbetrifft, so hatte der Kläger darauf hingewiesen, dass dr sich weder um jene Titu¬ latur beworben, noch auch die Ausfertigung einer Urkunde über den landesherrlichen Akt der Verleihung beantragt, sie somit nicht „veranlasst" habe. Hiergegen lässt das Reichs¬ gericht die Annahme der Vorinstanzen gelten, welche die Ver¬ anlassung des Klägers darin gefunden hatten, dass derselbe die Verleihung und auch die Urkunde über sie widerspruchs¬ los angenommeu habe. Man müsse davon ausgehen, dass in einem Falle der vorliegenden Art die Stempelpflicht an die dem Ausgezeichneten auszuhändigende Urkunde, an das Patent, geknüpft ist, so dass dieses letztere die stempelpflichtige Grundlage abgiebt. „Nun war der Kläger nicht verpflichtet, die ihm zugedachte Auszeichnung anzunehmen, er konnte sie ablehnen. Es ist zweifellos, dass er im Falle der Ablehnung zur Zahlung einer Stempelsteuer nicht verpflichtet war, dann wäre nämlich eine stempelpflichtige Urkunde niemals ausge- Digitized by Google Aorzt liehe Sach verständigen-Zeitung. No. 20. 424 fertigt worden. Die Stempelpfiicht der Verleihungsurkunde gelangt demnach erst durch die Erwirkung der Aushändigung der Verleihungsurkunde und die dadurch zum Ausdruck ge¬ brachte Annahme des Gnadenerweises seitens des damit Be¬ dachten zur Entstehung; dies ist ein unentbehrliches Merkmal des stempelpflichtigen Thatbestandes. Die Ausfertigung der Urkunde durch die Behörde ist nichts als eine selbstverständ¬ liche Folge davon, dass Kläger jene Auszeichnung nicht abge¬ lehnt hat. Sonach war es der Kläger selbst, der diejenige Handlung aus freiem Entschlüsse vorgenommen hat, welche für die Stempelpflicht entscheidend ist, indem er die Urkunde durch Annahme des Titels überhaupt möglich machte; er ist also mit Recht als „Veranlasser“ anzusehen. “ Damit ist für alle künftigen Fälle die Streitfrage erledigt: entweder ablehnen oder Stempel bezahlen. Unterbringung und Zurückbehaltung von Geisteskranken in Irrenanstalten. Auf dem Mitte September in Bamberg abgehaltenen Deutschen Jnristentage wurde auch die Frage: „Bedarf es gesetzlicher Vorschriften darüber, unter welchen Voraussetzungen ein Geisteskranker vor der Ent¬ mündigung in eine Anstalt gebracht und ein entmün¬ digter Geisteskranker dort gegen seinen Willen festgehalten werden darf?“ verhandelt. Die von dem Referenten Geh. Oberjustizrath Vierhaus-Berlin aufgestellten -Thesen wurden mit geringen Abänderungen angenommen. Sie lauten danach: I. Die Frage nach der Entmündigung wegen Geistes¬ krankheit oder Geistesschwäche und die Frage nach der Unterbringung und Festhaltung eines Geisteskranken in einer Irrenanstalt siud verschiedener Natur und von einander zu trennen. Die erste Frage fallt in das Gebiet der gerichtlichen Thätigkeit, die zweite in das Gebiet der Medizinalverwaltung. Eine Befassung der Gerichte mit der zweiten Frage würde weder deren Aufgaben entsprechen, noch sachgemäsB sein. II. Bei der schwerwiegenden Bedeutung, welche die Unterbringung oder Festhaltung in einer Irrenanstalt für den Betroffenen hat, empfiehlt es sich (abgesehen von einer strengen Beaufsichtigung der Anstalt): 1. bezüglich aller dahin gehenden Massnahmen den vollen Verwaltungsrechtsschutz zu gewähren; 2. Fürsorge zu treffen, dass ein strafrechtliches Ein¬ schreiten gegen Missbräuche auf Grund des § 239 des Strafgesetzbuches thunlichst erleichtert wird. III. Die zu II empfohlenen Massregeln hängen aufs Engste mit den Einrichtungen der Verwaltung, insbesondere der Medizinalverwaltung und mit dem Rechtsschutze auf dem Ge¬ biete der Verwaltung zusammen. Eine reichsgeBetzliche Regelung ist daher, selbst wenn sie nach Artikel 4 No. 15 der Reichsverfassung zulässig sein sollte, nicht empfehlenswerth. Inwiefern in den Einzelstaaten zur Durchführung der in No. II bezeichneten Ziele der Erlass neuer Vorschriften erforderlich und ob hierzu der Weg der Gesetzgebung oder der Verwaltungs¬ anordnung zu betreten ist, bestimmt sich nach dem Rechts¬ zustande in dem einzelnen Bundesstaate. (Med. B. Z.) Vorträge über Geschlechtskrankheiten. Mit dem heutigen Tage beginnt der Herbstcyklus der von der Charitödirektion veranstalteten Vorträge für Aerzte. Hatten die Frübjahrsvorträge die Tuberkulose zum Gegenstände, so behandeln die jetzigen — 21 an der Zahl — die Geschlechts¬ krankheiten. Jede Beziehung des wichtigen Gebietes soll von bewährten Fachgelehrten behandelt werden, die klinische, wie die statistische und hygienische, die seelenärztliche wie die chirur¬ gische. Wir halten grade diesen Cyklus für ausserordentlich günstig gewählt. Die Tuberkulosefrage hat in den letzten Jahren die öffentliche Erörterung so beherrscht, dass ihr gegenüber Bchon eine gewisse Lernmüdigkeit eingetreten sein dürfte. Mancherlei Einrichtungen sind ins Lebeu gerufen worden, deren Wirkung die nächsten Jahre prüfen sollen. Die Geschlechts¬ krankheiten dagegen, die so ungeheuer viel Unheil anrichten, werden trotz der dringenden Mahnung vieler Einzelner noch nicht mit demjenigen Nachdruck, unter derjenigen Mitwirkung der Gesammtheit bekämpft, deren es Noth thut. Hier das Interesse der einen Aerzte zu wecken, dem Wunsche der anderen nach Ergänzung ihrer Kenntnisse entgegenzukommen, ist ein überaus dankenswerthes Unternehmen. Möge es frucht¬ bar weiter wirken! Bestrafte Rentenerschleicbungen. Dem „Compass“ und der „Unfallvers.-Praxis“ entnehmen wir zwei Fälle, von denen jeder für den Unfallbegutachter recht instruktiv ist. Ein Ziegelarbeiter hatte im Mai 1898 einen Unterschenkel- bruch erlitten, für den er bis April 1899 eine Rente erhielt Als ihm jetzt die Rente entzogen werden sollte, behauptete er, in Folge des Knochenbruchs sei die Haut an der Bruch¬ stelle erkrankt. Die Sachverständigen konnten jedoch nach- weisen, dass eine Entzündung der Haut künstlich hervor¬ gerufen sei. Der Rentenkläger wurde wegen Betrugsversuchs mit drei Monaten Gefängniss bestraft. Eine grössere grundsätzliche Bedeutung dürfte dem zweiten Fall zukommen, denn es handelt sich hier um die geschickte Verwendung eines alten Leidens zur Vorspiegelung von Unfall¬ folgen. Eine Frau hatte in Folge eines Unfalls einen Horn¬ hautfleck auf dem linken Auge und behauptete, auf diesem völlig blind zu sein. Dies wurde nun zwar als grobe Täuschung sofort erkannt, aber es traf sich, dass die Frau auf dem rechten Auge alte Netzhautveränderungen hatte und auf diesem nach ihren Angaben bei der Sehprüfung nur ein Zwölftel normaler Sehfähigkeit besass. Es musste daher die Veränderung auf dem linken Auge höher bewerthet werden. Bei einer erneuten Untersuchung nach zwei Jahren gelang es jedoch, heraus zu bekommen, dass auf beiden Augen mehr als die Hälfte der normalen Sehfähigkeit bestand. Nun wurde die Frau wegen Betruges angeklagt. Jetzt behauptete sie, eine weise Frau habe die Augen durch ihre Behandlung ge¬ bessert. Doch konnte ihr, da der objektive Befund völlig gleich geblieben war und nach ärztlicher Erfahrung eine Besserung in diesem Maasse ausgeschlossen war, kein Glauben geschenkt werden. Die Frau wurde wegen Betrugs zu vier Wochen Gefängniss verurtheilt. Die Deutsche Gesellschaft für Volksbäder wird ihre diesjährige Haupt-Versammlung am 27. Oktober, Abends 7 Uhr, im Sitzungssaals des Kaiserlichen Ge¬ sundheitsamts (Klopstockstr. 19/20) abhalten. AusBer dem Jahresbericht und den geschäftlichen Mittheilungen werden mehrere Vorträge von berufenen Fachgelehrten gehalten. An die Sitzung schliesst sich ein Festmahl im Centralhotel. Verantwortlich fUr den Inhalt: Dr. F. Leppmann ln Berlin. — Verlag und Bigenthnm von Richard Schoeta ln Berlin. — Druck von Albert Damcke, Berlin-Schtfneberg. Digitized by 1 L/WUU.O, UW UU'UUUUUUUOlKi Google Die „Aentllehe SachTerttUudlcen-Zeltung“ eneheint monatlich ■weimnL Dieselbe ist tn beaiehen durch den Buohhandel, die Poet (No. 86) oder doroh die Verlags buch handlang Ton Richard 8ohoeta, Berlin NW., Lnisenstr. 86, »um Preise ▼on UL 6.— pro Vierteljahr« Aerztliche Alle Mannslcripte, Rittheilnngen nnd redaktionellen Anfragen beliebe man an senden an Dr. F. Leppmann, Berlin W n Knrfll rstenstr. No. 8. Korrektur« n, Resensions-Exemplare, Sonderabdrtteke an die Verlagsbuchhandlung, Inserate und Beilagen an die Annonoen-Expedition Ton Rudolf Moese. Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und UnfaU-Heilknnde. Herausgegeben ▼on Dr. L. Becker Dr. A Leppmann Dr. P. Leppmann Geh. SanitKtsrath, Kftnlgl. Phjsikns, Verl rauen sarst BanltlUrmth, Königlicher Physikus, Ant der BeobaohtnngsansUlt für geistes. prakt. Arxt. Ton BernAgenossensohaAen und Schiedsgerichten. kranke Gefangene in Moabit-Berlin, Spedalaret für Nerven- tn Geisteskranke. Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW«, Luisenstrasse 36. VI. Jahrgang 1900. M 21 Ausgegeben am 1. November. Inhalt: Originalien: Leppmann, Die Zukunft der gerichtlichen Medizin in Preussen. S. 425. Placzek, Die Vortäuschungsmöglichkeit einseitiger schlaffer Ptosis. S. 428. Referate: Allgemeines. Rösing: Spezialarzt oder Spezialasyl im Gefäng¬ nisse. S. 429. Chirurgie. Hippel, Verletzungen des Bauches. S. 428. Deiters, Geheilter Fall von multiplen Darmverletzungen. S. 430. Andrassy, Schusswunde der hinteren Magenwandung. S. 430. Kaeppeli sen., Zwerchfellbruch bei einem Kinde. S. 430. Eichel, Ueber hernia epigastrica. S. 430. Hei manu. Traumatische oder habituelle Skoliose. S. 430. Oberst, Traumatische Wirbelerkrankungen. S. 431. Eichel, Osteomyelitis acuta des Atlas. S. 431. Innere Medizin. Strümpell, Vorkommen und Diagnose der Gicht. S. 431. Petrucci, Häraorrhagien bei Influenza. S. 432. Neurologie und Psychiatrie. Brodmann, Neuritis ascendans traumatica ohne äussere Verwundung. S. 482. Brassert, Untere Plexuslähmung nach s< hussverletzung. S. 433. Smith, Verhütung von Geisteskrankheiten. S. 433. Vergiftungen. Haworth, Apathie nach Thyreoidingebrauch. S. 434. Klüber, Akute Formal in Vergiftung. S. 434. Engster, Bromoformvorgiftung. S. 434. Augenheilkunde. Gl auning, Inflzirto perforirende Bulbus wunden. S. 434. Hauenschild, Spontan auftretende intraokulare Blutung. S. 425. Mock, Fremdkörper im Augeninnern. S. 435. Hygiene. Berry, Die WohnungsVerhältnisse der arbeitenden Klasse. S. 435. Oie Zukunft der gerichtlichen Medizin in Preussen. Von Sanitätsrath Dr. A. Leppmann-Berlin. Königlicher Bezirks-Physikus etc. Den obigen Titel trägt ein Aufsatz von Puppe,*) welcher jüngst erschien, und der es wohl verdient, aus der rasch an dem Auge des Einzelnen vorüberströmenden Fluth der medi¬ zinischen Tagesliteratur hervorgehoben zu werden und Beachtung io weiten Kreisen zu finden. Verfasser entwickelt ungefähr folgenden Gedankengang: Von allen medizinischen Sondergebieten fristet die gerichtliche Medizin in unserem engeren Vaterlande Preussen, ja, man kann wohl auch hinzufügen in ganz Deutschland, gegenwärtig das kümmerlichste Dasein. Während den sonstigen medizinischen Fächern, nament¬ lich aber der Hygiene, getragen von dem Interesse der ge- sammten Bevölkerung, vom Staate durch Schaffung xnuster- giltiger Institute und Krankenhäuser und durch sonstige Gewährung von Mitteln alle Vorbedingungen hoher Leistungs- *) Dtsch. Med. Wochenschrift 1900, No. 81. Sttibben, Die weiträumige Bauweise im Stadtorweiterungs¬ gelände zu Stuttgart. S. 435. Löblowitz, Frauenasyle, eine hygienische Studie. 8. 435. Schoenstädt, Vegetarische Ernährung und ihre Zulässigkeit. S. 436. Halliburton, Bemerkungen über den Gebrauch von Borax und Formaldehyd als Nahrungs-Conservirungsraittd. S. 436. Aus Vereinen und Versammlungen. 72. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Aachen. (Sektion für Chirurgie.) S. 436. Gerichtliche Entscheidungen: Aus dem Reichs-Versicherungs-Amt: Obergutachten, betreffend die traumatische Entstehung eines Nabelbruches. — Ein Bauchbruch. — Erhöhung der Erwerbs¬ fähigkeit trotz unveränderten objektiven Befundes. S. 439. BOchei-besprechungen: Ammann, Die Begutachtung der Erwerbs¬ fähigkeit nach Unfallverlotzungen des Sehorgans. — H offmann, Die paroxysmale Tachycardie. — W'egele, Die diätetische Küche für Magen- und Darrakranke. 8. 441. Gebührenwesen. Bei einem gemeinschaftlichen, von mehreren Aerzten abgegebenen Gutachten steht, abgesehen von den Fällen, in denen es sich um ein Gutachten über den Gemüts¬ zustand eines Menschen handelt, nicht jedem derselben die volle Gebühr des § 3 Abs. 6 des Gosetzes vom 9. März 1872 zu, sondern nur allen zusammen diese Gebühr bis zum Höchst- betrage von 24 Mark. S. 443. Tagesgeschichte: Vorläufige Ausführungsbestimmungen zum Seuchen¬ gesetz. — Instruktionskurs für Amtsärzte. — Fahrlässige Tötung durch Arsenwasserstoff. — Zur Förderung geschlecht¬ licher Enthaltsamkeit unter den Studenten. — Die Haftpflicht für den Schrecken. — »Blätter für Volksgesundheitspflege“. S. 443. fähigkeit gegeben werden, liegt die gerichtliche Medizin abseits vom allgemeinen Interesse. Die Gesammtheit der Aerzte kümmert sich wenig um sie, dieselben werden abgelenkt, theils durch das Aufgehen in der allgemeinen Praxis, theils durch die Vertiefung in andere lohnendere Spezialgebiete, theils durch Beschäftigung mit wirtschaftlichen und Standesinteressen. Die Richter klagen zwar bisweilen über die Mangelhaftigkeit gerichtsärztlicher Gutachten, welche ihnen wie z. B. im Xantner Prozess die Aufklärung wichtiger Kriminalfälle erschwert, aber sie erheben ihre Stimme nicht zu Forderungen nach Verbesserung der Mängel; sie schränken aber das Thätigkeitsgebiet der ge¬ richtsärztlichen Wirksamkeit zu Gunsten anderer Sachverstän¬ digenkategorien ein. So z. B. werden mikroskopische Unter¬ suchungen von Blut, Samen and Haaren den Chemikern über¬ tragen, obgleich gerade auf diesem Gebiete jeder Arzt er¬ fahrener sein muss, als ein nur chemisch vorgebildeter Natur¬ wissenschafter. Das grosse Publikum vollends zeigt kein Ver¬ ständnis dafür, wie sehr im einzelnen Falle seiu Wohl und Wehe im Rechtsstreit, namentlich in Strafsachen von der ge¬ richtsärztlichen Schulung der hinzugezogenen Aerzte abhängt So kommt es, dass auch die staatliche Werth- Digitized by AjOOQle 426 Aerztliche 8 ach verständigen-Zeitung. No. 21. Schätzung dieses Zweiges der Staatsarzneikunde bei uns gering ist. Während in anderen Ländern reichlich Institute für gerichtliche Medizin den Hochschulen beigegeben sind (in Oesterreich an allen Universitäten), während die Vertreter dieser Spezialwissenschaft wie z. B. in Belgien, in der Schweiz und in Frankreich Ordinarien, die diesbezüglichen Vorlesungen obligatorisch sind und die gerichtliche Medizin Prüfungsgegen- stand im ärztlichen Examen ist, besteht in Preussen nur ein einziges gerichtlich medizinisches Institut mit kleinem, von äusseren Zufälligkeiten abhängigem Material. Die Extra¬ ordinarien und Docenten, welche an den anderen Universitäten über die Materie lesen, sind auf theoretische Vorlesungen an¬ gewiesen, falls sie sich nicht privatim oder durch gleichzeitige gerichtsärztliche Thätigkeit Demonstrationsmaten al verschaffen; auf mehreren ausserpreussischen, deutschen Universitäten wird überhaupt nicht über gerichtliche Medizin gelesen. Bezeichnend, wie wir hinzufügen wollen, für den Mangel an staatlichem Ansehen ist es, dass die Berliner Professur, welche jetzt ein Extraordinariat ist, ehedem ein Ordinariat war. Puppe sieht nun gegenwärtig den Zeitpunkt gekommen, in dem es am besten möglich ist, der Staatsarzneikunde im engeren Sinne, d. i. der gerichtlichen Medizin, die ihr ge¬ bührende Stellung zu verschaffen. Wir stehen vor der Neuregelung der kreisärztlichen Verrichtungen und vor einer solchen der medizinischen Prüfungen. Puppe meint, nur der Medizinalbeamte, welcher die Sonderstellung eines Gerichtsarztes habe, könne als eigent¬ licher Vertreter der Disziplin, weil sein Interesse durch anders¬ artige Aufgaben nicht zersplittert und abgelenkt werde, gelten. Gegenwärtig sind in ganz Preussen nur sieben Gerichts¬ physiker, vier in Berlin, je einer in Breslau, Cöln und Königs¬ berg. Er stellt daher als erste Forderung auf, dass der Staat von der im Kreisarztgesetze gegebenen Möglichkeit, dort wo besondere Verhältnisse es erfordern, die Wahrnehmung der gerichtsärztlichen Geschäfte besonderen Gerichtsärzten zu übertragen, möglichst ausgiebig Gebrauch mache. Schreiber dieses war im Kampfe um die Medizinalreform immer ein Gegner der grundsätzlichen Trennung gerichts¬ ärztlicher und sanitätspolizeilicher Amtstätigkeit.*) Er ist auch noch heute, und wie er glaubt, in Uebereinstimmung mit der Mehrzahl der amtirenden Medizinalbeamten, dieser Meinung. Man denke nur an die Untersuchungen der Geisteskranken im Verwaltungsinteresse und an die „Verwaltungs “Sektionen, welche sicher mit der Zeit, z. B. durch das neue Seuchengesetz, häufiger werden müssen und man wird zugeben, dass beide Disziplinen nicht so verschiedene Aufgaben haben, dass nicht ein Beamter die Erfahrung und Schulung, welche er auf dem einen Gebiete erlangt hat, auf dem anderen mit verwerten könnte. Andererseits wird in den kleinen Städten und auf dem flachen Lande ein Arzt der die fides publica des Medizinal¬ beamten hat, am ehesten und leichtesten den Behörden und der Bevölkerung dann zur Verfügung stehen, wenn er beide Geschäfte, die sanitätspolizeilichen und die gerichtlichen be¬ sorgt. Sitzt nach Trennung der Funktionen aber je ein Beamter an einer entfernteren Centralstelle, so entsteht die Gefahr, dass seine Verrichtungen durch den Zwang der Um¬ stände an ortsangesessene Aerzte übergehen, welche, mögen sie auch ausgezeichnete Praktiker sein, in keiner der beiden Disziplinen besondere Schulung haben. Trotz dieses grundsätzlichen Standpunktes muss man aber zugeben, dass in grösseren Städten und den eng gedrängten •) Vergl. Leppmann, Kreisarzt und Gerichtsarzt. Aerzt Sachv.- Zeitung 1897, No. 8. Ortschaften der Industriecentren die Verhältnisse wesentlich anders liegen, dass dort Alles zur Spezialisirung drängt. An solchen Orten wird ein Gerichtsarzt oder werden einzelne Ge- richtsärzte Aufgaben finden, die sie nur mit voller Einsetzung ihrer Leistungsfähigkeit lösen können. Dort wird denselben die Mannigfaltigkeit der Probleme auch jene besondere Schulung bringen, welche, wenn sie wissenschaftlich ausgewerthet wird, zur Belebung der wissenschaftlichen Leistungen der gericht¬ lichen Medizin in unserem engeren Vaterlande beitragen kann. Ich möchte dabei bemerken, dass ich auf medizinalpolizei¬ lichem Gebiete eine Spezialisirung der Thätigkeit der zukünf¬ tigen Kreisärzte in den grossen Städten für gegeben erachte. Die Trennung der Verrichtungen nach willkürlich begrenzten Stadtbezirken hat etwas Missliches. Der Beamte, welcher z. B. sämmtliche Haltekinder einer grossen Stadt dauernd zu beauf¬ sichtigen hat, wird mehr Berufsfreudigkeit haben und Erfah¬ rung erlangen, als wenn mit dem Verziehen um eine Strassen- breite ihm der Gegenstand seiner Fürsorge aus der Berufs¬ wirksamkeit verschwindet. Aehnlich ist es mit der Theilnahme an der Ueberwachung der Gewerbe, da ja die spezifische In- dustriethätigkeit eines Ortes meist über die ganze Stadt ver¬ streut ist, ähnlich mit der Ueberwachung der Kurpfuscherei und noch mit manchem Anderen. Jedenfalls wird man, auf welchem grundsätzlichen Stand¬ punkt man auch steht, den ersten Punkt der Puppe’schen For¬ derungen billigen können, welcher lautet: Vermehrung der Gerichts arztst eilen. Wesentlicher sind seine Vorschläge in Bezug auf das medizinische Prüfungswesen. Er verlangt in erster Reihe Auf¬ nahme der gerichtlichen Medizin als obligatorischen Prüfungsgegenstand in das ärztliche Staatsexamen. Dieser Vorschlag wird manchem Universitätslehrer, mancher Leuchte der Heilmedizin befremdlich erscheinen und auch von den ärztlichen Praktikern werden viele, welche aus der Zeit stammen, wo es leicht war, sich ohne Kassen etc. eine behag¬ liche Existenz zu bilden, versichern, eine solche Gehirnbelastung der Studenten wäre völlig überflüssig. Erwägt man aber, dass die Staatsarzneikunde, soweit sie die Fähigkeit und Gewandtheit betrifft, Gesundheitsverhältnisse am Lebenden zu irgend einem rechtlichen Zweck (Unfall, In¬ validität, Haftpflicht etc.) gutachtlich zu schätzen, seit Schaffung der sozialen Gesetzgebung für jeden Arzt vom ersten Tage seines Eintritts in die Praxis ab, unabweisbares Bedürfnis ist, so wird man über den Vorschlag anders denken. Wir wollen nicht wiederholen, was wir in unserem Pro¬ gramm bei Begründung dieser Zeitschrift über das Verhältnis der Klinik zur begutachtenden Medizin gesagt haben. Es ist manches seitdem besser geworden. Man hebt im klinischen Unterricht die Beziehungen der Körperbeschädigungen zu äusseren und inneren Krankheiten mehr hervor, man schätzt ihren Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit, es sind sogar eine Reihe Spezialvorlesungen vorhanden, welche sich darüber verbreiten, aber eins fehlt noch, d. i. die Betonung der Nothwendigkeit für den Studenten, eine gewisse Summe von Gesetzeskennt- nisB und von technischer Schulung zur Abfassung von Zeugnissen und Gutachten zu erlangen, eine Schulung, die den Bedürfnissen des täglichen Lebens entspricht, nämlich Ur- theile über Gesundheitsverhältnisse so abzufassen, dass eine Trennung von Gehörtem und SelbBtbeobachtetem, ausserdem von Thatsachen und Schlüssen erkennbar ist, dass ferner die Schlüsse sich auf die aus der Kenntniss der einschlägigen Gesetze sich ergebenden Beweisfragen zuspitzen und dass schliess¬ lich die Meinungsäusserung eine möglichst gemeinverständliche Form hat. Dies braucht der Arzt, er braucht es täglich zu seinem Erwerb, er schädigt sich vor der juridisch geschulten Digitized by Google 1. November 1900. Aerztliohe Sach verständigen-Zeitung. 427 Kritik von Richtern, Anwälten, Verwaltungsbeamten etc. vom mitleidigen Achselzucken bis zur Regressklage, wenn er darin minderwerthig geröstet in die Praxis tritt, und sein berufener Lehrer in dieser ein abgeschlossenes Ganzes bildenden Materie kann nur der Vertreter der gerichtlichen Medizin sein. Ausserdem muss er aber vom gewaltsamen Tode min¬ destens das Nothwendige wissen. Zu plötzlichen dunkeln Todesfällen wird in erster Reihe der praktische Arzt gerufen, ja in manchen Grossstädten ist er Leichenschauer als solcher. Er muss also, wenn er mit einiger Sicherheit auftreten will, wissen, wie weit ihm überhaupt eine Erkennung der Todes- art möglich ist und welche Momente die Vermuthung der äusseren Gewalt erregen oder nicht. Aehnlich ist es mit den strafbaren Gesundheitsschädigungen an Lebenden. Soll der praktische Arzt z. B. über seine frühe¬ ren Befunde bei nioht gestorbenen Vergifteten und bei Körper¬ verletzten vor Gericht wirklich sachverständige Auskunft geben, so muss er schon von Beginn seiner Beobachtung an wissen, welche Umstände bei solchen Ereignissen forensisch wichtig sind. Schliesslich muss der Arzt als Student schon lernen, wie weit seine Verantwortung bei Operationen, bei Wahrung des Berufsgeheimnisses und Aehnlichem geht. Es läge also im ureigensten Interesse des Studenten, wenn er während seiner Studienzeit Vorlesungen über gerichtliche Medizin, zumal von manchen Lehrern auf die besonderen Be¬ dürfnisse des praktischen Arztes schon Rücksicht genommen wird und zumal seine spätere Zulassung zum Kreisarztexamen von dem Nachweis des Belegens einer solchen Vorlesung seit drei Jahren abhängig ist, hören würde. Die Thatsachen zeigen aber, dass dem nicht so ist. Der Student hört bei der Fülle des Lernstoffes in erster Reihe das, was er zum Staatsexamen braucht und er wird sich mit gerichtlicher Medizin nur dann genügend beschäfti¬ gen, wenn sie ein o Wigatorisches Fach im Staats¬ examen ist. Deshalb soll man lieber die Anforderungen in anderen Fächern ermässigen; so z. B. verlangt die Gynaekologie, viel¬ leicht auch die Chirurgie an manchen Examenstellen eine so eingehende Kenntniss der grossen Operationen, wie sie der allgemeinpraktizirende Arzt als solcher im Leben nie braucht. Lücken in der klinischen Anschauung lassen sich auch in dem zukünftigen annuum practicum ebnen, aber der Mangel einer forensischen Grundlage ist ein sehr störender und, wie z. B. die Fragekästen ärztlicher Zeitungen in der naiven Unbehilf¬ lichkeit einzelner Fragenden zeigen, für den isolirten Landarzt oft unausfüllbar. Deshalb gilt auch die zweite Puppe’sche Forderung: Ob ligatorisches Staatsexamen in der gerichtlichen Medizin. Schliesslich geht Puppe auf die Verhältnisse der Kreis¬ arzt- bezw. PhysikatsVorbildung ein. Er verlangt, um die Mängel der Ausbildung zu beseitigen die Einführung eines obligatorischen Ausbildungs¬ kursus in einem gerichtsärztlichen Institute als Vor¬ bedingung der Zulassung zur Prüfung. Ich möchte die Forderung eines derartigen Kursus als obligatorische Vorbedingung zur Zulassung zum Examen für zu weitgehend halten. Es giebt doch eine ganze Reihe von Umständen im ärztlichen Leben wie z. B. längere Thätig- keit an grossen, namentlich städtischen Krankenhäusern, an Irrenanstalten, pathologischen Instituten, wo der Arzt genügend Material zur gerichtsärztlichen Schulung in Bezug auf Erken¬ nung gewaltsamer Todesarten und auf Gesundheitsbeschädi¬ gungen am Lebenden hat. Wozu soll ein so vorbereiteter Arzt noch einen Zwangskursus nehmen? Wohl aber muss die Mög¬ lichkeit vorhanden sein, sowohl die Aerzte im Allgemeinen, als auch die zukünftigen Kreis- und Gerichtsärzte zu ihren forensischen Aufgaben heranzubilden und so ergiebt sich als nothwendige Folge der oben ausgeführten Forderungen die Schaffung gerichtsärztlicher Institute an allen preussischen Universitäten. Die Gelegenheit zur Ausbildung in solchen gerichtsärzt¬ lichen Instituten wird auch ohne Zwangskurse von den Exa¬ menskandidaten des Kreisarztexamens dann reichlich benutzt werden, wenn, was ich für eine Frage der nächsten Zukunft halte, das Examen selbst umgestaltet wird, wenn an Stelle der theoretischen Arbeiten Ausarbeitungen praktischer Fälle unter Benutzung von Akten, Leichenmaterial, Geisteskranken und Ver¬ letzten, treten und wenn auch in der mündlichen Prüfung, das Hauptgewicht nicht auf pathologische Anatomie und Chirurgie im Allgemeinen, Bondern auf den gewaltsamen Tod und die gewaltsamen Beschädigungen gelegt werden wird. Puppe verbreitet sich noch darüber, wie das Leichen¬ material für solche Institute beschaffen sein müsste, wie sie in erster Reihe das Recht haben müssten, die pathologischen Präparate von den gerichtsärztlichen Leichenöffnungen zu ent¬ nehmen, wie es ermöglicht werden müsste, dass die sich zum Physikat Vorbereitenden zu den gerichtlichen Leichenöffnungen zugelasBen würden und wie auch die Verwaltungssektionen dem Institute nutzbar gemacht werden müssten. In solchen Instituten könnten dann auch, wie ich betonen möchte, für die Kreisärzte Fortbildungskurse im Seziren und Mikroskopiren und pathologischer Anatomie der gewaltsamen Todesarten eingerichtet werden. Wer, wie viele der jetzigen Kreisärzte, im Jahre nur einige wenige gerichtliche Leichenöffnungen hat, der wird für eine derartige Auffrischung seiner Anschauung dankbar sein. Auch lebenden Demonstrationsmaterials bedarf ein solches Institut. Puppe meint, der Institutsleiter könnte aus gerichts¬ ärztlichen Aufträgen geeignete Fälle wählen. Das scheint mir nicht genügeud. Es muss ihm die Möglichkeit geschaffen werden, aus den Zugängen der Universitätsinstitute der Kli¬ niken sowohl wie der Polikliniken geeignete DemonBtrations- fälle zugewiesen zu erhalten, denn der Professor der gericht¬ lichen Medizin ist, wie ich nochmals betonen möchte, der ge¬ gebene Lehrer der Geßetzeskunde und des Gutachten-Forma¬ lismus auch in Anwendung auf den einzelnen Fall. Eines bedeutsamen Umstandes zur staatlichen Höherstel¬ lung der gerichtlichen Medizin hat Puppe nicht erwähnt, das ist die Nothwendigkeit der Erhöhung der Gebühren für die ärztlichen Sachverständigen. Als 1872 das Gebührengesetz herauskam, da war in den Motiven zu lesen, die Sätze für die Medizinalbeamten seien gleichsam nur als Zuschussentlohnung zu einem festen Gehalt gedacht, und da damals wohl schon die Medizinalreform in Aussicht war, vertröstete man sich in Medizinalbeamtenkreisen auf die zu erwartende Erhöhung des bekannten Grundgehalts. Es schien nach solchem Grundsatz schon damals nicht recht konsequent, die prakt. Aerzte die keine fixe Staatsent¬ lohnung hatten, mit gleichem Maasse zu messen. Seitdem haben sioh die Verhältnisse wesentlich geändert. Alle Entlohnungen haben zugenommen. Die privatärztlichen Leistungen haben eine einigermassen zeitgemässe Taxirung er¬ halten. Nur die Gerichtsgebühren sind geblieben. Noch immer fordert der Staat seine Aerzte zu besonders verantwort¬ lichen und zeitraubenden Leistungen für eine Gebühr, die wesentlich geringer ist, als die, welche er bei sonstigen Arzt- leistungen selbst Armenverbände zu zahlen verpflichtet. Man vergleiche zum Beweis dessen nur einmal die Posi¬ tion 11 der Taxe vom 15. Mai 1896 (Besuch zu bestimmter Digitized by Google 428 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 21. Stunde) plus der Position 7 (Warten auf Verlangen) mit den Gebühren für Abwartung eines gerichtlichen Termins (§ 8,1 des Gesetzes vom 9. März 1872). Welche Werthschätzung soll da der Arzt in Zeitläuften, wo die meisten selbst bei idealster Auf¬ fassung ihres Berufs gezwungen sind, in den Jahren der Rüstigkeit ihr geistiges Kapital möglichst hoch im Erwerbe auszuwerthen für ein Spezialgebiet seiner Wissenschaft haben, dessen Leistungen der Staat als solcher so gering taxirt? Deshalb sehen wir es auch, dass der einigermassen beschäftigte Praktiker „Gerichts¬ sachen* möglichst aus dem Wege geht, dass ihm die Noth- wendigkeit, auch die Rechtsgüter seiner Klienten schützen zu helfen, als Berufspflicht nicht recht zur Ueberzeugung kommt, und dass er, wenn er der Pflicht, vor Gericht zu erscheinen, nicht entrinnen kann, sich, wenn der Ausdruck erlaubt ist, keine grossen geistigen Auslagen zur Vorbereitung seines Gutachtens macht und der thatsächlich geringen Werth¬ schätzung der allgemeinärztlichen Sachverständigenleistungen vor Gericht neue Stütze giebt. Danach halte ich als weiteren Programmpunkt zur Be¬ lebung der gerichtlichen Medizin die bessere Entlohnung für gerichtsärztliche Thätigkeit. Wir kommen zum Schluss. Mögen die Puppe’schen An¬ regungen im Einzelnen Freunde oder Gegner finden, eins wünschen wir: Sie mögen in den Kreisen der Aerzte, Juristen, auch der am öffentlichen Leben Antheil nehmenden Laien nicht ungehört verhallen. Möge man sich klar darüber werden, dass die staatliche Förderung der gerichtlichen Medizin eine „Kulturaufgabe* ist, deren sich unser engeres Vaterland nicht länger entziehen soll*). Oie Vortäuschungsmöglichkeit einseitiger schlalfer Ptosis. Von Dr. Placzek, Nerve oarst. Von dem antagonistischen Wechselspiel der Oberlidmus¬ keln glaubt die herrschende Meinung, dass es für den ge¬ sunden Menschen unmöglich ist, willkürlich auf einer Seite einen der zum LidschlusB nothwendigen Kraftfaktoren auszuschalten. Gleichgültig, ob der Lidschluss in der Weise erfolgen mag, dass nach Aufhebung oder Verminderung des Innervationstonus im Musculus levator palpebrae superioris das Oberlid einzig durch seine Schwere herabsinkt, oder bei gleicher Spannungsänderung im Lidheber der Lidschliesser übermächtig wird, oder dass beide Faktoren gleichzeitig wirken — stets misslingt es, wenu man absichtlich nur ein Oberlid herabfallen lassen will. Entweder schliesst sich das andere Auge gleichzeitig, oder es verengt sich dessen Lid- spalte unter Zitterbewegungen der Lidhaut, der beabsichtigte Augensohluss aber erfolgt nicht in der Art, dass das Oberlid gleich einem Vorhang faltenlos herabfällt, sondern meist zusammengekniffen wird. Zweifellos ist dieser in der einheit¬ lichen centralen Ursprungsstelle beider Oberlidheber begrün¬ dete Lidschlussmechanismus die Norm, die als richtig allent¬ halben leicht erweisbar ist, doch keine ausnahmslose Norm. Diese Einschränkung muss gemacht werden, wenn auch nur eine Beobachtung die Möglichkeit eines einseitigen Lid- Bchlusses darthut, und sie ist wichtig, weil sie den Arzt warnt, vorkommenden Falls stets und sofort eine Krankheits¬ ursache zu suchen und jedeB Vorkommen im Bereiche der .Norm auszuschliessen. *) Nach Vollendung obigen Aufsatzes sehe ich, dass Mitten - zweig in No. 20 der „Med.-Beamten-Ztg.“ das gleiche Thema in ebensolchem zustimmenden Sinne behandelt. Hoffentlich finden unsere "Wünsche Gehör und Verotän(Iniss. L. Zu solcher angeblich nie trügenden Schlussfolgerung kann und muss es den Arzt verleiten, wenn die Verfasser der neu erschienenen ausgezeichneten „Neurologie des Auges*, Sänger und Wilbrandt es kategorisch aussprechen, „dass die Simulation einer einseitigen schlaffen Levatorlähmung wohl keinem Menschen gelinge* (S. 471). Sie halten es für ausgeschlossen, weil der naturgemässe Erschlaffungsvor- gang des M. levator palpebrae superioriB im Schlafe stets doppelseitig erfolgt, weil sie ferner die für die enge Ver¬ knüpfung beider LevatoreB sprechende Thatsache gefunden haben (p. 31), dass bei einseitiger Facialislähmung, also Aus¬ schaltung des direkten Schliessmuskels, des M. orbicularis, der Blinzelreflex auf dem gesunden Auge von dem Zucken der Lider auf der kranken Seite begleitet ist, was nur durch momentane Erschlaffung des Levators erklärbar ist, weil drittens der Versuch, bei geschlossenen Lidern einseitig die Blickebene zu heben, stets misslingt. Wenn ich dem gegenüber eine zweifelsfreie Beobachtung von einseitiger Willkürptosis — so möchte ich Lidschluss¬ möglichkeit nennen — mittheile, so geschieht es nicht, um die Allgemeingültigkeit des Sänger-Wilbrandt’schen Satzes an¬ zuzweifeln, sondern vor Allem um den ärztlichen Gutachter vor Täuschungsmöglichkeit zu bewahren. Es handelt sich um einen in den dreisBiger Jahren stehenden Kollegen, der, so lange er sich erinnern kann, will¬ kürlich jeder Zeit das linke Auge, doch nur dieses, schliessen kann, ohne dass das rechte davon irgendwie berührt wird. Das Oberlid senkt sich dann faltenlos über den Augapfel herab.*) Nicht das leiseste Zittern verräth eine Muskel¬ aktion, ebensowenig lässt die Betastung eine solche wahr¬ nehmen. „Bis zu zwei Stunden* glaubt der Kollege den ein¬ seitigen Lidschluss feBthalten zu können. Lässt er das Lied in Einzelphasen einseitig herabsinken, so tritt leichtes Zittern ein. Während bei der ersten Versuchsanordnung — das lässt sich wohl mit ziemlicher Gewissheit sagen — der Levator willkürlich erschlafft wird, kommt es bei der zweiten zu einer allmählichen Lösung des gegenseitigen Spannungsverhältnisses zwischen Lidheber und Schliesser. Dass eine derartige, sei es angeborene oder durch Uebung erworbene Fähigkeit zu einseitiger Willkürptosis zielbewusst verwerthet werden könnte, um einer „Begehrungsvorstellung* nach einer Unfall¬ rente zu genügen, erscheint mir nicht unmöglich, zumal in einer Zeit, wo die Unfallrentenbewerber sich nur zu leicht verleiten lassen, jede körperliche Eigenart mit einem irgend¬ wie gearteten Unfall ursächlich zu verknüpfen. Deshalb ist es rathsam für den Gutachter, sich der Thatsache zu er¬ innern, dass die einseitige Willkürptosis vorkommt. Zu näherer Feststellung der Art der Symptome verdient j edenfalls die Sänger- Wilbrandt’scheE ntlar vungsmöglichkeit berücksichtigt zu werden, die in einem einseitigen Heben der Blickebne nach beiderseitigem Augenschluss besteht. „Bei der präformirten Verbindung zwischen dem Levator und den Hebern deB Bulbus würde sich nun entweder das anscheinend ptotische Lid heben, oder es würden doch, wenn die Ptosis beibehalten werden soll, lebhafte Zuckungen an diesem Lide zu bemerken sein, indem die Palpebralportion des Orbicularis alsdann in Widerstreit mit den Hebern des Bulbus gerathen würde. Beides ist aber bei PtoBis nach Lähmung nicht der Fall.“ Gewiss ist das Ergebniss dieser Funktionsprüfung werthvoll, doch nur, wenn das anscheinend ptotische Lid sich hebt oder sich sonstwie verräth. Bleibt es aber ge¬ schlossen, so ist Simulation trotzdem nicht ausge- *) Die vorhandene photographische Aufnahme Hess sich leider nicht mit der wünschenswerten Deutlichkeit wiedergeben. Digitized by Google 1. November 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 429 schlossen, denn in meinem Falle bleibt bei doppelseitigem Lidschluss mühelos das linke Oberlid geschlossen, wenn das rechte willkürlich gehoben und der rechte Augapfel möglichst weit nach oben gerollt wird. Beweiskräftiger kann wohl der Versuch nicht ausgeführt werden, als dass Patient, während sein Kopf in gleicher Höhe mit dem Telephon ist, eine senkrecht darüber hängende Zahlentabelle einäugig liest, nachdem er das rechte der vorher geschlossenen Ober¬ lider geöffnet hat. Es besitzt also das Sänger-Wilbrandt’sche Kenn¬ zeichen nur bedingten Werth. Deshalb muss ich es aus¬ drücklich betonen, dass eine einseitige Ptosis vortäuschbar, diese Täuschung mit unseren Hülfsmitteln nicht ausnahms¬ los feststellbar ist. Die festgeBtellte Fähigkeit zu einseitiger Willkürptosis lässt sich in diesem Einzelfalle vielleicht dadurch deuten, dass man in dem linken Oberlidheber einen verminderten Inner¬ vationstonus annimmt, der natürlich leichter lösbar wäre. Zu solcher Vermuthung giebt mir die Beobachtung Anlass, dass bei offenen Augen links das Oberlid breiter als rechts hängt und immer so gehangen haben soll. Eine messbare Verschmäle¬ rung der entsprechenden Lidspalte besteht nicht. Da diese „Proptosis* nicht durch Blepharochalasis, einen vorzei¬ tigen Elastizitätsnachlass, erklärbar ist, muss man wohl an eine theilweise kongenitale Aplasie des für den Levator be¬ stimmten Okulomotoriuskerns einer Seite denken, die eine Verringerung des Innervationstonus und eine Verschiebung des antagonistischen Gleichgewichtes zwischen Schliesser und Heber zur Folge hat. Referate. Allgemeines. Spezialarzt oder Spezialasyl im Gefängnisse. Von Dr. Rösing-Hamburg. (Arch. f. Crim. Bd. 6, H. 1.) Verfasser, der selbst Gefängnissarzt ist, klagt in bewegten Worten über die Schwierigkeiten, die der psychiatrisch ge¬ bildete Arzt bei den gegenwärtig herrschenden Prinzipien des Strafvollzuges hat, wenn er die seelisch Kranken bezw. Minder¬ wertigen richtig behandeln will. Schon die Hausordnung sei für den Sträfling eine schwere Last. Die Prügelstrafe sei für diese tief stehenden Menschen gar nicht so schlimm gewesen, die jetzt üblichen Arrest- und Hungerstrafen versetzten aber häufig den bei der einförmigen Kost Herabgekommenen in einen Zustand körperlicher Er¬ schöpfung, die sehr häufig zu Seelenstörungen führe. Trete dann der Arzt mit mildernden Vorschlägen dazwischen, so ge- rathe er mit der Verwaltung in Schwierigkeiten. Des Weiteren führt R. aus, wie das Lazareth, in dem der seelisch Erkrankte wieder dieselbe Zucht innehalten boII, die¬ selben Uniformen sieht, keinen günstigen Einfluss auf ihn hat, während er andererseits von den geistesgesunden Insassen zu allerlei dummen Streichen aufgewiegelt wird und so auch kein erquickliches Element im Lazareth darstellt. Es ist vieles recht Einseitige in dem Aufsatze. Augen¬ scheinlich werden persönliche Erfahrungen, die Verfasser ja selbst anführt, verallgemeinert, ohne dass ersichtlich wäre, ob Verfasser über die Zustände in anderen Strafanstalten hin¬ reichend unterrichtet ist. Es giebt zum Glück solche, die recht vorteilhaft von den durch R. gekennzeichneten ab¬ stechen. Die Schlusssätze des Aufsatzes lauten: 1. Der Gefängnissarzt muss zur Diagnose der Geistes¬ krankheit befähigt sein. 2. Im Gefängnissspital ist in gesondertem Annex für die vorläufige Beobachtung und Unterbringung Geisteskranker Sorge zu tragen. 3. Die dauernde Behandlung hat in der Irrenanstalt zu erfolgen (am geeignetsten erscheint ein besonders fester Bau in einer Irrensiechenanstalt, wie dies Moeli für Buch vor¬ geschlagen). 4. Die Staatsanwaltschaft muss prinzipiell bei über einen Monat dauernder Entfernung aus dem Strafvollzüge Unter¬ brechung der Strafhaft, die nicht angerechnet wird, verfügen, vorbehaltlich der Begnadigung. 5. In der Disziplin des Gefängnisses muss die Möglich¬ keit vorgesehen sein, auf solche Individuen Rücksicht zu nehmen, die nach Gutachten des Gefängnissarztes „geistes¬ schwach“ sind. (Landwirtschaftliche Arbeit u. s. w.) Diese Thesen, unter denen die erste und letzte von ein¬ wandsfreier Richtigkeit sind, lassen eine Einrichtung ganz un¬ berücksichtigt, welche sich in Preussen bereits seit einer Reihe von Jahren bewährt hat und daher auch immer ausgiebiger geschaffen wird: die Beobachtungsstationen für geistes¬ kranke Verbrecher. Hier, wo der Betrieb eine weitgehende Uebereinstimmung mit dem der Irrenanstalt hat, wo aber trotzdem der Aufenthalt auf die Strafzeit angerechnet wird, ist der Platz, an den heilbare Kranke zunächst gehören. Hier bietet sich gleichzeitig die Möglichkeit, die Genesenen allmäh¬ lich wieder an die Zucht der Strafanstalt zu gewöhnen — falls ihre Strafe noch nicht voll verbüsst ist —, hier kann der Genesene, aber minderwerthig Gebliebene abwarten, ob in der zugehörigen Strafanstalt eine geeignete Arbeits¬ stelle frei wird, die der Forderung der fünften These ent¬ spricht. Wo solche Abtheilungen eingerichtet sind, bedarf es der in These 4 geforderten sehr zweischneidigen Be¬ stimmung über Aussetzung des Strafvollzuges nach mehr als einmonatlicher durch Krankheit bedingter Unterbrechung nicht. Es würde zu weit führen, alle Vorteile dieses Ver¬ fahrens auseinanderzusetzen. Wir möchten nur unserer Ver¬ wunderung Ausdruck geben, dass der Verfasser eine so wichtige Einrichtung nicht mit einem Worte streift. Chirurgie. lieber Verletzungen des Banches durch Einwirkung stumpfer Gewalt. Von Dr. med. R. v. Hippel-Dresden, Bpezi&l&rst fUr Chirurgie. Vortrag gehalten in der Gesellschaft für Natur- nnd Heilkunde zu Dresden am 20. Januar 1900. (Deutsche Aerate-Zeitung, Heft 14, 15, 16.) Anerkanntermassen lassen stumpfe Verletzungen des Bauches wegen der grossen Vielgestaltigkeit des Krankheits¬ bildes, der häufigenUnbestimmtheit der Krankheitserscheinungen, deren Schwere oft der Schwere der Verletzung durchaus nicht entspricht, und der daraus folgenden Schwierigkeit der Orts¬ bestimmung eine genaue Diagnose oft nicht zu. Eine abwar¬ tende Behandlung kann nur gerechtfertigt erscheinen in Fällen, wo begründete Hoffnung vorhanden ist, dass eine Blutung oder Darmverletzung nicht vorhanden ist, und auch in Fällen von blosBer Kontusion des Darmes kann in Folge Durchlässig- werdens der geschädigten Darmwand für Eitererreger eine eitrige Bauchfellentzündung eintreten, so dass zur Regel auf¬ zustellen ist, in allen Fällen zum operativen Eingriff bereit zu sein, welcher, bei der hohen Sterblichkeitsziffer der Bauch¬ verletzungen (97,5 Prozent [Petry]) und der Ungefährlichkeit eines kleinen Probeschnittes besser ein Mal zu viel als ein Mal zu wenig angewendet zu werden verdient. Digitized by Google 480 Aerztliohe Saohverstftndigen-Zeitung. No. 21. Die angeführten Krankengeschichten stützen diese ja von den namhaftesten Chirurgen allgemein aufgestellte Norm; be¬ sonders interessant ist ein Fall von Darmkontusion, in welchem bereits eine begrenzte Entzündung der der gequetschten Darm¬ stelle angrenzenden Bauchfellgebiete eingesetzt hatte, als, auf Qrund der sich vergrössernden Dämpfung an der Stelle der Verletzung, operirt wurde. Ein Jodoformgazetampon wurde auf die betroffene Stelle des Querdarms gesetzt und sein Ende durch den Bauchschnitt nach aussen geleitet. Es trat Heilung ein. Der Jodoformgaze wird vom Vortragenden der Vorzug vor steriler, nicht imprägnirter Qaze zu Tamponadezwecken ein¬ geräumt, da sie sich besser an die Wundflächen ansauge. Seelhorst. Ein geheilter Fall von multiplen Darmverletzungen. Von Dr. Deiters, Assistenzarzt an der Provinz-Irrenanstalt zu Andernach. (M. U. W. # 1900, No. 36.) Eine irre Bauersfrau hatte sich mit einer Scheere eine Bauchverletzung beigebracht, aus der etwa 2 m Darmschlingen herausgetreten waren, in welchen sich „mindestens 12“ Ver¬ letzungen befanden. Trotz schlechtester Hoffnung auf Erfolg wurden die sämmtlichen Defekte mit Serosaknopfnäthen ge¬ schlossen, jedoch nur unter derjenigen Asepsis, welche die Eile gestattete. 2 Jodoformgazestreifen wurden aus der Bauch¬ höhle herausgeleitet, Bauchfell, Fascie und Haut bis auf den mittleren Wundwinkel genäht. Am 3. Tage Erbrechen, wo¬ durch aus einer auseinander gewichenen Stelle der Fascie einige Darmschlingen unter die Haut an der Drainagelücke traten. Sie wurden zurückgebracht, die Wunde fest mit Jodo¬ formgaze ausgestopft. Die Wunde secernirte stark, doch trat ohne Temperatursteigerung völlige Heilung der Verletzung ein. Das Irrsein, welches während der Wundbehandlung sich ge¬ bessert hatte, trat nach Heilung wieder voll auf. Seelhorst. Schnsswunde der hinteren Magenwandung. Laparotomie nach 17 Stunden. Heilung. Von Dr. Andrassy-Böblingen. (Med. Korresp.-BL d. Wttrtt. ärstl. L.-V. No. 40.) Ein jugendlicher Selbstmörder hatte sich einen Revolver¬ schuss in den Bauch beigebracht, anscheinend bei nicht sehr vollem Magen. Der Einschuss befand sich links etwas über dem Nabel. Es waren gar keine Erscheinungen von Herz¬ schwäche vorhanden. Flüssigkeit war im Bauche nicht nach¬ zuweisen. Dagegen waren die Bauchmuskeln krampfhaft zu¬ sammengezogen und es bestanden lebhafte Schmerzen im Bauch. Diese beiden Erscheinungen waren besonders mass¬ geblich für die sofortige Ausführung des Bauchschnitts. Nach längerem Suchen fand sich ein Riss in der hinteren Magen¬ wand. Dieser wurde vernäht. Eine Veranlassung weiter nach der Kugel zu suchen, lag nicht vor. Die Verletzung ist so entstanden zu denken, dass der LebensüberdrüBBige mit der PiBtole die Bauchdecken einge¬ drückt hatte, so dass die Kugel von vorn nach hinten oben zwischen Querdarm und Magen durchdrang, hierbei die hintere Magenwand streifte und einriss und schliesslich in den Rücken- muskeln stecken blieb. Anhangsweise bemerkt Verfasser, daBS er, nachdem ihm zwei Verletzte, die er bei beginnender Bauchfellentzündung noch operirt hat, gestorben sind, prinzipiell von der Operation absteht, sobald er den Leib nicht eingezogen, sondern auf¬ getrieben findet Zwerchfellbrach bei einem Kinde. Von Kaeppeli sen. (Korrespondenzbl&tt für Schweizer Aerste.) Das 10 Monate alte Kind, bis dahin stets normal, äusserte plötzlich, mitten in einer Nahrungsaufnahme Unbehagen, trank nicht mehr und würgte schleimige Massen aus. Am dritten Tage plötzlicher Tod. Die Sektion ergab einen Zwerchfellbruch, welcher linkerseits den Zwerchfellmuskel durchsetzte, einen aus Brustfell und Bauchfell gebildeten Bruchsack aufwies und die Milz sowie den Fundus des Magens enthielt. Die ganze vordere und untere Magenwand ist nekrotisch zerfetzt, sodass der Magen in ganzer Länge eröffnet ist. Die Netztasche liegt vorn auf dem Magen und ist mit sohwarzer Flüssigkeit gefüllt. Nicht der abgestorbene, sondern der normal ernährte Theil des Magens lag im Bruchsack und es muss durch Kontraktion der ZwerchfellmuBkulatur ein Verschluss nur der zur grossen Kurvatur gehörigen Gefässe eingetreten sein. Die Entstehung des Bruches glaubt Verfasser dem An¬ drängen des Bauchhöhleninhaltes gegen eine schwache Stelle des Zwerchfells durch Bauchpresse und vielleicht durch die Saugbewegungen zuschreiben zu müssen. Seel hörst. lieber bernia epigastrica. (Nach einem im unterelsässischen Aerztevereln gehaltenen Vortrage.) Von Stabsarzt Dr. Eichel-Strassburg L E. (Münchener medisinische Wochenschrift 1900. No. 13.) Vortragender hat drei Fälle von Brüchen der Bauchwand zwischen Schwertfortsatz und Nabel beobachtet, von denen zwei mit Sicherheit auf Verletzungen, einer auf Bajonettstoss beim Uebungsfechten, der andere auf Heben einer schweren Kiste, zurückzuführen sind, während ein dritter plötzlich ohne nachweisbare Verletzung oder schwere Anstrengung entstand. Der zweitgenannte Fall, bei welchem sich sehr weite Seiten¬ kanäle nachweisen Hessen, entzog sich der Operation, die beiden andern wurden operirt und geheilt. Bei beiden musste das den Inhalt des Bruches bildende, vom Bauchfell nicht be¬ deckte Netz zur Reposition aus Verwachsungen mit den Bruch¬ pfortenrändern gelöst werden. Beide Male stand der Riss in den Bauchdecken quer, bei dem durch Bajonettstoss ent¬ standenen Falle betraf er den rechten graden Bauchmuskel, bei dem spontan entstandenen Falle, der im Uebrigen keinerlei Bruchanlagen aufwies, die weisse Linie. Beide Risse wurden in der Längsrichtung vernäht. Die beiden operirten Patienten kamen wenige Tage nach Entstehung des Leidens in Be¬ handlung, sie hatten erhebliche Schmerzen, der nicht Operirte, der seinen Bruch schon zwei Jahre trug, hatte nur anfangs Schmerzen gehabt. Die Bonst bei dem besprochenen Leiden so häufig beobachteten Verdauungsstörungen fehlten bei allen drei Fällen. Seelhorst. Traumatische oder habituelle Skoliose? Von Dr. Heimann-Schwäbisch-Hall. (Vierteljfthroschr. f. gerlchtl. Med., Oktober 1899) Die Rentenansprüche eines 18jähr. Sägers, der eine hoch¬ gradige Verkrümmung seiner Hals- und Brustwirbelsäule, welche, nach links abweichend und im untersten Theil der Halswirbelsäule beginnend, bis etwa zum 9. Brustwirbel reichte, darauf zurückführte, dass ihm Bretter im Gewicht von 25 kg auf die linke Seite des Rückens und zwar in die Mitte zwi¬ schen Hals und linker Schulter, oberhalb der Schultergräte, fielen, wurden in allen Instanzen abgewiesen. Die Abweisung stützte sich auf gutachtliche AeusBerungen von vier Aerzten, und wurde in der Hauptsache damit begründet, dass die Verkrüm¬ mung eine ganz gleichmässige sei, jede Knickung, jede Gibbus¬ bildung fehle, jeder augenblickliche Schmerz und eine sich Digitized by Google 1. November 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 431 direkt nach dem Unfall anschliessende krankhafte Veränderung gleichfalls, sowie, dass 47 2 Monate nach der Verletzung schon eine völlige Ausgleichungsunmöglichkeit der Verkrümmung vorhanden gewesen sei. Der Verfasser stützt sich dagegen in seinem, zur Begründung der Rentenansprüche verfassten Gutachten auf die Angabe des Verletzten, sicher vor dem Unfälle ganz gerade gewesen zu sein, Angaben, die von seinen Angehörigen und dem Dorfschneider bestätigt werden, ferner auf das Pehlen krankhafter Anlage und vorausgegangener, zu Skoliosenbildung neigender Erkrankungen. Er führt zur Unter¬ stützung seiner Ansicht Beobachtungen von Raymond Sainton, Paris (de la scoliose tardive des jeunes garqons, Revue d’or- thopddie, 1894) an, in welchen bei 16-, 17- und 21 jähr. Leuten im Anschluss an Verletzungen sich Rückgratverkrümmungen mit schnellem Verlaufe entwickelten. Seelhorst. Ein Beitrag za der Frage der traumatischen Wirbel- erkrankungen. Von M. Oberst-Halle a. S. (Münch, med. Wochenschr. U»00, 39.) Verf. präcisirt seine Ansicht in Betreff der auf Verletzun¬ gen von geringer Stärke nach längerer Zeit folgenden Gestalt¬ veränderungen der Wirbelsäule dahin, dass es eine „trauma¬ tische Spondylitis“, d. h. einen auf Grund von unbedeutender Schädigung des Wirbelknochengewebes entstandenen, zu fort¬ schreitendem Substanzverlust in Wirbeln führenden Erkran¬ kungsprozess nicht giebt, sondern dass alle Gestaltverände¬ rungen der Wirbelsäule nach Verletzungen auf Kompressions¬ frakturen zurückzuführen sind. [Eine Arbeit voa J. Schulz: (Weitere Erfahrungen über traumatische Wirbelerkrankungen) und die Nichterwähnung seiner in einer Diskussion auf der 71. Naturforscherversammlung geäu9serten Ansicht über das Thema veranlassen ihn zu der Darlegung seiner Ueberzeugung, welche dieselbe ist wie diejenige Kö nig’s, Schede’s,Trende- lenburg’s, Kaufmann’s, Nattemer’s und der älteren Auf¬ fassung Kümmel*s von der „traumatischen Spondylitis“ wider¬ spricht.] Ein geringes Hervorragen der Dornfortsätze der unteren Rücken- und Lendenwirbel kommt ausserdem auch bei Ar¬ beitern vor, welche nie einen Unfall erlitten. Seelhorst. Ueber Osteomyelitis acata des Atlas. Von Stabsarzt Dr. Eichel-Strassburg i. E. (Münch, med. Wochenschr. 1900, No. 35.) Ein Feldwebel erkrankte mit Schmerzen im Nacken, die besonders beim Treppabgehen und Aufrichten im Bett vor¬ handen waren, sich aber im Laufe von etwa einer Woche, besonders erregt durch starkes Geschütteltwerden auf einem Pferdebahnwagen, sehr steigerten und mit Unbeweglichkeit des Kopfes vergesellschafteten. Nach etwa 3 Wochen konnte Pat. grössere Bissen schlecht kauen und seinen Kopf nicht hoch- halten, er musste mit den Händen zugreifen, um das Kinn von der Brust zu entfernen. Mit stark nach vorwärts und rechts geneigtem und rechts gedrehtem, ängstlioh in dieser Stellung festgehaltenen Kopfe und Fieber von 38,5° kam Pat. in die Behandlung. An der rechten Seite des Nackens befand sich eine undeutlich fluktuirende Schwellung, die, etwas unter¬ halb des Warzenfortsatzes beginnend, zwischen Mittellinie und Sternocleidomastoideus bis zur Hälfte des Nackens herabreichte, von gerötheter Haut bedeckt und druckempfindlich war. Im Rachen und an den Ohren keine Veränderungen, nervöse Er¬ scheinungen fehlten ebenfalls, Urin frei von Eiweiss und Zucker. Bei der Operation wurde ein Abscess entleert, in dessen Tiefe nach Durchtrennung der tiefen Nackenmuskulatur der rechte hintere Bogen des Atlas eitrig zerstört gefunden wurde. Zwei erbsengrosse, gelöste Sequester werden entfernt» der Knochen mit scharfem Löffel abgekratzt. Im Eiter fand sich Staphylococcus pyogenes aureus. Drainage und Aus¬ stopfung der Wunde, Feststellung des Kopfes mit Schuster- spau. Im Verlauf von 8 Wochen Heilung mit freier Beweg¬ lichkeit des Kopfes. In einem Falle von Osteomyelitis des Hinterhauptbeins, den Verf. kurz nach dem erwähnten operirte, stellten sich nach Abheilung eines Furunkels an der Unterlippe reissende Schmerzen über dem rechten Auge ein, welche sich immer mehr nach der rechten Ohr- und Nackengegend zogen und schliesslich ihren Hauptsitz hinter dem rechten Ohre gewannen und nach vorn ausstrahlten. Fieber von 39,8 stellte sich ein, die Bewegungen des Kopfes waren beschränkt, besonders nach vorn, Drehungen nach rechts besser ausführbar als nach links. Bei der Aufnahme teigige Schwellung von der oberen Hinter¬ hauptlinie abwärts bis zum 2. Halswirbel, zwischen Mittellinie und Warzenfortsatzlinie, Rachen und Ohren ohne Verände¬ rungen. Bei der Operation wurde nach Ablösung des Ansatzes des Kapuzenmuskels und theilweiser Durchtrennung des Ster¬ nocleidomastoideus eine Eiterhöhle eröffnet, deren Grund von der eitrig zerstörten Hinterbauptbeingegend, zwischen dem Gelenkfortsatz und Warzenfortsatz gebildet wurde. Entfernung von gelösten Sequestern, Glättung des Hinterhauptknochens mit Meissei und scharfem Löffel erzielte auch hier Ausheilung mit freier Beweglichkeit. Es kamen mit der Zeit noch eine Reitre kleiner KnochenBtückchen zur Ausstossung. Bemerkenswerth ist bei diesem Falle der Beginn mit Nervenschmerzen im Gebiete des oberen Astes des 5. Hirn¬ nerven. Die Verschiedenheit des Sitzes der Weichtheilschwellung je nach dem Sitze des Krankheitsherdes an den ersten Hals¬ wirbeln oder der Sohädelbasis erscheint für die Diagnose ver¬ wendbar. Bei bestehendem Zweifel, ob eine derartige Erkrankung tuberkulöser oder osteomyelitischer Natur sei, empfiehlt Verf. wegen der schlechten Prognose tuberkulöser Erkrankungen dieser Theile lieber einmal zu viel zu operiren und bei Auf¬ findung tuberkulöser Veränderungen die Operation abzubrechen, als einen, in seiner Proguose guten, osteomyelitischen Herd unoperirt zu lassen. Seelhorst. Innere Medizin. Ueber Vorkommen and Diagnose der Gicht. Von Prof. Dr. A. Strümpell-Erlangen. (Mttnch. Med. Wocb. 1900, No. 38.) Strümpell ist der Ansicht, dass die Gicht viel häufiger vor¬ kommt, als sie erkannt wird, weil man gewöhnt ist, sie als ziemlich selten zu betrachten und infolgedessen nicht genug an sie denkt. Einen echten Podagraanfall deutet freilich Jeder richtig, nicht aber die gichtischen Erkrankungen anderer Gelenke. Um die gichtische Natur eines akuten Gelenkleidens fest¬ zustellen, hat man zunächst den Kranken zu fragen, ob bei früheren Anfällen das Leiden einmal seinen Sitz im Grund¬ gelenk der grossen Zehe gehabt hat. Es ist schon eine Aus¬ nahme, wenn dieses Gelenk nicht beim ersten Anfall betroffen war — dass es bei zahlreichen Anfällen verschont bleibt, kommt kaum vor. Ferner ist zu bedenken, dass die Gicht häufiger die unteren, als die oberen Gliedmassen und häufiger die vom Rumpf entfernten, als die demselben nahen, fast wie die Schulter- oder Hüftgelenke befällt. Im Gegensatz zum Rheu¬ matismus erstreckt sich der Gichtanfall meist nur auf eiu Digitized by Google 432 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 21. Gelenk, kaum je auf mehr als zwei bis drei. Akuten Gelenk¬ rheumatismus hat man im Leben allenfalls vier, höchstens fünf, sechsmal, alte Gichtiker können ihre Anfälle manchmal kaum mehr zählen. Dagegen dauert wiederum bei ihnen die einzelne Attacke kürzer. Endlich ist auf den plötzlichen Ein¬ tritt des Gichtanfalls, die ausserordentliche Schmerzhaftigkeit und starke Röthung und Schwellung des kranken Gelenks dabei zu achten. Die Begleiterscheinungen vom Magendarm¬ kanal und das Verhalten des Harns und Blutes fand Strümpell nicht kennzeichnend. Es giebt nun aber auch larvirte Giftformen. Zunächst die chronische gichtische Gelenkentzündung, die auf den ersten Blick mit der gewöhnlichen chronischen Gelenkentzündung sehr leicht zu verwechseln ist. Hier liegt wieder das Haupt¬ erkennungsmittel in der Feststellung früherer echter Gichtan- fälle. Des Weiteren kann sich die Gicht hinter irgend welchen örtlichen Schmerzen (Fusssohlenschmerz, Achillessehnenschmerz) verbergen. Bei Schrumpfniere darf man nicht vergessen, auf gichtischen Ursprung zu fahnden. Ein solcher wird besonders wahrscheinlich, wenn chronische Blutvergiftung vorausge¬ gangen iBt. Nicht ganz so klar als ihr Verhältniss zu den bisher ge¬ nannten Erkrankungen sind die Beziehungen der Gicht zu Krankheiten des Gefässsystems. Meist wird man geneigter sein, beides auf chronischen Alkoholismus zurückzuführen. Es giebt aber auch Fälle, wo eine direkte Abhängigkeit der Ge- fäsBveränderungen von der Gicht wahrscheinlich ist Immer noch ungenügend erforscht sind die wechselseitigen Beziehun¬ gen zwischen Gicht, Zuckerkrankheit und Fettsucht. Vielleicht stehen mit der Gicht gelegentlich auch Haut- und Schleim¬ hauterkrankungen in Zusammenhang. Unter den Ursachen der Gicht sind besonders zweierlei chronische Vergiftungen zu nennen: Alkohol, insbesondere in der Form von Bier, und Blei. Die Bleigicht scheint klinisch manche Eigentümlichkeiten zu haben, wozu die Häufigkeit der Schrumpfniere gehört. Aber entschieden treten die äusse¬ ren Schädlichkeiten nur dann in Wirksamkeit, wenn gleich¬ zeitig eine innere Veranlagung vorhanden ist, die allem An¬ schein nach auf einer familiären, erblichen Belastung beruht. Ein Beitrag zur Kasuistik der Hämorrhagien bei Influenza* Von Dr. G. Petrucci-Parma. (Wiener Med. Pr. 1900. Mo. 39.) Blutungen können bei der Influenza entweder eine Theil- erscheinung ohne besonderen klinischen Werth darstellen oder, besonders wenn andere Krankheitszeichen nur spärlich vor¬ handen sind, das klinische Bild gerade beherrschen. Sie sind in einzelnen Fällen schon früher, ja auch schon in alten Zeiten beschrieben worden. Im Ganzen ist aber die Literatur immer noch spärlich, und die Zusammenstellung, die Verfasser von eigenen Fällen und solchen aus der Praxis näherer Kollegen ausgeführt hat, entbehrt nicht der Wichtigkeit. Am häufigsten und gewöhnlich am bedeutungslosesten scheint das Nasenbluten zu sein, wovon P. füuf Fälle mit¬ theilt. Es kann immerhin bei schwerem und anhaltendem Blutverlust die durch die Krankheit bedingte Erschöpfung in lebensgefährlicher Weise steigern. In anderen Fällen aber leitet es auch kritisch das rasche Schwinden der Krank¬ heit ein. Am Dächsthäufigsten sind Blutbeimengungen zum Auswurf, meist nur in Form streifiger Verfärbungen, gelegentlich aber als richtiger Blutsturz. Die naheliegende Vermuthung einer gleichzeitig zur Entwickelung kommenden Tuberkulose konnte in P.’s Fällen bakteriologisch und klinisch widerlegt werden. Ungefähr auf der gleichen Häufigkeitsstufe dürften Blutungen aus der Gebärmutter stehen, die zur Fehlgeburt zu führen vermögen. Nur aus der Literatur kennt Verfasser die Bindehaut-, Netzhaut-, Trommelfell-, Gehörgangs- und Hautblutungen, so¬ wie die seltenen Darmblutungen. Dagegen kann er eine eigene Beobachtung von einer zwei Tage anhaltenden Nieren¬ blutung mittheilen. Bei Sektionen sind garnicht selten auch in den verschiedensten anderen Organen Blutungen gefunden worden. Die Frage, ob es eine Infiuenzaform giebt, die besonders zu Blutungen neigt, etwa in Folge einer Mischinfektion, ist noch nicht spruchreif. Neurologie und Psychiatrie. Neuritis ascendens traumatica ohne äussere Verwundung. Von Dr. K. Brodmann-Jena. (M. M. W. 1900, No. 24.) Ein bisher gesunder 33jähriger Mann, kein Trinker, der auch keine andere Gelegenheit gehabt hat, sich eine Nerven¬ entzündung zuzuziehen, stösst mit der Kuppe des 4. Fingers der rechten Hand ziemlich heftig gegen eine Maschine. Augen¬ blicklich fühlt er einen stechenden Schmerz, der bis zur Hand¬ wurzel ausstrahlt, aber für die nächsten Tage nur ein leises Brennen und eine Neigung zum Einschlafen der Finger zu¬ rücklässt. Aeusserlich veränderte sich an dem verletzten Theile nichts. Die Beschwerden bestanden, wenig beachtet, so etwa 4 bis 6 Wochen lang. Dann fingen die Finger an, ungeschickt zu werden. Kurz darauf stellten sich Schmerzen im Vorder¬ arm und, besonders bei Bewegungen, im Ellbogengelenk ein, es folgte eine Ermüdbarkeit des Arms. 6 Wochen nach dem Unfall (?) wurde bereits Muskel¬ schwund an der rechten Hand festgestellt. Die Krankheit ver¬ schlimmerte sich immer mehr, nicht ohne dass zwischendurch der Muskelschwund von einem Gutachter auf Nichtgebrauch zurückgeführt und das Klagen des Verletzten als übertrieben bezeichnet wurde. Etwa 22 Monate nach dem Unfall klagte der Kranke über schiessende Schmerzen im ganzen rechten Arm, einschliess¬ lich der Schulter, die jetzt schon naoh der linken Schulter ausstrahlten, über Taubheits- und Kribbelgefühl in den rechten Fingern, Ungeschicklichkeit der letzteren und Schwäche des ganzen Arms. Objektiv war ein Muskelschwund messbaren Grades an der rechten Gliedmasse erkennbar; die rechte Schulter hing tiefer als die linke, die Schultergrätengruben waren rechts vertieft, die ganze Brustseite abgefiacht. Die Zwischenfinger¬ räume sah man rechts grubig eingedrückt, die Ballen der Hände Hessen dagegen keinen Unterschied erkennen. Die grobe Kraft der rechten Schulter und des rechten Arms war herab¬ gesetzt. Nur vom dreiköpfigen Armstrecker wird mitgetheilt, dass er sehr wenig geschädigt war. Nach längerem Ueben trat ein feinschlägiges Zittern im ganzen kranken Arm ein. Druck auf die Muskulatur, besonders aber auf die Nerven- stämme, verursachte Schmerzen. Man fühlte die Nerven da, wo sie überhaupt fühlbar sind, gegenüber der linken Seite deutlich verdickt. Am rechten Arm bis hinauf zum Gebiet der Oberschlüssel- bein-Nerven wurden zartere Berührungen gar nicht, stärkere als schmerzhaft empfunden. Feine Nadelstiche wurden nicht gefühlt, tiefere verursachten ein anhaltendes Brennen. Die elektrische Erregbarkeit am rechten Arm war sehr verschieden verändert. In einzelnen Muskeln bestand theil- Digitized by Google 1. November 1900. Aerztliche Sachverständigen*Zeitung. 433 weise Entartungsreaktion, nirgends völlige, in andern Herab¬ setzung, in andern Steigerung der Erregbarkeit Hier haben wir also eine Nervenentzündung, entstanden ohne offene Wunde, ohne Infektion, aber durch eine äussere Gewalt; und zwar eine aufsteigende Nervenent¬ zündung, die von den Gefühls-Endzweigen der Fingernerven auf alle Aeste des Armgeflechts, ja auch auf die Gegenseite gewandert ist. Eine rein funktionelle Störung oder eine Syringomyelie — beides könnte diagnostisch in Frage kommen — lässt sich nach dem Verlauf und Befund ausschliessen. Da auch der Kappenmuskel, versorgt vom 11. Hirnnerven, betheiligt ist — ein bei Schulter-Neuritiden übrigens nicht seltenes Ereigniss — muss man sich fragen: wie kann der Entzündungsvorgang auf diesen anatomisch abgesonderten Nerven übergehen? Am wahrscheinlichsten erklärt sich dies und das Uebergreifen auf die andere Körperhälfte durch die Annahme, dass die Entzündung vom Nerven auf die graue Rückenmarkssubstanz übergreift und in dieser weiterkriecht. Der Kranke wurde als voll-erwerbsunfähig erklärt. Ent¬ gegen einem Vorgutachter wurde betont, dass auch leichtere Beschäftigung in diesem Falle schädlich wirken könne. Ein Fall von unterer Plexuslähmung nach Schuss¬ verletzung. Von Dr. H. Brassert*Leipzig. (Nenr. Centr. 1900, No. 18.) Ein bei Königgrätz in die Brust Geschossener weist zur Zeit eine Narbe etwas seitlich von der Brustwarzenlinie im zweiten Zwischenrippenraum und eine zweite dicht unterhalb der Schultergräte über dem inneren Schulterblattrande auf. Anfangs hatte er eine Lähmung der rechten Hand mit Gefühlsstörungen und Sohmerzen, am unteren Drittel des Unterarms war das Gefühl abgestumpft. Am letzteren und der Hand stellte sich in wachsendem Maasse Muskelschwund ein, neben dem besonders unangenehm gegenwärtig ein „Frieren“ und Schmerzen im Gebiet des Ellennervens em¬ pfunden wird. Ausgesprochener Muskelschwund ist nachweisbar an den Beugern und Pronatoren des Unterarms, am Daumen- und Kleinfingerballen und den übrigen kleinen Muskeln der Hand. Die Hand steht in einer graden Linie mit dem Vorderarm, die Grundglieder der Finger sind gestreckt, die übrigen leicht gebeugt, der Daumen ist gestreckt. Die Haut der Hand und des unteren Unterarms ist kühl, bläulich und dünn. Das Handgelenk und die Fingergelenke sind mehrweniger steif. Die Lähmung entspricht dem Muskelschwund, die Hautem¬ pfindung ist stark im Gebiet des Ellennerven, schwächer in dem des mittleren Armnerven gestört Es fehlen also von den klassischen Lähmungsersoheinungen der unteren Wurzeln des Armnervengeflechts (Klumpke’sche Lähmung) nur die Augenstörungen, die Enge der Pupille und der Lidspalte und das Tieferliegen des Augapfels. Da diese Störungen vom Nervus sympathicus ausgehen, muss der von diesem zur ersten BruBtnervenwurzel ziehende Nervenstrang eben verschont sein. Die Verhütung der Geisteskrankheiten. Von Percy Smith. (The bril medical Journal 11. Ang.) Bei der diesjährigen Versammlung der British medical Association in Ipswich (Juli/August 1900) hat Dr. Smith bei Eröffnung der psychologischen Sektion über das oben angegebene Thema gesprochen. Die wichtigsten Ursachen für die Entstehung von Geistes¬ krankheiten sind nach seiner Meinung dreierlei. 1. Die Fortpflanzung der Rasse durch solche, welche von Geisteskranken stammen oder selbst einmal geisteskrank ge¬ wesen sind. 2. Der Einfluss des Alkohols. 3. Die Syphilis, insofern sie als Ursache der progressiven Paralyse zu betrachten ist. Deshalb muss die Gesetzgebung, wenn die stetige Zu¬ nahme der Geisteskrankheit beschränkt werden soll, vor allem auf die Verhütung dieser Ursachen bedacht sein. Die Statistik ergiebt, dass die Vererbung der Geistes¬ krankheit (in den Jahren 1893 bis 1897) bei Männern in 20.4 Prozent, bei Frauen in 25,9 Prozent der Fälle nach¬ gewiesen werden konnte und diejenige Ursache bildet, welohe den grössten Prozentsatz der Geisteskranken abgiebt. Der Frage, wie man die Geisteskrankheit verhüten könnte, und der Thatsache, dass die Geisteskrankheit in vielen Fällen zu verhüten ist und verhütet werden muss, sei bis jetzt zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Es sei die vornehmste Aufgabe des XX. Jahrhunderts, die Zahl der Geisteskranken dadurch zu vermindern, dass man ihre Zeugung verhindere. Da es unwahrscheinlich sei, dass die Gesetzgebung für diesen Punkt entscheidende Massregeln treffe, so müsse das Volk entsprechend erzogen werden. Belastete Personen dürften nur mit ganz gesunden und aus ganz gesunder Familie stammen¬ den Individuen eine Ehe eingehen. Solche aber, welche selbst geisteskrank gewesen sind, dürften sich überhaupt nicht ver- heirathen. Solche Menschen müssten durch das Gesetz ver¬ hindert werden, ihr Geschlecht fortzupflanzen und das Verbot der Ehe sei auch gegen Epileptiker zu richten, gleichgiltig ob sie an petit mal oder grand mal leiden. Der Alkohol wurde statistisch bei Männern in 22 Prozent, bei Frauen in 9,1 Prozent der Fälle als Ursache von Geistes¬ krankheit nachgewiesen, wobei nur der Einfluss auf das Indi¬ viduum selbst, aber nicht die Vererbung berücksichtigt wurde. Auch hier müsse eine vernünftige Gesetzgebung eingreifen und zu verhüten suchen; vor allem seien diejenigen zu be¬ strafen, welche einem Gewohnheitstrinker zum Alkohol ver¬ helfen. Wo die Trunkenheit regelmässig vorkomme, habe der Staat die Pflicht die Frau resp. den Mann oder die Kinder zu schützen und die Familie zu trennen. Was die Syphilis als Ursache der Paralyse betrifft, so kann bei aller Verschiedenheit der Ansichten nicht geleugnet werden, dasB bei einer grossen Zahl von Paralytikern in früheren Jahren Syphilis bestanden hat und dass sie in der Vor¬ geschichte bei keiner Form von Geisteskrankheit häufiger ist als bei der Paralyse. Deshalb werde mit dem Schwinden der Syphilis auch das Vorkommen der progressiven Paralyse seltener werden. In den Staaten, wo die Syphilis im Krankenhaus be¬ handelt wird, wie in Finland, wo durch das Gesetz jeder auf Syphilis Verdächtige zu einer Untersuchung gezwungen werden kann, hat sich in den letzten 20 Jahren die Syphilitis vermindert und ist auch die kongenitale Syphilis entsprechend seltener aufgetreten. Nach der Ansicht von Smith ist die progressive Paralyse eine Erkrankung, vor welcher die Menschen bewahrt werden können und welche bei Kontrole der Syphilis ver¬ schwinden wird. Leider, meint er, ist die öffentliche Meinung noch nicht so weit vorgeschritten, um für die Gesetzgebung in Bezug auf diesen Punkt einzutreten. Franz Meyer-Berlin. Digitized by Google 484 Aerztlicbe Sachverständigen- Zeitung. No. 21. Vergiftungen. Apathie nach Thyreoidingebrauch. Von F. G. Haworth. (Brit. Medlc. Journal. 1. September.) Haworth hat einem 16jährigen Mädchen, welches an leichtem Kropf litt, im übrigen aber kräftig und gesund war, Thyreoidin verordnet, nachdem er in einem ganz ähnlichen Falle bei einer Verwandten des MädchenB nach Verabreichung des Mittels schnelles Zurückgehen der Schwellung ohne Neben¬ erscheinungen hatte beobachten können. Er verschrieb das Mittel in Dosen von 0,3 g, dreimal täglich. Das Mädchen, welches körperlich uud geistig frisch und rege gewesen war, welches sogar ihr Examen bestanden hatte und Kinder unter¬ richtete, zeigte nach dem 3 wöchentlichen Gebrauch deB Mittels auffallende Veränderungen in ihrem Wesen. Sie fühlte sich schläfrig und apathisch und hatte für nichts mehr Interesse, die Müdigkeit war so hochgradig, dass sie beim Spazierengehen sich öfter niedersetzen musste und dann einscblief. Ihr Ge¬ dächtnis hatte so abgenommen, dass sie nichts behielt und jeden Auftrag noch vor seiner Erledigung vergass. Während sie früher gerne las, unterliess sie es jetzt und klagte bei dem Versuch über Kopfschmerzen. Sie war verdrossen und that nur unwillig und mechanisch ihre Arbeit. Dabei war das körperliche Befinden nicht verändert, der Appetit war dauernd ganz gut, der Stuhlgang geregelt. Ueber den weiteren Verlauf des Falles fehlen die Angaben. Franz Meyer-Berlin. annehmen, dass die Formalinlösung mit Bitterwasser gemischt war. Das Formalin wurde ausser am Geruch auch daran erkannt, dass es ammoniakalische Silberlösung schwärzte und Anilinwasser nach kurzer Zeit milchig trübte. (Probe nach Trillat.) Ein Fall von Bromoformvergiftung. Von Dr. A. Engst er-Erlikon. (Korresp.-BL f. Schw. Aerste 1900. No. 19.) Die Fälle von Bromoformvergiftung sind so selten, dass jeder einzelne der Mittheilung werth ist, wenn auch das bis¬ her wenig charakteristische Krankheitsbild keine neuen Züge darbietet. Im vorliegenden Fall hatte ein dreijähriges Kind drei bis vier Gramm Bromoform ausgetrunken. Erst 20 Minuten später wurde die Giftwirkung deutlich. Das Kind taumelte, erblasste und stürzte dann wie tot hin. Der Arzt fand es mit äusserst beschleunigtem Pulse, fast aufgehobener Athmung und völlig erweiterten Pupillen. Bei Erschlaffung der übrigen Muskulatur waren die Kinnbackenmuskeln zusammengezogen. Mit der Schlundsonde wurde eine nach Bromoform riechende Flüssigkeit entleert. Die Athmung kehrte selbständig wieder, nachdem sie etwa eine Viertelstunde künstlich hatte unter¬ halten werden müssen. Sie drohte aber, bald wieder aus¬ zubleiben, so dass sie noch eine Zeitlang unterstützt werden musste. Nach etwa einer Stunde im Ganzen kam das Kind zu sich und erholte sich rasch. Ein Fall von akuter Formalinvergiftung. Von Dr. J. Kl üb er-Erlangen. (Manch. Med. Woch. 1900. No. 41.) Bei der Wichtigkeit, die das Formalin in mannichfaltigster Beziehung bereits erlangt hat und noch zu erlangen verspricht, beansprucht die vorliegende Mittheilung hohe Beachtung. Ein Mann in mittleren Jahren hatte aus einer Bitterwasser¬ flasche einen tüchtigen Schluck genommen und dabei die Empfindung gehabt, daBS das angebliche Apentawasser ganz auffallend schlecht, gallenbitter geschmeckt habe. Man fand ihn ungefähr D /2 Stunden später bewusstlos, blass und mit kaltem Schweiss bedeckt. Puls, Temperatur und Reflexe waren in Ordnung, dagegen war die Athmung in wechselndem Masse von Rasseln begleitet. Eine sofort vorgenommeue Magenausspülung gab keinen Aufschluss über die Natur der Erkrankung. Erst am nächsten Morgen kehrte das Bewusst¬ sein theilweise wieder, um sehr bald wieder einem Zustande der Schlaftrunkenheit zu weichen. Erst 19 Stunden nach Be¬ ginn der Störung wurde zum ersten Mal Harn gelassen. Der¬ selbe sah strohgelb aus und war frei von Eiweiss und Zucker, dagegen bewies eine starke Schwärzung, die beim Erwärmen mit ammoniakalischer Höllensteinlösung auftrat, die Anwesenheit vdn Ameisensäure. Kurz nachher wurde der Kranke munterer und benahm sich etwa wie ein leicht Angeheiterter. Er hatte geröthete thränende Augen und eine ziemlich stark geröthete Mund- und Rachenschleimhaut. Schon Tags darauf konnte er seiner Arbeit wieder nachgehen, aber noch am zweiten Tage wurde deutlich Ameisensäure abgeschieden. In der Flasche, aus welcher der Mann das Gift bekommen hatte, waren nur noch ein paar Tropfen Flüssigkeit, die schwach spirituös rochen, beim Erwärmen aber einen deutlichen, wenn auch nicht starken Formalingeruch gaben. Da die Prüfung auf schwefelsaure Salze deren Anwesenheit ergab, muss man Augen. Ueber die Behandlung inflzirter perforirender Bulbus- wunden* Von E. Glauning. (Münch, medlsin. Wochenschrift. 1900, 8. 1070-1074.) Verf. weist zunächst darauf hin, dass man bei perfori- renden Verletzungen des Augapfels sehr wohl durch eine kon¬ servative Behandlung oft ein auch funktionell noch ganz leid¬ liches Resultat erzielen kann. Sodann beschreibt er die gal¬ vanokaustische Parazentese der vorderen Kammer, wie sie Eversbusch bei Augen anwendet, welche nach Verletzungen heftige entzündliche Erscheinungen zeigen. Die Parazentese wird in der Absicht ausgeführt, durch die erzeugte Kammer¬ fistel eine gründliche Eliminirung der in dem Auge vorhan¬ denen septischen Stoffe zu erzielen. Als Angriffsstelle für die Kauterisation wurde das periphere Ende oder die am leichte¬ sten zugängliche Stelle der Homhautwunde gewählt. Nehmen die entzündlichen Erscheinungen nach der Parazentese wieder zu oder tritt wieder Hypopyon auf, so wird der Eingriff nach 3—4 Tagen wiederholt. 3 Fälle dienen zur Erläuterung der Erfolge dieser Behandlungsweise, welche namentlich dann gute Resultate verspricht, wenn es sich um lokalisirte Eiterungen handelt. Es kann dann durch die Glühschliuge der betreffende Eiterherd in toto auf einmal zerstört werden. Als Beispiel für letzteres Verhalten wird eine Patientin erwähnt, bei welcher 10 Tage nach einer Nachstaardiscission die Wunde in Folge körperlicher Anstrengung wieder aufplatzte und eine Infektion eintrat. Es zeigte sich im vorderen Theil des Glaskörpers hinter der Pupille eine Eiterflocke. Dieselbe wurde sofort durch den Galvanokauter, der vorsichtig bis zu l / 2 cm ins Bulbus- innere eindrang, in ihrer ganzen Grösse zerstört. Der Erfolg war ein guter, es wurde schliesslich eine Sehschärfe von erzielt. Groenouw. Digitized by Google 1. November 1900. Aeratllohe Saohverständlgen-Zeltnng. 435 Ein Fall von spontan auftretender intraokularer Blu¬ tung, die zur Bulbusruptur führte. Vod Dr. Hauenschild. (Münchener medisin. Wochenschrift. 1900, B. 107 t f.) Ein 28jähriges Mädchen bekommt nach einem Spazier¬ gange plötzlich einen heftigen Schmerzanfall im rechten Auge, das Auge wird roth und es soll Blut aus der Lidspalte hervor¬ gespritzt sein. Am nächsten Morgen ergiebt die ärztliche Untersuchung eine starke Blutung in die Lider, unter die Binde¬ haut und in die vordere Kammer, das Auge selbst erscheint etwas vorgetrieben. Nachdem das Blut einigermassen resor- birt ist, zeigt sich oben in der Sklera eine Rupturstelle, in deren Bereich die Iris fehlt. Das Auge blieb amaurotisch. Das linke Auge ist, abgesehen von einzelnen Hornhautflecken ge¬ sund. Die Untersuchung des Allgemeinzustandes, insbesondere deB Urins und Blutes ergiebt keine Ursache für die Blutung. Verf. glaubt, dass Haemophilie vorliegen könne oder dass eine Erkrankung des Ciliarkörpers (Geschwulst?) bestand, die zu einer Gefässzerreissung führte. Groenouw. Ueber einen Fremdkörper im Angeninnern, dessen Be¬ stimmung mit Boentgenstrahlen und Magnetextraktion. Von Dr. Emil Mock. (Münchener medizinische Wochenschrift 1900. 8. 932-33.) Einem Heizer sprang ein etwa pfennigstückgrosses Stück Stahl gegen das rechte Auge, erst am vierten Tage suchte er den Arzt auf. Es fand sich eine Wunde im oberen Lide, die Augapfelbindehaut war stark blutunterlaufen, im Glaskörper waren Blutungen sichtbar. Die Bindehautblutungen resorbirten sich allmählig und es wurde innen auf der Sklera eine Narbe sichtbar. Da dem Verf. kein Sideroskop zur Verfügung stand, bo durchleuchtete er das Auge in verschiedenen Richtungen mit Roentgenstrahlen und nahm auch Roentgenphotographien auf. Es zeigte sich auf den photographischen Platten der Schatten eines Fremdkörpers in der Gegend des Ciliarkörpers. Durch einen Einschnitt in die Sklera und Einführung eines kleinen Hirschbergschen Elektromagneten wurde ein 25 mgr. schweres Eisenstück aus dem Augapfel entfernt. Die Be¬ obachtung ist insofern interessant, als sie zeigt, dass durch Roentgenstrahlen die Anwesenheit eineB metallischen Fremd¬ körpers im Augapfel nachgewiesen werden kann. Groenouw. Hygiene. Die Wohnungsverhältnisse der arbeitenden Klassen. Von W. M. Berry, medical offleer of health. (The Brit. med. Journal 18. August.) Trotz der eifrigen Bestrebungen einiger Städte in England, die Wohnungsverhältnisse der arbeitenden Klasse zu ver¬ bessern, indem alte, ungesunde Häuser niedergerissen und neue unter hygienischen Bedingungen erbaute Wohnungen gebaut und gegen geringes Entgelt vermiethet werden, liegen im Grossen und Ganzen doch auch hier noch die Verhältnisse im Argen. So berichtet Berry z. B., dass in London 900000 Menschen in engsten Verhältnissen leben und dies also bei¬ nahe den fünften Theil der Bevölkerung der Hauptstadt aus¬ macht, 400000 Menschen der Grafschaft London sollen in Wohnungen leben, welche nur 1 Zimmer enthalten, 30000 sollen zu 6 Personen, 3000 sogar zu 8 Personen in einem Raum leben. Franz Meyer-Berlin. Die weiträumige Bauweise im Stadterweiterungsgelände zu Stuttgart. * Von J. Stübben. (Deutsche Vierteljahraschrift für öffentl. Gesundheitspflege. Bd. 32, S. 537 u. f.) Der Personenwechsel in der Leitung der Stuttgarter Stadt¬ verwaltung hat den Anlass zu zwei halbamtlichen Schriften gegeben, welche die beabsichtigte weiträumige Bebauung des dortigen Stadterweiterungsgeländes mit volkswirtschaftlichen, gesundheitlichen und schönheitlichen Gründen zu bekämpfen versuchen. Es sind dies die Schriften von Rettich, „die Stadt¬ erweiterung unter volkswirtschaftlichem Gesichtspunkt“ und die Schrift von Abele „Weiträumiger Städtebau und Wohnungs¬ frage.“ Stübben beleuchtet in der. vorliegenden Arbeit die beiden genannten Schriften vom Standpunkt des erfahrenen Baufach verständigen, um sie als das zu kennzeichnen, was sie sind, Tendenzschriften, die mit den anerkannten Grundsätzen der Hygieniker, Techniker und Sozialpolitiker im schroffsten Widerspruch stehen und die schärfste Zurückweisung verdienen. Roth, Potsdam. Frauena&yle, eine hygienische Studie. Von J. S. Löblowitz. (Deutsche Vierteljahmcbrlft für üfTentl. Gesundheitspflege. Bd. 32, S. 567.) Verf. geht davon aus, dass das Bedürfniss nach ausser- ehelichem Geschlechtsverkehr zum allergrössten Theil bei An¬ gehörigen der Prostitution, d. h. bei Dirnen, welche die Unzucht gewerbsmässig betreiben, gedeckt wird, und dass die derzeit geübte Kontrole der Prostituirten bei der Bekämpfung der Gonorrhoe Nichts oder sehr wenig leistet, bezüglich der Syphilis und des weichen Schankers die Resultate zwar etwas günstiger, aber bei Weitem noch nicht ausreichend sind. Nach der Sta¬ tistik von Sperk in St. Petersburg machen alle Prostituirten Syphilis durch, und zwar entweder schon vor ihrem Eintritt in die Prostitution, oder doch bald nacher, und da fast die Hälfte der Prostituirten beständig Bich im infektiösen Stadium dieser Krankheit befindet, kommt der Verf. zu dem Schluss, dass die Prostituirten als die Hauptquelle der syphilitischen Infektion anzusehen sind. Deshalb hat die Reglementirung neben einer scharfen Kontrole der Prostituirten dafür zu sorgen, dass die syphilitischen Prostituirten während des infik*iösen Stadiums ihrer Krankheit, das der Verf. auf durchschnittlich 2 Jahre annimmt, von der Ausübung ihres Gewerbes zwangs¬ weise zurückgehalten werden. Zu den Prostituirten rechnet der Verf. auch die nicht kontrolirten, aber die Prostitution gewerbsmässig betreibenden Dirnen (Strassendirnen, ehemalige Prostituirte, die sich der Kontrole entzogen haben, Anhäuge- rinnen der Prostitution) und Frauenspersonen, die unter dem Deckmantel eines anständigen Berufs gewerbsmässig Unzucht treiben (gewisse Sorten von Kellnerinnen, Blumenmädchen, Ladeninhaberinnen u. a.) Zur Aufnahme der syphilitischen Prostituirten während des infektiösen Stadiums sollen die vom Verf. in Vorschlag gebrachten Frauenasyle dienen, wie solche auch von Finger auf dem internationalen Kongress in Brüssel empfohlen wurden. Bezüglich der Begründung des Vorschlags und der Art seiner Ausführung muss auf die Arbeit selber verwiesen werden. Nach Meinung des Ref. wird eine Besse¬ rung auf diesem Gebiet erst dann zu erwarten sein, wenn bei der Syphilis, wie bei jeder andern ansteckenden Krankheit verfahren wird, d. h. wenn im einzelnen Fall so lange eine Unschädlichmachung und Isolirung erfolgt, bis jede Gefahr der Weiterverbreitung ausgeschlossen ist. Roth, Potsdam. Digitized by Google 436 Aorztliche Sachverständigem-Zeitung. No. 21. Ueber vegetarische Ernährung und ihre Znlässigkeit in geschlossenen Anstalten und bei Menschen, welche sich in einem Zwangsverhältniss befinden. Von A. Schoenstädt. (Deutsche ViertelJahrsschrift für Offentl. Gesundheitspflege Bd. 32, 8. 597.) Nachdem der Verf. im ersten Theil seiner Arbeit an der Hand der Thatsachen der Erfahrung und der Ernährungslehre den Nachweis geführt, dass die vegetarische Ernährung aus physiologischen und wirtschaftlichen Gründen zu verwerfen ist, beschäftigt sich der zweite Theil der Arbeit mit der spe¬ ziellen Frage, ob die vegetarische Ernährung in geschlossenen Anstalten und bei Menschen zulässig ist, welche sich in einem Zwangsverhältniss befinden. Berücksichtigt sind hier Findel¬ und Krippenanstalten, Waisenhäuser, Armen- und Siechen- häuser, Gefängnisse und Strafanstalten, Kranken- und Irren¬ anstalten und endlich die Bemannung und die Passagiere der Schiffe. Die Frage erfährt nach allen in Betracht kommenden Richtungen eine gründliche und sachgemässe Darstellung, die in folgenden Schlusssätzen gipfelt: 1. Die von den Vegetariern auf gestellten Behauptungen, dass die vegetarische Ernährungsweise die dem Menschen zu¬ kommende, natürliche sei, sind unhaltbar; 2. mit der vegetarischen Ernährung sind schwere Gefahren verbunden: a, dadurch, dass die zugeführten Nahrungstoffe, dem Bedürfniss des Organismus nicht genügen, b, dadurch, dass sie zu schweren Verdauungsstörungen führen. 3. Vom sanitätspolizeilichen Standpunkt ist die vegetarische Ernährung unzulässig in geschlossenen Anstalten und bei Leuten, die sich in einem Zwangsverhältniss befinden. Roth, Potsdam. Bemerkungen über den Gebrauch von Borax und For¬ maldehyd als Nahrungs-Conservirungsmittel. Von W. D. Halliburton. (Britisb medical Journal 7. Juli.) Halliburton tritt dafür ein, dass die Antiseptica zur Auf¬ bewahrung und Erhaltung von Nahrungsmitteln nicht benutzt werden dürfen. Dafür sprechen mannichfache Gründe. 1. Ein Mittel, welches zahlreiche, wenn auch kleinste Organismen in ihrer Lebensfähigkeit schwächt oder gar tötet, kann auch für den Lebensvorgang höherer Lebewesen nicht ganz un¬ schädlich sein. 2. Zahlreiche klinische Beobachtungen sprechen dafür, dass nach dem Gebrauch von Nahrungsmitteln, welche mit dem gebräuchlichsten Präservativ, wie Borax, vorbehandelt sind, dyspeptische und auch andere Störungen eintreten. 3. Wenn auch Borsäure und Borax z. B. keine kumulative Wirkung haben, so ist doch das beständige Hindurchgehen dieser Substanzen durch die Niere, diesem Organ schädlich. Und wenn auch eine grössere Zahl von Menschen ohne Schaden Nahrungsmittel vertragen, welche kleine Mengen der Anti¬ septika enthalten, giebt es doch Leute, welche dagegen be¬ sonders empfindlich sind. Unter solchen Umständen muss man sich fragen, ob nioht am Ende solche Nahrungsmittel schädlicher sind, welche mit Antisepticis versetzt sind, als diejenigen, welche Fäulniss - Bakterien oder pathogene Bakterien enthalten. Was die Milch betrifft, so ist das Kochen derselben der beste Schutz, wenn auch nicht zu leugnen ist, dass die chemische Beschaffenheit der Eiweisskörper der Milch durch das Kochen eine Aenderung erleidet und die Ver¬ daulichkeit der Milch beeinträchtigt wird. Besondere Beachtung verdienen die Versuche von Halli¬ burton, mit deren Hilfe er die Wirkung von Borax und Formal¬ dehyd (den zur Zeit gebräuchlichsten Präservativs) auf die Verdauung studirt hat. So hat er durch künstliche Verdauungs¬ versuche die früheren Resultate bestätigen können und theil- weise neue gewonnen. Auch er fand, dass die Borsäure ein sehr wenig wirksames Antiseptikum ist und z. B. auf Lab¬ ferment, ebenso auf Mikroorganismen kaum irgendwelchen Einfluss auBübt. Bei dem Gemische von Borsäure und Borax ist der wirksamste Bestandtheil das Letztere. — Versuche mit Borax ergaben, dass Borax bei Zusatz kleinster Mengen die Wirksamkeit des Labferments auf Milch vollkommen aufhebt und Gerinnung nicht eintritt. Die Resultate der Versuche mit Formaldehyd sind folgende: 1. 0,5 Prozeut Formaldehyd hat die Verdauung von Eiweiss durch Magensaft so gut wie aufgehoben. 0,05 Prozent Formal¬ dehyd hat sie sehr verzögert. 2. Die Eiweissverdauung durch Pancreassaft war nach Zusatz von Formaldehyd, wenn dieser 0,05 Prozent überschritt, völlig aufgehoben. 3. Die Stärkeverdauung durch Pancreassaft wurde nach Zusatz von Formaldehyd erheblich verlangsamt. 4. Schon bei geringstem Zusatz von Formaldehyd zur Milch, so wie es im Handel üblich ist, leidet die Gerinnungs¬ fähigkeit der Milch beträchtlich, zuweilen wird die Wirkung des Labferments sogar gänzlich aufgehoben. Diese Experimente beweisen hinlänglich, dass der Zusatz gewisser Präservativs die Wirksamkeit der Enzyme schädigt und die Verdauung schwer beeinträchtigt. Damit ist ein weiterer, triftiger Grund gegeben, den Gebrauch dieser Antiseptica bei Nahrungsmitteln durchaus zu unterlassen. Franz Meyer-Berlin. Aus Vereinen und Versammlungen. 72. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Aachen. Section für Chirurgie. Originalbericht der Aerztlichen Sachverständigen-Zeitung. Erster Tag, den 18. September 1900. An erster Stelle berichtet Rosenberger-Würzburg im An¬ schlüsse an mehrere von ihm behandelte Fälle über die Art und Bedeutung des chirurgischen Eingriffes während einesTyphlitis-Anfalles, im besonderen über die Indikations¬ stellung zur Operation. Bardenheuer-Köln spricht „über die Behandlung der Phlegmonen", besonders der Panaritien, ein von den Chi¬ rurgen bis jetzt stiefmütterlich behandeltes Kapitel, welches wegen der später resultirenden Gebrauchsfähigkeit der Hand eine hervorragende Beachtung verdiente. Auf keinem Gebiete wird therapeutisch so viel gesündigt wie hier. Bei bestehender Eiterung ist der Herd möglichst bald und breit freizulegen. Man soll sich, wenn es nothwendig ist, nicht scheuen, selbst das t Lig. transversum, wie es Helferich angegeben hat, zu durchschneiden. Der Schnitt darf niemals auf die Sehne geführt werden, da eine Bedeckung derselben dann für den Fall, dass sie nioht nekrotisch wird, unmöglich ist. Bardenheuer legt den Schnitt an die Seite des Fingers in der Mitte zwischen volarer und dorsaler Seite. Man präparirt von ihm aus einen volaren oder dorsalen Lappen, je nachdem Vola oder Dorsum erkrankt ist. Ist die Sehnenscheide nicht befallen, so ist ihre Eröffnung zu vermeiden; besteht jedoch eine EiteranBammlung in der¬ selben, was man meistens leicht an ihrem bucklichen Auf¬ getriebensein erkennt, bo muss sie breit geöffnet werden. Hier- Digitized by Google 1. November 1900. Aerztliohe Sachverstfindigen-Zeitung. 437 bei sind jedoch die über den Gelenken liegenden Ligg. eruciata auf das Sorgfältigste zu schonen, damit die Sehnen besonders an der Beugeseite in ihrem Lager festgehalten werden. Die Scheide wird also am besten nur auf der Diaphyse der Pha¬ langen eröffnet, während die kurze Strecke über den Epiphysen erhalten bleibt. Auch an der Mittelhand ist ein grosser Lappen zu bilden, dessen Basis je nach Befallensein der 1. 2. 3. 4. oder 5. Sehnen¬ scheide an der radialen oder ulnaren Seite stets aber mindestens 1 cm von der befallenen Sehne entfernt liegt. — Die gleiche Lappenbildung ist auch am Vorderarm anzuwenden, wenn die Eiterung das Handgelenk schon überschritten hat. Ist die Eiterung zum Stillstand gekommen, was oft schon früh geschieht, so wird der Lappen auf die Sehne gelegt, damit, falls sie noch erhalten ist, ein Absterben derselben in Folge des Unbedecktseins vermieden wird; es folgt Sekundärnaht. Gymnastische Uebungen sind schon früh, womöglich schon nach 8 Tagen zu beginnen, weshalb die Spitzen der Finger nicht mit in den Verband eingewickelt werden sollen. Ist Alles nach Wochen und Monaten vernarbt und die Funktion eine sohlechte, so kann man immer den Versuch machen, die Sehnen, vorausgesetzt dass sie erhalten blieben, aus dem Narbengewebe auszuschälen. Die Resultate sind jedoch oft wenig befriedigend. Redner fasst seine Ausführungen in folgende Sätze zu¬ sammen : 1. Bei tiefen Panaritien ist stets in Narkose zu operiren. 2. Es muss bei der Operation immer Esmarch’sche Blut¬ leere angewandt werden. 3. Die Operation ist sofort auszuführen. 4. Ist die Sehnenscheide unbetheiligt, so ist ihre Eröff¬ nung zu vermeiden; ist ihre Betheiligung sicher festgestellt, so mu88 sie unter sorgfältiger Schonung der Ligg. eruciata breit gespalten werden. Diskussion: Rosenberger-Würzburg ist schon lange von den grossen Incisionen abgekommen, und hat an ihre Stelle mehrere kleinere gesetzt. Müll er-Aachen erwähnt die hervorragende Bedeutung der Blutleere; eine einfache Konstriktion mit dem Schlauch ge¬ nügt nicht; das Glied muss ausgewickelt werden. Bardenheuer hält gegenüber Rosenberger die breite Eröffnung der Eiterung für nothwendig, damit ein Uebergriflf derselben auf die Nachbarsehnen möglichst sicher vermieden werde. — Bardenheuer-Köln. Ueber Kapselverengerung bei Gelenkaffektionen. Wenn wir auch von König gelernt haben, bei unseren Gelenkoperationen die Wunde und das Gelenk nur mit Instru¬ menten zu berühren, um so eine Infektion zu vermeiden, so erreichen wir aseptischen Wundverlauf doch noch leichter, wenn wir das Gelenk gar nicht eröffnen. (Um eine Infektion der Wunde bei Resektion eines tuberkulös vereiterten Gelenks zu vermeiden, operirt Bardenheuer möglichst extrakapsulär.) Die verschiedenen Verfahren, welche zur Beseitigung der habituellen Luxation der Kniescheibe angegeben sind, sind meist nicht ohne Eröffnung des Gelenks ausführbar, so die keilförmige Excision aus der medialen Seite der Kapsel, die Umlagerung der Tuberositas tibiae an die Innenseite des Schienenbeins u. s. w. Bardenheuer durchtrennt zur Beseitigung dieses Leidens von einem halbmondförmigen Schnitt an der Innenseite des Gelenks aus den fibrösen Theil der Kapsel, das Lig. patellae proprium an der Innenseite und das Lig. laterale internum. Die ganze Masse wird bis an den Innenrand der Kniescheibe nach vorn hin frei präparirt und unter Verkürzung an der Innen¬ seite zurückgelagert; der M. vastus internus wird an den Innenrand der Patella angeheftet. Die Quadricepssehne wird innen verkürzt, aussen eingeschnitten. Dieselbe Operation führt er bei Kapselerweiterung, die durch Genu valgum, durch einen chronischen Hydrops, Distorsion u. s. w. bedingt ist, aus. Diskussion: Trendelenburg-Leipzig macht bei habitueller Luxation der Kniescheibe, welche durch Genu valgum bedingt ist, die supracondyläre Osteotomie. Spindelförmige Excision aus der Innenseite der Kapsel nützt Nichts. Umlagerung der Tuberositas tibiae um 2 cm nach innen hatte in 2 von ihm operirten Fällen anfangs guten, jedoch nicht anhaltenden Er¬ folg. In manchen Fällen ist für die Luxation eine geringere Wölbung des äusseren Condylus anzuschuldigen; eine solche Bildung kann erblich auftreten. Trendelenburg hat in einem solchen Falle den Condylus von einem äusseren Schnitt in frontaler Richtung eingemeisselt und duroh Einlagerung eineB keilförmigen Elfenbeinstiftes in den Spalt dauernd erhöht. Ueber das Resultat kann er noch kein Urtheil abgeben. Bade-Hannover bemerkt, dass sowohl er, wie seine Schwester an habitueller Patella-Luxation leiden. Die Be¬ schwerden sind gering; durch besondere Stellung des BeineB kann eine Relaxation vermieden werden. Bartz-Eschweiler, Dauererfolge der operativ behan¬ delten Bauchfelltuberkulose, giebt im Anschluss an 3 von ihm durch Laparotomie geheilte Fälle eine Zusammen¬ stellung der Literatur; nach seiner Meinung ist die Heilung auf die durch die Operation entstandene Stauungshyperämie zurückzuführen. Bartz-Eschweiler, Operation einer Spina bifida, be¬ richtet über einen nach der Sohmidt'schen Methode glücklich operirten Fall von Spina bifida bei einem älteren Knaben. Die Methode deckt sich im Wesentlichen mit dem Bayer'scheu Verfahren; der Sack wird nach Zusammenfalten dazu benutzt, die Oeflfnung im Wirbelkanal zu verstopfen, ähnlich wie bei der Macewen'schen Bruchoperation. Landow-Wiesbaden, zeigt Präparate eines von ihm ope¬ rirten centralen Osteoms des Humerusschaftes vor und bespricht die verschiedenen Geschwulsttheorien. Müller-Aachen, Demonstration zur Frage der Osteo¬ plastik, hat bei Spina ventosa die ganze Diaphyse mit dem Periost unter Schonung der Epiphyseufugen entfernt und in den Defekt ein entsprechendes Ulnastück mit dem Periost implantirt. Die Wundhöhle wurde mit Jodoform gefüllt und primär genäht. Die transplantirtenKnochen heilten glatt ein; das funktionelle Resultat ist ein geradezu ideales. Derselbe stellt dann ein Mädchen vor, bei dem er den Knochendefekt bei einer grossen Meningocele der Stirn durch Knochentransplantation in 4 Sitzungen deckte. Frank-Köln. ZurKenntniss der Knochentransplan¬ tation, referirt über die Resultate der Behandlung der Tuber¬ kulose der Mittelhandknochen nach Bardenheuer, welcher be¬ kanntlich den erkrankten Metacarpus durch die eine Hälfte des benachbarten gesunden ersetzt. Sind mehrere Metakarpalien erkrankt, so wird der Ersatz aus dem Mittelfuss genommen. Der Knochen wird zwar langsam resorbirt, aber das erhaltene und entfaltete Periost hat in dieser Zeit reichlich neuen Knochen gebildet. Die Resultate sind gut. Radiogramme illustrieren die Vorgänge. Schultze-Duisburg, Ueber Klemmnaht, hält, statt zu nähen, die Hautränder der Wunde mit Roser'schen Schiebern zusammen. Nach Einpinselung der Wundlinie mit Kollodium, werden die Schieber abgenommen, ohne dass die Wunde klafft. Longard-Aachen, Fälle von Verletzung desSpraoh- oentrums, stellt 2 Kranke mit Störungen der Sprache vor Digitized by Google 438 Aerztliohe Saohverst&ndigen-Zeitung. No. 21. In dem ersten Falle war nach koinplizirter Schädelfraktur mit Ver¬ letzung des Gehirns in der Gegend der linken 3. Stirnwindung Aphasie aufgetreten, welche nach Durchgang durch eine Mo- nophasie völlig heilte. Trotzdem ein Esslöffel voll Gehirnmasse aus der motorischen Rindenregion ausgelaufen war, bestanden keine Bewegungsstörungen. — Im 2. Falle besteht jetzt noch eine in der Besserung begriffene motorische Aphasie. Becker-Aaohen demonstrirt einen kindskopfgrossen Tumor, welcher als myelogenes Sarkom der Clavikula diagnostizirt war, sich aber bei der Operation als Adenom einer versprengten Schilddrüse erwies. Derselbe legt einen Magen vor, welcher Bowohl an der Cardia, als am Pylorus ein Karcinom enthält. Beide hatten zum Verschluss geführt, so dass der Magen durch die secerni- renden Drüsen enorm aufgetrieben war. Ein ähnlicher Fall ist ihm aus der Literatur nioht bekannt. Yiertel-Breslau, Ueber Blasenchirurgie, in Bpecie über Operationen bei Prostatahypertrophie, be¬ richtet in längerem Vortrage über seine Erlebnisse und Erfah¬ rungen auf diesem Gebiete, besonders über die Bottini’sche Operation, deren Anhänger er iBt. Den Resturin bestimmt er in der Weise, dass er Jodoformglycerin in die Blase bringt, welches auf dem Urin schwimmt. Befindet sich dasselbe nach einigen Tagen noch in derselben, so ist Restharn vorhanden, da der Spiegel des Urins sich nicht so tief senkte, dass das Glycerin die Urethramündung erreichte (?). Diskussion: Müll er-Aachen betont, dass die Ansichten der deutschen Chirurgen über die Bottinische Operation noch recht getheilt seien; es seien zahlreiche Todesfälle beobachtet Longard-Aachen stellt 2 Patienten vor, bei welchen er erfolgreich eine sogenannte Thorakoplastik nach Schede ausführte; bei dem einen Kranken wurde die zehnte bis dritte Rippe vollständig entfernt. Frank-Cöln demonstrirt einen Pes valgus rachiticus, der durch Verkürzung des M. tibialis posticus und der auf der Innen¬ seite gelegenen Bänder des Fusses, sowie durch Verlängerung der Achillessehne mit gutem Erfolg korrigirt war. Er weist auf die bei Korrektion von paralytischen Fusskontrakturen ge¬ bräuchliche Operationsmethode und deren Uebertragung auf nicht paralytische Fussdifformitäten hin. Quadflieg-Aachen, Ueber Intubation, berichtet unter Berücksichtigung der umfangreichen Literatur über seine Erfahrungen auf diesem Gebiete. Bei 24 von 43 im letzten Jahre Intubirten wurde nachträglich die Tracheotomie noth. wendig. Er kommt zu dem Schluss, dass die Intubation in manchen, jedoch bei Weitem nicht allen Fällen im Stande Bei, die Tracheotomie zu ersetzen. Intubation darf nur im Kranken¬ haus ausgeführt werden. Niehues-Bonn hat die Behandlung der chirurgi¬ schen Tuberkulose mit Zimmtsäure an 66 Kranken der Bonner chirurgischen Klinik nachgeprüft. Er verbreitet sich zunächst über die Ansichten der verschiedenen Autoren über den Heilwerth der Entzündung bei Ausheilung der Tuberkulose, indem er den Einfluss derselben bei der Tuberkulinbehandlung, bei der Bier’sehen Stauungshyperämie und be ider Hyperämie Buchner’s einer Besprechung unterzieht. Nachdem er sich dann über die durch die Zimmtsäure hervorgerufene Hyper- leucocytose und ihren eventuellen Zusammenhang mit den Heilungsvorgängen geäuBsert, berichtet er über die gemachten Resultate. Irgendwelche schädlichen Einflüsse wurden nicht beobachtet. Der Prozentsatz der Heilungen war ein etwas grös¬ serer, als bei den nicht mit Zimmtsäure behandelten Kranken. Erzielt wurden 63 Prozent Heilungen und Besserungen. Diskussion: Vulpius-Heidelberg hat vor einigen Jahren gleichfalls Injektionen gemacht, dieselben aber wegen auftre¬ tender bedrohlicher Erscheinungen (Erbrechen, Somnolenz, Temperatursteigerungen bis 40 Grad) bald wieder aufgegeben. Niehues-Bonn bemerkt hierzu, dass er bei rund 2000 Injektionen niemals Aehnliches sah. Bade-Hannover erörtert an der Hand sehr schöner Skia- gramme die durch Arthritis deformans am koxalen Femurende hervorgerufenen Strukturveränderungen. Zweiter Tag, den 20. September. Petersen-Heidelberg, Magenkrankheiten bei Chole- lithiasis, bespricht eingehend dieses in der letzten Zeit be¬ sonders aktuelle Thema. Niehues-Bonn stellt einen Mann vor, bei welchem wegen einer sich an einen Typhus anschliessenden Periohondritis laryngea die Tracheotomie gemacht werden musste, ohne dass es in 2 l l 2 Jahren gelang, das Dekanulement vorzunehmen. Bei Eintritt in die Klinik bestand völliger Verschluss des Kehl¬ kopfes in Höhe des Ringknorpels und ein die vordere Hälfte der drei ersten Trachealringe umfassender Trachealdefekt. Die Stenose, welche durch Collabirung des Ringknorpels entstanden war, wurde durch quere Resektion des Knorpels und Anheftung des ersten Trachealringes an den unteren Rand des Schild¬ knorpels beseitigt, worauf in einer zweiten Sitzung der Tracheal¬ defekt durch Transplantation eines Knorpelstückes aus der sechsten Rippe nach Mangold gedeckt wurde. Der Erfolg ist vorzüglich, die Stimme, welche durch Aneinanderlegen der falschen Stimmbänder gebildet wird, laut und deutlich. Yulpius-Heidelberg, Behandlung des Klumpfusses bei Erwachsenen, berichtet unter Vorstellung mehrerer geheilter Kranken und unter Demonstration zahlreicher Prä¬ parate über 37 von ihm behandelte Fälle. Er wendet aus¬ schliesslich das von Lorenz angegebene modellirende Redres¬ sement, wenn nöthig in verschiedenen Sitzungen, an und fixirt das gewonnene Resultat jedes Mal durch den Gipsverband. Eventuell lässt er der Behandlung eine Sehnentransplantation, Verpflanzung des Extensor hallucis an die Heber des äusseren Fussrandes folgen. Die Resultate waren stets recht erfreuliche; ein Recidiv ist nicht beobachtet worden. Die Kranken standen im Alter von 15 bis 28 Jahren. Diskussion: Lorenz-Wien befürwortet seine Methode gegen¬ über der blutigen, besonders der Keilexcision warm. Den Vorzug sah er deutlich bei einem Kranken mit doppelseitigem Klumpfuss, bei dem der eine Fuss blutig, der andere unblutig operirt wurde. Er redressirt stets in einer Sitzung und schneidet zur Verhütung von Dekubitus den Gipsverband sofort nach Anlegung an der Vorderseite auf. Lorenz-Wien, über das instrumenteile modelli¬ rende Redressement der Kniegelenkskontrakturen. Nur ein Verfahren, welches die Deformität an ihrem Sitze, also im Gelenk und zwar unter völliger Erhaltung der ganzen Bein¬ länge angreift und beseitigt, ist als ein gutes und zweck¬ entsprechendes zu bezeichnen. Die blutigen Methoden genügen diesen Anforderungen nicht; sp schafft die suprakondyläre Osteotomie statt einer zwei Knickungen, und die Resektion führt zu einer bedeutenden Verkürzung der Extremität. Den Anforderungen kommt am nächsten die bogenförmige Resektion Helferichs, doch besteht ungefähr bei der Hälfte der Operirten noch geringe Beweglichkeit im Gelenk. Es ist deshalb Zeit, die blutige Behandlung durch die un¬ blutige zu ersetzen und zu der ersteren nur in den äusserst seltenen Fällen zu greifen, in denen die zweite im Stich lässt. Lorenz führt das Redressement mit seinem Redresseur in der Weise aus, dass er den Patienten auf die kranke Seite legt und den Oberschenkel bis genau an den Gelenkspalt in den Apparat einschraubt Um die hintere Fläche des Tibiakopfes Digitized by Google 1. November 1900. Aerztliche Sachverständigen* Zeitnng. 439 wird ein Tuch gelegt und an ihm der Zug durch Andrehen der Schraube ausgeführt. Nach Vornahme einiger Schrauben¬ umdrehungen, welche sich auf 74 bis 7s Stunde erstrecken, wird nachgesehen, ob irgend welche Wirkung erzielt ist. Liegt eine noch so geringe Beweglichkeit vor, so kann man seines Erfolges sicher sein. Das Gelenk wird stets in einer einzigen Sitzung bis zur Ueberstreckung korrigirt Eine Tenotomie der Beugesehnen ist nur in den seltensten Fällen nothwendig. Die Extremität wird dann in nicht ganz korrigirter Stel¬ lung eingegipst und die völlige Korrektur einer zweiten oder dritten Sitzung überlassen. Die einzige Gefahr, welche bei diesem Verfahren besteht, ist die durch die Dehnung zu Stande kommende Lähmung des Nerv, peroneus; doch wird dieselbe erst durch eine permanente Dehnung eine dauernde. Resul- tirt durch das Redressement eine Peroneuslähmung, worauf stets sofort zu achten ist, so wird das Bein nur in massig korrigirender Stellung durch den Gipsverband fixirt; die Lähmung geht dann stets in kürzester Zeit zurück. Nach dieser Methode hat Loreoz 300 Kranke mit gutem Erfolge behandelt; dieselbe hat nur in 3 bis 4 Fällen nicht zum Ziele geführt. Sie erspart dem Kranken ein langes Bett¬ lager, erhält ihm die ganze Länge des Beines uod pflegt in den meisten Fällen keine besonders grossen Schmerzen zu ver¬ ursachen. Diskussion: Müller-Aachen betont, dass nicht alle Kon¬ trakturen in gleicher Weise behandelt werden dürfen; sind dieselben durch akute Eiterungen, Osteomyelitis und Tuber¬ kulose hervorgerufen, so ist wegen der Gefahr eines Wieder- aufflackerns des Prozesses stets von dem Redressement ab¬ zusehen. Brandis-Aachen-Godesberg. In ausserordentlich häufigen Fällen ist die Kontraktur durch den chronischen Rheumatis¬ mus hervorgerufen; da ist das unblutige Redressement sicher am Platze. Lorenz redressirt nur Fälle mit abgelaufener Osteomyelitis und Tuberkulose; worauf Müll er-Aachen bemerkt, dass es oft ausserordentlich schwer sei, festzustellen, ob die Krankheit wirklich erloschen. Martin-Köln, zur chirurgischen Behandlung der spindelförmigen Speiseröhrener Weiterung. Redner bespricht die Aetiologie, Symptomatologie und pathologische Anatomie des jetzt in 40 Fällen beschriebenen Krankheitsbildes und referirt über einen von ihm beobachteten Kranken. Die Diagnose machte erhebliche Schwierigkeiten, doch gelang es ihm, eine Sonde in den Magen zu bringen, nachdem durch Narkose der Krampf der Kardiamuskulatur gelöst war. Die zur Heilung in der Absicht, den Oesophagus funktionell auszu¬ schalten, vorgenommene Gastrostomie führte nicht zum Ziel, ebensowenig die retrograde Bougirung vom Magen aus; erst die Sondirung ohne Ende führte erhebliche Besserung des Leidens und Kräftigung des ausserordentlich heruntergekom¬ menen Kranken herbei. Aus der Anamnese verdient hervorgehoben zu werden, dass der Patient, ein leidenschaftlicher Cigarettenraucher, ge¬ wohnt war, den Tabakrauch herunterzuschlucken, wodurch eine heftige Entzündung der Speiseröhrenschleimhaut hervorgerufen wurde. Diskussion: Din kl er-Aachen berichtet über mehrere von ihm beobachtete und sezirte Fälle; die Entzündung der Schleim¬ haut kann nicht die alleinige Ursache sein. Es ist zur Aus¬ lösung des Krampfes auch eine ausserordentliche Reizbarkeit der in Betracht kommenden Nerven erforderlich. Stern-Düsseldorf, Beitrag zur Behandlung subku* taner Nierentraumen, hat in der letzten Zeit 2 derartige Fälle beobachtet, von denen der eine durch Aufschlagen auf einen Balken, der andere durch Ueberfahren entstanden war* In beiden Fällen musste wegen gefahrdrohender Blutung ope¬ rativ eingegriffen werden. Es gelang einmal die Blutung durch Tamponade der Niere bis ins Nierenbecken hinein zum Stehen zu bringen; bei dem zweiten Kranken musste die total zertrüm¬ merte Niere exstirpirt werden. Nach völliger Heilung wurde ihm 66 2 /b Proz. Rente gewährt. Diskussion: Bardenheuer-Köln. Die Fälle von Nieren¬ ruptur sind gar nicht so selten; Indikation für operatives Ein¬ greifen bieten die Blutung und der paranephritische Abscess. Die dem Kranken gewährte Rente war viel zu hoch, besonders da die gesunde Niere die genügende Menge normalen Harnes lieferte; 10 Prozent würden angemessen sein. Krabbel-Aachen würde in ähnlichen Fällen den Kranken für völlig erwerbsfähig halten; sollte der Mann später an der anderen Niere erkranken, so ist eine Rentenbewilligung event. am Platze. Katzenstein-Berlin, eine neue Methode der Gefäss- unterbindung, hat eine Zange konstruirt, mit welcher man durch einen Händedruck das Gefäes mit einem Silberfaden umschnürt, ähnlich wie man die Bücher mit einem Draht heftet. Der Ligatur selbst grösserer Gefässe, wie der A. renalis des Kaninchens, hat stets gehalten. Der Silberdraht heUt reak¬ tionslos ein. Der Vortheil des Instruments besteht in erheb¬ licher Zeitersparniss. Pabst-Aachen, demonstrirt einMastdarmsarkom, welches bei einem sechsjährigen Jungen durch Rektumamputa¬ tion entfernt wurde. Stern-Kassel, die Erfolge der orthopädischen Be¬ handlung von Kieferdifformi täten, berichtet über Resul¬ tate, welche er bei vorstehenden Ober- oder Unterkiefern durch Anlegen einer einen ziemlich starken Druck ausübenden Ban¬ dage mit Kopfkappe erzielte. Witzel-Dortmund bespricht unter Demonstration zahl¬ reicher Präparate die Behandlung von Unterkieferbrüchen und den Ersatz bei partiellen queren Resektionen. Bei einem Mädchen musste wegen Osteomyelitis der ganze Unterkiefer exartikulirt werden. Mit einer vom Vortragenden konstruirten Prothese ist Patientin recht gut im Stande, zu sprechen und zu kauen. Morian-E8sen, über einen Fall von Druckstauung. Einem in sitzender Stellung befindlichen Bergmann wurde durch einen auf den Rücken auffallenden Förderkorb der Brustkorb stark zusammengepresst. Als er aus seiner Lage befreit wurde, bestand starke Blutung aus Nase und Mund, blaue Verfärbung des Gesichts, Halses und der Schulter, die Erscheinungen, so¬ wie eine gleichfalls vorhandene Lähmung des liukeu Beines gingen allmählich zurück. Bliesener-Köln, über Eiterungen am Kiefergelenk, hat an 3 Kranken, sowie experimentell den Weg festgestellt, auf dem eine eitrige Entzündung des Kiefergelenks zu Menin¬ gitis und umgekehrt eine Osteomyelitis des Keilbeine zu Mit¬ betheiligung des Kiefergelenks fuhrt. Niehues-Bonn. Gerichtliche Entscheidungen. Aus dem Reichs-Yersicherungsamt* Obergutachten, betreffend die traumatische Entstehung eines Nabelbruobes. (Amtl. Nach. a. d. R. V. A.) Der 43 Jahre alte Ackerer Peter R. verunglückte am 1. Sep¬ tember 1898 dadurch, dass er beim Aufsteigen auf einen Leiter- Digitized by Google 440 Aerzt liehe Saohverstftndigen-Zeitung. No. 21. wagen ausrutschte und mit dem Bauch gegen die Spitze der Wagenleiter fiel. Sofort darauf will er einen „schmerzhaften Knorpel“ gefühlt und gesehen haben, der vorher nicht da war. Denselben will er mit einem Riemen, Gürtel und zuletzt Bruch¬ band zurückgeb alten haben, ohne einen Arzt zu fragen. Am 21. September konsultirte er den Dr. A. zu W., welcher einen Nabelbruch im oberen Theile des Nabelringes und zwar einen Darmnetzbruch konstatirte, welcher nicht zurückzubringen war. Dr. A. hält den R. in Folge dieses Bruches, dessen Entstehung durch diesen Unfall er für möglich hält, für 75 Prozent er¬ werbsunfähig (Blatt 4 und 5 der Genossenschaftsakten). Nach Dr. Sch. (Blatt 10 derselben Akten) ist dieser Fall als Betriebs¬ unfall nicht anzuerkennen. Nabelbrüche entstehen bei fettleibigen Personen — R. ist ein korpulenter Mann — fast ausnahmslos allmählich. Es drängen sich kleine Fettklümpchen des Netzes durch den Druck in der Bauchhöhle in kleine Lücken des Nabelringes hinein, erweitern diese allmählich; nach nnd nach tritt immer mehr Netz, Darm und auch sonstiges Eingeweide in die sich mehr und mehr erweiternde Höhle hinein. Der Bruch kann lange Zeit klein bleiben, bevor er bemerkt wird. Häufig findet man ihn gleich angewachsen, d. h. er ist bei dem langen unbemerkten Be¬ stehen allmählich festgewachsen. So verhielt es sich auch meines Erachtens bei R. Als er sich am 1. September den Leib quetschte, kam ihm der längst vorhandene Nabelbruch zur Kenntniss. In den seltenen Fällen, wo Nabelbrüche plötzlich entstehen können, handelt es sich um erhebliche Quetschungen des Leibes (bei Ueberfahren- und Verschüttetwerden), bei denen das Bauch¬ fell im Bereich des Nabelringes einreisst und ein Eingeweide gewaltsam in den Riss und durch den Nabelring hindurch gepresst wird. Hierbei entstehen so erhebliche Schmerzen, dass „der Verletzte zusammenbricht und unmöglich Weiter¬ arbeiten kann. Auch eine andere Möglichkeit ist noch zu erwägen. Es kann eine Bruchpforte im Nabelring bestehen, durch welche bei einer starken plötzlichen Pressung (Husten, Niesen, Stuhl¬ drang, auch äusserer Druck) ein Eingeweide hindurchgetrieben wird. Dies würde eine gewaltsame Füllung des Bruches sein. Hierbei bleibt dann aber der Brucbinhalt beweglich oder er ist eingeklemmt und macht in diesem Falle sehr heftige momen¬ tane Beschwerden, sodass der Betroffene unmöglich Weiter¬ arbeiten kann. DieUmBtände bei dem Unfall desR. am 1. September 1898 und das Verhalten desselben nach der Verletzung sprechen auf das Bestimmteste gegen ein plötzliches Entstehen des Nabel¬ bruches. Ich nehme vielmehr an, dass der Bruch eine Folge natürlicher Veranlagung bei R. ist, dass er sich allmählich ent¬ wickelt hat und nur bei Gelegenheit des Unfalles entdeckt wurde. Ich halte es im Gegensatz zu Dr. A. (Schiedsgerichts¬ akten Blatt 7) für völlig ausgeschlossen, dass ein Mensch, welcher auf traumatischem Wege einen Bruch acquirirt, ruhig bei seiner Arbeit bleiben kann und erst nach drei Wochen einen Arzt konBultirt. Berlin, den 28. Juli 1899. Professor Dr. Rinne, Chefarzt der chirurgischen Station am Elisabeth-Krankenhaus. Die im Vorstehenden entwickelte Ansicht des Obergut¬ achters hat dem Rekursgericht als Grundlage seiner Entschei¬ dung gedient, durch die — im Gegensatz zu dem schieds¬ gerichtlichen Urtheil — der Entschädigungsanspruch des Klägers für nicht begründet erachtet worden ist. Ein Baucbbruch. R.-E. 4. Juli 1900. Gegen das ungünstige Urtheil des Schiedsgerichts hat der Kläger B. rechtzeitig Rekurs eingelegt mit dem Anträge, ihm wegen des bestehenden Bauchbruchs eine Rente zu gewähren. Er hat zur Unterstützung seiner Behauptung, dass der Bauch¬ bruch durch Unfall entstanden sei, ein eingehend begründetes ärztliches Gutachten des Dr. E. W. und des Dr. A. vorgelegt und gebeten, zur Widerlegung des dem entgegenstehenden, von den Vorinstanzen für ausschlaggebend erachteten Gut¬ achtens der Aerzte Dr. H. und Dr. R. ein Obergutachten zn erfordern. Er hat ferner Sachverständigenbeweis dafür be¬ zeichnet, dass das Einpollern von Stämmen — gelegentlich dessen bei ihm am 24. Juli der Bauchbruch entstanden sei — vielfach eine ausBergewöhnliche körperliche Anstrengung er¬ fordere. Er hat endlich unter Vorlegung einer Bescheinigung geltend gemacht, dass er schwere Arbeiten nicht mehr ver¬ richten könne und nur als Koch einen Verdienst von 1,10 Mk. täglich erziele. Auf Anordnung des Reichs-Versicherungsamtes ist ein Gutachten von dem Königlichen Bezirksarzt Dr. G. er¬ fordert worden, letzteres geht dahin, dass der Bauchbruch des Klägers „nicht plötzlich in Folge einer am 24. Juli eingetretenen Ueberanstrengung entstanden, sondern schon vorher in der Entwickelung begriffen gewesen sei. Es gründet sich auf die Thatsache, dass der Kläger die ärztliche Hülfe des Sachver¬ ständigen schon am 21., 22. und 28. Juli wegen Unterleibs¬ beschwerden angerufen hat. Sein Leiden ist von dem Arzt Anfangs als „Magenkatarrh“ diagnostizirt worden. Mit Be¬ ziehung auf dieses Gutachten hat der Kläger geltend gemacht, seine bisherige Angabe, der Unfall habe sich am 24. Juli er¬ eignet, beruhe auf irrthümlicher Bezeichnung dieses Tages. Er hat sich dafür auf das Zeugniss des Flossmeisters G. be¬ rufen. Dieser hat eidlich bekundet, der Kläger sei am 20. Juli in seinem Aufträge am Hafen damit beschäftigt gewesen, für die Zwecke der Fiösserei Fichtenlangstämme in das Wasser einzupollern. Am Tage darauf habe der Kläger, den er bisher nur als einen gesunden, kräftigen Mann und tüchtigen Arbeiter gekannt habe, ihm über Schmerzen in der Nabelgegend, die er am Tage vorher während des Einpollerns bekommen hätte, und über grosses Uebelsein geklagt; er, Zeuge, habe, nach¬ dem auch schon unmittelbar vorher der Flosskneoht zu ihm geäussert hätte, der Kläger habe einen Schaden bekommen, dem Kläger angerathen, den Arzt aufzusuchen; er habe auch den Kläger, welcher unbeholfen sei und mit der Sprache nicht gut fortkomme, noch am selben Tage zum Bezirksarzt Dr. G. begleitet und seitdem habe der Kläger bis zum Ende der Flossfahrt schwere Arbeit nicht mehr verrichten können. Weiter¬ hin ist auf Anordnung des Rekursgerichts zum Zweck der Feststellung, ob der beim Kläger vorhandene Bauchbruch durch Unfall entstanden sei, ein Obergutachten des Professors Dr. W. und, nachdem dieses vorlag noch ein weiteres Obergutachten des Geheimen Medizinalraths, Professor Dr. K. eingeholt worden. Der Rekurs des B. wurde dann aus folgenden Gründen abge¬ wiesen: Wenn man der eigenen Sachdarstellung des Klägers folgt, so ist der Schmerz im Unterleibe am 20. Juli aufgetreten, als er beim Einpollern der Stämme in das Wasser mit seinem Flosshaken einen starken Hieb nach den Stämmen hin that; es kann auch angenommen werden, dass er seitdem die Be¬ schwerden im Unterleibe unter den Erscheinungen des Bauoh- bruchs gehabt hat und nur zu leichter Arbeit fähig war. Das Digitized by Google 1. November 1900. Aerztliohe ßaohverständigen-Zeitung. 441 Ereigniss, welches als Voraussetzung eines Unfalls bezeichnet werden könnte, würde nach dieser Sachdarstellung nur in dem heftigeren Zustossen mit dem Haken, in der damit verbundenen grösseren Anstrengung zu finden sein. Nun weist aber Pro¬ fessor K. überzeugend darauf hin, dass man für eine bei dieser Gelegenheit etwa erfolgte Zerreissung der Bauchwand und das Hervortreten des Bruches nur die zum festen Stehen und zur kraftvollen Ausführung stemmender Bewegungen des Körpers nothwendige Spannung der Bauchmuskeln oder eine unge¬ wöhnlich kräftige Ausathmungsbewegung verantwortlich machen könnte; wäre aber durch Gewalteinwirkungen dieser Art der Bruch entstanden, so würde alsbald eine bedeutende lokale Schmerzhaftigkeit, eine Schwellung oder Blutfärbung bemerk¬ bar geworden sein. Professor Dr. W. hebt sogar hervor, dass in diesem Falle der Verletzte wahrscheinlich gar nicht mehr im Stande gewesen sein würde, nach Hause zu gehen, viel¬ mehr unter den schwersten Krankheitserscheinungen wohl als¬ bald in ein Krankenhaus hätte gebracht werden müssen. Da Erscheinungen dieser Art beim Kläger aber nicht aufgetreten sind, so stimmen die letztgenannten Obergutachter darin über¬ ein, dass im vorliegenden Falle der Bauchbruch nicht plötz¬ lich entstanden ist, dass der Kläger vielmehr an dem Tage, wo seine Beschwerden aufgetreten, bereits einen Spalt etc. in der weissen Bauchlinie gehabt hat. Die Obergutachter stimmen auch darin überein, dass es sich um eine wirkliche Einklem¬ mung des bereits vorhandenen Bruches nicht gehandelt haben kann. Die Ausführungen des Sachverständigen Prof. K. müssen zur Folge haben, dass in dem vorliegenden Falle, wo ein be¬ stimmtes, auf den Kläger einwirkendes Ereigniss, wie ein Aus¬ gleiten oder Fällen, ein Stoss oder ein Schlag nach der eigenen Sachdarstellung des Klägers für das Auftreten der Bruch- beschwerden nicht verantwortlich zu machen ist, die Ent¬ stehung des Bauohbruch8 oder sein nunmehriger Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit des Klägers auf einen Betriebsunfall nicht zurückgeführt werden dürfen. Die Thatsache allein, dass die Beschwerden bei der Arbeit zuerst aufgetreten sind, be¬ gründet die Annahme noch nicht, dass die Beschwerden durch einen Unfall entstanden sind. Es muss auch in diesem Falle des Bauchbruchs — ebenso, wie es der Regel nach bei Leisten¬ brüchen geschieht — angenommen werden, dass die Bruch- beschwerdeu am 20. Juli beim Kläger nur bei Gelegenheit der Arbeit aufgetreten sind, dass die Beschwerden, wie Professor Dr. W. hervorhebt, nur der gewöhnlichen, stufenweisen Ent¬ wickelung des bestehenden Bruchleidens entsprachen und dass somit die Arbeit des Klägers nicht die Ursache für Entstehung der Beschwerden, sondern vielmehr nur die Gelegenheit war, wo die Beschwerden ihren Anfang nahmen und bemerkbar wurden. M. einer festgestellten Unfallrente durch den Eintritt einer wesent¬ lichen Besserung bedingt. Der Auffassung des Schiedsgerichts aber, dass diese Besserung in allen Fällen objektiv, alBO an äusBerlich erkennbaren Merkmalen an dem Körper des Ver¬ letzten nachweisbar sein oder sich aus seinen eigenen Angaben ergeben müsse, hat nicht beigetreten werden können. Eine Erhöhung der Gebrauchsfähigkeit verletzter Gliedmassen vollzieht sich erfahrungsmässig sehr häufig durch blossen Zeitablauf und durch Angewöhnung des Verletzten an den vorhandenen Zustand, ohne dass die Veränderung und ihre Ursachen nachgewiesen werden könnten. Der kundige Arzt, der einen Verletzen Jahre hindurch be¬ handelt und untersucht hat, erkennt an der Hand der ver¬ gleichenden Beobachtungen den Eintritt der erhöhten Gebrauchs¬ fähigkeit der Glieder und damit der gesteigerten Erwerbs¬ fähigkeit des Verletzten, ohne dass es ihm möglich wäre, sie im Einzelnen an bestimmten Merkmalen darzulegen und naoh- zuweisen. Es erscheint ausgeschlossen, dass der auf dem Gebiete der Unfallverletzungen besonders erfahrene Dr. L. eine Besserung der Geh- und Tragfähigkeit des gebrochenen Beines des ihm seit Jahren genau bekannten Klägers behaupten und eine Herabsetzung der vorher von ihm selbst vorgeschlagenen Rente befürworten würde, wenn er nicht nach gewissenhafter Prüfung von der Zuverlässigkeit seines Urtheils überzeugt wäre. Auch der Professor Sch. in B., der dem Schiedsgericht unter dem 28. Februar 1900 ein Obergutaohten erstattet hat, erklärt die Herabsetzung der Rente des Klägers für „voll¬ ständig gerechtfertigt“, wiewohl er eine wesentliche Ver¬ änderung in dem Zustande des Klägers objektiv nicht fest¬ zustellen vermag und dessen subjektiven Klagen, die er für übertrieben erachtet, einen Anhalt für seine Ansicht nicht ent¬ nehmen kann. In diesen Erwägungen und bei der genauen Ueberein- stimmung der genannten Aerzte in der Schätzung des Grades, in dem der Kläger noch in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt ist, hat das R.-V.-A. kein Bedenken getragen, sich der Beur¬ teilung der erfahrenen Sachverständigen anzuschliessen. Die wesentliche Besserung ist vorhanden. Der Kläger, dessen Muskulatur kräftig entwickelt ist und der seit dem 1. Februar 1900 wieder gegen einen täglichen Lohn von 3,50 Mark arbeitet, hat sicherlich keinen Grund zur Beschwerde, wenn er noch immer für um ein Viertel der normalen Erwerbs¬ fähigkeit beschränkt erachtet und demgemäss entschädigt wird. (Compass.) Erhöhung der Erwerbsfähigkeit trotz unveränderten objektiven Befundes. Rek.-Entscheidung vom 11. Juli 1900. Der Hauer R. Sch. bezog für eine am 22. Juli 1896 auf Zeche Shamrock erlittene Verletzung, bestehend im Bruch des rechten Unterschenkels, Quetschung der Brust und der Kreuz¬ gegend, zuletzt eine Rente von 40 pCt. Erwerbsverminderung. Diese Rente wurde vom 25. Juni 1899 ab auf eine solche von 25 pCt. herabgesetzt, weil nach ärztlichem Gutachten das rechte Bein tragfähiger geworden sei. Auf die Berufung hin ver¬ urteilte das Schiedsgericht die BerufsgenoBsenschaft zur Weiterzahlung der Rente von 40 pCt. Dem hiergegen vom Genossenschaftsvorstande erhobenen Rekurse wurde statt¬ gegeben und der Sektionsbescheid wiederhergestellt. Gründe: Nach gesetzlicher Vorschrift ist freilich die Herabminderung Bücherbesprechungen und Anzeigen. Ammann, E., Dr. med. in Winterthur. Die Begutachtung der Erwerbsfähigkeit nach Unfallverletzungen des Sehorgans. München 1900. 80 + VI Seiten. Preis 2Mark. Verf. wendet sich zunächst gegen das Bestreben, die ver¬ schiedenen Beschädigungen des Sehorgans hinsichtlich ihres Einflusses auf das Sehorgan durch mathematische Formeln feststellen zu wollen, übersieht dabei aber, dass alle Autoren, welche dies gethan haben, davor warnen, die von ihnen an¬ gegebenen Tabellen schematisch und kritiklos nach Art einer Logarithmentafel anzuwenden. Für ebenso falsch hält es Verf., die von den höchsten Gerichtshöfen festgesetzten Renten für bestimmte Beschädigungen ohne Weiteres als richtig anzu¬ nehmen. Aber auch hierbei beachtet er nicht, dass der ein- Digitized by Google 442 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 21. zelne Gutachter sich au gewisse Normalsätze halten und eine etwaige Abweichung davon besonders motiviren muss. Aller¬ dings soll der Arzt, worin wir dem Verf. vollständig beistim¬ men, jeden einzelnen Fall individuell, nicht schematisch, beur- theilen, gewisse Normalsätze wird er aber nicht entbehren können. Bei der Besprechung der allgemeinen Grundsätze für die Abschätzung von Beschädigungen des Sehorganes giebt Verf. neben den bereits veröffentlichten eine eigene Statistik über etwa 100 Einäugige. Von diesen hatten unmittelbar nach der Wiederaufnahme der Arbeit 58 Prozent überhaupt keine und nur 42 Prozent eine mässige Lohneinbusse erfahren. Längere Zeit nach dem Verlust eines Auges verdienten 42 Prozent aller untersuchten Einäugigen mehr Lohn als früher, 83 Prozent denselben und nur 25 Prozent einen verminderten Lohn. Die Einbusse betrug im letzteren Falle 4 bis 13 Prozent. Den Grundsätzen über Verminderung der Konkurrenzfähigkeit, welche Verf. entwickelt, müssen wir durchaus zustimmen. Er erblickt die Schädigung der Konkurrenzfähigkeit darin, dass der Verletzte in Folge einer äusserlich sichtbaren Beschädigung den Eindruck der Minderwerthigkeit macht und dadurch auf dem Arbeits¬ markte seine Arbeitskraft gar nicht oder nur zn reduzirtem Preise verkaufen kann. Hieraus wird eine zeitweise Arbeits¬ losigkeit resultiren. Auf Grund verschiedener Beobachtungen wird diese Arbeitslosigkeit auf höchstens einen Monat in jedem Jahre geschätzt und demgemäss die Einbusse an Konkurrenz¬ fähigkeit mit 5 Prozent, höchstens 10 Prozent bewerthet. Für den Totalverlust eines Auges schlägt Verf. eine Rente von 15 bis 35 Prozent vor, je nach der Wichtigkeit des stereoskopi¬ schen Sehens für den fraglichen Beruf und der äusseren Ent¬ stellung. Lernt der Einäugige etwa nach 1 bis 2 Jahren auch mit einem Auge wieder körperlich sehen, so tritt eine Reduktion der Rente auf 20 bis 30 Prozent ein. Bei Berufsarten, für welche stereoskopisches Sehen nicht erforderlich ist, beträgt die Rente dauernd 15 bis 20 Prozent resp. falls der Augapfel operativ entfernt wurde, 20 bis 25 Prozent. Ist die Linse eines Auges bei intaktem zweiten in Folge einer Verletzung verloren gegangen, besitzt aber das Auge mit einem Staarglase noch gute Sehschärfe, so besteht die Verminderung der Arbeitsfähig¬ keit wesentlich in dem Verluste des stereoskopischen SehenB. Verf. hält eine Rente von 0 bis 25 Prozent in diesem Falle für angebracht. Wir halten es für zu hart und nicht dem Geiste der modernen sozialen Gesetzgebung entsprechend, wenn Verf. eine Rente überhaupt nicht gewähren will, falls das stereoskopische Sehen für den Beruf des Verletzten ohne wesent¬ liche Bedeutung ist und eine Entstellung in Folge der einsei¬ tigen Linsenlosigkeit nicht vorliegt. Bei Verminderung der zentralen Sehschärfe beider Augen in gleichem MaaBse macht Verf. den Vorschlag, eine Beschädigung der Erwerbsfähigkeit um mehr als 50Prozent so lange nicht anzunehmen, als die Ausübung des fraglichen Berufes überhaupt noch möglich sei, wenn auch mit etwelcher Mühe, d. h. bei einer Sehschärfe von einem Fünftel oder mehr bei Berufsarten mit höheren und bei einer solchen von einem Zehntel oder mehr bei Berufsarten mit geringeren optisch-erwerblichen Ansprüchen. Verf. tadelt es, dass verschiedene Autoren bei Berufsarten mit höheren optiBch-erwerb- lichen Ansprüchen bei einer Sehschärfe von einem Sechstel bis einem Zehntel die Erwerbsfähigkeit = Null setzen, und weist da¬ rauf hio, dass bei einer derartigen Sehschärfe allerdings die Aus¬ übung der bisherigen Beschäftigung nicht mehr möglich sei, dass aber diese Personen noch andere Berufsarten ausüben können. Hierbei lässt Verf. ausser Betracht, dass für die Er¬ werbsfähigkeit ausser der Funktion der Augen noch eine Anzahl anderer Momente in Frage kommen. Wohl alle Autoren, welche eine untere Grenze der Sehschärfe für Berufsarten mit höhe¬ ren optischen Ansprüchen festlegten, haben dabei stets nur an Personen gedacht, welche einen Beruf mit geringeren optischen Ansprüchen nicht ausüben können, sei es, dass man ihnen bei ihrer sozialen Stellung nicht zumuthen kann, sich z. B. als Strassenkehrer noch etwas zu verdienen, sei es, dass sie körper¬ lich nicht im Stande sind, gröbere Arbeiten zu verrichten. Trifft das Sehorgan eine Beschädigung, wenn ein oder beide Augen schon vorher schwach waren, so legt Verf. der Rente das Verhältnis der relativen Erwerbsfähigkeit nach dem Unfall zu der vor dem Unfall zu Grunde. Während bei Lähmungen eines oder mehrerer Muskeln eines Auges die meisten Autoren annehmen, dass, wenigstens in der ersten Zeit nach Eintritt der Lähmung, das Auge in erwerblicher Beziehung nicht in Betracht komme und demgemäss die Rente für den vollen Ver¬ lust eines Auges zu gewähren sei, glaubt Veif. nur den Verlust des stereoskopischen Sehens mit 5 bis 10 Prozent und im Falle eine äussere Entstellung (Schielen) eintritt, auch noch die Ver¬ schlechterung der Konkurrenzfähigkeit entschädigen zu müssen, so dass im Ganzen eine Rente von 8 bis 15 Prozent resultirt. Wir Haben hier eine Anzahl Punkte hervorgehoben, in denen wir die Ansichten des Verf. nicht theilen, beabsichtigen damit aber durchaus nicht, sein fleissiges zum Theil auf eigenen Beobachtungen beruhendes Werk irgendwie herabzusetzen. Vielleicht basiren die von den unsrigen abweichenden Meinungen des Verf. auf der von der deutschen etwas abweichenden Gesetzgebung der Schweiz, für welche das Werk in erster Linie geschrieben ist. Gr. Hoffmann, August. Die paroxysmale Taohycardie. (An¬ fälle von Herzjagen.) Wiesbaden, Verlag von J. F. Berg¬ mann 1900. Preis Mk. 4,—. Nach einer kurzen Einleitung und einigen eigenen Beob¬ achtungen von paroxysmaler Tachycardie bespricht Verfasser das über diesen Symptomenkomplex vorliegende Material, indem er dasselbe nach ätiologischen Gesichtspunkten eintheilt. Als ätiologische Momente werden aufgeführt: Heredität, nervöse Erkrankungen, Aufregung und Schreck, organische Erkrankungen und Verletzungen des Centralnervensystems, Gifte, chronische und Infektionskrankheiten, Erkrankungen der Abdominalorgane, Ueberanstrengung. Endlich werden mit Herzkrankheiten kom- plizirte Fälle und solche, bei denen eine bestimmte Aetiologie nicht nachweisbar ist, aufgeführt. Weiterhin werden die Symptomatologie, Pathologie, Diagnose, Prognose und Therapie besprochen. Ohne etwas wesentlich Neues zu bringen, hat doch Verfasser eine übersichtliche Zusammenstellung des vor¬ liegenden Materials geliefert. R. Stern. Wegele, Karl. Die diätetische Küche für Magen- und Darmkranke. Jena, Verlag von Gustav Fischer. 1900. Preis gebunden Mk. 1,60. Verfasser hat sich in vorliegendem populären Schriftchen bemüht, weiteren Kreisen eine kurze Darstellung der Grund¬ lagen und der Ausführung der diätetischen Therapie zu geben. Nach einer kurzen Einleitung, in welcher der Begriff der Verdaulichkeit und des Nährwerthes auseinandergesetzt werden, folgt ein Abriss der diätetischen Nahrungsmittellehre (Beur- theilung der einzelnen Nahrungsmittel nach ihrem Nährwerth und ihrer Verdaulichkeit) und weiter spezielle Diätvorschriften bei den hauptsächlichsten Magendarmerkrankungen. Den letzten Theil bildet eine Sammlung diätetischer Kochrezepte für Magen-Darmkranke, die von der Gattin des Verfassers zu¬ sammengestellt sind. Das kleine, ansprechend ausgestattete Büchlein wird sicher den vom Verfasser gewünschten Zweck erfüllen. R. Stern. Digitized by {jOOQie 1. November 1900. Aerztliohe Sach verständigen-Zeitung. 443 Gebührenwesen. Bei einem gemeinschaftlichen, von mehreren Aerzten abgegebenen Gut¬ achten steht, abgesehen von den Fällen, in denen es sich um ein Gutachten Ober den GemOtbszustand eines Menschen handelt, nioht jedem derselben die veile Gebühr des § 3 Abs. 6 des Gesetzes vom 9. März 1872 zu, sondern nur allen zusammen diese Gebühr bis zum HOohstbetrage von 24 Mark. (Beschluss des Ober-Landesgerichts (IV. Zivilsenats) zu Köln vom 11. August 1900.) Den drei Beschwerdeführern wurden in der vorbezeich- neten, beim Landgerichte in Saarbrücken anhängig gewesenen Zivilprozesssache für ein gemeinschaftliches schriftliches Gut¬ achten eine Sachverständigengebühr von zusammen 30 Mark zugebilligt. Aus Veranlassung einer späteren Erinnerung der Königlichen Ober-Rechnungskammer setzte das Landgericht in Saarbrücken die Sachverständigengebühr durch Beschluss vom 11. August 1900 auf 24 Mark fest und wurde jeder der Sach¬ verständigen aufgefordert, zwei Mark zurückzuerstatten. Die von den Sachverständigen gegen die anderweite Festsetzung eingelegte Beschwerde erscheint nicht begründet. Aus der Bestimmung des § 3 No. 6 in Verbindung mit § 4 des Gesetzes vom 9. März 1872, betreffend die den Medizinalbeamten für die Besorgung gerichtsärztlicher etc. Geschäfte zu gewähren¬ den Vergütungen geht klar und unzweideutig hervor, dass im vorliegenden Falle den Sachverständigen zusammen eine höhere Vergütung als 24 Mark nicht zugebilligt werden konnte. Die Annahme, dass bei Erstattung eines Gutachtens durch mehrere Sachverständige einem Jeden derselben die volle Gebühr des § 3 No. 6 a. a. 0. zustehe, ist nicht richtig. Nur für den hier nicht zutreffenden Fall, dass es sich um ein gemeinschaftliches Gutachten über den Gemüthszustand eines Menschen handelt, ist im § 4 Abs. 2 eine Ausnahmebestimmung gegeben und gerade aus dieser letzteren ergiebt sich der sichere Schluss, dass das Gesetz für die anderen Fälle eines gemeinschaft¬ lich erstatteten Gutachtens nur die einmalige Zahlung der im § 3 No. 6 bestimmten Gebühr vorgesehen hat. Denn es würde jene Bestimmung nicht erforderlich gewesen sein, wenn den zweiten zu einem gemeinschaftlichen Gutachten über den Ge¬ müthszustand eines Menschen aufgeforderten Medizinalbeamten die volle Gebühr des § 3 No. 6 schon auf Grund dieser letzte¬ ren Vorschrift zugestanden hätte. Der Versuch der Beschwerde¬ führer, den § 4 Abs. 2 so auszulegen, dass auch der zu einem gemeinschaftlichen Gutachten über den körperlichen Zustand eines Mensohen zugezogene weitere Medizinalbeamte Anspruch auf die volle Gebühr des § 3 No. 6 habe, scheitert an dem klaren Wortlaute der Bestimmung, der keinen Zweifel darüber lässt, dass der hier in Frage stehende Fall eines gemeinschaft¬ lichen Gutachtens über die Bewegungsfähigkeit einer Hand nicht darunter fallen kann. Es war daher die Beschwerde als unbegründet mit den aus § 97 C.-P.-O. sich ergebenden Kosten zurückzuweisen. Tagesgeschichte. Vorläufige Ausführungsbestimmungen zum Reichs¬ seuchengesetz. Unter dem 6. Oktober hat der BundeBrath zur Bekämpfung der Pest das Gesetz vom 30. Juni 1900 theilweise in Kraft treten lassen. Von den im Gesetz als zulässig bezeichneten Bestimmungen betreffs Absonderung kranker und krankheits¬ verdächtiger Personen, Untersagung von Messen und Märkten Ein- und Ausfuhrverbote, Vertilgung von Ratten, Desinfektion, Meldepflicht an das Reichsgesundheitsamt u. s. w. (cf. No. 8 dieser Zeitschrift) ist in ausgiebiger Weise Gebrauch gemacht. Von Einzelheiten sei erwähnt, dass Formaldehyd zur Ober¬ flächendesinfektion zugelassen ist und statt der Karbolsäure Kresolwasser angewandt werden darf. Besonders gespannt durfte man auf die Vorschriften betr. wissenschaftlicher Ar¬ beiten mit Pesterregern sein. Wir müssen es uns versagen, sie im Wortlaut folgen zu lassen, weil sie gar zu eingehend sind, geben aber einen kurzen Auszug: Für Jeden, der mit Pest-Erregern arbeiten will, ist die ErlaubnisB der Landescentralbehörde nothwendig. Selbst das Kaiserliche Gesundheitsamt bedarf einer solchen Erlaubniss und zwar seitens des Reichamts des Innern. Peinlichst genaue Anordnungen betreffen die Ausstattung der Laboratorien, welche derart Bein soll, dass eine Verschleppung von hier aus möglichst sicher ausgeschlossen werden kann. Die genannte Erlaubniss wird nichstaatlichen Anstalten nur dann ertheilt, wenn der Leiter seine Befähigung und Zuverlässigkeit nachweist. Der Leiter der Anstalt hat für den ordnungsmässigen Betrieb Sorge zu tragen. Er darf Hilfskräfte heran¬ ziehen, aber nur zuverlässige und einwandsfrei vorge- biidete Personen. Womöglich sollen diese Personen alle aktiv gegen Pest unempfänglich gemacht sein. Diener, die auch mit besonderer Vorsicht ausgewählt und genau instruirt sein müssen, dürfen sich nur in Gegenwart der Anstaltsleiter im Laboratorium aufhalten. Die im Labo ratorium zu tragenden Schutzkleider müssen vor der Ablieferung zur Wäsche au Ort und Stelle desinflzirt werden, verboten ist Rauchen, Oeffnen der Fenster und Thüren. Tote Versuchsthiere müssen an Ort und Stelle vernichtet oder sterilisirt werden. Die Kulturen sind verschlossen zu halten, Handel mit ihnen ist unzulässig. Versendung lebender Kulturen darf nur unter strengen Vor8icht8ma8sregeln stattflnden. Sehr genaue Vorschriften sind betr. des Eisenbahnver¬ kehrs erlassen, doch ist jede unnöthige Behinderung der Packet- und Briefbeförderung vermieden. Der beamtete Arzt wird bei der etwa in Frage kommenden Anwendung dieser Vorschriften mannichfache Rechte und Pflichten haben. Er bestimmt die Beobachtungsdauer pest¬ verdächtiger Personen bezw. deren Absonderung. Sein Urtheil ist entscheidend dafür, ob das Haus eines Pestkranken ge¬ räumt werden soll, ob Gegenstände des Güter- und Reise¬ verkehrs als an8teckungsbefördernd desinflzirt werden müssen ob Häuser, in denen an Pest verendete Ratten gefunden sind, desinflzirt werden sollen. Die Polizeibehörde darf die Oeffnung von Pestleichen nur anordnen, wenn sie der beamtete Arzt zur Feststellung der Krankheit für erforderlioh hält Die Ab- wehrmassregeln dürfen endlich nur nach seiner Anhörung aufgehoben werden. Auf die Art der Desinfektion hat der beamtete Arzt insofern Einfluss, als, wenn nach seinem Gut¬ achten ihre Wirkung gesichert bleibt, von den Einzel Vor¬ schriften hierüber abgewichen werden darf. Bei Durchführung der MasBregeln für den Eisenbahnverkehr sind sämmtliche Beamte der Eisenbahnverwaltung verpflichtet, den Anfor¬ derungen der beaufsichtigenden Aerzte nach Kräften und so¬ weit es nach den dienstlichen Verhältnissen ausführbar ist, unbedingt Folge zu leisten. Digitized by AjOOQle 444 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 21. Instruktionskurs für Amtsärzte. In Oesterreich ist vor Kurzem eine Einrichtung ins Leben getreten, die die Aufmerksamkeit der reichsdeutschen beam¬ teten Aerzte in hohem Masse verdient: Offizielle Fortbildungs¬ kurse für Amtsärzte, bei denen ein grosser Theil aller für die Betheiligten wichtigen Fächer berücksichtigt werden. 17 Amts¬ ärzte sind zu dem ersten Kursus einberufen. Die Vertheilung des Uebungsstoffs findet, wie die W. Med. Pr. mittheilt, fol- gendermassen statt: 1. Ausgewählte Kapitel aus der Hygiene, DesinfektionB- lehre, praktische Uebungen im Hygienischen Institut (Prof. Max Gruber). 2. Bakteriologische Diagnostik der Infektionskrankheiten, Leichenobduktionen mit besonderer Berücksichtigung der ge¬ richtsärztlichen Praxis (Prof. Weichselbaum). 3. Stand der neuen Sanitätsgesetzgebung und Sanitäts¬ organisation, Erfordernisse der sanitären Geschäftsführung (Ministerialrath Daimer). 4. Stand und Fortschritte der Impfstoffgewinnung, Impf¬ technik (Impfdirektor Dr. Gustav Paul). 5. Epidemiologie, Serotherapie, Demonstrationen und Uebungen (Prof. Richard Paltauf). 6. Einrichtung und Methoden der Lebensmitteluntersuchung. Jedem Theilnehmer wird ein Thema aus dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege zur Bearbeitung überwiesen. Die Vorträge über die wichtigsten Kapitel der Hygiene werden durch Exkursionen zur Besichtigung sanitärer Institute und hygienischer Einrichtungen in Industrie-Etablissements praktisch erläutert werden. Solche Kurse sollen fortan all¬ jährlich stattfinden, und es ist nicht ausgeschlossen, dass später¬ hin auch die wissenschaftlichen Institute anderer Universitäten zur fortlaufenden Information der sanitären Amtsorgane über die Fortschritte der sanitären Wissenschatten herangezogen werden. Fahrlässige Tötung durch Arsenwasserstoff. Ein eigenartiger Rechtsfall hat, wie der Intern. Pharm. Z. A. mittheilt, dieser Tage seinen endgiltigen Abschluss ge¬ funden. Der Chemiker S. G. ist Leiter einer Fabrik, in der augenscheinlich irgendwelche Mineralien verarbeitet werden, die arsenhaltig sein können. In dieser Fabrik sind nun meh¬ rere Arbeiter an Arsen wasser Stoff-Vergiftung erkrankt, einer ist daran gestorben. Das zuständige Landgericht sah eine Fahrlässigkeit darin, dass der Direktor nicht daran gedacht hatte, die Mineralien auf Arsen zu untersuchen, und verurtheilte ihn zu 6 Wochen Gefängniss. Das Reichsgericht verwarf die Revision. Zur Förderung geschlechtlicher Enthaltsamkeit unter den Studenten. Zu Beginn des Wintersemesters richten 20 Lehrer der Hygiene an deutschen Hochschulen einen Warnungsruf an die studirende Jugend. In eindringlichen Worten wird auf die erschreckende Verbreitung der Geschlechtskrankheiten unter den Studenten, auf die daraus für das ganze spätere Leben des Einzelnen, für die Gesundheit des Volkes sich ergebenden Gefahren hingewiesen. Möglichst vollkommene Enthaltsam¬ keit, die keineswegs die vielfach angenommenen schädlichen Einflüsse habe, sei dringend zu empfehlen. Man wird sich über die Wirkung solcher Mahnungen keinen übertriebenen Hoffnungen hingeben dürfen, aber erfreu¬ lich ist dieser Aufruf schon, weil er wieder ein Anzeichen dafür ist, dass die Gleichgiltigkeit und die Prüderie, welche bisher ein wirksameres Einschreiten gegen die furchtbare Aus¬ breitung der Geschlechtskrankheiten hintangehalten haben, mehr und mehr energischem Handeln den Platz räumen. Die Haftpflicht für den Schrecken. Unter dieser Ueberschrift theilt die „Neue Fr. Pr.“ fol¬ genden Rechtsfall mit: Das Handelsgericht hatte sich heute mit einem sowohl in juristischer als in versicherungstechnischer Beziehung höchst interessanten Fall zu beschäftigen. Es handelt sich nämlich um die bisher noch nicht judizirte Streit¬ frage, ob eine Unfallversicherungs-Gesellschaft für einen durch Schrecken hervorgerufenen Unfall haftpflichtig ist. Der Kauf¬ mann Eduard Seelenfried aus Tscheitsch fuhr am 14. No¬ vember 1897 nach Vlarapass. Gegen 6 Uhr früh riss der Kon¬ dukteur die Thüre des Koupes auf und rief: „Alles heraus! Rette sich, wer kann!“ Tbatsächlioh drohte bei Bajkowitz ein Zusammenstoss, der aber noch glücklich hintangehalten werden konnte. Herr Seelenfried erschrak so heftig, dass noch am selben Tage ein Arzt eine Chocneurose konstatirte. Der früher gesunde vierzigjährige Mann ist heute arbeitsunfähig, und seine Untersuchung durch die Professoren Benedikt und v. Wagner ergab, dass der Fall einer Neurose durch Schrecken vorliegt. Der Kranke war bei der Bayrischen Hypotheken¬ bank gegen Unfall versichert. Die Gesellschaft weigerte sich, für den durch Schrecken hervorgerufenen Unfall aufzukommen, da es sich, wie Dr. Sch. in Vertretung der Gesellschaft aus¬ führte, um eine Erkrankung und keine Verletzung handle. Wenn die Versicherungsgesellschaften für Unfälle aus Schrecken haften sollten, würden sie ihre Anstalten sperren müssen. Der Vertreter des Klägers klagte daher auf Feststellung, dass die Versicherungsanstalt für den Unfall haftpflichtig sei. Der Senat des Handelsgerichtes schloss sich dem Standpunkte des Klage-Anwaltes an und gab der Klage Folge, weil nach Angabe der Sachverständigen die Krankheit durch den äusseren Vorfall hervorgerufen sei, und es nach Analogie des Haftpflichtgesetzes genüge, wenn die Verletzung keine äusserliche, sondern eine Nervenerkrankung sei. (Unf.-Vers.-Pr.) „Blätter für Yolksgesundheitspflege.“ Soeben ist im Verlage von R. Oldenbourg die erste Nummer der „Blätter für Volksgesundheitspflege“, herausgegeben von den Herren: Wirkl. Geh. Oberregierungs¬ rath, Präsident Dr. Bödiker, Dr. Graf Douglas, Geh. Med.-Rath Prof. Dr. von Leyden, Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Rubner, redigirt von Dr. K. Beerwald, Reg.-Rath Dr. Kautz und Dr. Spitta, erschienen. Diese Blätter sollen durch die Schrift eine Ergänzung der Bestrebungen des Deutschen Vereins für „Volks-Hygiene“ bringen, ein Zweck, welchem das vorliegende Heft vollkommen entspricht Die Ausführungen des bekannten Hygienikers Dr. Biedert- Hagenau sowie Anregungen von Prof. Raydt-Leipzig, dem treuen Kampfgefährten des Herrn von Schenkendorff, ver¬ dienen die weiteste Beachtung, und die hygienischen Kleinig¬ keiten repräsentiren eine Rubrik, welche gewiss jeder Haus¬ frau von grossem Werthe sein wird. Dass das Blatt auch Kochrezepte für die einfache Küche bringt, sowie amtliche Bekanntmachungen, Erlasse und Warnungen aus dem Gebiete des Medizinalwesens, welche allgemeines Interesse haben, wird gewiss dazu dienen, ihm in weitesten Kreisen Beachtung zu sichern. Verantwortlich fUr den Inhalt: Dr. F. Leppmann in Berlin. — Vertag und Eigenthnm von Richard ßchoeti in Berlin. — Drnck von Albert Damcke, Bertin-Schdneberg. Digitized by 1 Google |>1« v lsntlielM Saobrawtindlfen-Zaitun*“ »zaeWni monatlich nrtlaaL Diesel b« lat ra bemlehen durch den Baehhondel, dl« Poet (No, 86) oder daroh die Verlebt buchhendlung tob Blohard Sahoeta, Berlin NW., Laloenstr. 80, 10 m Preise tob Mh> 6.— pro Vierteljahr. Aerztliche ▲Ile Manuskripte, MUtheilangea and redaktionellen AoAnfiii beliebe man ea senden an Dr. P. Leppmann, Berlin W., KurfÜntenetr. Ho. 8. Korrektoren, B eie n sl o as Exemplare, Sonderabdrflcke ob die Verlagsbachhandlaug, Inserate and Beilagen an die Anmmoen-Expsdition tob Badolf Moose. Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und ünfaH-Heilknnde. Herausgegeben ▼OB Dr. L. Becker Dr. A Leppmann Dr. F. Leppmann Qsk. Banitltarath, KOnlgl. Physlkas, Yertranensarst SanltXtsrath, Königlicher Physlkas, Ant der Beobachtangsanstalt für feistes- prnkt. Ant, Ton Beraftgenossensehaften and Schiedsgerichten. kranke Gefangene in MoablUBerlln, Spcslalarst für Herren- n. Geisteskranke. Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstrasse 86. VL Jahrgang 1900. J\/s. 22 . Ausgegeben am 15. November. Inhalt: Originalton: Paffrath, Eine merkwürdige Unfallverletzung des Halses und der linken Brusthöhle. S. 445. Becker, Zur ätiologischen Bedeutung dos Trauma. S. 446. Referate: Allgemeines. Behla, Erblichkeit u. Prozentsatz beim Krebs. S.449. Reiche, Zur Verbreitung des Carcinoms. S. 449. Zouche-Marshall, Erste Hilfe bei Unglücksfallen. S. 449. Lorenz, Erstickung nach Verschlucken eines Schnullers. S. 449. Chirurgie. Dumont, Kokainisirung des Rückenmarks. S. 450. y. Ranke, Behandlung des nomatösen Brandes. S. 450. Muscatello und Gangitano, Gasgangraen. S. 450. Payr, Fettembolischer Tod nach orthopädischen Eingriffen. S. 451. Rieding er, Skoliosis traumatica. S. 452. Innere Medizin. Danker, Spastische Kontraktion der Cardia. S. 452. Martens, Darmverschliessungen und -Verengerungen. S, 453. Schloffer, Traumatische Darmverengerungen. S. 454. Fischer, Peliosis rheumatica auf traumatischer Grundlage. S. 455. Neurologie. Gr ebner, Taktile Hautanästhesie Tabetischer. S. 455. Hoppe, Drei Fälle von Sittlichkeitsvergohen. S. 456. Moll. Gutachten über einen Sexuell-Perversen. S. 456. Vergiftungen. Lettis und Potts, Strychnin Vergiftung. S. 457. Landouzy und Brouardel, Anilin Vergiftungen. S. 457. Augenheilkunde. Gutmann, Operationen am Augapfel. S. 457. Hennicke, Resorption einer überreif. Katarakt durch Verl. S. 458. Olrenhdikunde. Stenger, Zur Funktion dor Bogengänge. S. 458. Muck, Beiträge zur Kenntniss der otitischen Erkrankungen des Hirns, der Hirnhäute und der Blutleiter. S. 458. Preysing, Otitische Schläfenlappenabscesse. S. 458. Passow, Zur Heilung der Hirnabscesse. S. 459. Müller, Zur Lehre von den otitischen Gehirnabscessen. S. 459. Eine merkwürdige Unfallverletzung des Halses und der linken Brusthöhle. Von Dr. Paffrath-Cleve. Krefsphysikns. Die Unfallverletzung, welche ich in Nachfolgendem schildern werde, hat sowohl an und für sich so viel Merk¬ würdiges, als auch ist dieselbe hinsichtlich ihrer Entstehung so einzig in ihrer Axt, dass man annehmen könnte, der Aus¬ spruch des Weisen Ben Akiba: „Es ist alles schon dagewesen“, ist in diesem Falle Lügen gestraft worden. Die zuverlässige Beobachtung des Herrn Dr. Ebben zu Goch, dessen Güte ich meine spätere Beobachtung und Untersuchung des Falles verdanke, schliesBt jedoch jeden Zweifel an der Wirklichkeit des Unfalles, sowie der durch ihn geschaffenen Verletzung ans, welche durch den UmBtand, dass trotz ihrer Schwere der Unfallverletzte ohne Unfallfolgen mit dem Leben davonkam, um so wunderbarer ist. Der Maschinist X. zu Gooh, geboren den 17. Juli 1866, ist in einer Dampfgerberei daselhBt beschäftigt. Am 29. August c. fiel demselben heim Oelen der Dampfmaschine eine Oel- Hyglene. Schlicht, Verkehr mit Kuhmilch. S. 459. D u n b a r und D r e y e r, Milchbakterien im Milchthermophor. S. 459. Georgii, Beziehungen zur Milchygiene. S. 460. Eyre, Ueber die Gegenwart von anderen Bazillen der Diphtherie- Gruppe als dem Klebs-Loefflerschen in Milch. S. 460. B a 11 n e r, Zur Methodik der Mauer feucht igkeitsbestimmnng. S. 460. Aus Vereinen und Versammlungen. 72. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Aachen. (35. Abtheilung für Unfallheilkunde. — Aus der Jahresversammlung der British medical Association. Disscussion über Wochen¬ bettfieber in Bezug auf die Meldepflicht S. 461. GerlohtlioheEntscheidungen: Aus demReiohs-Versicherungs-Amt: Obergutachten, betreffend die traumatische Entstehung eines Krampfaderbruchs. — Betriebsunfall liegt vor. — Nervöse Unfall¬ folgen. — Grad der Brwerbsverminderung bei Verlust zweier Glieder des Mittelfingers der rechten Hand. — Zehn Prozent für zwei Fingerglieder. — Die Verunstaltung der Hand allein giebt keinen Anspruch auf eine Entschädigung. S. 463. BOoherhesprechungen: Peiper, Fliegenlarven als gelegentliche Para¬ siten des Menschen. — Brennecke, Kritische Bemerkungen zu den Verhandlungen der XVI. Hauptversammlung des Preussischon Medizinalbeamtenvereins über die Reform des Hebammenwesens. — Uffelraann und Pfeiffer, Sechzehnter Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiet der Hygiene. 461. Tagesgesohiohte: Eine Lücke im Strafgesetzbuch. — Die neuen Schieds¬ gerichte. — Centralstelle für Untersuchungen über Wasserver¬ sorgung und Abfallbeseitigung. — Die Pest. — Die neue Pro¬ motionsordnung. — Offener Brief an sämmtiiche Spezialärzte für Orthopädie. S. 467. kanoe in eine vor dem grossen Schwungrade befindliche Vertiefung. Mit einer langarmigen Zange, welche der Unfall¬ verletzte auf umstehenden Bildern in der Hand hält, ver¬ suchte er auf dem Boden gestreckt liegend und mit der linken Hand sich aufstützend, die Oelkanne aus der Vertiefung herauszuholen. Bei dieser Hantirung wurde die Zange an¬ scheinend an ihrer Spitze durch die Nahtstelle des vorbei¬ streichenden Treibriemens des Schwungrades gefasst, das lockere Charnier der Zange gelöst, der eine Hebelarm der Zange, welcher wie die Bilder zeigen, oben eine hakenförmige Krümmung hat, fortgeschleudert und der andere Hebelarm, welcher am Ende der Handhabe eine kugelartige Verdickung trägt, mit dieser Kugel voran durch Hals und Brust des Arbeiters getrieben. Allein die Thatsache, dass der Hebel¬ arm der Zange vorn die kugelförmige, etwa wallnussgrosse Verdickung und nicht eine scharfe Spitze hatte, rettete dem Verletzten das Leben. Herr Dr. Ebben, welcher denselben kurz nach dem Unfälle sah, fand den Zangenarm drei Centimeter oberhalb des Sternalansatzes des Musculus sternocleido-mastoideus an der Innenseite desselben eingedrungen und das kugelförmige Ende desselben drei Centimeter unterhalb des linken Schulter- Digitized by Google 446 Aerztliohe Sach veretändigen-Zeltung. No. 22. blattwinkels zwischen der achten und neunten Rippe aus der Brusthöhle hervorragen. Trotz der schweren Verletzung befand sich der Verwundete in einem relativ guten Zustande. Der erste Gedanke des Arztes war, beim Ausziehen des Zangenarmes aus der Wunde und der Brusthöhle werde, wenn sie auch anscheinend zur Zeit noch nicht vorhanden, eine lebensgefährliche, wenn nicht tödtliohe Blutung sich einstellen. Nichts von dem trat ein. Nach Ausziehen des Zangenarmes aus der Wunde und der Brusthöhle, welches an Ort und Stelle des Unfalles statt¬ fand und nur mit grosser Kraftanstrengung möglich war, trat nur eine geringfügige Blutung ein, kein Erguss in der linken Brusthöhle war nachzuweisen. Beide Wunden wurden nach Reinigung und Desinfektion mit antiseptischem Okklusiwerband bedeckt, worauf der Ver¬ letzte in das Hospital verbracht wurde. Sein Wohlbefinden wurde nicht gestört. Es trat kein Fieber ein. Die Wunden verheilten reaktionslos völlig in 13 Tagen. Anfang Oktober hatte ich Gelegenheit, den Unfallver¬ letzten zu untersuchen. Er ist ein mittelgrosser, mittel¬ kräftiggebauter Mensch von gesundem Aussehen. Drei Centi- meter oberhalb des Sternalansatzes des musculus sternooleido- mastoideus an der Innenseite desselben verlaufend, befindet sich eine 6,5 Centimeter lange, verhältnissmässig schmale, rothe Narbe, drei Centimeter unterhalb des linken Schulter¬ blattwinkels, etwas nach aussen von demselben zwischen der achten und neunten Rippe befindet sich eine 3,5 Centimeter lange, quer im Zwischenrippenraum verlaufende Narbe von ebenfalls rother Farbe. Beide Narben sind auf den bei¬ gefügten Bildern, welche bei der obengenannten Untersuchung aufgenommen wurden, leider jedoch etwas klein ausgefallen sind, leicht ersichtlich. Durch Perkussion und Auskultation nichts Abnormes an der linken Brusthälfte nachzuweisen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Zangenarm hinter der Luftröhre, den grossen Brustgefässen und der Lunge durch die linke Brusthöhle gedrungen war. Ob derselbe hinter der Speiseröhre oder zwischen Speiseröhre und Luftröhre durch¬ gedrungen war, konnte bei der ersten Untersuchung nicht fest- gestellt werden, wahrscheinlich ist wohl das Erstere. Meines Erachtens verursachten verschiedene Momente den glücklichen Ausgang des Unfalles: 1. Der Umstand, dass der vordringende Theil des Zangen¬ armes eine kugelförmige Verdickung hatte, wodurch es mög¬ lich wurde, dass eine Durchbohrung der Brusthöhle ohne grobe Verletzungen der Luftröhre, Speiseröhre und der grossen Brust- gefässe stattfinden konnte. 2. Möglich auch, dass die grosse Wucht und Schnelligkeit, womit der Zangenarm durch die Kraft des Treibriemens respek¬ tive des Schwungrades getrieben wurde, eine grössere Zer- reissung der Brust- und Halsorgane verhütete. 3. Ohne Frage war die linke Lunge des Unfallverletzten nicht verwachsen. Wäre dies der Fall gewesen oder war di© Lunge krank und nicht lufthaltig und elastisch, so hätte keinen- falls eine Durchbohrung der linken Brusthöhle durch den Zangen¬ arm ohne Zerreissung der Lungen stattfinden können, ln diesem Falle jedoch hat sicherlich ein Zurückweichen der elastischen Lunge vor dem blitzschnell vordringenden Zangenarm und seinem kugelförmigen Ende stattgefunden. Merkwürdig war auch die reaktionslose Heilung der grossen Wunde ohne irgend welche Folgeerscheinungen, obwohl die¬ selbe durch ein ungereinigtes und mit allerhand Schmutz be¬ decktes Handwerkszeug geschaffen war. Der Unfallverletzte ist seit Monatsfrist in seinem früheren Berufe als Maschinist der Fabrik, worin der Unfall sich ereig¬ nete, ohne erhebliche körperliche Beschwerden thätig. Zur ätiologischen Bedeutung des Trauma. Von Geh. San.-Rath Dr. L. Becker. Herr Kollege Dirska hat in No. 41 des laufenden Jahr¬ ganges der deutschen Med. Wochenschrift unter dieser Ueber« schrift einen Artikel veröffentlicht, welcher von prinzipieller Bedeutung für die Begutachtung Unfallverletzter ist, aber eben Digitized by ^ooQie 15. November 1000. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 447 wegen dieser prinzipiellen Bedeutung nicht ohne Widerspruoh bleiben darf. „Die zunehmenden Ansprüche, die an Unfall¬ versicherungen von Privaten nach Verletzungen auf Grund konsekutiver Leiden gestellt werden“, veranlassen den Verf. dazu. Es wird in dem Artikel zunächst ein Fall kurz skizzirt, in welchem ein Mann durch eine Verletzung seiner Schulter und deren objektiv nicht erweisliche Folgen sich eine Ent¬ schädigung erstritt, nach Ansicht des Verf. unrechtmässiger¬ weise. Nach dieser Einleitung wird der Satz aufgestellt, dass „die Bedeutung, die den akuten Traumen, einmaligen Ver¬ letzungen verschiedensten Grades, bei Erkrankungen selbst leicht oder indirekt getroffener Organe eingeräumt wird, nicht den Beobachtungen entspricht, die vor der Geltung der Unfall- wnd Haftpfiiohtgesetze gemacht wurden.“ In diesem Sinne erwähnt dann D. einzeln die hauptsächlichsten in Betracht kommenden Krankheitszustände. Die traumatische Neurose sei leicht zu simuliren; „sie war unbekannt bis in England das Eisenbahnrückgrat (railway-spine) entdeckt wurde, sehr lange nach Einführung der Bahnen; erst die Haftpflicht zeitigte das Eisenbahnrückgrat“. Der nach Wirbel¬ brüchen auftretende gibbus mit seinen schweren Folgeer¬ scheinungen sei viel leichter durch eine „coincidirende Wirbel- tuberkulöse“ zu erklären. — Das Mobilwerden von Infektions¬ erregern in Folge einer Erschütterung des Körpers sei nicht bewiesen aber unwahrscheinlich. „Kinder, die an tuberkulösen Drüsen-Ohrerkrankungen u. s. w. leiden, stürzen ebenso häufig wie andere, und doch sehen wir danach eine Verbreitung der Tuberkulose, z. B. auf die Hirnhäute, nicht eintreten, während dies spontan häufig stattfindet.“ — Weiter sei auch dem akuten psychisc hen Trauma, sobald es nicht bald schwere Ver¬ änderungen setzt, in der Mehrzahl der Fälle ein dauernder Ein¬ fluss nicht beizumessen. — Nachdem D. in dieser Weise sich über einzelne der für die Aetiologie des Traumas in Betracht kommenden Krankheitszustände geäussert, kommt er zum Schluss, dass es drei Trugschlüsse seien, „welche nicht selten zur Annahme einer traumatischen Krankheitsursache verleiten.“ „Erstlich nimmt man mangels schwerer Traumen an, es seien gerade die leichteren, die zu sekundären oder später auftretenden Folgen führten; man übersieht, dass leichtere Traumen fast in jeder Anamnese zu finden sind, zeitlich näher oder entfernter, und dass sie daher in der Mehrzahl der Fälle nothwendig coincidiren müssen, der Schluss auf eine Kausalverbindung also nicht statthaft ist.“ „Zweitens wird leicht eine geistvolle pathogenetische Erklärung eines vermutheten ursächlichen Zusammenhanges als ein Beweis für dessen Realität hingenommen, während derartige Erklärungen nichts beweisen.“ „Ein dritter Trugschluss entspringt dem Verkennen eines psychologischen Gesetzes, das bei sehr vielen Kranken zur Geltung kommt, nämlich der Neigung, sich selbst eine trau¬ matische Ursache für ihr Leiden einzureden. Wo keinerlei sonstiges Interesse in Frage kommt, liegt das unbewusste Motiv in der Hoffnung, bei solcher Auffassung körperlich höher bewerthet zu werden, als bei Annahme innerer Ursachen. Also auch solche scheinbar ganz uninteressirte Angaben, die gern als Beweise herangezogen werden, beweisen nichts.“ — Ich habe die Ansichten des genannten Autors deshalb ausführlicher wiedergegeben, weü man vereinzelten An¬ deutungen dieser absprechenden Ansichten über die ätio¬ logische Bedeutung des Trauma ja öfters in der Literatur be¬ gegnet; aber noch niemals hat ein Autor in so zusammen¬ hängender, systematischer Weise gegen die Bedeutung des Trauma als Krankheitsursache Stellung genommen, wie es hier geschieht. Es ist das ja eine vollständige Kriegs¬ erklärung gegen alle die schönen und werthvollen Errungen¬ schaften, welche die medizinische Wissenschaft auf Anregung der staatlichen Unfall-Versicherungsgesetzgebung in den letzten 15 Jahren zu Tage gefördert hat, und welche in den Lehr¬ büchern über die Begutachtung Unfallverletzter und in den Werken über „Unfallheilkunde“ und über die nach Unfällen beobachteten Krankheiten niedergelegt sind. Und da ich einigermassen bei bei diesem Streite betheiligt bin, so möge man mir gestatten, meine gegenteiligen Ansichten über die betreffende Frage zu äussern. — Auch uns, die wir im Gegensatz zu Herrn Dr. D. dem Trauma eine sehr wesentliche Bedeutung für die Entstehung konsekutiver Krankheitszustände beimessen, kann es nur daran liegen, den „Weg nüchterner Kritik“ nicht zu verlassen bei der Beurteilung dieser ja so tief in das soziale Leben einschneidenden Verhältnisse. Wir können daher Herrn D. nur dankbar dafür sein, dass er seinen Standpunkt nicht, wie so viele Kollegen, nur durch gelegentliche, zweifelnde Be¬ merkungen offenbart, sondern dass er gewissermassen als Führer dieser ganzen Richtung offen und frei alle seine Gründe, welche er für die von ihm vertretene Anschauung hat, zusammenhängend ins Treffen führt. So nur ist es uns, die wir auf einem andern Stnndpunkt stehen, ermöglicht die Gründe, welche gegen unsere Auffassung sprechen sollen, einer Betrachtung, einer Würdigung auf ihre Bedeutung zu unterziehen. Da ist es nun zunächst eine gewisse misstrauische Stim¬ mung, in weiche man leicht versetzt wird durch die Erfahrung, dass Simulation und Uebertreibung vorkommt. Welchem Gut¬ achter bliebe diese Erfahrung frohl unbekannt? Wir Menschen sind ja alle Stimmungen unterworfen, und es ist nur zu natür¬ lich, dass die Beobachtung einzelner Fälle von Simulation jeden Gutachter für einige Zeit äusserst misstrauisch gegen alle Verletzten stimmen kann. Solche Stimmungen sind manchmal schwer zu überwinden, dürfen aber doch die Un¬ befangenheit des Urtheilers nicht trüben und nicht vorgefasste Meinungen aufkommen lassen; denn es ist doch unzweifelhaft, dass Simulationen und Uebertreibungen nur vereinzelt Vor¬ kommen, und dass sehr viele Fälle solcher Art nach genauerer, längerer Untersuchung und Beobachtung sich in ganz anderem Licht darstellen, und in ihrem weiteren Verlauf die Klagen des Verletzten wohl begründet erscheinen lassen. — Gegenüber der Behauptung, dass „erst die Haftpflicht das Eisenbahnrückgrat zeitigte“, in welchem Satz die ganze ab¬ lehnende Haltung gegen die Annahme einer Entstehung von Krankheiten des Nervensystems durch Traumen ihren Ausdruck findet, möchte ioh denn doch die Ansicht unseres ersten Klini¬ kers, Herrn Prof. v. Leyden ins Feld führen, die er in der Sitzung des Vereins für innere Medizin am 6. Februar 1899 bei Gelegenheit einer Diskussion über den ursächlichen Zu¬ sammenhang zwischen Trauma und Tabes äusserte. Derselbe sagte dort in einem Streite, bei welchem die gegenteiligen Ansichten hart aneinander gerieten, — dass das Trauma zu den allgemeinen Krankheitsursachen gehört, und dass ebenso wie atmosphärische und termische, auch traumatische Einflüsse auf die peripherischen Nerven den Anstoss zur Ent¬ wickelung oder Verschlimmerung von Erkrankungen des Ner¬ vensystems geben, von denen ja auch die Zahl der publizirten Fälle von traumatischer Tabes der gebräuchlichen Kritik in wissenschaftlichen Dingen genüge. — Und weiter in Bezug auf die Entstehung von Nervenkrankheiten durch Trauma möchte ich ebenfalls u. A. besonders auch die werth¬ vollen, weil vorurteilsfreien, vorsichtigen und kritischen Be¬ obachtungen hinweisen, welohe in dem vorzüglichen Werke von Sachs u. Freund, „Die Erkrankungen des Nerven¬ systems nach Unfällen“, enthalten sind. — Sollen alle diese Ansichten hervorragender Kliniker und alle die wert- Digitized by Google 448 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 22. vollen Beobachtungen, welche uns das Material der Unfallver¬ sicherung in den letzten 15 Jahren geboten hat, hinfällig sein und abgethan werden können durch die Behauptung, dass eben „nur die Haftpflicht diese Krankheiten gezeitigt hat*? Natür¬ lich achtet jetzt Jedermann mehr auf das Vorangehen einer traumatischen Schädlichkeit als früher, wo es für den Be¬ treffenden ganz gleichgültig war, ob eine solche vorlag oder nicht. Aber das liegt in der Natur der Sache, und ist doch um Alles in der Welt kein Grund, traumatischen Schädlich¬ keiten jede Wirksamkeit abzusprechen. Dass die Art der Schädlichkeit wirklich eine erhebliche sein muss, wenn sie ätiologisch verwerthet werden soll, das versteht sich eigent¬ lich von selbst — Sehen wir uns nun „die 8 Trugschlüsse“, welche nach der Ansicht des Herrn Kollegen D. „nicht selten zur Annahme einer traumatischen Krankheitsursache verleiten“ etwas näher an. — Da heisst es zunächst, der Schluss auf eine Kaupal¬ verbindung leichter Traumen mit sekundären oder später auf¬ tretenden Folgen wäre unstatthaft, weil sich leichtere Traumen in jeder Anamnese vorfänden, und daher in der Mehrzahl der Fälle coincidiren müssten. — Das ist ja nun der am allge¬ meinsten angewendete Einwurf gegen die Annahme des Kau¬ salnexus zwischen einem Trauma und einer danach auftre¬ tenden Krankheit, die Behauptung der zufälligen Coincidenz beider Ereignisse ohne weiteren Zusammenhang. Man kann diese Behauptung auch gegenüber jedweder ursächlichen Ver¬ anlassung aussprechen! Sie ist eben wenig mehr als die ein¬ fache Negation. — Diese Behauptung ist aber doch zunächst einmal im einzelnen Falle ebenso unbewiesen, wie die Be¬ hauptung des Gegentheils, falls sich die gegentheilige Behaup¬ tung einfach auf die einmalige zeitliche Folge stützen würde. Soweit stände Behauptung gegen Behauptung. Wenn nun aber die Erfahrung lehrt, dass sich nicht nur einmal oder in ver¬ einzelten Fällen ein bestimmter Krankheitszustand an eine vorangegangene Verletzung anschliesst, sondern dass sioh diese Coincidenz, diese Aufeinanderfolge in zahlreichen Fällen wieder¬ holt, so wird man nothwendigerweise aus der Wiederholung der Zeitfolge zur Annahme einer Gesetzmässigkeit in der Auf¬ einanderfolge, d. h. also zur Annahme eines ursächlichen Zu¬ sammenhanges dieser so oft coincidirenden Umstände ge¬ drängt. Es ist unmöglich, sich diesem Gedankengange zu ver- schliessen. — Die Beobachtungen über den Zusammenhang innerer Krankheiten mit vorhergegangenen Verletzungen sind nun in den letzten 15 Jahren in dieser Weise zahlreich von erfahrenen Klinikern gemacht worden, welche dabei mit jeder gebotenen Vorsicht und kritischen Auswahl zu Werke gingen. Ausser dem schon erwähnten Buche von Sachs u. Freund über die Erkrankungen des Nervensystems nach Unfällen, ist es besonders das vorzügliche Werk von Prof. Stern in Bres¬ lau „Ueber traumatische Entstehung innerer Krank¬ heiten“, welches uns eine kritische Sammlung der einschlä¬ gigen Beobachtungen liefert. — Danach scheint mir denn doch der erste der angegebenen „Trugschlüsse“ in dem Sinne, wie ich ihn soeben genauer bezeichnet habe, keineswegs ein Trug¬ schluss zu sein, sondern ein nach allen Gesetzen der Logik durchaus berechtigter Schluss aus der Analogie ähn¬ licher Fälle. — Der zweite angebliche „Trugschluss“, welcher zur An¬ nahme einer traumatischen Krankheitsursache verleitet, soll dann also darin bestehen, dass eine geistvolle pathogenetische Erklärung eines vermutheten ursächlichen Zusammenhangs als ein Beweis für dessen Realität hingenommen wird, „während derartige Erklärungen nichts beweisen.“ — Da liegt, glaube ich, ein Irrthum vor. Eine Erklärung kann doch über¬ haupt niemals etwas beweisen, — das hat wohl noch Niemand behauptet. Aber der Autor meint wahrscheinlich die von meh¬ reren Forschern aufgestellte Hypothese von dem Mobilwerden von Infektionserregern in Folge einer Erschütterung des Kör¬ pers, welche er, wie oben erwähnt, damit abfertigt, dass seiner Erfahrung nach tuberkulöse Kinder ebenso häufig stürzten, wie andere, und dass danach eine Verbreitung der Tuberkulose auf die Hirnhaut nicht eintrete, „während dies spontan häufig eintritt“. Es liegt in diesem Ausspruch die einfache Vernei¬ nung einer vermutheten und eigentlich nach Lage der Sache recht naheliegenden Ursache, ohne dass eine andere oder bessere Ursache angegeben wird. Dass man sich wiederholt zu beobachtende Thatsachen durch eine Hypothese zu erklären versucht, das liegt eben im Kausalitäts - ßedürfniss jedes Menschen. Man kann das doch aber nimmermehr einen Trug¬ schluss nennen, wenn Jemand eine Annahme, welche er auf Grund wiederholter zeitlicher Aufeinanderfolge gewisser Um¬ stände macht, hinterher durch eine pathogenetische Hypothese zu erklären versucht. Endlich der dritte angebliche „Trugschluss, welcher nicht selten zur Annahme einer traumatischen Krankheitsursache verleitet;“ er bestünde in der Wirkung der Neigung der Ver¬ letzten, sich selbst eine traumatische Ursache für ihr Leiden einzureden mit dem unbewussten Motiv in der Hoffnung, bei solcher Auffassung körperlioh höher bewerthet zu werden als bei Annahme innerer Ursachen (Veranlagung). — Diese Neigung mag immerhin anerkannt werden, und ihre Wahr¬ nehmung zeugt gewiss von feiner Beobachtung der mensch¬ lichen Psyche. Aber, möchte ich fragen, geschieht es wirklich oft, dass ein Gutachter allein auf die unkontrollirte Angabe eines Verletzten ein Trauma als Ursache eines Krankheits- zustandes anerkennt? Wird nicht beispielsweise bei der Unfallversicherung der Thatbestand des Unfalls auf peinlichste Art durch Zeugen-Vernebmungen und polizeiliche und gericht¬ liche Protokoll-Auf nahmen festgestellt? — Ich glaube, dass dieser Vorwurf, dass ein Gutachter lediglich auf die un¬ bestimmte Aussage eines Verletzten den Zusammenhang eines Leidens mit einem Trauma'für sicher hält, nicht zutreffend ist, ebensowenig wie der Vorwurf der andern beiden „Trug¬ schlüsse.“ — Durch alle Ausführungen der Gegner der Aetiologie des TraumaB, als deren Wortführer Herr Dr. D. in dem erwähnten Ar- ti f el auftritt, zieht sich immer wie ein rother Faden die Forderung eines strikten Beweise 8 für die Ursächlichkeit des Traumas. Nun frage ich aber, wo in der Medizin basiren denn unsere Annahmen, unsere Theorien auf mathematischen Beweisen? Sind wir nicht fast stets in der medizinischen Wissenschaft auf die Schlussfolgerung aus der Mehrzahl der beobachteten Fälle, auf den Schluss aus der Analogie angewiesen, der doch immer nur zur grösseren oder geringeren Wahrscheinlichkeit führt? — Ich möchte aber weiter fragen, verfügt denn der gegentheilige Standpunkt, welcher die Ursächlichkeit des Trauma womöglich ganz leugnen möchte, über bessere Grund¬ lagen seines Standpunktes oder sind es nicht vielmehr einfache Verneinungen, welche noch nicht einmal den Schatten eines Beweises für ihre Behauptungen beibringen können. Lässt sich denn die angebliche „Coincidenz“ beweisen, und ist deren Behauptung nicht nur eine unbegründete Behauptung, welche man jedem sich der Wahrnehmung darbietenden ursächlichen Umstande gegenüber aussprechen kann? Glücklicherweise verlangen aber auch die Versicherungs¬ behörden gar keine strikten Beweise für den ursächlichen Zusammenhang eines krankhaften Zustandes mit einer vor¬ angegangenen Verletzung. Das Reichs-Versioherungsamt bat dies mehrmals ausgesprochen, besonders in einer Verfügung vom 9. 11. 18t6, in welcher es heisst: „Eines zwingenden Digitized by Google 15. November 1900. Aerztliohe Baoh verstftndigen-Zeitung. 449 Beweises für den ursächlichen Zusammenhang bedarf es nicht, es genügt eine hohe Wahrscheinlichkeit. Das Verlangen nach einem zwingenden Beweise würde gegen den Geist und Zweck des Unfallversicherungsgesetzes verstossen, welches der Er¬ füllung einer öffentlichen Fürsorgepflicht dient, und für dessen Anwendung deshalb nicht Grundsätze massgebend sein dürfen, welche gegenüber einer Privat-Versicherung vielleicht statt¬ haft erscheinen möchten. Vielmehr genügt innerhalb der Unfall-Versicherung die auf Grund des Ergebnisses der Be¬ weisaufnahme oder gerichtskundiger Umstände gewonnene Ueberzeugung des Gerichts zur Feststellung der streitigen Tbatsachen.“ Jeder Versicherung auf den Schadenfall liegt der humane Gedanke zu Grunde, dass dem Geschädigten für die durch den Schaden verursachte Einbusse an Erwerbsfähigkeit billige Entschädigung gewährt werde. Ist es da die Sache der Aerzte, vom Standpunkte eines wenig angebrachten Skepti- oismus diesem humanen Zweck der Versicherung entgegen zu wirken? Ich glaube nicht. Referate. Allgemeines. Ueber Erblichkeit und deren Prozentsatz beim Krebs. Von S.-R. Dr. Rob. Behla-Luckau. (Zeltschr. für Med. B. 1900, No. 20.) Dass die Erblichkeit unter den Ursachen der Krebskrank¬ heit eine grosse Rolle spielt, hält B. für erwiesen. Nach An¬ führung einer Anzahl fremder Beobachtungen bringt er aus eigner Beobachtung 11 Fälle von erblichem Krebs bei. Seiner Schätzung nach trifft diese Ursache bei 8 Prozent aller Car- cinome zu. Er führt ferner an, dass in Orten mit grosser Krebssterbliehkeit gelegentlich die Inzucht besonders stark aus¬ geprägt ist, so dass es z. B. in einem solchen Dorfe unter 500 Einwohnern 17 Familien namens Dehnz giebt. Nicht alle Formen scheinen gleich vererbbar zu sein: Haut- und Zungenkrebse selten, Magen-, Brust-, Leberkrebse oft. Beim Krebs der Thiere ist über Vererbung noch nichts sicheres ermittelt. Wie kommt nun solch eine Vererbung zu Stande? Der Krebs ist bei Neugeborenen ungeheuer selten, Uebertragung von Erregern aus dem mütterlichen Körper in den kindlichen bei der gewöhnlich späten Entwickelung der Geschwulst doch höchst unwahrscheinlich. Eine bestimmte Diathese, wie sie Billroth und Andere annahmen, hält B. für sehr fraglich, eine ererbte Gewebseigenart, welche gegen bestimmte krank¬ machende Einflüsse widerstandsunfähig macht, für wahr¬ scheinlicher. Die Bedenken mancher Forscher, wie Lubarsch, hinsicht¬ lich der Verwerthbarkeit der Statistik theilt B. nicht ganz. Z. B. sagt Lubarsch: Wenn unter 1000 Menschen einer an Krebs erkrankt, so ist die Wahrscheinlichkeit (nicht »Möglich¬ keit“, wie wohl irrig bei B. steht), dass in einer Familie von 10 Personen 2 an Krebs erkranken, gleich 1:200. Wenn also unter 200 Familien eine ist, bei der 2 Personen Krebs haben, so ist dies ganz unbeweisend. Ausserdem aber müssten noch alle anderen äusseren Einflüsse, die ein Zusammentreffen von 2 Erkrankungen in derselben Familie verursachen könnten, ausgeschlossen werden, ehe Erblichkeit anzunehmen wäre. Wörtlich sagt ß.: »Ich halte diese Skepsis für zu weitgehend, nachdem eine solche Fülle von genauen Beobachtungen über Familienkrebs veröffentlicht sind.“ Immerhin empfiehlt er, bei der Statistik grade mit Bezug auf die Erblichkeit besonders kritisch zu verfahren. Zur Verbreitung des Carcinoms. Von Dr. F. Reiche, Physikus in Hamburg. (M. M. W. 1000.) Der Verf., über dessen Forschungen zur Verbreitung des Krebses wir bereits im Beginn dieses Jahres zu berichten Veranlassung nahmen, hat seine Aufmerksamkeit neuerdings einigen besonderen Punkten zugewandt, die auf diesem Gebiete von Wichtigkeit sind. Die Frage, ob die Einführung einer zweckmässigen Wasserversorgung in Hamburg (1894), der ein Sinken der Sterblichkeit von 22,3—25,3 auf 17,1—18,9 pro mille folgte, auf die Sterblichkeit an Krebs von Einfluss gewesen ist, musste verneint werden. Weiter wurde geprüft, ob Bevölkerungsdichtigkeit, Wohl¬ habenheit oder Armut der einzelnen Stadttheile die Häufigkeit der Krebsfälle irgendwie beinflusst. Bei der Tuberkulose ist dieser Einfluss ein gradezu gesetzmässiger — beim Krebs fehlt er augenscheinlich, ln gleicher Weise fehlt eine er¬ sichtliche Beziehung zur Höhenlage des Stadttheils, zu den Untergrundverhältnissen, zu der Lage in Bezug auf den Elbstrom. Eine andere statistische Reihe hat besonderes Interesse gegenüber der Willi am s’sohen Theorie, dass der im Laufe der Jahrzehnte erhöhte Fleischgenuss Schuld an der Zunahme des Krebses habe. Es wurde nämlich festgestellt, dass die den Magendarmcanal betreffenden Carcinome gegenüber denen andrer Organe keine verhältnissmässige Zunahme erfahren haben. Diese Thatsache vereinigt sich mit der vorhin genannten — der gleichbleibeuden Krebsziffer bei ver¬ schiedenstem Wohlstand und daher verschiedensten Er¬ nährungsbedingungen — zu einem starken Emwurf gegen Williams* Lehre. Erste .Hilfe bei Ungl&cksfallen. Von John J. de Zouche-Marshall. (The brlt. med. Journal 8 . Bept.) Die Vorschläge, welche hier von Marshall im Namen der St. John Ambulance Association gemacht werden, verdienen im Interesse des allgemeinen Wohls entschieden Beachtung. Es wird der Vorschlag gemacht in allen Bezirken Englands die Polizei für die erste Hilfeleistung bei Unglückfällen etc. sachgemäss auszubilden. Die Gesellschaft ist gewillt, diese Ausbildung zu übernehmen. Aber nicht nur die Polizei, son¬ dern auch öffentliche Beamte, wie die Feuerwehrleute, Eisen¬ bahnbedienstete und die Wächter der Küste etc. sollen ent¬ sprechend unterrichtet werden undfürihreLeistungangemessenes Entgelt erhalten; ebenso sollen die Offiziere derjenigen Handels¬ schiffe, welche keinen Arzt mit sich nehmen, darüber gründlich instruirt werden. Weiter sollen die Schleusenmeister an den FiüBsen und Kanälen, die Bootsleute auch an deQ Küsten über die Wiederbelebungsversuche bei Ertrunkenen im Speziellen belehrt werden. Die Gesellschaft von St. John Ambulance soll intelligente, gesunde Menschen anwerben, ausbilden und über das ganze Land vertheilen, so dass jedes Dorf seine Korporalschaft, jede Stadt ihre Kompagnie hätte. Vor allem auch sollen die Studenten der Medizin über erste Hilfeleistung gründlichst unterrichtet werden. Franz Meyer-Berlin. Ein Fall von Erstickung in Folge von Verschlacken eines Schnallers. Von Herrn. Lorenz. (Pelertb. M. W. 1900. 20.) Ein Kind von acht Monaten verschluckte seinen aus einem Gummihütchen, das durch einen Bierflaschenkork verschlossen Digitized by Google 460 Aerztliohe Sachverstftndigen-Zeitung. No. 22. war, bestehenden Schnuller. Dieser keilte sich in der Speise¬ röhre, wahrscheinlich zwischen Ringknorpel und Wirbelsäule, ein und verlegte den Kehlkopfeingang so fest, dass es dem herbeigerufenen Arzt erst nach dreimaligem Anfassen mit der Pincette gelang, den Fremdkörper zu entfernen. Da die besorgte Mutter erst eine Viertelstunde lang die unzweckmä8sigsten Versuche gemacht hatte, das röchelnde Kind von dem Schnuller zu befreien, ehe sie zum Arzte schickte, kam die Hilfe zu spät. Chirurgie. Zur KokaIni8irung des Rückenmarks. Von Dr. Fritz Dumont-Bem. (Korreap.-BL f. Bchw. Aente 1900. No. 19.) Den Erfahrungen über Kokainwirkung auf das Rücken¬ mark, welche Bier kürzlich mitgetheilt hat, reihen sich die von Dumont in durchaus gleichem Sinne an. Es ist zu be¬ merken, dass D. die Einspritzungen genau nach der Vor¬ schrift Tuffiers gemacht hat, der kürzlich auf dem Kongress in Paris das Verfahren warm empfohlen hat. Seinem ersten Kranken spritzte D. 0,015 Kokain ein. Zehn Minuten nachher trat bei völlig erhaltener Empfindlich¬ keit der Haut ein lebhaftes Zittern des Körpers ein, der Kranke wurde sehr unruhig. Eine für die Ausführung der Operation zureichende Unempfindlichkeit wurde überhaupt nicht erzielt, so dass zur Aethermaske gegriffen werden musste. Der Aetherverbrauch war ein sehr geringer. Nach der Operation litt der Kranke mehrere Tage an heftigen Kopfschmerzen und völliger Schlaflosigkeit. Aehnlich erging es einer Frau mit Brustkrebs. Auch hier blieb die Schmerzlosigkeit aus, die Kranke musste schliesslich unter Aetber operirt werden. Sie batte nachher Kopfschmerz, sehr beschleunigten Puls, zeitweise sehr hohe Temperatur und Delirien, obgleich der Wundverlauf normal war. Wenn man diesen Fällen den Vorwurf machen kann, dass die Reinheit der Beobachtung durch die Aetherwirkung ver¬ wischt sein mag, so trifft dies nicht zu bei dem dritten Fall, in welchem das KokaYn den gewünschten Erfolg hatte. Hier handelte es sich um einen schwer lungen- und gelenkkranken Mann, welcher nach der Ausräumung von Knochenherden unter KokaYn zwei Tage lang an Uebelkeit, Kopfschmerzen, vorübergehend auch an Delirien litt, übrigens kurze Zeit nachher unter hohem Fieber starb. Diese Erfahrungen genügten dem Verfasser, um bis auf Weiteres von der KokaYnisirung des Rückenmarks Abstand zu nehmen. Im Allgemeinen warnt er vor der übertriebenen Sucht, der Narkose um jeden Preis auBzuweichen. Zar chirurgischen Behandlung des nomatösen Brandes. (Vortr. geh. in d. Sektion f. Kinderheilkunde der Naturforschersamm¬ lung zu Aachen.) Aus der K. Univ.-Kinderklinik in München. Von H. v. Ranke. (Mttnehener medidniscbe Wochenschrift, 1900, No. 43.) Im Gegensätze zu den bisherigen Erfahrungen über Noma und auch im Gegensätze zu seinen eignen früheren Heilresul¬ taten bei dieser Krankheit ist es Verf. gelungen, 3 Fälle von Noma des Gesichts durch energische operative Behandlung am Leben zu erhalten. Alle 3 Fälle traten im Anschluss an Masern auf. Im ersten Falle war die linke Wange ergriffen; an der Schleim¬ haut des Ober- und Unterkiefers waren grosse, schmierig be¬ legte Geschwüre sichtbar, die Röthung und Schwellung der Haut erreichten bereits das untere Augenlid, die brandige Stelle nahm in Zwanzigpfennigstückgrösse die linke Nasen¬ lippenfalte ein. Sie wurde am 13. Januar 1900 breit ausge¬ schnitten, die Wundränder mit dem Thermokanter abgebrannt. Die Nasenhöhle war dabei eröffnet worden, der Defekt hatte eine erhebliche Grösse erhalten, im Grunde der Wunde wurde ein nekrotisches Stück des Oberkiefers sichtbar, am Unter¬ kiefer trat später ebenfalls eine, 3 Alveolarfortsätze umfassende Knochennekrose ein. Trotzdem schritt die Heilung, in deren Verlaufe die abgestorbenen Knochenstücke sich bequem mit Pincette und Bcharfem Löffel entfernen liessen, gut vorwärts und im Mai wurde das Kind zur ambulatorischen Behandlung entlassen. Der 2. Fall, ln welchen der Brand von Zahnfieisch und Schleimhaut der linken Seite der Oberlippe ausging, kam zur Operation, noch ehe die Nekrose die äussere Wangenhaut zerstört hatte; nach breiter Spaltung konnte hauptsächlich mit dem scharfen Löffel alles Kranke von Wange und Kiefern ent¬ fernt werden, die Wundränder wurden mit Thermokanter ver- schorft. Daraufhin nahm die Schwellung der Umgebung bei tägliohem Verbandwechsel und häufiger Berieselung der Wand¬ fläche mit Kalihypermanganatlösung zusehends ab, eine Nekrose des Oberkiefers Hess sich 19 Tage nach der Operation mit der Pincette entfernen. 4 Wochen nach dem Eingriff wieder¬ holten 8ioh nochmals Erscheinungen von Mundfäule, eine Alveolarnekrose am Unterkiefer trat ein. — Die von der Operation herrührende Narbe wurde ausgeschnitten, der Defekt durch eine kleine Plastik gedeckt. Im 3. Falle nahm die no- matöse Partie das Kinn ein und veranlasste eine Lösung der Unterkieferhälften durch Nekrose der mittleren Partie dieses Knochens, (r. bis zum Eckzahn, 1. bis zum 1. Praemolaris.) Nach Ausschneidung der toten Gewebe und Thermokauter¬ behandlung der Ränder, sowie Entfernung der Knochennekrose trat auch hier Heilung ein, wobei die Kieferstücke durch Narbengewebe sich verbanden. Zur Bildung einer gebrauchs¬ fähigen Unterlippe mussten die eingestülpten Lippenränder von ihrer narbigen Verbindung mit der Bindegewebsbrücke der Unterkieferhälften gelöst, die Narbe zwischen ihnen entfernt und sie selbst mit einander vernäht werden. Trotz der Schwere der Veränderungen ist hier ebenfalls nach der Heilung die Ent¬ stellung eine erträgliche, wie aus den Abbildungen, welche auch die ersten 2 Fälle illustriren, hervorgeht. Seelhorst. Ueber die Gasgangraen. Von Dr. Muscatello unter Mitwirkung von 0. Gangitano. Aus der chirurgisch-prophedeutischen Klinik in Neapel (Münchener nediiinische Wochenschrift. 1900. No. 38.) Verfasser hat Beobachtungen an fünf (weiteren) Fällen von Gasgangraen angestellt, von denen sich vier an Verwundungen von Gliedmassen angeschlossen hatten, (eine Stichwunde am Oberarm, eine komplizirte Fraktur des Unterschenkels, ein Haematom an der Ferse mit Incision von Seiten eines Chirur¬ gen, eine Operation eines Aneurysma an der Kniekehle) eine auf eine Nierenoperation mit Eröffnung des Bauchfells in Folge von Verwachsungen, gefolgt war. Die ergriffenen Extremitäten wurden amputirt, der Stumpf antiseptisch nachbehandelt, die Wunde in der Nierengegend energisch antiseptisch gereinigt; in allen Fällen trat Genesung ein. Gemeinsam hatten alle Fälle ausser Nekrose und Gasblasenbüdung schwere allgemeine Vergiftungserscheinungen, Temp. bis 41,1 Grad, im Uebrigen konnten zwei Formen der Erkrankung unterschieden werden. Die eine Form siedelt sich auf Geweben an, welche irgendwie in ihrer Lebensenergie geschädigt sind. Sie beschränkt sich in ihrer Ausbreitung auf diese Gewebe und ihre Umgebung, und kann einige Tage lang verhältnissmässig eng begrenzt bleiben, durch metastatische Ansiedelung des gasbildenden Bak- Digitized by Google 15. November 1900. Aerztliohe Saohverstftndigen-Zeitung. 451 teriums kann sie sich ausbreiten und zu den inneren Organen gelangen. Diese Form wird durch den Bacillus aörogenes capsu- latus allein, ohne Vergesellschaftung mit anderen, hervorge¬ rufen, sie sollte „einfache* Gasgangraen heissen. Die andere Form zeichnet sich aus durch Vergesellschaf¬ tung mit heftigen Entzündungserscheinungen, welche entweder gleichzeitig oder einleitend auftreten, und zeigt von Anbeginn Neigung, weiter zu schreiten und immer neue Gewebe zu zer¬ stören. Sie wird hervorgerufen durch eine Mischinfektion mit Brand und Eiterung hervorrufenden und gasbildenden Bakte¬ rien, Streptococcen, Staphylococcen, Bacterium coli, Bacillus aerogenes capsulatus und Proteus, und verdiente den Namen progressive Gasgangraen oder progressive emphysematose Gangraen. Trotz der Sohwere der Infektion ist die Prognose nicht mehr wie in vergangener Zeit eine absolut ungünstige. — Bacillus aerogenes capsulatus (von den Verfassern und von Cesaris-Demel zuerst isolirt) vermag allein wohl Gasbildung, Gasgangraen aber nur in geschädigten Geweben hervorzurufen. Bacterium coli commune kann, vergesellschaftet mit anderen Bakterienarten Gasgangraen hervorrufen, und zwar nicht nur bei Zuckerkranken. Seelhorst. Weitere Beiträge zur Kenntniss und Erklärung des fett- embolischen Todes nach orthopädischen Eingriffen und Verletzungen. Von Erwin Payr-Graz. (Monatssch. f. klin. Chir., Bd. 59 H. 4.) Im Sommer 1899 berichtete P. in der Münchener medizin. Wochenschrift über einen Fall von tötlicher Fettembolie nach Streckung einer Kontraktur des Kniegelenkes in Narkose. Seitdem hat er in der Klinik Prof. Nicoladoni’s einen zweiten, ganz ähnlichen Fall in Folge eines orthopädischen Eingriffes und zwei Fälle von Fettembolie nach anderweitigen chirurgischen Eingriffen gesehen. Unmittelbar nach Payrs erster Publikation hat Eberth zwei ähnliche Fälle von Fettembolie beschrieben. Der erste Payrsche Fall betraf ein 15 jähriges Mädchen, welches einen Behr schweren Gelenkrheumatismus durchgemacht batte und 3 Monate bettlägerig gewesen war. In beiden Fussgelenken hatten sich Contrakturen eingestellt. Bei dem Versuche, in Narkose zu redressiren, fiel auf,, dass die Knochen sich unter einem knarrenden Geräusch un- gemein leicht modelliren liessen, als ob sie sehr weich wären. Die Nacht nach der Operation verlief ruhig, Patientin schlief grösstentheils und nur eine auffallend erhöhte Herz- thätigkeit machte sich bemerkbar. Am Morgen des folgenden Tages sass das Mädchen mit starker Dyspnoe aufrecht im Bett, die Athemfrequenz betrug 50—60, der Puls 160. Trotz Tinct. Strophanti nahm die Athem- noth zu, die Patientin wurde cyanotisch und die Haut am ganzen Körper auffallend blass. Ueber beiden Lungen stellte sich klein- und mittelblasiges Rasseln ein, ohne Dämpfung. Im Verlaufe des Vormittags hustete sie blutig gefärbte Sputa aus. Es stellte sich dann starkes Trachealrasseln ein und gegen Mittag erfolgte der Tod, nachdem Patientin nur kurz vorher das Bewusstsein verloren hatte. Der Sektionsbefund, soweit er für die vorliegende Frage von Interesse ist, war folgender: Die Thymus war erhalten, von beträchtlicher Grösse, 8:4cm. Im rechten Herzen ge¬ ronnenes Blut; besonders in der Pulmonalis, theils flüssiges Blut mit Fettaugen. Im linken Herzen flüssiges Blut mit reich¬ lichen Fettaugen. Im linken Bronchus schaumig blutige Flüssigkeit mit Fettaugen. Die Tonsillen und Follikel des Zungengrundes waren mächtig vergrössert. Im Blute des Schnittes durch die Nieren befanden sich ebenfalls Fettaugen. Die Mesenterialdrüsen waren vergrössert. Die Follikel der Dünndarmschleimhaut stark geschwellt. Das Blut der Leber war fetttropfenhaltig. Die pathologisch - anatomische Diagnose lautete: Embolia adiposa; Degeneratio adiposa cordis et hepatis. Pericarditis adhaesiva. Insufflcientia valvulae mitralis. Thymus persistens. Status leucaemicus. Der Sektionsbefund ist insofern von Bedeutung, als er 1. die Vermutung über das Zusammentreffen von fettembo- lischem Tode und Status thymicus bedeutend stützt und 2. zeigt, wie heftig die Folgen eines noch so vorsichtig aus¬ geführten Redressements sein können. Der Fall lehrt ferner, dass auch kleinere Gelenke, wie das Sprunggelenk und das untere Ende der Tibia einen genügenden Knochenmarkgehalt haben, um tödtliche Fettembolie hervorzurufen. So ergiebt Bich aus diesen Beobachtungen aber auch, dass die Gefahr für das Zustandekommen von fettembolischen Vor¬ fällen um so grösser wird, je länger die Krankheit gedauert hat, welche zu der correcturbedürftigen Deformität geführt hat. In dem zweiten Falle von tötlich verlaufender Fettembolie aus der Grazer Klinik handelt es sich um einen 38 jährigen, bis dahin völlig gesunden Mann, dem ein Schrotschuss am linken Unterschenkel eine ausgedehnte Weichtheilwunde mit Zerschmetterung des oberen Tibiaendes beigebracht hatte. Die Arteria tibiaiis postica war aber unverletzt geblieben. Deshalb wurde der Versuoh gemacht, das Bein zu erhalten. Schon während der Narkose zur Extraktion der losen Knochen¬ splitter etc. musste die Verabreichung des Chloroforms aus¬ gesetzt werden, weil sich Zeichen eines drohenden Herztodes einstellten. In der Nacht war der Kranke unruhig und klagte zeitweise über heftige Atemnot, der Puls stieg auf 120—130. Das Sensorium war nicht mehr so frei, wie am Nachmittage und wurde in den Morgenstunden sehr erheblich getrübt. In den Vormittagsstunden wurde er dann cyanotisch, bekam einen fadenförmigen Puls und verfiel in tiefes Coma. Gegen Mittag trat der Tod ein. Bei der Sektion fand sich, dass die Thymus nur im rechten Antheil involvirt war, während der linke Lappen gut erhalten war. Das Blut in der Lunge war flüssig und enthielt hier und dort ein Fetttröpfchen. Die Schleimhaut des Pharynx war verdickt, die Follikel waren stark vorspringend, die Tonsillen und die Follikel am Zungengrunde waren mächtig vergrössert. Das Blut auf der Nierenschnittfläche zeigte eben¬ falls Fetttröpfchen. In dem dritten Falle wurde bei einem 10jährigen Kinde eine Kniegelenksresektion gemacht. Am zweiten Tage nach der Operation fühlte es sich sehr matt, Hände und Fünse waren kalt, auf dem Gesicht stand kalter Schweiss. In der Nacht wurde es dann sehr unruhig. Gegen Morgen wurde es etwas somnolent. Die Benommenheit nahm dann rasch zu, bis um 1 Uhr der Tod eintrat. Bei der Sektion fand sich die Thymusdrüse erhalten, und die Lungengefässe enthielten dunkles, flüssiges Blut, in welchem Fetttröpfchen schwammen. An der hinteren Rachenwand, so¬ wie am Zungengrunde befand sich ziemlich reichliches adenoides Gewebe. Die Mesenterialdrüsen waren sämmtlich vergrössert und einige von ihnen im Innern verkäst. Die Milz war ver¬ grössert. Die Peyerschen Plaques und die Solitärfollikel im Dünndarm waren vergrössert. Die mikroskopische Untersuchung der Organe ergab eine ziemlich reichliche Fettembolie der Lungen, eine weniger aus¬ geprägte des Herzens, des Gehirns und der Nieren. Auf Grund seiner klinischen Erfahrungen stellt Payr zwei ziemlich gut zu trennende Formen von Fettembolie auf, die er die cerebrale und die respiratorische nennt. Zu der ersten Gruppe gehören die Kranken, deren Besinnung frühzeitig Digitized by Google 452 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 22 getrübt ist, die sich zu Anfang in Erregungszuständen befindet, um dann imm^r mehr und mehr benommen zu werden, bis sie schliesslich einem anhaltenden Coma anheimfallen. Bei dieser Form stellt sich erst im späteren Verlaufe der Erkrankung Dyspnoe und Cyanose ein, während der Puls allerdings von Anfang an beschleunigt und klein ist. Bei der respiratorischen Form dagegen stehen die Er¬ scheinungen von Seiten der Lungen im Vordergründe, es kommt dabei häufiger zum Aushusten kleinerer oder grösserer Mengen von Blut, über den Lungen klein- oder mittelblasige Rasselgeräusche, während das Sensorium bis kurz vor dem Ableben frei bleibt. Dieser klinische Unterschied findet seine Erklärung in der verschiedenen Durchgängigkeit der LungenkapillargefäsBe, in¬ dem in den wenigen elastischen und direkt verengten Lungen¬ kapillaren weit grössere Fettmengen haften bleiben, wie in einer normalen Lunge. In Payrs 4 Fällen von tätlich verlaufener Fettembolie war ein ausgesprochener Status thymicus vorhanden. Der¬ artige Individuen sterben erfahrungsgemäss oft eines plötz¬ lichen Todes unter Bedingungen, die sonst nicht vom Tode gefolgte sind. Es ist daher nicht die hyperplastische oder abnorm lang erhaltene Thymusdrüse die Ursache des Todes, sondern nur ein Theilsymptom jener allgemeinen Ernährungs¬ störung, die durch die Vergrösserung des ganzen lymphatischen Apparates gekennzeichnet ist. Verfasser stellt der Hyperplasie der Thymusdrüse und des gesammten lymphatischen Apparates die angeborene Enge der Aorta zur Beite und hält den gesammten Komplex für einen Ausdruck der kongenitalen Unterernährungen. Eine wirksame Prophylaxe gegen Fettembolie wegen Status thymicus kennen wir nicht. Wir müssen deshalb den Status thymicus am Lebenden zu erkennen suchen. Ausser den Ver- grösserungen der lymphatischen Apparate der oberen Luftwege hat Paltauf darauf hingewiesen, dass der Haemoglobingehalt derartiger Individuen wesentlich vermindert sei. In einer ganz andern Richtung können wir aber die Zahl der Todesfälle bei modellirenden Operationen verringern, wenn wir vom brisement forcö Abstand nehmen und Methoden in An¬ wendung bringen, welche das gleiche Ziel langsam und gefahr¬ los zu erreichen ermöglichen. Payr giebt nun für die Streckung des in Beugecontractur befindlichen Kniegeleukes folgenden einfachen Apparat an. Am Ober- und Unterschenkel wird je ein langer Hebel auf der Streckseite des Beines unweit vom Kniegelenk durch je einen kleinen Gipsverband fixirt. Um die möglichst weit ab¬ stehenden Enden beider Stäbe wird dann ein starker Gummi¬ zug geschlungen, welcher durch seine Spannung die Achse des Ober-und Unterschenkels in eine Linie zu Btellen bemüht st. Auf diese Weise gelang es Payr, die schwere Con- tractur bei seinem Kranken in wenigen Wochen auszugleichen. Stabei. Ueber Skoliosis traumatica. Vortrag auf der Aachener 72. Naturforscher-Vers. Von Dr. Riedinger-Wiirzburg. (Monatsschr. f. UnfallbeUk., No. 10.) Es ist Kümmell’s Verdienst, zum ersten Male (1891) in überzeugender Weise zum Ausdruck gebracht zu haben, dass es Verletzungen der Wirbelsäule giebt, die anfänglich dem Ver¬ letzten, wie dem Arzt wenig zum Bewusstsein kommen und sich nach Wochen und Monaten erst durch Rückenschmerzen und eine allmählich in die Erscheinung tretende Missstaltung der Wirbelsäule (Gibbus, Kyphosis, Scoliosis) als eine ernst zu nehmende Krankheit äussern. Auf der Münchener Naturfor¬ scherversammlung 1899 kam dieses Thema erneut zur Dis¬ kussion. Hier wurde fast allseitig (Kümmell, Oberst, Tren* delenburg) zum Ausdruck gebracht, dass allen jenen Fällen eine Compressionsfraktur eines oder mehrerer Wirbelkörper zu Grunde liegen müsse. Auch Riedinger vermuthet die Gründe der Deformität in den Vorgängen der Frakturheilung. Eine eigene Beobachtung giebt ihm Veranlassung, das Krankheitsbild der Skoliosis traumatica (seitliche Knickung) herauszuheben im Gegensatz zu der viel häufigeren Kyphose bezw. Kyphoscoliose. Der be¬ treffende Fall ist in kurzen Umrissen folgender: Ein 45jähriger Mühlknecht fällt, während er 2 Gentner auf der linken Schulter trägt, hin und zwar auf die Aussenseite des rechten Beins. Er fühlt Schmerzen im Kopf und Rücken. Er liegt 2 (!) Monate im Kranken¬ haus, wo er nur auf der rechten Seite liegen kann. Als er aufstand, ging er gerade. Nach weiteren 4 Wochen verliess er das Hospital, ohne irgend welche Buckelbil¬ dung an der Wirbelsäule. Nach 3 / 4 Jahren bemerkte er eine zunehmende Verkrümmung des ganzen Körpers, er hatte beim Aufrichten stets Schmerzen im Rücken, später auch in der Magengegend, schliesslich bildete sich eine starke Linksscoliose aus, die schliesslich dauernd blieb, also eine in der Stellung fixirte Deformität, in welcher die Verletzung erfolgte. Riedinger steht im Wesentlichen auf dem Standpunkt, den zuerst Wagner-Stolper (Deutsche Chir., Bd. 40, 1898) ausge¬ sprochen haben und den auch Oberst neuerdings theilt: für die Erklärung der nachträglich auftretenden Formveränderung der Wirbelsäule bei der Kümmeirseben Krankheit braucht man nicht anzunehmen die pathologisch-anatomisch noch nicht ganz aufgeklärte Ostitis rareficans, auch nicht verzögerte Callusbildung oder gar eine durch blutige Infiltration der (als trophische Nerven fungirenden ?) Rückenmarkswurzeln be¬ dingte Erweichung der Wirbelkörper (Spondylomalacie-Henle). Die Formveränderung hat vielmehr ihren Grund in der Art der durch das Trauma gesetzten Zerstörung im Wirbelkörper. Die Meinung, dass sich der unverletzte Wirbelbogen lang¬ sam durch die Belastung umbiegen müsse, wenn die Fraktur nur den Wirbelkörper, nicht den ganzen Querschnitt der Wirbel¬ säule betrifft, kann Referent nicht theilen. Die seitlichen Ge¬ lenke (Proc. articul.) bieten Spielraum genug zu der noth- wendig werdenden Anpassung. Ref. hält es aber auch nicht für nothwendig und jedenfalls nicht für zweckmässig, ein be¬ sonderes Krankheitsbild der Skoliosis traumatica zu schaffen, so wenig wie das einer Kyphosis oder Lordosis traumatica. Die in diesen Bezeichnungen zum Ausdruck kommenden Ver¬ änderungen der Wirbelsäule sind als Ausdruck der geheilten Wirbelbrüche doch nur Symptome der Fraktur neben vielen anderen. Wir sehen nach Knochenbrüchen in der Kniegelenks¬ gegend auch Valgus- und Varusstellung, aber niemand wird darum eine Spezies aufstellen, wie etwa Genu valgum (varum) traumaticum. — P. Stolper-Breslau. Innere Medizin. Ueber spastische Kontraktion der Cardia und ihre Folgezostände. Von Dr. Danker-New-York. (Uitt. a. d. Grensgeb. Bd. Vll H. 1.) (Die Krankheit beschrieb als Erster v. Mikulicz auf Grund oesophagoskopischer Befunde im Jahre 1882, nannte sie Car- diospasmus und sah in ihr die Ursache der bekannten spindel¬ förmigen Erweiterung der Speiseröhre). Digitized by LjOOQie 15. November 1900. Aerztliohe Sach vors tändigen-Zoitung. 453 Die Ursachen der am Magenmunde zu Stande kommenden Schluckhemmung können sein: 1. Verlängerte Zusammen¬ ziehung der Ringfasern (Spasmus). 2. Fortdauer der normalen Spannung des Magenmundes in Folge mangelhafter Kontraktion der Längsmuskeln. 3. Lähmung der ganzen Speiseröhren¬ muskulatur, deren energische Zusammenziehung zur Eröffnung des Magenmundes führt. Der Befund bei der in Rede stehenden Erkrankung ist eine spindelförmige oder trichterförmige Erweiterung der Speiseröhre von verschiedener Längs- und Weitenausdehnung, ohne wesentliche Veränderungen der Schleimhaut und Wand, bis auf Verstärkung der Muskulatur des erweiterten Theiles, die Cardia wird geschlossen, ihre Muskulatur vermehrt ge¬ funden. Die Sonde passiert nach Ueberwindung des geringen Widerstandes hinter dem Qiessbeckenknorpel eigenartig leicht bis zur Cardia. Diese bietet einen grösseren Widerstand als die normale, der aber durch einfaches Liegenlassen der Sonde und zeitweiliges sanftes Andrängen ohne Zurückgeh an fast stets überwunden werden kann. Seine Entfernung von der Zahnreihe erweist sich oft als etwas wechselnd (in einem der acht Fälle des Verfassers von 43—50 cm), ein Befund, der nicht auf Biegung der Sonde in dem erweiterten Theil zu beruhen braucht, sondern seinen Grund in der verschiedenen Länge des krampfhaft zusammengezogenen Theiles der Cardia- ringmuskelschicht hat, und zu einem einheitlichen umgewandelt werden kann, wenn die Cardia durch einen Reiz (vor der Son- dirung getrunkenes kaltes Wasser) zum sicheren Verschluss gebracht wird. Die Länge der Speiseröhre ist häufig eine grössere als in der Norm. Der Versuch Rumpels, nach Einführung der Löchersonde in den Magen durch eine dünne zweite Sonde Wasser in die Speiseröhre fiiessen zu lassen, giebt das Resultat, dass das Wasser aus der Speiseröhre durch die Löcher der Sonde in den Magen fiiesst, die durch die Cardia geführte Sonde wird dabei bei leichtem Zug von dieser festgehalten, und zwar oft in verschiedener Höhe, sodass auch beim Entfernen der Sonde der verengende Ring verschieden hoch bemerkt werden kann. Die Patienten sind in leichten Fällen zeitweise ganz be¬ schwerdelos. Ohne erkennbaren Grund tritt dann beim Essen plötzlich hinter dem Brustbein ein starkes Druckgefühl, zu¬ weilen mit ziehenden Rückenschmerzen verbunden, ein, welches sich zu schmerzhaftem Krampfe steigert, und erst aufhört, wenn entweder der Krampf des Magenmundes sich löst und die in der Speiseröhre sitzenden, am Durchtritt in den Magen gehinderten Speisen den Magenmund passieren oder dieselben mit oder ohne den Willen der Patienten ausgewürgt werden. Es fehlt beim Einnehmen der Speisen in solchen Fällen das zweite Schluckgeräusch ganz, oder tritt sehr verlangsamt ein; an seiner Stelle kann man ein anderes Geräusch wahrnehmen, als flösse in einen Flüssigkeit enthaltenden Topf neue Flüssig¬ keit nach. Die erweiterte Speiseröhre vermag bis 500 ccm Flüssigkeit zu fassen und kann, mit Wismuthlösung gefüllt, sehr deutlich im Röntgenbilde zur Darstellung gebracht werden. Die Patienten lernen, um die Speisen aus der Speiseröhre in den Magen zu befördern, allerlei Kunstgriffe, welche den Druck in der Speiseröhre soweit erhöhen, dass derselbe im Stande ist, den Spasmus der Cardia zu überwinden. Einige der Beobachteten tranken so lange Wasser nach den genossenen Speisen, bis sie deren Eintritt in den Magen merkten, andere schluckten Luft ein und pressten mit Hilfe dieser die Speisen hinunter, selbstverständlich auf Kosten der Erweiterung, deren an und für sich schon nachgiebige Wände durch Ueberdruck in ihrem Innern immer weiter auseinander wichen. Durch eine in den gefüllten Oesophagus eingeführte Sonde fliessen die in ihm enthaltenen Speisereste, unverdaut, mit zähem Schleim vermischt und bei längerem Aufenthalt fade und übel riechend, alsbald unter Pressbewegungen aus; in einzelnen Fällen ist auch ein Ausfliessen der Speisen bei horizontaler Lage im Wachen sowohl wie unter Eintritt eines heftigen Hustenanfalls im Schlafe von selbst zu Stande ge¬ kommen. Die entleerten Speisen sind stets die zuletzt ge¬ nossenen, trotzdem wird durch den fortwährenden Reiz, welchen die Schleimhaut auszuhalten, hat Katarrh und Hypertrophie desselben herbeigeführt, als deren Folgezustände echte Ge¬ schwüre und wohl auch Carcinomentwickelung angesehen werden müssen. Die Erkrankung an Cardiospasmus findet sich an nervösen, hysterischen Individuen, öfters beobaohtet im Anschluss an seelische Erregungen. Die Behandlung suchte daher durch Aenderung der zur Nervosität führenden Verhältnisse einzu¬ wirken, ferner durch Sedativa, durch Lokalanaethetica. Für lokale Behandlung des Krampfes ist das tägliche Einlegen von dicken Sonden, oder von Dauersonden und zeit¬ weise Ernährung nur durch die Sonde zu empfehlen, falls diese unmöglich ist, muss versucht werden, durch eine rectale Er¬ nährung, die oft sehr heruntergekommenen Patienten in ihrem Kräftezustand zu heben. Auswaschungen des Sackes zwecks Beeinflussung des Stauungskatarrhes mit lauem Wasser und nachheriger, kalter Spülung unterstützen diese Behandlung. Ein sehr schonendes Vorgehen ist bei vorgeschrittenem Krank- heitBzustande anzurathen, da Perforationen, sogar beim Selbst- sondiren, beobachtet wurden, die zu tätlicher Peritonitis führten. Dehnung der spastischen Cardia vom Magen aus, Ernäh¬ rung durch Gastrostomiewunde, ist empfohlen worden, jedoch wird das Liegen des Magenrohrs von den nervösen Patienten schlecht vertragen. Rumpel schlug wegen der durch alle erwähnten Methoden meist nur zeitweis erreichten Besserung des Leidens nach Beobachtungen an der Leiche die Resektion der Cardia vor, die man durch Vorziehen derselben nach Freilegung des unteren Endes der Speiseröhre bei Resektion der beiden unteren linken Rippen sowohl über wie unter dem Zwerch¬ fell erreichen könne. Seelhorst. Zur Eenntniss der Darmverschliessungen und •Verenge¬ rungen. Aus der Chirurg. Universitätsklinik der Kgl. Charitö (Geheimrath Prof. Dr. König). Von Stabsarzt Dr. Martens. (Deutsche Zeitschrift fUr Chirurgie, B. 57, Heft 1 and 2, 1900.) 1. Kongenitale Atresie des Dünndarms. Bei einem 6 Tage alten, nicht ganz ausgetragenen Kinde war bisher Abgang von Mekonium nicht erfolgt; am 6. Tage trat beständiges Erbrechen fade riechender Massen auf. Da der unterste Theil des Rek¬ tums sich als durchgängig erwies, und Hernien nicht vorhanden waren, musste es sich um einen hochsitzenden Verschluss des Darmes handeln. Bei der vorgenommenen Eröffnung der Bauch¬ höhle, Schnitt in der Mittellinie, fand man den Dickdarm leer und kollabirt, den Dünndarm dagegen, dessen Schlingen aus¬ gedehnte Verwachsungen zeigten, enorm aufgetrieben. Er endigte 15 cm vor der Bauhini’sohen Klappe blind und sandte nur einen strangförmigen Fortsatz zum Dickdarm hinüber. Es wurde ein Anus praeternaturalis in der Wunde angelegt. Der Tod erfolgte in der Nacht an Schwäche. Der erwähnte Strang enthielt, wie die mikroskopische Untersuchung ergab, sämmt- liche Schichten der Darmwand. 2. Impermeabilität des Darms in Folge von peritonitischen Schrumpfungen. Ein 19jähriges Mädchen, welches früher Peritonitis über¬ standen hatte, erkrankte allmählich mit Aufgetriebensein des Digitized by LjOOQie 454 Aerztliche Sachverständigen- Zeitnng. No. 22. Leibes und Stuhlverhaltung. Es waren besonders, bei Kolik¬ anfällen, starke peristaltische Bewegungen zu sehen, dooh liees sich schliesslich durch kein Mittel Stuhlgang erzielen. Des¬ halb wurde die Laparotomie gemacht und ein 40 cm langes Stück vom untersten Theile des Ileum resecirt. Tod am fol¬ genden Tage. An dem resecirten Stück war das freie Ende des Mesen¬ teriums in Folge der früheren Peritonitis geschrumpft, wodurch eine „Reifung“ des Darms bewirkt wurde, welche zu zahl¬ reichen Abknickungen führte. In das Darmlumen sprangen zahlreiche aus hypertrophirter Muscularis und Mucosa be¬ stehende Falten vor, welche die durch die Abknickungen ver¬ ursachte Unwegsamkeit des Darms noch vermehrten. Nhs. Ueber traumatische Darmverengerungeu. Aus der Chirurg. Klinik des Prof. Wölfler in Prag. Von Dr. Hermann Schlöffer, Assist, der Klinik. (Mittheilungen ans den Grenigebieten der Mediein and Chirurgie. VII. Band, 1. Heft.) Die Veranlassung zu den sehr ausgedehnten experimen¬ tellen Untersuchungen, welche der Verfasser an 80 Hunden und einigen Schweinen und Kaninchen vornahm, gab ein Fall von Darmstriktur nach stumpfer Verletzung, welchen der Ver¬ fasser im Frühjahr 1899 beobachtete und mit Erfolg operirte. Der 38jährige Patient war neben seinem Wagen herge¬ gangen, auf abschüssigem Wege hatte plötzlich dessen Bremse versagt, das Gefährt war ins Rollen gekommen und hatte dabei den Mann, gegen seinen Rücken drückend, einen Augen¬ blick mit der Bauchgegend an den Kopf eines am Wege stehenden etwa 1 Meter hohen Holzpflockes gepresst. Der Mann war zu Boden gefallen, hatte sehr heftige Schmerzen im ganzen Leibe bekommen, gallige Massen erbrochen und diarrhoische, schmerz¬ hafte Stuhlentleerungen, y 4 Stunde lang nach dem Unfall ge¬ habt. Dann war quälender Durst eingetreten und der Kranke eiDge8cblafen. In den ersten Tagen nach der Verletzung waren die Leibschmerzen noch dauernd und sehr stark, der Stuhl, nicht so die Winde, war verhalten, Erbrechen nicht vorhanden, Durstgefühl andauernd sehr stark. Am Tage nach dem Unfall stellte sich in der Nabelgegend eine handtellergrosse sehr schmerzhafter Blutbeule ein, die nach 14 Tagen wieder ver¬ schwand. Im Verlauf der 3. Woche gingen die dauernden Leibschmerzen in anfallsweise auftretende über, welche mit dem Gefühl verbunden waren, als ob der flüssige Inhalt einer Flasche in eine andere gegossen werde, mehrfach am Tage auftraten und, in Dauer einer Viertelstunde, mit heftigem Stuhldrang einhergingen. Ihre Stärke war wechselnd, infolge mangelhafte Nahrungsaufnahme kam der Kranke sehr her¬ unter. 4y 2 Monat nach der Verletzung kam er in Behandlung des Verfassers. Bei der Untersuchung konnte man wiederholt in der linken Hälfte des Bauches knapp oberhalb des Nabels quer von links nach rechts verlaufend eine Verwölbung ein- treten sehen und nachher mit gurrenden Geräuschen einher¬ gehende, peristaltische Bewegungen einer erweiterten Darm¬ schlinge, über welcher hoohtympanitischer Schall sich fand, beobachten. Während dieser Darmbewegungen traten die eben¬ genannten Beschwerden ein und verschwanden mit Aufhören derselben. Dauernd aber fand sich, unabhängig von Peristaltik und Aufblähung des Magens und Dickdarms, links an den Nabel grenzend ein nussgrosser, höckriger, harter, schmerzhafter mit den Bauchdecken zusammenhängender Tumor. Die Diagnose wurde mit grosser Wahrscheinlichkeit auf traumatisch ent¬ standene Darmstriktur gestellt und die Laparotomie wurde vor¬ genommen. Von einem 13 cm langen, links vom Nabel ver¬ laufenden Schnitt aus wurde festgestellt, dass die Geschwulst dem Dünndarm angehört und in Thalergrösse mit der Bauoh- wand fest verwachsen ist. Mit einem kleinen Stück des graden Bauchmuskels lässt sie sich lösen. Sie stellt eine harte Narben¬ masse dar, welche den an dieser Stelle deutlich verengerten Dünndarm allseitig umgiebt, der zuführende Schenkel ist auf 6 cm Durchmesser erweitert, der abführende eng zusammen¬ gezogen. Nach Lösung von mehreren Netzsträngen und einer mit dieser Darmpartie verwachsenen zweiten Dünndarmschlinge mit etwas verdickter Wand wird die Striktur in Länge von 7 cm mit Benutzung einer zu ihr gehörigen Lücke im Mesen¬ terium resezirt, das zuführende Darmende blind geschlossen und in die Gekröslücke eingenäht, das abführende Darmende in den zuführenden Schenkel seitlich implantirt. Der Heilungs¬ verlauf war ungestört, nach fast I Jahr stellt sich der Patient, der seit seiner Entlassung dem Krankenhause seine Arbeit wieder voll aufgenommen hatte, beschwerdelos vor. Die makroskopische und mikroskopische Untersuchung des gewonnenen Präparates ergab ausser der schon bei der Opera¬ tion wahrgenommenen ampullenartigen Erweiterung des dicht über der verengerten Stelle sitzenden Darmstückes, eine be¬ trächtliche Verdickung seiner Wand, während diejenige des abführenden Schenkels die normale Dicke hatte. „An der Stelle der Verengerung ist der Darm zu einem harten Tumor umgewandelt, ohne dass an dieser Stelle der Umfang des Darmes erheblich vergrössert wäre.“ Sämmtliche Schichten der Darmwand sind am Orte der Striktur durch ein stark nach innen vorspringendes Narbengewebe, die Schleim¬ haut durch eine Zahl von verschieden grossen, aus zahlreichem Bindegewebe bestehenden, polypösen Wucherungen ersetzt. Die Verletzungen des Darmes seiner Versuchsthiere wurden vom Verfasser nach Eröffnung der Bauchhöhle theils durch Quetschung des uneröffneten Darmes vorgenommen, theils wurden Verletzungen einzelner Schichten gesetzt, indem z. B. nach Spaltung der Serosa die Muskelschichten abgelöst wurden oder von einem Schnitt aus die Schleimhaut abgekratzt. Das grösste Regenerationsvermögen zeigte die Schleimhaut Wenn sie allein verletzt war, wurde die Lücke fast stets völlig wieder ausgeglichen, nur zeigte die neugebildete Schleimhaut öfters plumperen oder spärlicheren Aufbau. War jedoch ausser der Drüsenschicht auch das Stratum compactum oder sogar die Muskelschicht der Schleimhaut verletzt, so stiess der Wieder¬ aufbau der Schleimhaut auf grössere Schwierigkeiten und es fand sich dann an ihrer Stelle ein zellreiches Bindegewebe, welches, in Wülsten gegen die Lichtung vorspringend dort entweder nackt vorlag, oder mit einer mehrfachen Lage von Epithelzellen überzogen war, jedoch keine Drüsen trug, nur in seltenen Fällen war bei Verletzung der die Schleimhaut tragenden Schichten eine Regeneration von Drüsengewebe zu verzeichnen. Eine isolirte Ablösung der Muskelschichten des Darmes war niemals von Neubildung von Muskulatur gefolgt, sondern stets ersetzte sich der Muskel durch Narbengewebe. Eine Verengerung des Darmes trat dadurch jedoch nicht ein, sondern im Gegentheil eine Erweiterung der verletzten Stelle; als nachträgliche Veränderungen wurden, wohl als Wirkung der Dehnung der Darmwand und des Fehlens der Darmbe¬ wegung Zerstörungsvorgänge in der Schleimhaut, ferner Ersatz¬ zunahme der Muscularis beobachtet. Quetschungen der gesammten Darmwand liessen als frische Veränderungen beim Hunde, Schweine und Menschen (bei letz¬ terem vorgenommen an einem zur Resektion bestimmten Darm¬ stück bei brandigem Bruche) ziemlich gleichmässig Verletzungen der Muskulatur und Schleimhaut entstehen. Die Submucosa leistete beim Hunde fast stets Widerstand, während sie bei Schwein und Mensch sich leicht mit den anderen Schichten zusammen verletzen liess. Die Heilung der Quetschungen ging oft so vollkommen von Statten, dass sich die Stelle der Ver- Digitized by LjOOQie 15. November 1900. Ae rötliche Sachverständigen-Zeitung. 455 letzung nach 2 bis 6 Monaten nicht mehr auffinden liess, dies war besonders bei kurzen Quetschungen der Fall, öfters jedoch auch bei solchen, die über mehrere Centimeter lange Darm¬ strecken ausgedehnt worden waren. In keinem Falle von kurzer Quetschung trat eine ausge¬ sprochene Verengerung ein. Bei den langen Quetschungen traten die schon bei den isolirten Verletzungen von Muskel und Schleimhaut erwähnten Veränderungen zusammen in Erscheinung; es konnte sogar einmal ein ausgesprochen geächwüriger Defekt der Drüsen¬ schicht mit kleinzelliger Infiltration der darunter liegenden Schichten bis an die Serosa beobachtet werden. Doch beschränken sich die Veränderungen stets auf die direkt gequetschte Stelle und es kann die früher (Mugnier) ausgesprochene Vermuthung, dass ein Bluterguss Anlass zu fort¬ schreitendem Qewebstode geben könne, als widerlegt gelten, die Blutergüsse werden ausnahmslos aufgesaugt und organisirt. „Es werden jene Darmquetschungen beim Hunde, welche nicht (durch Perforation) zum Tode des Versuchstieres führten und bei welchen alle Schichten mit Ausnahme der Submucosa ver¬ letzt waren, fast stets von einer zur Funktion geeigneten Wieder¬ herstellung des Darmes gefolgt und geben nicht zur Bildung ausgesprochener Narbenstrikturen Anlass. Dagegen können Verengerungen zu Stande kommen: 1. In Folge Einstülpung der Darm wand im Sinne einer beginnenden Invagination bei Verlust der Festigkeit der Darmwand, wie er besonders durch Zerstörung der Muskulatur hervorgerufen wird. 2. Bei besonders eingreifender ringförmiger Schädigung der Darmwand, namentlich auch Betheiligung der Submucosa. 3. Nach Verletzung des Gekröses, wenn durch dieselbe eine den ganzen Umfang der Wandung betreffende Er¬ nährungsstörung mit nachfolgendem Absterben zu Stande kommt (von Verfasser an Kaninchen studirt). 4. Bei vollkommenen oder theilweise erfolgten Durch¬ reissungen des Darmrohres, wenn rechtzeitig Verklebungen eintreten. 5. Vielleicht nach einer durch Verletzung herbeigeführten echten Invagination nach Ausheilung derselben (Poland). 6. Bei Rissen in der Darmwand und Zerstörung von Theilen derselben, ferner bei Abknickungen der Darmwand (Schlange, v. Eiseisberg). 7. Bei traumatischen Verwachsungen von Darmschlingen miteinander oder mit dem Netz. Diese Sätze leitet der Verfasser nicht nur aus seinen Be¬ obachtungen ab, sondern aus der ganzen über dieses Gebiet ihm zugänglich gewordenen Litteratur, welche er am Anfang seiner Arbeit genau auszugsweise wiedergiebt. Er leitet zum Schlüsse aus den gesammten Beobachtungen die klinische Pathologie der Darmstrikturen ab und kommt zu folgendem Ergebniss: Die beobachteten Fälle betrafen ausnahmslos Männer, meist im jugendlichen Alter, wohl in Folge der Ge¬ fahren der männlichen Berufsarten. Die Gewalt wirkte meist in der Nabelgegend und ihrer Umgebung ein und quetschte eine Darmschlinge gegen die Wirbelsäule. Die verletzten Darmschlingen gehörten dem Dünndarm an und waren oft in der Mitte des Bauches mit der Umgebung verwachsen. Die Strikturen, meist narbiger Art, sind mit Wahrscheinlichkeit auf unvollkommene Durchreissungen des Darmes zurückzu¬ führen, ferner auf Einstülpung oder Mesenterialverletzung. Für die Symptome sind die bei der Krankengeschichte oben geschilderten sehr charakteristisch, nur ist der Uebergang der sofort der Verletzung folgenden in die nach Ausbildung der Striktur einsetzenden ein verschiedenartiger, besonders was die Länge der vor ihrem Beginne verlaufenen Zeit anlangt. Die Prognose ist ungünstig wenn nicht operirt wird, fünf Fälle mit tödtlichem Ausgang; alle operirten Fälle führten zur Heilung. Nur in einem Falle wurde zu- und abführender Schenkel durch Anastomose verbunden, ohne dass das verengte Stück resezirt wurde. Bei grösserer Ausdehnung der Verwachsungen wird das Normalverfahren die Enteroanastomose sein; dass die verengte Schlinge in fast allen Fällen resezirt wurde, hat wohl seine Gründe darin, dass Resektion und folgende zirkuläre Vereinigung bei langem Mesenterium kaum einen schweren Eingriff bedeutet, zweitens, dass Verwachsungen und Striktur, zurückgelassen, möglicherweise Kolikschmerzen und andere Störungen veranlassen, drittens, dass die schwieligen Tumoren oft Zweifel an der rein traumatischen Entstehung der vorliegenden Veränderungen dem Operateur verursachen können. Die Arbeit umfasst mit Tabellen und Untersuchungs¬ protokollen 137 Seiten; 5 Tafeln und 12 Textabbildungen sehr klarer makroskopischer und mikroskopischer Befunde sind ihr beigegeben. Das Referat kann aus der Vielheit der Beob¬ achtungen nur eine ganz annähernde Summe geben. Seelhorst. Ein Fall von Peliosis rheumatica auf traumatischer Grundlage. Von Louis Fischer-New-York. (Pediatric« 15. Mai 1000.) Ein Junge von neun Jahren hatte sich vier oder fünf Wochen lang sehr dadurch angestrengt, dass er vier bis fünf Stunden täglich radelte. Oefters klagte er über Gelenk¬ schmerzen, die nach dem Radeln ärger wurden. Endlich wurde der Arzt gerufen. Er fand das Allgemein¬ befinden etwas gestört, die Knie- und Knöchelgelenke ge¬ schwollen und sehr empfindlich, die Hüftgelenke etwas schmerz¬ haft. Es bestanden an den Beinen — wie eine beigegebene Photographie deutlich erkennen lässt — und zwar an den Innen¬ flächen, fieckweise zahlreiche Unterhautblutungen. Der Verlauf war günstig, die Blutflecken verschwanden in gewöhnlicher Weise. Aus der Vorgeschichte hat sich durchaus kein anderer Entstehungsgrund für die typische Peliosis rheumatica er¬ geben als die Ueberanstrengung. Neurologie und Psychiatrie. Ueber die Lokalisation der taktilen Hantanästhesie Tabetischer. Von Dr. F. Grobner. (W. raed. Pr. No. 42/43. 1000.) Im wesentlichsten Punkte decken sich die Untersuchungen Grebner’s mit den kürzlich hier wiedergegebenen von Fren- kel und Förster. Von 52 Kranken auf der ersten, noch nicht Ataktischen Stufe der Krankheit hatten 51 herabgesetzte Tastempfindung am Oberkörper, und zwar bei geringster Aus¬ dehnung in der Brustwarzenlinie im Gebiete des dritten Dorsal¬ nerven, in weiter vorgeschrittenen Fällen in grösserer Breiten¬ ausdehnung, dann zunächst nach unten, hernach auch nach oben fortschreitend, immer von Wurzel zu Wurzel, nie sprung¬ weise. Verschont bleibt stets das Gebiet der oberen Hals- nervenwurzeln. Am Unterkörper sind Tastgefühlsstörungen seltener. Sie nehmen ihren Ausgang stets vom ersten Kreuzbeinnerven und schreiten von da nach oben und unten fort. Selbst bei schwerster Erkrankung bleibt zwischen oberer und unterer Zone ein Gebiet erhaltener Empfindung vom elften Rücken- bis zum ersten Lendennerven bestehen. Digitized by Google 466 Aerztllohe Sachverständigen-Zeltnng. No. 22- Die Empfindungsfähigkeit der Qelenke ist in demselben Umfang herabgesetzt, wie die Ataxie vorhanden ist. Freilich gelingt es, wenn auch die Qelenkempfindung gestört ist, nicht immer leicht, die Ataxie festzustellen, man muss sich manch¬ mal besonderer Kunstgriffe bedienen, brüske oder besonders feine Bewegungen ausführen lassen. Drei Fälle von Sittlichkeitsvergehen (Exhibitionismus). Von Dr. Hugo Hoppe-Allenberg. (Vlerteljahreucbr. f. ger. Med. 1900. Oktober.) I. Angeklagter ist ein zwanzigjähriger Mensch, der un¬ eheliche Sohn eines geschlechtlich ausschweifenden Trinkers. Er ist wegen Unehrlichkeiten schon kurz nach der Schulzeit bestraft. Später hat er zu wiederholten Malen vor Frauen und Mädchen auf der Strasse seinen Geschlechtstheil gezeigt. Mehrfache Bestrafungen haben eine Wiederholung des Ver¬ gehens nicht im Mindesten gehindert. Er hat auch mehr¬ mals sowohl erwachsenen als kleinen Mädchen unzüchtige Anträge gemacht. In Gegenwart von Männern oder an be¬ lebten Strassen hat er nie exhibitionirt. Er giebt an, früher stark onanirt zu haben, hiervon aber durch Retau’s Buch (1) abgekommen zu sein. Später hat er den Geschlechtstrieb in normaler Weise befriedigt. In der müssigen, arbeitsfreien Zeit — er ist Zimmermann — hat er einmal drei feinen jungen Damen seinen Geschlechtstheil ge¬ zeigt und, da den Betreffenden dies sichtlich Spass machte, dasselbe Spiel während fast eines Jahres immer wiederholt. Später hat er das dann vor anderen fortgesetzt, indem er nachträglich durch Onanie den Geschlechtsakt vollendete. Der Trieb dazu sei periodenweise zwangsmässig über ihn gekommen. Bei dem Angeklagten wurden nie Krampfanfälle oder Aehnliches beobachtet, er klagte nur viel über Kopfschmerz und Schlaflosigkeit und behauptete, geistige Getränke nicht zu vertragen. Körperlich besteht nur eine Schwerhörigkeit, die nach schweren Masern zurückgeblieben ist. Der Gutachter führt an: Weder ist der Angeklagte nach dem ärztlichen Befunde schwer nervös entartet, noch hat er bei seinen geschlechtlichen Vergehen Unruhe, Aufregung, Angst gezeigt, wie sie die schwer entarteten Exhibitionisten zeigen, wenn sie ihren Trieb unterdrücken wollen. Anderer¬ seits spricht ja die Angabe, dass der Trieb periodeubaft auf- tritt, und dass er unwiderstehlich ist, besonders aber die UnVerbesserlichkeit des Angeklagten für das Zwangsmässige des Triebes. Aber es ist erwiesen, dass die Handlungen mit Ueberlegung und Vorsicht ausgefiihrt werden, was bei momen¬ tanen Zwangstrieben nicht der Fall ist. Mit Bestimmtheit ist daher die Zurechnungsfähigkeit nicht auszuschliessen. Es be¬ steht nur ein Mangel an sittlicher Widerstandskraft. Für solche Leute eignet sich — bemerkt H. dazu — weder das Gefängniss, noch die Irrenanstalt, sie gehören in besondere Erziehungs- und Bewahranstalten. • II. Der Fall gehört streng genommen, nicht in die im Titel genannte Gruppe, da handgreifliche unzüchtige Hand¬ lungen mit Kindern den Hauptgegenstand, das Zeigen der Ge- schlechtstheile nur einen Nebenpunkt der Anklage bilden, die überdies gleichzeitig auf Gotteslästerung lautet. Schon diese Verbindung lässt ahnen, dass der Angeklagte ein Geistes¬ kranker ist. Der Angeklagte, ein Mann von 42 Jahren, ist von Jugend auf, nach einer Kopfverletzung, schwachsinnig gewesen und hat schon lange in religiöser Beziehung Sonderbestrebungen ge¬ huldigt. Er hat nahezu keine Schulbildung, eine kindliche Un¬ wissenheit in den gewöhnlichsten geographischen und poli¬ tischen Dingen. In religiöser Beziehung hat er sich ein System gebildet, in dem Gott die Rolle des bösen Geistes, Jesus die des Guten spielt. Er thue was Jesus befiehlt oder gestattet. Die unzüchtigen Handlungen habe er aus Läebe und ohne sich von Jesus gestraft zu fühlen, begangen, in dem Glauben, die Kinder dadurch „eher zu Jesus zu führen.“ UI. Auch hier ist der Exhibitionismus «mit Sittlichkeits- Verbrechen verbunden“, auch hier der Thäter ein Geistes¬ kranker. Der 35jälirige R. ist nicht belastet und hat gut gelernt. Beim Militär zeigte er sich nicht als grosser Geist und batte etwas Scheues. Schon damals traten nach einem chronischen Tripper, der ihn gemütblich sehr bedrückte, Zeichen geistiger Störung auf, theils in Gestalt von Verfolgungsideen theils als hypochondrisch - melancholische Verstimmung. Nach einigen Monaten Anstaltsbehandlung trat Besserung ein. Der Beein¬ trächtigungswahn schwand aber nie, R. entwickelte sich zu einer wahren Hausplage. Ewig unzufrieden, von allen Anderen vermeintlich nicht genügend berücksichtigt, faulenzte er und lie8S sich von seinen Angehörigen pflegen. Schrieen die Kinder, so schlug er furchtbar auf sie ein. Zeitweise suchte er mit Licht nach seinen Verfolgern, seine Frau verdächtigte er der Untreue. Als er schliesslich nicht blos vor anderen Kindern mit besonderem Vergnügen seine Schamtheile ent- blösste, sondern auch mit dem eigenen vierjährigen Mädchen wechselseitig Selbstbefleckung trieb, wurde er unter Anklage gestellt. Die Beobachtung erwies neben der ausserordentlich schweren Hypochondrie das Bestehen von Schwachsinn und einem Wahnsystem, wonach seine Frau selbst von hoher Ab¬ kunft sei und mit einem hochgeborenen Herrn ein Ver- hältniss habe. Hier stehen die geschlechtlichen Vergehen in keiner engeren Beziehung mit der Verrücktheit, sondern entstammten der mit der Hypochondrie Hand in Hand gehenden allgemeinen sitt¬ lichen Entartung, wie denn auch R. in der Irrenanstalt seine geschlechtliche Lüsternheit in auffallender Weise zeigt. Dabei hat er aber freilich auch geschlechtliche Beeinträchtigungs- ideen, z. B. dass er Nachts gemissbraucht werde. In beiden Fällen wurde Unzurechnungsfähigkeit anerkannt. Gutachten über einen Sexuell-Perversen (Besudelungstrieb.) Von Dr. Albert Moll-Berlin. (ZUchr. f. M.-B. 1900. No. 13.) Der Untersuchte ist ein gebildeter Mann in jüngerem Mannesalter, der Sohn eines an Lähmungsirrsinn Verstorbenen, der mit seiner Ehefrau blutsverwandt war. Seit früher Jugend ist er ungesellig, liebte als Knabe weibliche Handarbeiten. In seinem Geschlechtsleben, das sich anfangs in Onanie, später in normalem Geschlechtsverkehr entäusserte, spielte von Beginn an der Anblick weisser Frauenwäsche eine Rolle. Sie war es, die ihn besonders erregte, zu geschlechtlichen Phantasien besonderen Anreiz gab. Später sah er zufällig, wie das weisse Kleid einer Dirne, mit der er verkehrte, von Schmutz bespritzt wurde. Das regte ihn geschlechtlich auf, und er ging nun öfters aus, um selbst durch Besudelung heller Frauenkleider (Bespritzen mit Tinte) geschlechtlich erregt zu werden. Die Erregung führte zu Steifung des Gliedes und Samenergüssen. Der Drang war zu verschiedenen Zeiten verschieden stark, die Lust wurde erhöht, wenn ihm gleich¬ zeitig körperlicher Schmerz zugefügt wurde. Auch in wollüstigen Träumen spielte weisse Frauenwäsche eine Rolle. Objektiv bestehen weder Zeichen geistiger noch körper¬ licher Erkrankung. Spuren körperlicher Entartung kann man in Kleinheit der Hoden und Ueberempündlichkeit des einen Digitized by Google 16. November 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 457 Hodens erblicken. Der Untersuchte giebt an, zeitweise auf¬ brausend und jähzornig zu sein. Bei einem degenerativ Belasteten hat also hier zunächst von Anfang an eine geschlechtliche Verkehrtheit, die besondere Erregung des Geschlechtstriebes nicht sowohl durch das Weib im Ganzen als durch weisse Frauenwäsche (eine Form des ,Fetischismus“) bestanden. Diesem hat sich im Anschluss an ein zufälliges Ereigniss der Besudelungstrieb zugesellt. Ißt hier Paragraph 51 des Strafgesetzbuches anwendbar? Ißt die Störung den Seelenlebens derartig, dass sie die freie Willensbestimmung ausschliesst? Im Allgemeinen muss man sagen, dass ein verkehrter Geschlechtstrieb an und für sich den Menschen noch nicht zwingt, sich geschlechtlich in straffälliger Weise zu benehmen — wie der geschlechtlich Normale so ist auch der Perverse fähig, ohne Eingriff in fremde Rechte seinen Trieb zu be¬ tätigen, es sei denn, dass jene krankhaft gewaltsamen Trieb¬ formen vorliegen, die der Epilepsie nahe stehen. Es könnten aber — so würde man weiter erwägen — die einzelnen straf¬ fälligen Handlungen unter einem augenblicklichen krankhaften Zwange vorgenommen sein, der die freie Willensbestimmung bei ihnen ausschloss. Dies ist nun gerade bei geschlechtlichen Akten eine bedenkliche Annahme. Zugegeben, dass der An¬ blick weisser Frauenwäsche auf den Angeklagten als zwangs¬ artig treibender Reiz wirken kann, so sind doch gerade auf geschlechtlichem Gebiete die äusseren Reize nur dann mit zwingender Gewalt wirksam, wenn gleichzeitig ein innerer Reiz durch Ansammlung von Samenflüssigkeit vorhanden ist. Dieser innere Reiz aber kann ausgeschaltet werden, die Samenflüssigkeit kann entleert werden, sei es durch regel¬ rechten Beischlaf — was hier schwerlich möglich war — oder durch Onanie, vermöge deren der Angeklagte sich thatsächlich des Samens zu entledigen vermag. Der Thatbestand des Paragraph 51 ist also nioht gegeben. Wohl aber wird man eine hohe Beschränkung der freien Willens- thätigkeit annehmen müssen. Vergiftungen. Fall von Strychninvergiftung. Thomas Lettis and Horace Potts. (The lancet 18. August) Bei der verhältnissmässig grossen Seltenheit von Strychnin¬ vergiftung möchte ich in Kürze über einen von Lettis und Potts beschriebenen Fall berichten. Eine 07 Jahre alte Frau hat irrthümlich strychnus Ignatii zu sich genommen, welcher bekanntlich sehr stark strychninhaltig und sehr giftig ist. Bald danach bekam sie Erbrechen und heftige Convulsionen des ganzen Körpers. Die betreffenden Aerzte fanden sie in höchst elendem Zustande. Sie hatte sehr schwere Anfälle von Convulsionen, die Athmung hörte auf; die Vergiftete sah cyanotisch aus, der Puls war nicht fühlbar. Als die Krampf¬ anfälle etwas nachliessen, wurde der Magen ausgespült. Da¬ nach trat sofort Besserung eiu, die Convulsionen wurden schwächer und hörten nach einer Stunde gänzlich auf. Im Laufe des Tages klagte die Kranke über heftigen Schwindel, über Schmerzen im Kreuz und Mattigkeit in den Beinen. Die Pupillen waren erweitert und zeitweilig wurde auch noch ein kurz dauerndes Zucken des Körpers beobachtet, wenn man die Kranke berührte. Diese Erscheinung zeigte sich noch öfter in den nächsten 24 Stunden; dann erholte sich die Ver¬ giftete ziemlich schuell. Ihre Genesung verlief ungestört. Franz Meyer-Berlin. Nichtgewerbliche Anilin Vergiftungen. Von Prof. Landouzy u. Dr. S. Brouardel. (Anna], d. hyg. pnbl. 1000 Ang.) Die Verff. hatten zufällig Gelegenheit, einen Fall zu beobachten, der in kurzen Zügen etwa folgendermassen verlief: Ein kerngesundes Kind von 17 Monaten wird eines Tages im April ins Freie getragen. Während es draussen ist, fällt es nach einer Stunde durch sein müdes, schlaffes Wesen auf, es bekommt eine bläuliche Gesichtsfarbe, es scheint zu sterben. Der Arzt findet es mit balbgeschlossenen Augen, scheinbar leblos, mit bleigrauer Gesichtsfarbe, bläulichen Lippen, leichen¬ blassen Händchen, ohne dass aber eine Organerkrankuug zu entdecken ist. Starke Herzstärkungsmittel werden angewandt. Das Kind bleibt zunächst bewusstlos, aber bis zum nächsten Tage erholt es sich doch merklich. Noch nach drei Tagen, während derer es sonst ganz gesundet, behält es die blaugraue Farbe. Der Harn enthält Anfangs Spuren von Eiweiss. Alles deutete auf eine Vergiftung, aber woher sollte sie kommen? Das Einzige, was einen Anhaltspunkt zu bieten schien, war die Thatsache, dass das Kind an dem betreffenden Tage neu¬ gefärbte Stiefelchen getragen hat, deren schwarze Farbe einen durchdringenden, an chinesische Tusche erinnernden Geruch hatte. Aber das Kind hatte nach bestimmten Aus¬ sagen die Schuhe nicht in die Hand, viel weniger in den Mund genommen 1 Zwölf Tage später trug der sechsjährige Bruder des Kindes ebensolche aufgefärbte Schuhe, und auch er bekam binnen drei Stunden ein blaugraues Gesicht. Jetzt verbreitete sich das Gerücht der Erkrankung in der Gegend, und die Mutter der erkrankten Kinder bekam zahl¬ reiche Mittheilungen von ganz ähnlichen Fällen. So gelangten zur Kenntniss der Verff. zehn ganz gleich¬ sinnige Krankengeschichten. Immer waren die Kinder je jünger, desto kränker. Die Untersuchung der betreffenden Farbe ergab, dass flüchtiges Anilin, als Träger des Farb¬ stoffes, zu 90,9 Prozent darin enthalten war, daneben fanden sich feste Anilinfarben, keine Spur von Arsenik. Es wurden nun zwei Versuchsreihen angestellt, an Meer¬ schweinchen und Kaninchen, nämlich eine erste mit der Sohuhfarbe selbst, eine zweite mit einem Gemisch von Anilin und Wasser. Bei der ersten wurde die Farbe entweder unter die Haut oder in den Mund der Tiere oder dampfförmig in ihren Käfig gebracht oder auf Hautflächen aufgestrichen — immer das gleiche Ergebniss, nur dem Grade nach verschieden: Das Tier fällt hin, zittert, wird steif, die Athmung verlangsamt sich, die Herztöne werden echwaoh, zeitweise treten Krämpfe auf; die Schleimhäute werden blaugrau; die Zahl der roten Blutkörperchen vermindert sich. Nicht anders verlief die zweite Reihe der Versuche. Das Anilin wird also durch die Lungen — besonders bei heisser Zeit — und durch die Haut aufgesogen und wirkt von hier aus als ernstes Gift. Es ist wichtig, aus diesen Fällen die Lehre zu ziehen, dass man nicht bloss bei Arbeitern in Anilinfabriken an eine Anilinvergiftung zu denken braucht. Augen. Zur Nachbehandlung bei Operationen am Augapfel. Von Dr. G. Gut mann. (Berliner klin. Wochenschrift 1900, No. 24.) Verf. schildert die verschiedenen Arten des Verbandes und der Nachbehandlung bei Staaroperationen. Der Monoculus Digitized by Google 458 A ärztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 22. wurde durch das Fuchs’sche Qitter abgelöst. Auf die ge¬ schlossenen Lider kommt ein Gazeläppchen mit einem Watte¬ bausch, welcher durch einen Pflasterstreifen befestigt wird, hierüber kommt ein Drahtgitter, welches das Auge vor etwaiger Berührung mit der Hand schützt. Yerf. hat mit diesem Ver¬ bände, neben welchem er in besonderen Fällen auch noch den Rollbindenverband anwendet, gute Erfolge gehabt. Noch weiter ging Czermak, indem er jeden auf den Lidern liegenden Ver¬ band fortliess und nur das mit einem dunklen Stoffe überzogene Fuch s’sche Schutzgitter anlegte. Die Erfolge Czermaks mit dieser Methode waren bei 2600 Augapfeloperationen sehr zu¬ friedenstellende. Die vollkommen offene Wundbehandlung nach Augenoperationen verwirft Verf. Er hat das Fuchs’sche Gitter in letzter Zeit nur noch am ersten Tage mit einem die Lider bedeckenden Sohlussverbande benutzt, vom zweiten Tag an aber den Schlussverband fortgelassen und allein das schwarz ausgekleidete Drahtgitter nach der Angabe Czermaks ver¬ wendet. Die Resultate dieses Verbandes waren sehr zufrieden¬ stellend. Ferner gab Verf. nur am ersten Tage flüssige Kost, dann feste Speisen. Die Patienten konnten am zweiten Tage aufstehen und im Lehnstuhl sitzen. Schliesslich verdunkelt Verf. nach Augenoperationen die Krankenzimmer nicht mehr, sondern sorgt nur für gedämpftes Licht. Er hofft so, den Kranken das Dasein so erträglich wie möglich zu gestalten ohne Schaden für die Wundheilung. Groenouw. Spontane Resorption einer überreifen Katarakt durch eine Verletzung. Von Dr. Hennicke. (Klio. MonnUbl. f. Angenhellk. 1900, 8. 476 f.) Ein 64jähriger Mann konsultirte den Verf. wegen einer geringen rechtsseitigen traumatischen Konjunktivitis. Bei der Aufnahme der Anamnese ergab sich, dass das Auge früher blind war, vor 26 Jahren stellte ein Augenarzt noch nicht ganz reifen grauen Staar fest und hielt eine Operation in einiger Zeit für erforderlich. Die Operation unterblieb jedoch aus Mangel an Geld, obwohl das Auge allmählig völlig erblindete. Vor 6 Monaten schlug dem Kranken ein Zweig gegen das Auge und seitdem besserte sich das Sehvermögen allmählig wieder. Die Untersuchung ergab das Fehlen der Linse auf diesem Auge, oben in der Iris fand sich ein kleines Loch. Verf. nimmt an, dass durch die Verletzung ein Riss der Linsen- kapsel entstanden und damit die Resorption der getrübten Linse eingeleitet worden sei. Das zweite Auge war gesund. Groenouw. Ohren. Zar Funktion der Bogengänge. Aus der Trautmann’schen Ohrenklinik in der Charitö zu Berlin. Von Stabsarzt Dr. Stengor. (Archiv f. Obrenheilk., 50. Band, 8. 79 ff.) Ein Symptom, das dem ärztlichen Sachverständigen bei der Beurtheiiung Unfallverletzter häufig begegnet, ist der Schwindel, sei es das subjektive Schwindelgefühl beim Kranken, seien es objektiv feststellbare Schwindelerscheinungen. Die vorliegende Arbeit trägt dazu bei, uns dem Verständniss dieses Symptoms näher zu bringen. Die Ausführungen Sten¬ ge rs fussen nicht, wie die meisten der bisherigen, auf diesem Gebiet sich bewegenden Arbeiten, auf Thierversuchen, sondern auf Beobachtungen, die er an Kranken machte, deren hori¬ zontaler Bogengang durch eitrige Vorgänge im Mittelohr theil- weise zerstört war, oder bei denen der horizontale Bogengang bei der sog. Radikaloperation des Ohres verletzt wurde. Neben Nystagmus und subjektiven Gehörsempfindungen war Schwindel eine regelmässige Folge dieser Bogengangaffektionen. Der Schwindel äusserte sich unter anderem hauptsächlich in Schwanken nach der verletzten Seite und beim Gehen in der Neigung, von der geraden Linie nach der verletzten Seite hin abzuweichen. Im Dunklen, bezw. beim Schluss der Augen nahmen diese Erscheinungen zu. Stenger theilt dann im An¬ schluss an 4 Fälle, die er Hitzig's Arbeit über den Schwindel entnommen hat, seine Beobachtungen an einem Kutscher mit, der durch Fall auf das Steinpflaster einen Schädelbruoh er¬ litten hatte. Hierbei war das Labyrinth verletzt worden, und dementsprechend klagte der Mann über Sohwindel. Verf. kommt zu dem Ergebniss, dass der Bogengangapparat zweifel¬ los zum Gleichgewichtssinn in Beziehung steht. Für den ärztlichen Sachverständigen ergiebt sich aus des Verf. Ausführungen der Wink, Leute, die nach Kopfverletzungen über Schwindel klagen, stets einer eingehenden — Spezialist!- sehen — Untersuchung ihres Gehörorgans zu unterwerfen. Richard Müller. Beiträge zur Kenntnis® der otitisehen Erkrankungen des Hirns, der Hirnhäute und der Blatieiter. III. Fortsetzung. Aus der Ohren- und Kehlkopfklinik der Universität Rostock. Von Dr. Muck, 1. Assistent. (Zeilsobr. f. Ohrenhetlk., XXXVII. Band, S. 174 ff.). Die drei ersten Veröffentlichungen über das gleiche Thema sind bereits früher in unserer Zeitung (s. Nr. 7, Jahrg. 1900) besprochen worden. Die vorliegende 3. Fort¬ setzung bringt wieder elf einschlägige Fälle (Fall 22—32), von denen einer im Jahre 1895, einer 1898, vier 1899 und die übrigen in diesem Jahr beobachtet wurden. In drei Fällen trat der Tod ein, sieben Fälle wurden durch operative Ein¬ griffe geheilt, ein Fall heilte ohne Operation. Im letzteren handelte es sich um pyämisches Fieber bei beiderseitiger Masern-Otitis; der Fall gehört hierher, weil das Fieber auf thrombosirende Vorgänge in den Schläfenbeinblutadern oder in einem der dem Schläfenbein anliegenden Sinus zurück¬ zuführen gewesen sein dürfte. Die Schilderungen sind überaus lehrreich, namentlich auch nach der einen Richtung hin, dass sie Aufschluss über den durchaus nicht harmlosen Charakter der eiterigen Erkrankungen des Mittelohrs geben, und es wäre, um diese Erkenntniss immer mehr zu verbreiten, wünschenswert!), wenn auch von anderen Ohrenkliniken die einschlägigen Fälle in gleicher Weise mitgetheilt würden. Richard MüUer. Topographie und Operationstechnik der otitisehen Schiäfeniappenabcesse. Aus dom Kgl. Pathologischen Institut der Universität Breslau. Von Dr. Hermann Preysing-Leipzig. (Zeitschr. f. Ohrenbeilk,, XXXVII. Band, S. 208 ff.) Der Verf. hat früher einmal einen Gehirnabsoess auf dem Sektionstische gesehen und neuerdings zwei (nicht drei — mit diesem Druckfehler fängt die Arbeit an) weitere FäUe bei Obduktionen beobachtet. Dies veranlasst ihn, mit Vor¬ schlägen für die Ausführung der Sektion bei Gehirnabscessen und auch für deren Operation hervorzutreten. Soweit die Vorschläge vom pathologisch anatomischen Standpunkte die Verbesserung der Hirnsektionsteohnik anstreben, mag ihnen eine gewisse Berechtigung zuerkannt werden, wiewohl auch nach der verurtheilten „Virchow’schen Methode“ eine genaue Feststellung eines Hirnabscesses in allen seinen Einzelheiten recht wohl möglich ist; Verf. empfiehlt an Stelle der parallelen Längsschnitte durch die Hemisphäre einen Horizontal-, einen Sagittal- und einen Frontalschnitt. Bei sehr grossen Ab- Digitized by Google 16. November 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 459 scessen wird auch dieses Verfahren unzulänglich sein. — Des Verf.'s Vorschläge zur Verbesserung der Operationstecbnik beschränken sich auf die Angabe eines verhältnissmässig recht komplizierten Instruments zur Ausführung eines Probe¬ schnittes in das Gehirn von der Mastoidoperationswundhöhle her. Ob das Instrument in ohrenärztlicheu Kreisen viel Ver¬ breitung finden wird, scheint uns zweifelhaft. Richard Müller. Zur Heilung der Hirnabscesse. Aus der Universitätsohronklinik in Heidelberg. Von Professor Passow. (Zeitgehr. f. Ohrenheilk., XXXVII. Band, Seite 111 ff.). Am 25. Juni 1899 endete ein Mann durch Selbstmord, bei dem Verf. am 15. April (nicht, wie irrthümlich gedruckt ist am 15. März) einen Sohläfenlappenabscess operiert hatte. Bei der Sektion ergab sich, dass Heilung eingetreten war. Die Gehirnnarbe war ungefähr den dritten Theil so gross wie die ursprüngliche Abscesshöhle, eine Folge der Thatsache, dass sich im Anschluss an die Operation die Abscesswände, die vorher durch den Eiter gespannt und auseinander gehalten worden sind, einander zu nähern pflegen. Die Narbe bestand aus zwei bindegewebigen Strängen, die auffallender Weise mit der Dura nioht verwachsen waren. Diese beiden Stränge waren zusammengesetzt aus fixen Bindegewebszellen, zwischen welchen kleine Rundzellen und grössere runde Zellen mit feinkörnigem (nicht „feinkernigem' 1 ) Protoplasma und grossem Kern lagen; nervöse Elementarbestandtheile fanden sich darin nicht. Die Hirnsubstanz in der unmittelbaren Umgebung der Stränge war capillarreich und mit Rundzellen infiltrirt; ihre Nervenzellen waren ohne Fortsätze und theilweise ohne Kerne. Diese Veränderungen waren bis auf 7 mm Entfernung von der bindegewebigen Narbe zu konstatieren; der Uebergang zum normalen Gewebe erfolgte ohne scharfe Grenze. Bemerkenswerth ist noch, dass sich in der Narbe einzelne gewundene, bandartige, stark lichtbrechende und keinen Farb¬ stoff annehmende Streifen vorfanden, zwischen denen Riesen¬ zellen eingestreut waren. Die Streifen erwiesen sich als Baum - wollfasern, die als Ueberbleibsel von dem Verbandsmaterial in die Hirnsubstanz eingeheilt waren. Richard Müller. Zur Lehre von den otitischen Gehirnabscessen. Aus der Ohrenklinik des Charite-Krankenhauses in Berlin. Von Stabsarzt Dr. Richard Müller-Berlin. (Archiv f. Ohrenheilk., 50. Bend, Heft 1/2). Zu vier bereits früher von ihm geschilderten otitischen Hirnabscessen veröffentlicht Verf. jetzt vier weitere einschlägige Fälle. Drei von den letzteren hat er operirt, einen davon mit Ausgang in Heilung, während die anderen beiden am 19. bezw. am 20. Tage nach der Operation starben. Der geheilte war ein doppelter Kleinhirnabscess bei einem zehn Jahre alten Mädchen, der in zwei Sitzungen operirt wurde. Das Kind ist jetzt vollständig gesund, hat keinerlei Kopf- oder Ohren¬ beschwerden und macht in der Schule, was auch für den ärztlichen Sachverständigen von grösserem Interesse sein dürfte, gute Fortschritte. Eine Beeinträchtigung der Ver- standesthätigkeit hat der Doppelabscess nicht zur Folge gehabt. — Von den anderen drei Abscessen sass einer im rechten Schläfenlappen, einer im rechten Kleinhirn und einer im linken Schläfenlappen. Bei dem letzteren handelte es sich um eine Art Schnelldiagnose; diese baute sich im Wesent¬ lichen auf drei Symptomen auf: stinkende Ohreiterung, verlang¬ samter Puls und amnestische Aphasie. Die sofort vorgenommene Operation bestätigte die Diagnose; es wurde ein Schläfenlappen- abscess, der im grössten Durchmesser 5 cm hatte, eröffnet. Im zweiten Theile seiner Arbeit giebt Verf. einige Winke für die Art des operativen Vorgehens bei otitischen Hirn¬ abscessen, um dann eine Reihe pathologisch-anatomischer Aus¬ führungen folgen zu lassen. Er unterscheidet zwei Arten von Gehirnabscessen: den parenchymatösen und den inter¬ stitiellen, ersterer ist der eigentliche Abscessus cerebrf bezw. cerebelli, letzterer im Grunde genommen nur ein Abscessus in cerebro. Der parenchymatöse Abscess entwickelt sich unter eitriger oder jauchiger Einschmelzung der Hirn¬ substanz und führt, da die Menge der eingeschmolzenen Hirn¬ masse seinem eigenen Volumen entspricht, im allgemeinen nicht zu Hirndrucksymptomen; der interstitielle Abscess ent¬ wickelt sich im interstitiellen Hirnstützgewebe durch Aus¬ wanderung von Leukocyten u. s. w., er fügt also dem Schädel- innern etwas Neues hinzu und hat daher Hirndruckerscheinungen 3?ie ein Hirntumor im Gefolge. Verf. geht auf die einzelnen Unterscheidungsmerkmale noch genauer ein, hebt aber dann hervor, dass die reine Form der einen oder der anderen Abscessart selten ist, und dass Mischformen zwischen beiden das Gewöhnlichere sind. Autorreferat Hygiene. Zur Gesetzgebung Aber den Verkehr mit Kuhmilch. Von Dr. A. Sch licht-Stralsund. (Zeiuchr. f. öffentl. Chemie, Heft 10, 1900.) Anknüpfend an eine vor Kurzem von der Hamburger Polizeibehörde erlassene Anweisung zur Prüfung der Milch auf Wasserzusatz, bei welcher nur von der Verwendung der Milch¬ waage (Laktodensimeter) die Rede ist, weist Verfasser darauf hin, dass zu einer sicheren Entdeckung der Milchverfälschuug auch die Bestimmung des Fettgehaltes unentbehrlich ist. Die Anwendung der Milchwaage beruht bekanntlich auf der Be¬ stimmung des spezifischen Gewichtes der Milch. Dieses be¬ trägt bei normaler Milch ungefähr 1,030, es schwankt aber nach den vom Reichsgesundheitsamt angegebenen Grenzzahlen von 1,029—1,034. Das spezifische Gewicht ist abhängig von dem Gehalt an Fett einerseits und dem Gehalt an den übrigen Nährstoffen andererseits; es wird durch ersteres herabgemin¬ dert und durch die anderen Nährstoffe erhöht. Wird nun eine Milch mit Wasser verdünnt, so fällt das spezifische Gewicht, wird sie dagegen entrahmt oder mit Magermilch versetzt, so steigt es. Nun können viele Milchsorten ganz erhebliche Ver¬ schlechterungen durch eine dieser Manipulationen vertragen, ohne dass das spezifische Gewicht über die Grenzen hinaus verändert wird, und weiter lässt sich durch geschickte Ver¬ einigung beider Manipulationen unschwer das spezifische Ge¬ wicht einer normalen Milch erhalten. Solche verfälschten oder doppelt verfälschten Milcharten würden sich also bei der Prüfung durch die Milchwaage allein .der Beanstandung ent¬ ziehen. Eine Milchkontrolle, die auf Anwendung der Milch¬ waage beruht, ist nur eine Scheinkontrolle, durch die fast nichts erreicht, wohl aber viel verdorben werden kann. Wollen die Polizeibehörden das Publikum bei dem wichtigsten Nah¬ rungsmittel, welches zugleich den meisten Verfälschungen aus¬ gesetzt ist, wirksam schützen, so muss in jeder zur Kontrolle gelangenden Probe nicht nur das spezifische Gewicht, sondern wenigstens auch noch der Fettgehalt bestimmt werden. — y. Untersuchungen Aber das Yerhalten der Milchbakterien im Milchthermophor. Von Prof. Dr. Dunbar, Direktor des Staatlichen hygienischen Instituts zu Hamburg und Ass. Dr. W. Dreyer. (Deutsche med. Wochensohr. No. 20, 1900.) Der Milchthermophor dient dazu, die aufgekochte Milch längere Zeit bei relativ hohen Temperaturen aufzubewahren. Digitized by Google 460 Aerstliohe Saohverständigen-Zeitung. No. 22. Es war deshalb von praktischem Interesse, zu untersuchen, wie der Apparat auf das Bakterienleben in der Milch ein¬ wirkt. Die Schlüsse, die sich aus den zu diesem Zwecke an- ge8tellten Versuchen ergaben, lassen sich dahin zusammen¬ fassen: Bei bis zu zehnstündigem Verweilen der Milch in dem kurz vorher erhitzten Thermophor findet eine Erhöhung der Keimzahl der Milch nicht statt. Es zeigt sich vielmehr bei ungekochter bezw. pasteurisirter Milch in Folge der Thermo¬ phoreinwirkung eine entschiedene Abnahme der Bakterienzahl, und zwar gelegentlich bis zu dem Qrade, dass in den ange¬ setzten Kulturen lebensfähige Keime überhaupt nicht mehr gefunden werden. Eine Zersetzung und nachtheilige Verände¬ rung der Milch im Thermophor ist deshalb innerhalb des ge¬ nannten Zeitraumes nicht zu befürchten. Der Milchthermophor kann in Folge dessen unbedenklich für die Warmhaltung der für die Ernährung von Säuglingen bestimmten Milch empfohlen werden, vorausgesetzt, dass die Milcbproben nicht länger als 10 Stunden nach dem Erhitzen des Thermophors im letzteren belassen werden. Angesichts dieser Thatsachen ist der Milch¬ thermophor mit Rücksicht auf die grosse Bequemlichkeit, die er für das Pflegepersonal bietet, als eine sehr schätzenswerthe Bereicherung für die Technik der künstlichen Säuglingsernäh¬ rung zu bezeichnen. —y. lieber die Entwickelung unserer gegenwärtigen Milch- kenntnisse in ihren Beziehungen zur Milchhygiene. Von Dr. H. Georg!i, Oberamtswundarzt in Rottenburg a. N. (Medizin. Corresp. d. Wfirtterab. ärstl. Land es verein* No. 18, 1900.) Noch immer ist es nicht gelungen, die Säuglingssterblich¬ keit in nennenswerter Weise herabzudrücken. Zum Theil er¬ klärt sich diese Thatsache dadurch, dass wir noch weit von einer allgemeinen praktischen Verwertung der Erkenntniss, welche die moderne Milchhygiene des letzten Jahrzehntes ge¬ bracht hat, entfernt sind. Verfasser giebt in kurzen Umrissen ein anschauliches Bild von den diesbezüglichen wissenschaft¬ lichen und technischen Fortschritten und gelangt in seinen Auseinandersetzungen zu der Forderung eines besonderen Reichsmilchgesetzes, das bei dem heutigen Stande der Dinge ein mindestens ebenso dringendes Bedürfniss im Interesse des Volkswohles ist, wie z. B. das geplante Reichsweingesetz oder die Unmasse von Verfügungen über die Bekämpfung der Maul- und Klauenseuche. Wie etwa reichsgesetzliche Be¬ stimmungen über den Milchverkehr lauten müssten, dafür haben wir in dem Vorgehen einzelner grösserer Gemeindewesen nachahmenswerte Beispiele, die, wie z. B. Berlin und Frank¬ furt a. M., vor mehreren Jahren vortreffliche, den heutigen hygienischen Anschauungen über Milchgewinnung und Milch¬ handel vollauf genügende Polizeiverordnungen erlassen haben. Auch die deutsche Reichsregierung hat eine ausgezeichnete Verordnung über die Ausübung einer Kontrole des Milchver¬ kehres am 4. Mai 1899 erlassen, jedoch nicht für das Deutsche Reich, sondern für sein Pachtland Kiautschou. Derartige Ver¬ ordnungen erstrecken sich auf Stallhygiene, Kinder-, Kur- etc. Milch, Konzession des Milchhandels, Revisionen des Milch¬ viehes, Tuberkulinimpfungen u. s. w. Was von Staats- und Gesetzeswegen im Interesse einer modernen Milchhygiene für Kiautschou durchführbar ist, sollte auch für das Deutsche Reich nicht unmöglich sein. —y. Ueber die Gegenwart von andern Bazillen der Diphtherie-Groppe als dem Klebs-Loefflerschen in Milch. Von J. W. H. Eyre. (Brit. Med. Jonrn.) Es war früher in zwei Fällen möglich gewesen, aus der Milch echte Diphteriebazillen zu züchten; dies gab die Ver¬ anlassung zu einer eingehenden Untersuchung und zur Prüfung einer grossen Zahl von Milchproben auf Diphteriebazillen. Dabei wurden nicht weniger als fünf Arten von Bazillen ge¬ funden, welche in ihrem Aussehen dem Bacillus von Klebs- Löffler gleichen; aber in ihrem sonstigen Verhalten von dem¬ selben verschieden waren. Es ist demnach unrichtig, durch die mikroskopische Untersuchung allein auf das Vorhandensein von Diphteriebazillen in der Milch schliessen zu wollen, son¬ dern für die Diagnose nothwendig, das Wachsthum etc. zu berücksichtigen. Echte Diphteriebazillen wurden in den zahl¬ reichen Milchproben nicht mehr nachgewiesen, die gefundenen Bazilleuarten erwiesen sich als nicht pathogen. Franz Meyer-Berlin. Experimentelle Beiträge zur Methodik der M&uerfeuch- tigkeitsbestimmung. Aus dem hyg. Institut der Universität Innsbruck. Von Dr. Ballner. (Archiv für Hygiene XXXVII. J. 4.) Nach einer kurzen, aber treffenden Begründung der hygie¬ nisch gebotenen Nothwendigkeit, den Gehalt einer verdächtigen Mauer an freiem Wasser genau zu bestimmen, rekapitulirt der Verfasser die verschiedenen bisher angegebenen Methoden, und weist mit Recht darauf hin, dass ihnen allen, soweit sie auf wissenschaftliche Exaktheit Anspruoh machen, der Mangel innewohnt, dass sie einerseits ein Instrumentarium erfordern, welches nur im Laboratorium zur Verfügung steht, während andererseits eine Summe besonderer Kenntnisse und auch ein solches technisches Geschick, wie man es nur durch langjäh¬ rige Uebung zu erreichen pflegt, zu ihrer Ausführung noth¬ wendig sind. Verf. hat sich deshalb bemüht, ein Verfahren auszuarbeiten, welches nicht an diese Faktoren gebunden ist, und welches es jedem einigermassen mit chemiischen Arbeiten vertrauten Arzte ermöglicht, die Bestimmung der Mauerfeuch¬ tigkeit gegebenen Falles selber zu machen. Die dazu nöthigen Utensilien sind in jeder grösseren Apotheke vorhanden und bestehen in einem Exsiccator, Porzellanschale, Porzellanmörser, Uhrglas, Dreifuss und einer Tarirwage, die Centigramme noch angiebt, statt letzterer im Nothfalle eine feine Hornwage. Das Verfahren beruht auf dem Prinzip der möglichst ener¬ gischen Entwässerung des Mörtels durch stark hygroskopische Substanzen. Als solche dient Phosphorsäureanhydrid P 2 0 5 , ein weisses, amorphes, schneeartiges Pulver, welches ausser¬ ordentlich begierig H 2 0 anzieht und schliesslich unter Bildung von Metaphosphorsäure zerfliesst. Man entnimmt mit einer Stanze 15—25 g Mörtel aus der Mauer, zerkleinert sie im Porzellanmörser, wiegt sie ge¬ nau, und breitet die feinkörnige Masse gleichmässig in einem Porzellanschälchen aus. Dann wird sie zugleich mit etwa 20 g Phosphorsäureanhydrid, welche man in einem Uhrglase auf einem Dreifuss über dem Schälchen ausbreitet, in einen Exsiccator von etwa 8 / 4 Liter gebracht, und 24—48 Stunden stehen gelassen, sodass die Mörtelmasse während dieser Zeit der wasserentziehenden Einwirkung des Phosphorsäureanhydrid ausgesetzt ist. Der Wasserverlust des Mörtels wird durch Wägung festgestellt. Ist der Mörtel ziemlich trocken, genügen 24 Stunden, ist er feuchter, so ist der Verlust an Wasser während weiterer 24 Stunden noch ein bei der Messung ins Gewicht fallender, ev. zerfliesst sogar das Phosphorsäureanhy¬ drid und muss erneuert werden. Die bei diesem Verfahren erhaltenen Resultate waren ver¬ glichen mit denjenigen, welche durch andere gewichtsanaly¬ tische Methoden bei Anwendung hoher Temperaturen erzielt wurden, um ein geringes zu niedrig. Doch ist diese Differenz eine so geringe, dass sie bei der hygienischen Würdigung der Digitized by LjOOQie 15 November 1900. Aerztliohe ßaohverständigen-Zeitung. 461 Resultate nicht ins Qewicht fallen kann, zumal die Grenzen, innerhalb derer der Wassergehalt einer Mauer als hygienisch zulässig erklärt werden kann, noch wenig feststeben (Emme¬ rich bis 2 Proz., Glässgen bis 1 Proz.) Schaumkell, Ronneburg. Ans Vereinen und Versammlungen. 72. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Aachen. 17. bis 22. September. 35. Abtheilung: Unfallheilkunde. (MooaUschr. f. Unfallhellk.) Dr. F. Baehr-Hannover. Unfall und Epilepsie. In der deutschen Literatur finden sich noch wenig Be¬ schreibungen von Einzelfällen, in denen Verletzungen Epilepsie ausgelöst haben, und in den wenigen handelt es sich fast immer um unmittelbare Einwirkungen auf den Kopf, nicht um Gliedmassenverletzungen. Dies veranlasst B. zur Mittheilung von vier Fällen, in denen die Frage des Zusammenhangs zwischen Unfall und Epilepsie gutachtlich zu erörtern waren. 1. Ein Arbeiter, der vorher angeblich niemals Krampf¬ anfälle gehabt hatte, erlitt durch ausströmenden Dampf Ver¬ brennungen. Angeblich war er gestrauchelt und auf die Dampfklappe gefallen. Man fand ihn nachher bewusstlos neben derselben vor. Es bildeten sich sehr schmerzhafte Narben, von denen eine später ausgeschnitten wurde. Während der Behandlung wurden nächtliche Krampfanfälle beobachtet, die nach den Angaben des Wartepersonals als echt epileptische gedeutet werden mussten. Ausserdem hatte der Verletzte einige Male zweifellos hysterische Anfälle. Es lag nahe, das ganze Krankheitsbild allein auf den Unfall zu beziehen (Reflex- epilepsie). Thatsächliche Erhebungen ergaben aber schliess¬ lich, dass der Verletzte zweifellos vor dem Unfall schon epi¬ leptisch gewesen war. B. knüpft an diesen Fall die Bemerkung, dass hier der Thatbestand eines Betruges vorliegt, und dass die Aerzte ganz gut thun würden, in verdächtigen Fällen die zu Unter¬ suchenden darauf aufmerksam zu machen, dass sie sich durch falsche Angaben eine strafrechtliche Verfolgung zuziehen können. 2. Einem Arbeiter in mittleren Jahren, der bisher gesund war, fällt ein schweres Thonrohr auf die Brust, das ihm er¬ hebliche Knochenverletzungen, u. A. sechs Rippenbrüche bei¬ bringt. Auch die Lunge war verletzt. Schon im Laufe des ersten Jahres treten eigenthümliche Anfälle von Angst, auf¬ steigendem Schmerz und Athemnoth auf. Nach l l / 2 Jahren kommt es zu richtigen epileptischen Anfällen. Es wurden in der Annahme, dass zwei nach dem Brustraum vorstehende Rippenbruchstücke heftige Schmerzen und auf diesem Wege Reflexepilepsie bedingten, die betr. Rippen entfernt. Danach blieben die Anfälle weg. 8. Ein 44jähriger Mann, früher nach ausdrücklicher Fest¬ stellung nicht fallsüchtig, bekommt beim Arbeiten an einer elektrischen Strassenbahn-Oberleitung einen starken elektrischen Schlag, stürzt herab und ist vorübergehend bewusstlos. U. A. hat er einen Beckenbruch erlitten. Objektive nervöse Er¬ scheinungen waren später nicht nachweisbar. Nach einigen Monaten wurde über eigenthümliche anfallsweise vom Becken nach der Brust ausstrahlende Schmerzen geklagt. Nach weiteren sechs Monaten stellten sich epileptische Anfälle ein. 4. Ein Arbeiter mit ebenfalls einwandfreier Vergangenheit stürzt von einer Leiter, ohne bewusstlos zu werden. Er be¬ kommt vier Monate später einen epileptischen Anfall. Zur Zeit der Beobachtung durch B. lassen sich die Folgen eines doppelten Oberschenkelbruches und eines Fersenbeinbruches wahrnehmen. Nervöse Zeichen fehlen. Der Verletzte hat einen ungemein schweren epileptischen Anfall. Am sichersten ist die Diagnose Reflexepilesie bei dem zweiten Fall. B. macht darauf aufmerksam, dass in diesem wie in dem dritten, dem eigentlichen Krampfanfalle Zustände vorausgegangen sind, die man als epileptiforme bezeichnen muss. Recht schwierig ist es meist festzustellen, ob nicht doch vorher sohon epileptische Anfälle bestanden haben, ja, ob nicht der Unfall selbst einem solchen seine Entstehung ver¬ dankt. Am verwickeltsten ist die Sachlage, wenn vor langer Zeit Krämpfe beobachtet worden sind, in den letzten Jahren aber nicht mehr, denn dann muss man auch daran denken, dass der Unfall eine scheinbar geheilte Epilepsie wieder hat aufflackern lassen. Der Erfolg einer Operation ist bei Reflexepilepsie zweifel¬ haft, wenn längere Zeit Beit dem Unfall verstrichen ist, bei Epilepsie durch Gehirnverletzung vollends unzuverlässig. Schäifer-Leum: Genügt die übliche Definition des Begriffes Unfall den Anforderungen der Praxis? Gewöhnlich versteht man unter einem Betriebsunfall ein plötzliches, mit dem Betriebe zeitlich, örtlich und ursächlich im Zusammenhang stehendes, durch die aufgewendete Leistung oder durch eingetretene Berufsstöruog aussergewohnliches Er¬ eigniss, welches körperliche und geistige Gesundheitsschädigung zur Folge hat. Vortr. wendet sich gegen die schematische Forderung des Nachweises einer das Mass der gewöhnlichen Betriebsleistungen überschreitenden Anstrengung. Beim landwirtschaftlichen Arbeiter, dessen gewöhnliche Betriebsleistung im Gegensatz zu der des Fabrikarbeiters ausserordentlich wechselnd ist, kann auch die Ueberschreitung der Betriebsleitung nicht in allgemein gütiger Weise festgestellt werden. Hier muss auf die Eigenart des Einzelnen Rücksicht genommen werden. Die¬ selbe Arbeit, welche für den Mann durchaus gewöhnlich ist, kann für die Frau oder ,den unerwachsenen Knaben eine aussergewöhnliche Leistung darstellen. Es kann aber ferner der anscheinend Gesunde eine Krankheitsanlage in sich tragen, die, sei es bei ungewöhnlich schweren oder bei gewöhnlichen Arbeiten zu plötzlichen Verschlimmerungen führt Vortr. be¬ zieht sich hier auf einen recht interessanten Fall, wo eine Frau beim Mähen plötzlich Unterleibsbeschwerden bekam, die anscheinend auf eine Knickung der Gebärmutter, in Wirklich¬ keit aber, wie sich später herausstellte, auf den Einbruoh eines vorher schon tuberkulös zerstörten Wirbelkörpers zurückge¬ führt werden mussten. Die Ansprüche der Verletzten wurden hier in zwei Instanzen zurückgewiesen, an das Reichsver¬ sicherungsamt wandte sie sich nicht. Dagegen wurde einem Manne Entschädigung zugebilligt, der herzkrank war und beim Heben eines leeren Wagens eine Herzerweiterung und durch Verschleppung eines Gerinnsels ins Gehirn eine halbseitige Lähmung bekam. Vortr. schlägt vor, alle landwirtschaftlichen Arbeiter in derselben Weise, wie es mit den Bergleuten geschieht, vor der Einstellung auf ihren Gesundheitszustand untersuchen zu lassen. Bei den männlichen Arbeitern könnte man sich, falls die Militärbehörden sich entgegenkommend zeigten, auf Kennt¬ nisnahme der Militärlisten beschränken. Im Uebrigen meint Vortr., dass bei den Unfällen im land¬ wirtschaftlichen Betriebe die Forderung einer mehr als be- triebsüblichen Anstrengung fallen könnte. Thiem: Verrenkung des Kahnbeins nach unten. Vort. zeigt das Röntgenbüd vom Fuss eines Mannes, der Digitized by Google 462 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 22. durch direkte Gewalt, Auffallen von gefrorenen Erdschollen auf den Fuss, eine Verrenkung des Kahnbeins nach unten erlitt. Der Mann behielt namentlich im Chopart’schen Gelenk Bewegungsbeschränkungen zurück, sodass Hebung und Senkung der Fussränder fast aufgehoben war; wegen Schmerzhaftigkeit beim Auftreten am inneren Fussrand trat er vorwiegend mit dem äussern auf, wie das die vorgezeigten Fussabdrücke auch andeuten. Die operative Entfernung des verrenkten Knochens wurde nicht gestattet und eine Einrenkung war nicht mehr möglich, als der Verletzte in die Behandlung des Vortragenden kam — es geschah dies erst 4 Monate nach der Verletzung. Es wurden 25 Prozent Rente bewilligt. Bähr-Hannover: Pseudarthrose nach Fraktur des Malleolus internus. Bei Knöchelbrüchen scheint bisher das Ausbleiben einer festen knöchernen Vereinigung nicht beschrieben zu sein. Ein derartiges Vorkommniss glaubt Bähr nunmehr in zwei Fällen beobachtet zu haben. Der erste davon ist der sicherere. Bei einem jugendlichen Arbeiter blieb nach einem Knöchel¬ bruch eine ungewöhnlich schwere Gehstörung zurück. Dabei war die Stellung des Fusses gut, die Beweglichkeit des Ge¬ lenks völlig normal. Die Gegend des innern Knöchels war leicht verbreitert und druckempfindlich. Mit Röntgenstrahlen sah man von vorn her die Ansatzstelle des innern Knöchels quer durchtrennt. Zufällig wurde noch eine zweite Aufnahme bei gestrecktem Fusse vorgenommen, und nun zeigte sich eine die Ansatzstelle des innern Knöchels durchsetzende Spalte, die sich nach vorn erweiterte. Es hatte also keine knöcherne Vereinigung der Bruchstücke stattgefunden. In einem zweiten Falle, bei dem die Beschwerden ähnlich lagen, konnte der Beweis durch die Röntgenaufnahme nicht mit gleicher Sicherheit geführt werden. Thiem: Ueber Serratuslähmung nebst Bemer¬ kungen über die Bewegung des Schultergürtels. Im Anschluss an einen der Versammlung vorgeführten Fall von Lähmung des grossen Sägemuskels legt Vortr. dar, wie nach den auf diesem Gebiete umwälzenden neueren Forschungen die Erhebung des Armes im Schultergelenk zu Stande kommt, und was man daraus für die Beurtheilung von Lähmungen einzelner Muskeln entnehmen kann. * Der Kappenmuskel bewirkt in seiner Gesammtheit eine Anziehung des Schulterblattes an die Wirbelsäule. Rein ist diese Wirkung nur bei den mittleren, zur Schulterhöhe ziehen¬ den Faserbündeln. Die oberen, am äusseren Schlüsselbein¬ ende ansetzenden Bündel, heben dieses um 4,8 cm, die unteren, an der Schultergräte ansetzenden Bündel senken es um 0,5 cm. Diese letzteren Bündel sind es auch, die das Schulterblatt nach aussen drehen. Der kleine Brustmuskel hilft bei der Senkung des Schulter¬ gürtels durch Zug am Rabenschnabelfortsatz. Der Rautenmuskel und der Schulterblattwinkel-Heber ziehen den unteren Schulterblattwinkel nach innen und oben. Die Pfanne des Schultergelenks wird dabei nicht gedreht, da zwar der Rautenmuskel sie nach hinten ziehen will, der Heber aber in Verbindung mit dem Zacken des grossen Sägemuskels sie vorwärts zieht. Die unteren Zacken des grossen Sägemuskels ziehen den unteren Schulterblattwinkel nach aussen und vorn. Wirkt der ganze Sägemuskel, so wird das Schulterblatt erst vorwärts gezogen und dann mit dem unteren Winkel nach aussen ge¬ dreht. Gleichzeitig wird das Schulterblatt an den Brustkorb gepresst. Der Deltamuskel ist mehrfächerig gebaut, so zwar, dass sein hinterer Theil den wagerecht stehenden Arm eher senken würde. Der vordere Theil hebt diese Wirkung auf, kann aber erst wirksam in Thätigkeit treten, wenn das Schulterblatt bereits nach vorn gezogen ist, nämlich durch den SägemuskeL Fällt nun der Sägemuskel aus, so kann man sehen, dass zunächst der grosse Brustmuskel zur Hilfe herangezogen wird, welcher mit dem Arm auch das Schulterblatt nach vom zieht. Der kleine Brustmuskel wirkt in gleichem Sinne. Nun werden weiter der zweiköpfige Armmuskel, der obere Abschnitt des grossen Brustmuskels und der Coracobraohialis zur Hebung nach vorn verwendet — sie sind im Stande, hier die Aussen- pendelung durch den Sägemuskel zu ersetzen. Bei seitlicher Erhebung wird zum Ersatz des fehlenden Sägenmuskels neben unteren Fasern des Kappenmuskels be¬ sonders der Ober- und Untergrätenmuskel herangezogen. Im vorgestellten Falle fällt nun die seitliche Hebung sehr mangel¬ haft aus, weil durch die Verletzung die Grätenmuskeln gleich¬ falls geschwächt sind. (Parese des Nervus subscapularis.) Es ergeben sich die Schlussätze: 1. Bei der Hebung des Armes nach vom kann die fehlende Serratuswirkung — Vorziehen der Schulter, Aussendrehung des unteren Schulterblattwinkels — nahezu vollständig er¬ setzt werden. a) Durch den grossen und kleinen Brustmuskel. b) Durch starkes Eingreifen der gleichzeitig supinirenden (nach aussen drehenden) scapulohumeralen Muskeln (Supra- und Infraspinatus; die armerhebende Wirkung des Supscapu- laris kann nur mit benutzt werden, wenn seiner innen drehen¬ den, pronirenden, Wirkung durch die Aussendrehung das Gegengewicht gehalten wird). Erst wenn diese die Erhebung bis etwa über die Horizontale bewirkt haben, hilft die hintere spinale Deltaportion noch etwas bei der weiteren Erhebung mit Friedrich Meyer, Landesrath der Provinz Brandenburg: Die Mitwirkung der Aerzte auf dem Gebiete des In¬ valid enversicherungsgesetzes. Der Vortr. setzt in klarer, bündiger Form auseinander was die Aerzte wissen und berücksichtigen müssen, um be der Durchführung des Invalidenversicherungsgesetzes wirksam mithelfen zu können. Der .erste Theil seiner Auseinandersetzungen betraf die Voraussetzungen für den Anspruch auf Invalidenrente. Unter ihnen ist die erste, welche regelmässig vom Arzte bestätigt sein muss, die während mehr als einem halben Jahr ununter¬ brochen andauernde Erwerbsunfähigkeit. Der Arzt muss aber auch wissen, dass das Gesetz dem Rentenanwärter eine Wartezeit auferlegt. Welche Einzelheiten bei Berechnung der letzteren berücksichtigt werden, muss im Original oder in einer Textausgabe des Gesetzes naohgesehen werden, da die Wieder¬ gabe aller dieser Punkte im Rahmen eines Referates nicht wohl angeht. Im zweiten Abschnitt des Vortrages wird der Begriff der Erwerbsunfähigkeit näher erörtert. Bekanntlich ist Erwerbs¬ unfähigkeit im Sinne des Invalidengesetzes eine Herabsetzung der Erwerbsfähigkeit auf weniger als ein Drittel. Vortr. hält es für besonders wichtig, dass die Aerzte nicht blos den ob¬ jektiven Befund schildern, sondern auch nach eigenem Ermessen eine Schätzung der Erwerbsfäbigkeit vornehmen. Wir halten es nicht für überflüssig, einen Theil dieser Ausführungen wörtlich wiederzugeben. „Man darf nicht einwenden, dass es nicht Sache der Aerzte sei, und sie auch dazu ausser Stande seien, ein derartiges Ur- theil abzugeben. Ich halte dem nur das Eine entgegen: Die Dezernenten der Landesversicherungsanstalten müssen doch auch bei ihren Entscheidungen ein solches Urtheil sich bilden, und man kann doch auch bei ihnen nicht voraussetzen, dass Digitized by Google 15. November 1900. Aerstllohe Sachverständigen-Zeitung. 463 sie mit den Verhältnissen aller verschiedenen Thätigkeiten, welche die Millionen der beschäftigten Versicherten ausüben, vertranter sind, als die doch ebenfalls im Leben stehenden Aerzte. Würden die Aerste eine Mitwirkung in diesem Sinne ab¬ lehnen, dann fürchte ich, werden die Versicherungsanstalten von der freien Aerztewahl, die bisher noch ziemlioh allgemein gilt, Abstand nehmen und zur Wahl von Vertrauensärzten, bei denen sich wieder Spezialitäten herausbilden würden, schreiten müssen. Meines unvorgreiflichen Dafürhaltens würde das dem An¬ sehen des Aerztestandes nicht förderlich und für ihre Weiter¬ bildung und Vervollkommnung im Allgemeinen nicht erspriess- lich sein“. Redner streift ferner die den Lesern unserer Zeitschrift aus früheren Referaten bekannten Beziehuogen zwischen Inva- liditäts- und Unfallversicherung und geht ausführlicher auf die Mitwirkung der Aerzte bei der Vorbeugung des Invalide- werdeus durch geeignete Heilmassregeln ein. Er warnt davor, jemals den klar ausgesprochenen Zweck der Unterbringung in Heilstätten aus den Augen zu lassen. Der Arzt, der ungeeig¬ nete Elemente in die Heilstätten verweist, trägt dazu bei, die Erfolge der Heilstättenbehandlung in einem ungünstigen Lichte erscheinen zu lassen und die ungeeigneten Kranken nehmen den wirklich Aufnahmebedürftigen den Platz weg. Eine ganze Reihe einzelner Punkte des Vortrags betrifft die Auswahl der für Heilversuche vorzuschlagenden Kranken, der zu empfehlenden Krankenanstalten, die Dauer des Heil¬ verfahrens, die Terminbestimmung für den Eintritt der Erwerbs¬ unfähigkeit, die Genauigkeit der Untersuchung, die Bedingungen für eine etwaige Rentenentziehung u. s. w. Sehr wichtig sind wieder einige Winke über die Berücksichtigung der verschie¬ denen Lebensalter. Bei alten Leuten kann man trotz unzu¬ reichenden objektiven Befundes eher einmal Erwerbsunfähig¬ keit annehmen, bei jüngeren muss man, besonders wenn sie angeblich an Rheumatismus leiden oder neustrasthenische oder hysterische Beschwerden haben, sehr auf der Hut sein und vor allen Dingen im Auge behalten, dass bei solchen Beschwerden im Allgemeinen nicht Müssiggang, sondern Arbeit hilft. Dr. J. Riedinger-Würzburg: Ueber Scoliosis trau¬ matica. (Dieser Vortrag ist als Referat von einem Spezialsachver¬ ständigen an anderer Stelle dieser Nummer behandelt.) (Schluss folgt) Ans der Jahresversammlung der British medical-Asso¬ ciation. Discussion über Meldepflicht bei Wochen¬ bettfieber. (The British med. Journ. 15. Sept) Bei Gelegenheit der Jahresversammlung der British medical Association wurde in der Sektion für Geburtshilfe und Gynä¬ kologie über das Puerperalfieber und über die Nothwendigkeit der polizeilichen Anmeldung bei dieser Erkrankung lebhaft dis- kutirt Um den Schluss vorweg zu nehmen, die Versammlung hat den Beschluss gefasst, der Vorgesetzten Behörde (to the Council) die allgemeine Meldepflicht bei Puerperalfieber als wünsohenswerth anzuempfehlen, so wie es bei anderen ln fektionskrankheiten wie Typhus, Scharlach etc. bereits Gesetz ist Von der ausführlichen Diskussion hebe ich nur einige nteressante Punkte hervor. Berry Hart meinte, dass die iMeldung von Puerperalfieber mit Schwierigkeit verknüpft sei, erstens weil es schwer ist, sich darüber zu einigen, was man unter Puerperalfieber zu verstehen hat, zweitens weil eine Statistik stets leicht zu Irrthümern fuhrt und drittens weil man dabei mit der Unwilligkeit der ausübenden Aerzte zu kämpfen hat. Als Puerperalfieber muss man wohl verschiedene Formen der Septicämie ansehen, verschieden durch ihren Erreger; und es ist die Frage, ob diejenigen Fälle, welche durch Gonococcus oder den Tetanusbacillus bedingt sind, nicht auch dazu zu rechnen seien. Immerhin erhält man durch die Meldung einen ungefähren Massstab für die Freqnenz dieser Erkrankung; durch die Meldung ist es auch möglich, gewissenlose Hebammen oder Pflegerinnen zu ermitteln und die Obrigkeit hat es in der Hand, die geeigneten Fälle solcher Erkrankungen dem Hospital zu überweisen. Es ist klar, dass mit der Meldung allein noch wenig gethan ist, sondern dass die grösste Aufgabe der Be¬ hörde zufällt; geeignete Pflegerinnen müssen dem Arzte zur Seite gestellt werden, die Hospitäler müssen sachgemäss aus¬ gestattet werden, Pflegerinnen undHebammen, welche in solchem Falle allein Hilfe leisten, müssen überwacht werden und ehe sie zu einer neuen Pflege übergehen, zu gründlicher und be¬ sonderer Desinfektion gezwungen werden. Nach den statisti¬ schen Angaben von Robert Boxall ist merkwürdiger Weise trotz Antisepsis und Asepsis in den letzten sieben Jahren in England ein Zurückgehen der Erkrankung kaum nachzuweisen gewesen, denn in London sind die Todesfälle durch Puerperalfieber von 21,5 nur auf 19,2 auf 10000 Entbindungen heruntergegangeu, in den Provinzen von 25,6 auf 24,1. Nach A. V. Macan ist die Ausbildung der Hebammen auf dem Lande bis jetzt sehr schlecht, so dass es geradezu selten sein soll, irgendwo daselbst eine richtig erzogene Hebamme zu finden. Der erste Schritt, um hier Hilfe zu schaffen, ist nach seiner Ansicht nicht die Meldung der Erkrankung, sondern eine gute Ausbildung von Arzt und Hebamme. John William Byers betont noch als be¬ sonders wichtig, die innere Untersuchung bei Schwangeren und Wöchnerinnen, wenn möglich, zu unterlassen und bei ihrer eventuellen Ausführung peinlichste Antisepsis anzuwenden. _ Franz Meyer-Berlin. Gerichtliche Entscheidungen. Aus dem Reichs-Versicherungsamt. Obergutachten, betreifend die traumatische Entstehung eines Krampfader¬ bruchs (Yarikecele). Auf Veranlassung des Reichs-Versicherungsamts zu Berlin wird über den Gesundheitszustand des Bergarbeiters Thomas U. aus Ch. folgendes Gutachten ausgestellt: Patient giebt an, nie krank gewesen zu sein; er hat als Soldat gedient Am 5. April 1898 war er in der Grube damit beschäftigt, Bauholz abzunehmen, das an Seilen in den Schacht herunter¬ gelassen wurde. Dabei wurde er von vier zusammengebun¬ denen Balken an den Bauoh und Hodensack gestossen, so dass er an der linken Seite des Hodensackes blutete. Er ging so¬ gleich ins Lazareth und hat dort bis Ende April gelegen Nach vierzehn Tagen war die Wunde verheilt. Seit dieser Zeit will U. bei jeder Arbeit krampfartige Schmerzen im Hodensack und der linken Seite des Bauches mit gleichzeitiger Anschwellung des Hodensackes haben. Auch beim Tragen eines Suspensoriums sollen sich diese Schmerzen bei schwerer Arbeit einstellen, während er leichte Arbeit mit einem Suspensorium verrichten kann. U. ist ein kräftiger, muskulöser Mann. Die inneren Organe sind bis auf einen leichten, gut kompensirten Herzklappen¬ fehler, der von keinerlei Bedeutung ist, gesund. Der Urin ist ohne krankhafte Bestandteile. Der linke Hoden hängt beim Stehen erheblich mehr her¬ unter als der rechte, ausserdem ist er kleiner als der rechte. Neben dem Hoden fühlt man ein Konvolut von gefüllten Blut¬ gefässen bis zum Kaliber eines kleinen Fingers. Es sind dies die den Samenstrang begleitenden Venen. Bei Hustenstössen Digitized by Google 464 Aerztlloho Saohverständlgen-Zeitung. No. 22. schwellen sie mehr an, im Liegen verschwindet ihre Füllung grossentheil8. Es handelt sich also um eine sogenannte Va- rikocele oder Krampfaderbruch. Die geringere Qrösse des linken Hodens dürfte wohl auf eine Ernährungsstörung durch Druck dieses Blutgefässkonvoluts zurückzuführen sein. Die Beschwerden, über die U. klagt, sind auf diese Va- rikocele zurückzuführen, denn anerkanntermassen können der¬ artige Beschwerden von diesen erweiterten Venen, die den mit sehr fein fühlenden Nerven ausgestatteten Samenstrang begleiten, ausgelöst werden. Andererseits können Beschwerden bei Krampfaderbruch — wie gleich hier zu bemerken — ganz fehlen. In unserem Fall handelt es sich nun um die Frage, ob eine derartige Varikocele traumatischen Ursprungs sein kann. Vom anatomischen Standpunkt aus erscheint dies nicht recht plausibel. Ein strikter Beweis dafür wäre nur dann erbracht, wenn der betreffende Patient direkt vor und daun bald nach dem Trauma einer gründlichen Untersuchung unterzogen worden wäre. Immerhin sind Fälle von akuter Entstehung einer Va¬ rikocele nach einem Trauma beschrieben und war die Mög¬ lichkeit auch von kompetenter Seite zugegeben. Ebenso hat das Reichs-Versicherungsamt durch eine Er¬ kenntnis vom 20. September 1887 auf Grund eines Gutachtens de* Königlichen Medizinalkollegiums zu Kassel die Möglich¬ keit einer traumatischen Entstehung der Varikocele anerkannt. In unserem Falle liegt die Sache so, dass eine Unter¬ suchung des Patienten bald nach dem Unfall, im April 1898, im KnappschaftBlazareth zu K. stattfand. Das diesbezügliche Gutachten des Herrn Dr. Sch. schliesst wohl einen damals be¬ stehenden Leistenbruch mit voller Sicherheit, das damalige Bestehen eines Krampfaderbruches nur mit Wahrscheinlichkeit aus, da ein diesbezüglicher Vermerk in der Krankengeschichte fehlte. Bei der nochmaligen Untersuchung am 15. April 18^9 konnte Herr Dr. Sch. einen Krampfaderbruch mittleren Grades feststellen. Zeitlich kann sich die Varikocele hiernach wohl im Anschluss an das Trauma entwickelt haben. Allerdings ist noch immer zu bedenken, dass ein einmaliger negativer Befund nicht die Abwesenheit einer Varikocele beweist, da der Füllungszustand der Varikocele zu verschiedenen Zeiten verschieden sein kann. Etwas verdächtig ist vielleicht auch, dass U. selbst bei seiner Entlassung aus dem Knappschafts- lazareth das Suspensorium verlangt hat. Es macht den Ein¬ druck, als ob er die Nützlichkeit eines solchen schon früher an sich erprobt hätte. Wenn wir demnach einen strikten Beweis für den Zusam¬ menhang zwischen Trauma und Entstehung des Krampfader¬ bruches in unserem Falle nicht erbringen können, so müssen wir doch diesen Zusammenhang als möglich ansehen. Es kann aber noch ein anderer Zusammenhang bestehen. Der Patient kann durch den Unfall auf sein Leiden aufmerk¬ sam gemacht werden; es spielen dann nervöse Störungen eine Rolle, die oft erst eintreten, wenn der Betreffende weiss, dass irgendwo eine Abnormität bei ihm besteht. Gerade an den Genitalien sind derartige von Haus aus harmlose, aber dadurch, dass ihr Besitzer fortwährend an sie zu denken gezwungen ist, schwere nervöse Störungen verur¬ sachende Affektionen gar nicht selten. In solchen Fällen muss man dem Unfall auch einen Einfluss zusprechen; er bedingt nicht das Leiden an sich, wohl aber die Störungen, welche die schon vorher vorhanden gewesene Affektion bedingt. Aus diesen Gründen bin ich in Uebereinstimmung mit Herrn Geheimrath von Mikulicz, welcher den Fall wiederholt mit mir zusammen untersucht hat, der Ansicht, dass das in Rede stehende Leiden des U. als Folge des am 5. April 1898 stattgehabten Unfalls anzusehen ist. Die Herabsetzung der Erwerbsfähigkeit schlage ich in Uebereinstimmung mit dem Fall H. und Entscheidung des Reichs - Versicherungsamts vom 20. September 1887 auf 20 Prozent an. Breslau, den 27. Juli 1899. Der Direktor der Königlichen chirurgischen Klinik. I. V. Dr. Henle, Oberarzt der Klinik. Mit vorliegendem Gutachten erkläre ich mich ganz ein¬ verstanden. v. Mikulicz. Das Rekursgericht hat auf Grund des vorstehenden Ober¬ gutachtens in Verbindung mit dem Ergebnisse der sonstigen Beweisaufnahme die Ueberzeugung erlangt, dass der Krampf¬ aderbruch (Varikocele) an der linken Seite des Hodensackes, woran der Kläger leidet, als eine Folge des Unfalls vom 5. April 1898 anzusehen ist, und deshalb unter Aufhebung der Vorentscheidungen dem Verletzten vom Beginn der vierzehnten Woche nach dem Unfall an eine Reute von 20 Prozent der Vollrente zuerkannt. Verbrennungen In der Trunkenheit erworben. Betriebeunfall liegt vor. Rek.-Entsch. v. 12. Dezember 1899. Der Schmiedegeselle Johann L. erlitt am 25. November 1899 auf der Zeche Amalia eine Verbrennung des rechten Armes, der Brust und des Rückens. Der Sektionsvorstand lehnte die Gewährung einer Unfallrente ab, weil L. die Verletzung nicht bei seiner Beschäftigung im Betriebe erlitten habe, sondern während des Schlafes, in welchen er in Folge Alkoholgenusses verfallen war; der Unfall stelle sich demnach nicht als ein entschädigungspflichtiger im Sinne des § 1 des Unfall¬ versicherungsgesetzes dar. Auf die Berufung hin hat das Schiedsgericht dem Kläger bis auf Weiteres die volle Rente zuerkannt. Hiergegen bat die Berufsgenossenschaft Rekurs eingelegt und zur Begründung angeführt, dass ein Arbeiter, der in Folge von Trunkenheit in einem Betriebsraume ein¬ schlafe, dadurch aus seiner Betriebsthätigkeit heraustrete, und dass eine Verletzung, die er sich in diesem Zustande während einer von ihm selbst veranlassten, nicht durch den Betrieb bedingten Unterbrechung der Betriebsthätigkeit zu¬ ziehe, nicht mit dem Betriebe in ursächlichem Zusammen¬ hänge stehe. Ermüdet von der Arbeit könne der Kläger nicht gewesen sein, da er die Schicht um 6 Uhr Abends be¬ gonnen und nur bis IIV 2 Uhr, also 572 Stunden, gearbeitet habe. Der Rekurs wurde zurückgewiesen. Gründe: Der ursächliche Zusammenhang mit dem Betriebe ist im vorliegenden Falle dadurch gegeben, dass der Kläger während der Arbeitszeit auf der Betriebsstätte unter Mitwirkung von Betriebseinriohtungen — dem Schmiedefeuer — verunglückt ist (zu vergleichen Rekursentscheidung 1741, Amtliche Nach¬ richten des R.-V.-A. 1899 S. 225.) Es mag richtig sein, dass Kläger, abgesehen von der naturgemässen Ermüdung, die eine 5728tündige Arbeitszeit mit sich bringt, hauptsächlich in Folge des übermässigen Schnapsgenusses schläfrig geworden ist, sich deshalb hingesetzt hat und ein¬ geschlafen ist, und dass er durch dies Verhalten seine Verletzung gewissermassen selbstverschuldet hat. Durch diesen Umstand wird aber die Entschädigungs¬ pflicht der beklagten Berufsgenossenschaft nicht ausgeschlossen, denn auch für die Folgen der durch Leichtsinn oder durch grobes Verschulden der Arbeiter herbeigeführten Betriebs¬ unfälle soll nach der Absicht des Gesetzgebers Entschädigung gewährt werden. Der Anspruch auf die letztere ist laut § 5 Absatz 7 des Unf.-Vers.-Ges. nur im Falle der vorsätzlichen Herbeiführung des Unfalles ausgeschlossen (zu vergleichen Handbuch für Unfallversicherung, Anmerkung 89 zu § 1). Digitized by LjOOQie 15. November 1900. Aerztliehe Sachverständigen-Zeitung. 465 Dass der Kläger, der sich offenbar neben dem Schmiedefeuer hinsetzte, um für kurze Zeit auszuruhen, etwa beabsichtigt hat, die Arbeit für längere Zeit zu unterbrechen, ist weder behauptet worden, noch nach der Lage der Sache anzunehmen. _ (Compass.) Nervöse Unfallfolgen. Entscheidung vom 27. Juni 1900. Der Arbeiter G. B. aus Neu-W. erhielt in Folge eines am 12. Dezember 1898 erlittenen Betriebsunfalls von der Brauerei- und Mälzerei - Berufsgenossenschaft seit dem 12. April 1899 eine Rente in Höhe von 25 pCt. der Rente für völlige Erwerbs¬ unfähigkeit. Durch Bescheid der Genossenschaft vom 14. Aug. 1899 wurde die Zahlung der Rente vom 1. September ab eingestellt, weil nach dem Gutachten des Sanitätsraths Dr. H. vom 10. August 1899 eine Erwerbsunfähigkeit nicht mehr vorliege. Auf die rechtzeitig erhobene Berufung ist im schieds¬ gerichtlichen Verfahren ein Gutachten des Bezirksphysikus Sanitätsraths Dr. L. vom 28. November v. J. eingeholt. Nach diesem Gutachten ist eine Besserung in dem Zustande des Klägers insofern anzunehmen, als bei diesem jetzt Arbeits¬ gewöhnung eingetreten sein muss. Der Gutachter hält den Kläger seit dem 1. September 1899 für nicht mehr erwerbs¬ beschränkt, erklärt aber, dass er dieses Gutachten einschränke, wenn thatsächlich festgestellt werden würde, dass der Kläger gegenwärtig aus dem Grunde weniger Lohn als vor dem Un¬ fall erziele, weü er Arbeiten unter besonders erschwerenden Umständen nicht aushalten könne. Das Schiedsgericht hat dieser Einschränkung des Gutachtens trotz der Auskunft der Arbeitgeberin vom 8. Dezember 1899 keine Folge ge¬ geben, weil die Höhe der etwa zu gewährenden Rente bei Aufstellung eines derartigen Grundsatzes lediglich von dem guten Willen des Verletzten abhängig sein würde. Das Ge¬ richt hat vielmehr auf Grund des persönlichen Erscheinens des Klägers im Termin und der übereinstimmenden Gutachten beider Aerzte, wonach bei dem Kläger objektive, erwerbs¬ beschränkende Wahrnehmungen nicht zu machen sind, die Ueberzeugung gewonnen, dass der Kläger vollkommen er¬ werbsfähig ist. Die Berufsgenossenschaft war somit zur Ein¬ stellung der Rechte berechtigt. Gegen diese Entscheidung legte B. Rekurs mit dem Anträge ein, ihm die frühere Rente wieder zuzubilligeu. Das Reichs-Versicherungsamt änderte darauf die Vorentscheidung aus folgenden Erwägungen ab: Das Rekursgericht hat auf Grund der ärztlichen Gutachten des Sanitätsraths Dr. H. vom 10. August 1899 und des Sani¬ tätsraths Dr. L. vom 28. November 1899 zwar für festgestellt erachtet, dass seit der früheren Rentenfestsetzung in dem mit dem Unfall im Zusammenhänge stehenden Zustande des Klägers eine wesentliche Besserung eingetreten ist Es kann jedoch nach dem Inhalt der Akten kein Zweifel darüber be¬ stehen, dass immer noch nervöse Störungen vorhanden sind, insbesondere die Nachröthung der Haut bei Streichung der¬ selben, die seinerzeit für die Gewährung einer Rente an den Kläger wesentlich mitbestimmend war. Die Klagen des Ver¬ letzten, dass er bei besonders schweren Arbeiten Schwindel und Kopfschmerzen habe, erscheine deshalb glaubhaft. Mit Rücksicht hierauf hat das Rekursgericht die völlige Einstellung der dem Kläger bisher gewährten Rente nicht billigen können, vielmehr ist für angemessen erachtet worden, ihm noch eine Rente in Höhe von 15 pCt. zu belassen. M. Grad der Erwerbevermlndening bei Verlust zweier Glieder des Mittelfingers der reohten Hand. Rek. Entsch. v. 17. März 1900. Am 14. April 1899 wurde dem Schlepper Aloysius E. auf Grube Dudweiler der rechte Mittelfinger zertrümmert, wodurch er die beiden vorderen Glieder desselben einbüsste. Nach dem Gutachten des Lazaretharztes Dr. B. vom 14. August 1899 ist der Fingerstumpf gut mit Weiohtheüen bedeckt, die Narbe über demselben reizlos und nicht druckempfindlich; das Grund¬ glied ist frei beweglich, auch sonst liegen keinerlei auf die Erwerbsfähigkeit des Verletzten in störender Weise ein¬ wirkende Folgen der Verletzung vor. Der Sektionsvorstand lehnte daher den Anspruch auf Unfallrente ab. Die hiergegen erhobene Berufung wurde vom Schiedsgericht verworfen, weü E. sowohl nach der Ansicht des Dr. B. als auch des Gerichts in seiner Erwerbsfähigkeit nicht gehindert sei. Das R.-V.-A. konnte sich der Auffassung der Vorinstanzen, dass ein Arbeiter durch den Verlust zweier Glieder des Mittelfingers der rechten Hand in seiner Erwerbsfähigkeit nicht gehindert werde, nicht anschliessen, es hat vielmehr den Kläger für um 10 Prozent in der Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt angesehen. (Compass.) Zehn Prozent für zwei Fingerglieder. Rek.-Entsch. v. 30. April 1900. Am 7. Februar 1899 erlitt der Fleischerlehrling M. H. einen Unfall dadurch, dass er am Wolfe mit Wurstfüllen be¬ schäftigt war, mit der rechten Hand in Folge deren Fettigkeit abglitt und in den Wolf gerieth, wodurch ein Finger gequetscht wurde. Zeugen des Unfalls konnte H. nicht angeben. Nach¬ dem H. einige Zeit im Krankenhause zu L. behandelt worden war, erstattete der Anstaltsarzt Dr. St. ein Gutachten, in wel¬ chem u. A. Folgendes ausgeführt wurde: H. seien durch eine Fleischmaschine die zwei letzten Glieder des rechten Mittel¬ fingers zerquetscht worden; nach Auslösung der Glieder sei eine sehr gute Verheilung eingetreten und eine nach aüen Seiten bewegliche, an darunter liegenden Knochen nicht fest¬ haftende Narbe zurückgeblieben. H. klage nicht über dauernde Schmerzen, sondern nur darüber, dass er ein Kalb oder einen Hammel nicht mehr abladen könne, weil ihm dies an dem stehengebliebenen Fingerstumpf zu starke Schmerzen verursache. Die Angabe scheine begründet, weil er die Narbe bei dieser Thätigkeit fortdauernd stosse und dadurch reize, was wohl zu Schmerzen Veranlassung geben könne. Im Uebrigen seien Temperaturunterschiede und ein Wechsel von Nässe und Trockenheit ohne Ein¬ fluss auf die Narbe. Eine Veränderung im Verhalten der Narbe lasse sich auch in Zukunft nicht mehr erwarten. Die Fleischerei - Berufsgenossenschaft lehnte es darauf ab, dem Verletzten eine Rente zu gewähren, da Unfallfolgen nicht mehr in dem Grade vorhanden seien, dass die Erwerbsfähig¬ keit beschränkt erscheine. Gegen diesen Bescheid legte H. Berufung beim Schiedsgericht ein, welches indessen die Be¬ rufung des Verletzten als unbegründet abwies, indem ausge- führt wurde, der Verlust der beiden Glieder möge für H. eine Unbequemlichkeit bilden, doch sei nicht anzunehmen, dass er wegen dieses Verlustes in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt sei. Diese Entscheidung focht H. durch Rekurs beim Reichs- Versicherungsamt an und verlangte eine Rente in Höhe von 25 pCt.; er machte begründend geltend, bei Berührung em¬ pfinde er Schmerzen im Fingerstumpf, er könne Ochsen nicht schlagen und Vieh nicht führen. In Folge eingetretener Un¬ geschicklichkeit habe er sich jetzt schon wieder eine Hand¬ verletzung zugezogen. Das Reichs-Versicherungsamt erachtete auch den Rekurs des Verletzten für begründet und sprach ihm unter Vernichtung der Vorentscheidung eine Rente von 10 pCt. zu. M. Digitized by Google 466 Aerztliehe Sachverständigen-Zeitung. No. 22. Die Verunstaltung der Hand allein glebt keinen Anspruch auf eine Entschädigung. Rek.-Entsch. v. 13. Dezerober 1899. Am 6. Oktober 1898 erlitt der Hauer Karl J. aus Heiligen¬ wald auf der Grube Reden einen Bruch des rechten Armes, sowie einen Bruch des Mittel- und Ringfingers der linken Hand und erhielt von der Berufsgenossenschaft für die Folgen des Unfalles eine Rente von 30 Proz. Mit Ende Juni 1899 stellte der Sektionsvorstand die Rente ein. Auf die Berufung des Verletzten hin hat das Schiedsgericht eine Rente von 10 Proz. weitergewährt. Der hiergegen von der Berufs¬ genossenschaft erhobene Rekurs hatte Erfolg, indem der Sektionsbescheid wieder hergestellt wurde. Gründe: Das R.-V.-A. kann, im Gegensatz zum Schiedsgericht, eine Beschränkung des J. in seiner Erwerbsfähigkeit nicht mehr für gegeben erachten. Die Aerztekommission hat in ihrem Gutachten vom 8. Juni 1899 festgestellt, dass die Folgen des Unfalls bis auf den Verlust des Endgliedes und eines Drittels des Mittelgliedes am linken Mittelfinger und der Hälfte des Endgliedes am Ringfinger beseitigt sind. Da der Aerzte¬ kommission auch der Sanitätsrath Dr. F. angehörte, der den J. früher untersucht hatte, so hat das R.-V.-A. gegen die Zuverlässigkeit dieser Feststellung kein Bedenken, zumal sie von J. nicht angefochten und auch vom Schiedsgericht nicht in Zweifel gezogen ist. Die Streitfrage ist lediglich, ob die geringen Substanzverluste am Mittel- und Ringfinger der linken Hand eine Beschränkung der Erwerbsfahigkeit zur Folge haben. Das R-V.-A. hat sich hier der Auffassung der Berufsgenossensohaft anschliessen müssen, weil die Erfahrung gelehrt hat, dass solche Verluste, namentlich wenn sie die linke Hand und die weniger wichtigen mittleren Finger be¬ treffen, die Arbeitsfähigkeit der Hand nicht oder doch nur ganz unwesentlich beeinträchtigen und keine Einbusse am Arbeitsverdienst verursachen. Hierauf kommt es aber nach dem Gesetze an; die Verunstaltung der Hand allein giebt noch keinen Anspruch auf eine Entschädigung. Da seit dem Unfall bis zur Einstellung der Rente etwa ein halbes Jahr verflossen ist, J. also auch Zeit gehabt hat, sich an den Zu¬ stand der Hand zu gewöhnen, und da er nach der Auskunft der Grubenverwaltung vom 22. Juli 1899 seine Arbeit voll¬ ständig verrichtet, so liegt zur Weitergewährung einer Rente kein Grund vor. (Compass.) -- Bücherbesprechungen und Anzeigen. Peiper-Greifswald, Prof. E., Fliegenlarven als gelegent¬ liche Parasiten des Menschen. Louis Markus. Berlin 1900. ln dem kleinen Heft ist alles zusammengefasst, was über dieses bisher wenig beachtete Kapitel veröffentlicht wurde, eine grössere Anzahl von Abbildungen sollen gegebenen Falles die Artbestimmung der Parasiten erleichtern. Neben manchem ungelösten Problem bietet der Verf. 2 schärfer begrenzte Typen von Myiasis (jjLüta=Fliege), von denen die eine durch Oesteriden hervorgerufene Erkrankung einen harmlosen Verlauf nimmt. Genaue Studien an Rindern geben über die Entwickelung der einzeln den Körper des Wirths durchwandernden Larven Auf¬ schluss, welche 9 Monate lang zu ihrer Entwickelung gebrauchen, bis sie als sogen. Dasselbeule auf der Haut zur Beobachtung ge¬ langen. Bemerkenswerth ist der Umstand, dass diese Larven auf ihrer Wanderung auch gewohnheitsmässig die Rücken¬ markshöhle zu erreichen scheinen, ohne dadurch bisher Er¬ scheinungen von Seiten des Centralnervensystems gezeitigt zu haben. Wesentlich gefährlicher ist die zweite, durch Musciden hervorgerufene Form von Myiasis, welche in 50—64 Prozent tätlich endet Die Larven werden in grosser Anzahl auf eiter nde Wunden oder mit Vorliebe in Nase oder Ohr von Menschen abgesetzt, welche an chronischen Entzündungen dieser Organe leiden (Ozäna). In wenigen Tagen ist die Entwicke¬ lung dieser ungemein gefrässigen Parasiten vollendet, nach¬ dem sie in unheimlich kurzer Zeit unglaubliche Zerstörungen angerichtet haben, selbst vor Knochen machen sie nicht Halt; nur energisches, operatives Eingreifen kann bei rechtzeitiger Diagnose retten, sonst ist Verjauchung des erkrankten Ge¬ webes und Tod durch Sepsis fast unvermeidlich. Interessante historische Mittheilungen lassen erkennen, wie sehr diese Er¬ krankung von einem niederen Kulturzustand und Mangel an Reinlichkeit abhängt. Weniger kommt dies in Frage, wenn die Parasiten statt durch die Haut einzudringen in den Ver- dauungstraktus gelangen. Die interessanten Befunde, in welchen alle möglichen Insektenlarven Vorkommen, haben eine eminent praktische Bedeutung, da der Infektiousmodus durch Genuss schlecht verwahrter Nahrungsmittel und vor allem durch Trinken von Bachwasser ein alltägliches Vorkommniss ist. Verf. glaubt eine grosse Zahl von Kolikanfällen darauf zurü er¬ führen zu müssen und verlangt eine Verbesserung unserer Diagnostik durch genauere Inspektion der Faeces. Trotz ge¬ legentlich ernster Erkrankungen ist die Prognose bei innerem Parasitismus eine günstige. MarcinowskL Brennecke, Kritische Bemerkungen zu den Verhand¬ lungen der XVI. Hauptversammlung des Preussi- schen Medizinalbeamtenvereins über die Reform des Hebammenwesens. Halle a. S. Verlag von Carl Marhold. 1900. Preis M. 1.20. Der bekannte Vorkämpfer auf dem Gebiete der Hebammen¬ reform wendet sich in der vorliegenden Brochüre gegen die von Langerhans in seinem Referat auf der XVI. Hauptversammlung des Medizinalbeamten Vereins über die Vor- und Ausbildung der Heb¬ ammen aufgestellte These „Gute Volksschulbildung ist für dieHeb- ammenschülerin ausieichend, aber auch erforderlich“, indem er seine Forderungen dahin zusammenfasst, dass eine gesetzliche Neuordnung des Hebammenwesens dringend geboten sei und dasB es im Wesentlichen gilt, Verhältnisse zu schaffen, die geeignet sind, dem Hebammenberuf reifere, moralisch und intellek¬ tuell höherstehende Kräfte als bisher zuzuführen. Zu diesem Zweck erachtet es Brennecke und die von der Aerzte- kammer der Provinz Sachsen zur Durcharbeitung der Vorlage niedergesetzte Kommission für erforderlich, dass die geistige Qualifikation zur Theilnahme am Hebammenlehrkursus durch erfolgreiche Absolvirung einer höheren oder mittleren Töchter¬ schule für erwiesen gelten soll, während die Zulassung von Personen mit minderwerthiger Schulbildung von dem Ergebniss einer sorgfältigen und strengen Vorprüfung, die vor dem Rektor einer mittleren Töchterschule in Gegenwart eines Kreisphysikus und eines Hebammenschuldirektors abzulegen ist, abhängig gemacht werden soll. Dass eine Reform in diesem Sinne bisher nicht er¬ folgt sei, daran trägt nach Brennecke ausser der Geldfrage, die vor einer durchgreifenden und dem dringenden Bedürfniss gerecht werdenden Regelung des Hebammenwesens zurück¬ schrecken lässt, der ärztliche Stand einen Theil der Schuld, insofern das Streben der Aerzte nach den im Westen ge¬ machten Erfahrungen dahin zu gehen scheint, die Hebammen aus den wohlhabenderen Bevölkerungskreisen zu verdrängen und sich selbst an ihre Stelle zu setzen, während unwissenden Wärterinnen die Vertretung übertragen wird. Den hieraus entstehenden Uebelständen zu begegnen, würde zunächst zu, verlangen sein, dass ebenso wenig wie die Hebamme der Ge¬ burtshelfer eine Kreissende verlassen darf, ehe nicht jede Gefahr beseitigt ist, d. h. die Geburt beendet ist. (Ref.) Darüber hinaus wird man Brennecke darin beistimmen müssen, dass Digitized by Google 16. November 1900. Aerztllche Sachverständigen-Zeitnng. 467 wie diese Vorkommnisse beweisen, in grossen Kreisen der Bevölkerung sieh das Bedürfnis nach höher gebildeten Ele¬ menten für den Hebammenberuf geltend macht. Wenn wir es dahingestellt sein lassen, ob eine Abhülfe nach dieser Richtung nur durch ein gesetzliches Einschreiten zu erreichen sein oder ob die Macht der Verhältnisse hier, wenn auch nur langsam, Wandel schaffen (wird, jedenfalls wird^bis zur Er¬ reichung dieses Ziels eine bessere Auswahl der Hebammen¬ schülerinnen bei möglicht gründlicher Ausbildung und vor Allem eine Hebung der sozialen and wirtschaftlichen Stellung der Hebammen gefordert werden müssen. Roth (Potsdam.) Sechzehnter Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiet der Hygiene, begründet von weiland Professor J. Uffelmann. Jahrgang 1898, heraus¬ gegeben von A. Pfeiffer. Supplement zur Deutschen Viertel¬ jahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege. Bd. 31. Braun¬ schweig, Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn. 1900. Preis 9 Mark. Der bekannte, für den Hygieniker unentbehrliche, zuerst von Uffelmann, dann von Wehmer bearbeitete Jahresbericht hat, wie der Titel lehrt, inzwischen den Herausgeber gewech¬ selt. Bei einer Durchsicht des vorliegenden Jahresberichts überzeugen wir uns, dass diese Aenderung nur eine öusser- liche und dass der Geist der Gründlichkeit derselbe geblieben ist, wie bei den vorangegangenen Jahresberichten; auch ist die bewährte Eintheilung der früheren Berichte beibehalten. Besondere Anerkennung verdient es, dass trotz der von Jahr zu Jahr mehr und mehr anschwellenden Hygiene-Literatur der Umfang des vorliegenden Jahresberichts hinter dem des Jahres 1897 um IV 2 Bogen zurückgeblieben ist. Dies war nur möglich, wenn die Uebersicht nach Möglichkeit auf die wichtigsten Literatur-Erscheinungen auf dem weiten Gebiet der Hygiene beschränkt wurde. Mit dieser Einschränkung ist die Uebersicht trotz der gebotenen Kürze eine durchaus erschöpfende, wie eine Durchsicht der einzelnen Kapitel erkennen lässt. Mit dem Herausgeber haben die bewährten früheren Mitarbeiter — neu ist nur der Stadtbaurath a. D. Brix an Stelle des Professor Büsing eingetreten — dazu beigetragen, dass das reichhaltige Material in übersichtlicher Form zur Darstellung gebracht und dass die Berichterstattung durchweg eine einheitliche ge¬ blieben ist. Hiernach steht zu erwarten, dass, wie die vorausgegan¬ genen, auch der vorliegende Jahresbericht sich als willkom¬ mener und unentbehrlicher Führer auf dem weiten Gebiet der Hygiene-Literatur erweisen wird. Hoffentlich gelingt es dem sachgemässen Zusammenarbeiten aller Betheiligten, zukünftig ein früheres Erscheinen des Jahresberichts zu ermöglichen. __ Roth (Potsdam). Tagesgeschichte. Eine Lücke im Strafgesetzbuch. Ueber eine Massenabgabe von Morphium berichtet der Intern. Pharm. Gen.-Anz. folgendes: Ein Drogist F. in G. hatte an zwei junge Mädohen daselbst grosse Mengen Morphium abgegeben, wofür er angeblich im Ganzen 800 Mark gefordert hat. Als die Mädchen zur Entziehung in eine Heilanstalt ge¬ schickt wurden, sandte er ihnen auf Wunsch das Gift anch dorthin und wünschte „viel Glück zur Kur“. Wegen fahrläs¬ siger Körperverletzung und Uebertretung des § 367 III St.-G.- B. (Wer ohne polizeiliche Erlaubnis Arzneimittel oder Gifte verkauft u. 8. w.) wurde er mit 400 Mark Geldstrafe belegt. Im Gefühl seiner Unschuld legte er Revision ein, die aber vom Reichsgericht verworfen wurde. Später hat sich dann heraus- gestellt, dass der betr. Herr auch sonst mit der Gesundheit seiner Kunden allerlei gefährliche Experimente machte: Er fertigte Rezepte, noch dazu unter Verwendung gefährlicher Stoffe, verwahrte in einem Schrank Giftweizen neben Bonbons, etc. Schliesslich wurde ihm vom Bezirks-Ausschuss auf Antrag der Polizeiverwaltung der Handel mit Drogen und chemischen Präparaten, die zu Heilzwecken dienen, untersagt. Das Ober¬ verwaltungsgericht hat dies Erkenntniss bestätigt. Wir erzählen den Fall nicht als Kuriosum, sondern weil er von grundsätzlicher Bedeutung ist: Ein Mensch, der die Bedeutung der Gifte kennt, kennen muss, unterstützt aus schnöder Geldgier die krankhaften Begierden morphiumsüchtiger Mäd¬ chen, er verhindert selbst die angestrebte Heilung durch heim¬ liche Giftsendungen und spielt auch noch in andererWeise frevel¬ haft mit dem Leben seiner Mitmenschen. Wenn die Morphium¬ abgabe unentdeckt bleibt, sind 800 Mark der Lohn — und wenns entdeckt wird, muss der aus Gewinnsucht fahrlässige Vergifter 400 Mark Geldstrafe zahlen! Ein einfaches Rechenexempel für den, der in Versuchung ist, es Herrn F. in G. gleichzuthun! Gewiss ist ja durch die Entziehung der Konzession nachträg¬ lich die Geldstrafe sehr verschärft worden, aber der geriebene Händler wird es fertig bringen, sich auch dafür schadlos zu halten. Wenn es nun in einem so krassen Falle, bei wissentlicher Gesundheitsbeschädigung, nach deu bisherigen Gesetzen nicht angeht, den Tbäter anders als an seinem Vermögen zu strafen, so muss eine Unvollkommenheit des Strafgesetzes bestehen. Dem Wortlaut nach mag der Richter in solchem Thun nur eine „fahrlässige Körperverletzung“ finden dürfen, der That nach liegt ein viel schwereres Verbrechen vor, für das wir zwar keinen Ausdruck im Strafgesetzbuch, wohl aber eine Parallele im Nahrungsmittelgesetz finden: Wer wissentlich Nahrungs- oder Genussmittel, deren Genuss geeignet ist, die Ge¬ sundheit zu schädigen, feilhält oder verkauft u. s. w., wird unweigerlich mit Gefängniss, unter Umständen ausserdem mit Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte bestraft. Ja noch weiter: Ist durch die Handlung eine schwere Körperverletzung oder der Tod eines Menschen verursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe bis zu 5 Jahren ein (Nahrungs¬ mittelgesetz § 12). Wenn also ein Fleischer wissentlich trichinöses Fleisch verkauft, durch dessen Genuss ein Mensch in Sieohthum ver¬ fällt (schwere Körperverletzung!), so kommt er ins Zuchthaus. Ist der Drogist, der durch unerlaubte Abgabe von Morphium eine in ernsten Fällen sicherlich als Sieohthum zu bezeichnende Krankheit bei seinen verblendeten Kunden wissentlich her¬ vorruft, ja sogar die Heilung der Krankheit hinterlistig zu verhindern bestrebt ist, besser als jener Fleischer? Nicht im Geringsten. Er ist schlimmer, denn jener kann sich wenigstens noch einreden, die Leute werden das Fleisch kochen und da¬ durch die Trichinen töten, dieser aber weise genau, dass die Gesundheitsbeschädigung eintreten wird. Was den gewissenlosen Nahrungsmittelhändlern recht ist, sollte den gewissenlosen Arzneimittelhändlern billig sein. Dann wäre die Lücke im Strafgesetz, die wir meinen, ausgefüllt. Die neuen Schiedsgerichte. In der Novelle zu den Unfallversioherungsgesetzen vom 30. Juni 1900 wird der Zeitpunkt, von welchem ab die Schieds¬ gerichte für Arbeiterversicherung an die Stelle der bisherigen nach Berufsgenossenschaften errichteten Schieds¬ gerichte zur Entscheidung von Streitigkeiten aus der Unfall¬ versicherung treten, mit Zustimmung des Bundesraths durch kaiserliche Verordnung bestimmt. Die Bundesregierungen sind im Juli ersucht worden, die Vorbereitungen so zu treffen, dass die Schiedsgerichte für Arbeiterversicherung am 1. Janur 1901 Digitized by Google 468 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 22. inThätigkeit treten können. Dem Bundesrath ist jetzt der Entwurf einer entsprechenden Verordnung zugegangen. Voss. Ztg. Centralstelle für Untersuchungen über Wasserversorgung und Abfallbeseitigung. Nachdem von Seiten verschiedener Privater und Institute einzelne Berichte und Gutachten über die obengenannten Gegenstände durch die Medizinalabtheilung des Kultusministe¬ riums eingefordert worden sind, hat sich die Zweckmässigkeit einer festen staatlichen Einrichtung für Untersuchungen über Wasserversorgung und Abfallbeseitigung herausgestellt. Die Mittel für solch ein Institut sollen nach Meldungen der Tages¬ blätter schon in den nächsten Medizinaletat eingestellt werden. Die Anstalt soll die betr. Anlagen nicht nur prüfen, sondern auch überwachen, in den einschlägigen Fragen Rath ertheilen und Vorschläge für Verbesserung der bisher gütigen Methoden auBarbeiten. An ihr werden Aerzte, Chemiker, Techniker und Botaniker thätig sein. Die Pest. Während der Glasgower Pestherd zu keiner weiteren Aus¬ breitung der Krankheit in England geführt hat, ist am Ende des vorigen Monats ein neuer, glücklicher Weise sofort er¬ kannter Fall auf einem in London eingelaufenen Schiffe vor¬ gekommen. Auch diesen gelang es isolirt zu erhalten. Am 27. Oktober kam ferner in Bremerhafen ein pestkranker See¬ mann an. Er starb am 5. November in der Isolirbaracke. Weitere Erkrankungen sind nicht gemeldet Die neue Promotionsordnung. Die versprochene Vereinbarung zwischen den Bundesstaaten hinsichtlich der Erlangung des Doktorgrades ist nunmehr ge¬ troffen. Die neue Promotionsordnung liegt uns vor. Sie bietet manches, was auf preussischen Universitäten schon lange üblich war, vor allem die Bestimmung, dass der Doktorgrad nur auf Grund einer durch den Druck veröffent¬ lichten Dissertation, und in der Regel nur nach vollendeter Staatsprüfung erworben werden kann, sodass ein Missbrauch des Doktortitels verhütet ist. Neu dagegen ist die Frage des Doktor-Examens geordnet. Dasselbe soll für die Ausnahmefälle, in denen der Kandidat noch nicht die Staatsprüfung abgelegt hat — solche sind bei einstimmigem Beschluss der Fakultät, Genehmigung der Auf¬ sichtsbehörde und Beibringung gewichtiger Gründe zulässig — ein wahres »Rigorosum“, bei den normalen Doktoranden nur ein offenbar mehr gemüthliches »Colloquium" sein. Das Colloquium wird vom Dekan und zwei Mitgliedern der Fakultät abgehalten, beschränkt sich auf je eine Viertelstunde bei jedem Examinator, und hat mehr die wissenschaftliche als die praktische Medizin zum Gegenstand. Das Rigorosum wird von 7 Professoren abgehalten und umfasst eine praktische Prüfung in innerer Medizin, Chirurgie und Frauenheilkunde— Geburtshilfe, eine eingehende theoretische in normaler und pathologischer Anatomie, Physiologie und Hygiene — ein Staatsexamen in nuce. Die glanzvollen Censuren werden durch die Neuordnung wesentlich eingeschränkt. »Gut* (cum laude) oder „sehr gut“ (magna cum laude) darf nur auf Grund besonders tüchtiger Dissertationen ertheüt werden. Für die Ausnahme-Candidaten ist selbst das einfache »bestanden“ (rite) daran gebunden, dass sie s / 4 der Stimmenzahl, darunter die der Praktiker unter den Examinatoren, für sich haben. »Summa cum laude, »aus¬ gezeichnet“ giebt es nur noch bei einstimmigem, von der Fakultät genehmigtem Beschluss der Examinatoren. Ob ein feierlicher Promotionsakt erfolgt, scheint wie bis¬ her den einzelnen Universitäten anheimgesteüt zu bleiben. Eine »Reformation“ kann man die Neuordnung in so fern nennen, als dadurch eine sachlich unbegründete, aber praktisch bedeutungsvolle Verschiedenheit unter den Deutschen Hoch¬ schulen beseitigt wird. In einem Punkte freilich vermisst man schmerzlich die Spuren einer Neuordnung, und zwar in einem, der für Manchen der wichtigste ist: in der Geldfrage. Noch allgemeiner als bisher — denn die gedruckte Dissertation ist theuer — werden die minder Bemittelten dem Doktorgrade ferngehalten werden, mögen sie wissenschaftlich noch so bedeutend sein. Die neue Promotionsordnung spricht nur an einer Stelle von den Ge¬ bühren, nämlich bei den Ausnahmekandidaten, die vor voll¬ endeter Staatsprüfung Doktor werden. Obgleich diese nur bei »gewichtigen Gründen“ überhaupt zugelassen werden, sollen sie eine um 50 Prozent höhere Gebühr, als die Normalprüflinge, nicht unter 450 Mark, erlegen. Wozu diese besondere Ver¬ schärfung, ist uns nicht klar geworden. Von Herrn Dr. Georg Müller geht uns mit der Bitte um Veröffentlichung, der wir gern willfahren, folgender Offene Brief an sämmtliche Spezialärzte für Orthopädie zu. Sehr geehrter Herr Kollege! Auf keinem Spezialgebiete der ärztlichen Thätigkeit ist das Kurpfußcherthum derartig anmassend, als auf dem Gebiete der Orthopädie. Marktschreierische Annoncen, die ganze Spalten der ge- lesensten Zeitungen füllen, erklären dem kritiklosen Publikum, dass sie, die von Hause aus Schlossermeister, Masseusen oder dergleichen sind, in ihren staatlich konzessionirten Heil¬ anstalten im Stande seien, orthopädische Leiden zu heüen, und laden die Patienten ein, ihre Sprechstunden zu besuchen, die sie im Herumziehen abhalten. Die Redaktionen dieser Zeitungen unterstützen solchen Unfug in ihrem redaktionellen Theü aus Dankbarkeit für die Tausende, die für Inserate von jenen Leuten in ihre Tasche fliessen. Immer und immer wieder liest der Laie unwidersprochen diese grosssprecherischen Inserate, und da er nicht weise, dass unsere Standesehre es nicht zulässt, jenen Kurpfuschern in einer Inseratenfehde entgegenzutreten, glaubt er allmählich an die Richtigkeit dieser Anpreisungen, und meint schliess¬ lich, dass wir Aerzte von all diesen Dingen nichts ver¬ ständen, oder dass wir uns mit denselben nicht beschäftigen wollen. Was heute die Orthopädie erleidet, wird morgen die Chirurgie, die Gynäkologie, kurz allmählich die gesammte Medizin erdulden müssen, denn die Grossmacht »Presse“ unterstützt aus Egoismus das inserirende Kurpfuscherthum, und der Staat lässt es ruhig gewähren. Gesetze helfen gegen das Kurpfuscherthum wenig. Nur Aufklärung des Publikums kann helfen. Der Staat, der hier¬ zu am Berufensten wäre, hat bis jetzt nicht eingegriffen, und lässt einen ehrenwerthen Stand von jedem Schlossermeister oder Masseur beschimpfen. Wir müssen deshalb zur Selbst¬ hilfe greifen. Treten wir vereint den anmassenden An¬ preisungen jener Leute entgegen, so fällt das Odium weg, als wolle der einzelne für sich dabei etwas herausschlagen. Ich bitte deshalb alle Spezialärzte für Orthopädie, welche mit mir in obigen Ausführungen eins sind, mir ihre Adresse zu senden. Wir wollen dann gemeinsam berathen, wie wir das Publikum über die Täuschungen jener Leute aufklären. Mit kollegialer Hochachtung Dr. Georg Müller Spezialarzt für Orthopädie Berlin N., Johannisstr. 14/15. Verantwortlich für den Inhalt: Dr. F. Leppmann in Berlin. — Verlag and Blgentlium von Richard Schoeta in Berlin. — Druck von Albert Damcke, Berlin-SchOneberg. Digitized by Google DI« „Aentllclie Beehr «retlndlgen-Zeltung* 1 ersohelnt monatlich vweimeL Dieselbe lat an bestehen durch den Buchhandel, dl« Po«t (Bo. 96) oder duroh dl« Verlagsbuchhandlung ron Biohard Sohoets, Berlin NW., Luiacnstr. 80, aum Preis« ▼on Mk. 6 .— pro Vieneijahr. Aerztliche AU« Kanuskrlpte, HUthellangen und redaktionellen Anfragen beliebe man au aonden an Dr. F. Leppmann, Berlin W., KarfDrstonrtr. No. 8. Korrekturen, Rezensions-Exemplare, Sjndorabdrtlcke an die Verlanhuchhandluug, Inserat« und Beilagen an die Annoncenexpedition von Rudolf Moaae. Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und Unfall-Heilkunde. Herausgegeben ▼on Dr. L. Becker Dr. A Leppmann Dr. Geh. Sanltltsrath, KSnlgl. Phjsikus, Vertranensarat Banltltsrath, Königlicher Physik«*, Arzt der Beobaohtnngzanstalt fhr gelstea- ron Beruihgenoasenschaften und Schiedsgerichten. kranke Gefangene in Moabit-Berlin, Speaialarat für Nerzen- u. Geisteskranke. Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstrasse 36. F. Leppmann prakt. ArwU VL Jahrgang 1900. M 23. Ausgegeben am 1. Dezember. Inhalt: Originalton: Litten, Unterricht über Unfallheilkunde. 8. 469. Borntraeger, Myxoedem und Unfall. 8. 472. Placz e k, Die Mittheilnngsbefugniss ärztlicher Gutachten. 8.473. Referate: Allgemeines. Mari, Spermauntersuchung von Florence. S. 475. Mayer, Bedeutung der durch chem. Mittel erzeugt. Biterung. S. 475. Chirurgie. Hartraann, Behandl. d. Eiterung, grosser Gelenke. 8.475. Franz, Beitrag zur Frage der freien Gelenkkörper. S. 476. Katzenstein, Fremdkörper in Gelenken etc. 8. 476. Tilmann, Zur Frage der Blutergelenke. 8. 477. Sprengel, Fall von Coxa vara traumatica. S. 477. Hoffa, Osteotomie der Hüftgelenksdeformitäten. S. 478. Payr, Blutige Reposition des Hüftgelenks bei Erwachsenen. 8. 478. Schmidt, Luxation nach Abriss der Quadricepssehne. S. 478. Müller, Operative Behandlung der Schulterluxation. 8. 478. Stüber, Kontraindikation der Esraarch’schen Blutleere. S. 479. Innere Medizin. Hausmann, Fall vom chronischem Volvulus coeci.8.479. Chitrowo, Extragenitale Infektion an Ulcus raolle. 8. 479. Müller, Alkoholmissbrauch und Unfall. 8. 480. Byschowski, Beitrag zur Pathogenese der Epilepsie. S. 480. Hesse, Neurose in Folge eines kranken Zahns. S. 481. Vergiftungen. Puchowski und Katschkatschew, Ein Fall von Idiosynkrasie gegen Arsenik. S. 481. Winterberg, Ueber Pikrinsäure Vergiftung. S. 482. Hygiene. Gerl and, Handhabung der Gesundheitspolizei. S. 482. Wulffert, Ziele der Berlin. Gesellschaft abstinenter Aerzte. 8.482. Macfayden, Einfluss von flüssiger Luft auf Bakterien. S. 483. Macfadyen and Rowland, Einfluss der Temperatur flüssiger Luft auf Bakterien. S. 483. Macfadyen and Rowland, Einflass der Temperatur von flüs- sigem Wasserstoff auf Bakterien. S. 483. Aus Vereinen und Versammlungen. 72. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Aachen vom 16. bis 22. Sep¬ tember. (35. Abtheilung: Unfallheilkunde.) — Jahresver¬ sammlung des Vereins dor Bahn- und Kassenärzte im Bezirke der Königl. Eisenbahndirektion Halle a 8. 8.483. Gerichtliche Entscheidungen: Aus dem Reichs-Versicherungs-Amt: Obergutachten, betreffend die traumatische Entstehung eines Wasserbruchs (Hydrocele.) — Bronchitis und Blutvergiftung. — Tod von vier Arbeitern durch Genuss von Sprengöl —■ als Folge eines Unfalles beim Betriebe erklärt. 8. 486. Aus dem bayrischen Landes-Versicherungs-Amt: Progres¬ sive Paralyse als Unfallfolge. S. 488. Aus dem Oberverwaltungs-Gericht: Nervöse Personen und Geräusche. 8. 489. BQcherbesprechungen : B r e sg e n, Die Reizung und Entzündung der Nasen¬ schleimhaut in ihrem Einfluss auf die Athmung und das Herz. — Hoffa, Die moderne Behandlung der Spondylitis. — Jessner, Kompendium der Hautkrankheiten einschliesslich Syphilide und Kosmetik. — Förster, Die Preussische Gebührenordnung für apprubirte Aerzte und Zahnärzte vom 15. Mai 1896. — Burkhardt, Gesetz betreffend die Bekämpfung gemeingefährlicher Krank¬ heiten. — Arnold. Repetitorium der Chemie. — Schönichen, B. Eyferth’s einfachste Lebensformen des Thier- und Pflanzen¬ reiches. S. 489. Tagesgeschichte: Das Arzneibuch für das Deutsche Reich. Vierte Aus¬ gabe. — Der „Urningsparagraph“. — Die kün>tlichen Süssstoffe. — Vorschriften für Bleifarben und Bleizuckerfabriken. — Bewilligung eines Gebi ses durch die Lau des Versicherungsanstalt. — Uniall- versicherung in Spanien. — Verein für Volkshygiene. S. 491. Einleitung in den Unterricht Uber Unfallheilkunde. (Antrittsvorlesung, gehalten am 8. November 1900.) Von Professor Dr. M. Litten. So lange es eine Ausübung der ärztlichen Thätigkeit giebt, so lange giebt es naturgemäss auch eine ärztliche Würdigung der mit Unfällen in Zusammenhang stehenden Erkrankungen. Die U nfallheilknnde als besonderer Zweig der ärztlichen W issen- schaft hat sich aber erst in den letzten Jahren herausgebildet. Im Gegensatz zu den anderen Gebieten der klinischen Mediziu, die, wie die innereMedizin.dieNeurologie, die Psychiatrie, Ophthal¬ mologie, Laryugologie etc. die Erkrankungen bestimmter Or¬ gane und Organgruppen umfassen, der pathologischen Ana¬ tomie, der Erforschung der durch die verschiedenen Krank¬ heiten bedingten Organveränderungen, der Bakteriologie, der Erforschung bestimmter Krankheitserreger, umfasst die Unfall¬ heilkunde die Erkrankungen sämmtlicher Organe des mensch¬ lichen Körpers von dem Gesichtspunkt einer einzigen be¬ stimmten Ursache aus, — dem Unfall. Diese Absonderung der durch Unfall bedingten Erkrank¬ ungen von dem Gesammtgebiet der Medizin findet ihre Ur¬ sache in der sozialen Gesetzgebung verschiedener Staaten. Die soziale Gesetzgebung ist aus der Einsicht hervorgegangen, dass die Wohlfahrt der Gesammtheit der Staatsbürger ab¬ hängig ist von dem Wohlergehen des Einzelnen, dass die Gesammtheit um so besser gestellt, ist, je besser der Einzelne wirtschaftlich dasteht. Nur ein kleiner Bruchtheil der Staats¬ bürger ist in der Lage, wirtschaftlichen Fährnissen aus eigener Kraft oder mit eigenen Mitteln zu begegneu; die grosse Masse, insbesondere die wirtschaftlich Abhängigen, vor allem die Arbeiterbevölkerung, die nur dauu eiu auskömm¬ liches Einkommen haben, so lange sie Arbeit haben, und deren Einkommen meist nur zur Bestreitung der not wendigsten Lebensbedürfnisse eben ausreicht, fällt der Armut und dem Elend anheim, wenn die Grundlage ihrer Erwerosfähigkeit, d. h. ihre Gesundheit, Schaden erleidet. Diesem zu begegueu, ist ein wesentlicher Zweck der sozialen Gesetzgebung. Die zu lösende Aufgabe ist, wie leicht zu übersehen, eine riesengroBse. Sehen wir von den Bemühungen antiker Staaten¬ gebilde, die, wie z. B. in der mosaischen Gesetzgebung her¬ vorragende soziale Einrichtuugen aufwiesen, ab, so sind von den modernen Staaten nur sehr wenige, und auch diese erst in den allerletzten Dezennien) an diese Aufgabe herangetreten Digitized by AjOOQie 470 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 23. Bei weitem am Meisten ausgebildet ist die soziale Gesetzgebung in Deutschland, und wenn sie auch zum grossen Theil die Be¬ wunderung und vielfach auch den Neid anderer Staaten erregt, so geht daraus nur hervor, wie unendlich weit diese letzteren noch zurück sind. Je länger unsere diesbezüglichen Gesetze in Wirksamkeit sind, und je deutlicher ihre Erfolge offenkundig werden, um so grösser wird auch die Erkenntniss von den Lücken, die sie darbietet, und deren Ausfüllung unerlässlich ist. Trotz dieser Lücken aber hat die vom Deutschen Reiche erlassene soziale Gesetzgebung seit ihrem Bestehen bereits unendlichen Segen gestiftet und die Grundlage zu einer Besser¬ ung derzeit noch unbefriedigender Verhältnisse für die Zu¬ kunft geschaffen. Die soziale Gesetzgebung des Deutschen Reiches nimmt ihren Anfang mit der historisch wichtigen Botschaft Kaiser Wilhelm des Ersten vom 17. November 1881, in welcher zuerst die staatliche Verpflichtung anerkannt wurde, dafür Sorge zu tragen, dass jeder innerhalb der Grenzen des Staates be¬ schäftigte Arbeiter, gleicbgiltig, ob Deutscher oder Ausländer, gegen die Folgen von Krankheit, Unfällen, Invalidität und Alter materiell geschützt werde. Als einfachste Lösung der Aufgabe, die der Staat sich gestellt hatte, erscheint vielleicht die Uebernahme sämmtlicher Verpflichtungen durch den Staat selbst. Dies erschien aber mit Rücksicht auf die gesammten Staatseinrichtungen nicht angängig; sie erfolgte daher mit Rücksicht auf bestehende Gewohnheiten und teils hergebrachte, theils fortentwickelte Anschauungen. Die erlassenen Gesetze umfassen drei Gebiete: 1. die Versicherung für den Fall einer Erkrankung, 2. die Versicherung für die Folgen eines in Ausübung des Berufes erlittenen Unfalles, 8. die Versicherung gegen Invalidität, d. h. Erwerbs¬ unfähigkeit, bedingt durch Nachlass der Arbeitsfähig¬ keit oder durch Ueberschreitung einer bestimmten Altersgrenze. Die Krankenversicherung schloss sich an die Organisation der bereits vorher vorhandenen Krankenkassen an. Solche waren schon, vereinzelt bereits Ende des 18. Jahrhunderts, hauptsächlich aber von der Mitte des 19. Jahrhunderts an eingerichtet, theils gesondert für grosse Betriebe, vor allem als Knappschaftskassen im Bergwerksbetriebe, theils für die Arbeiter eines Ortes, beliebig, welchen Beruf sie ausübten, theils nach Berufsarten gesondert für die Arbeiter ver¬ schiedener Betriebe eines oder mehrerer Orte. Immer aber bestanden diese Kassen zur Versicherung in Krankheitsfällen aus freier Initiative der Arbeitgeber, Arbeitnehmer, beider zu¬ sammen, oder höchstens der örtlichen Gemeinden. Die obligatorische Krankenversicherung beruht auf Reichsgesetz vom 15. Juni 1883, welches später mehrfach Er¬ gänzungen und Umänderungen erfahren hat. Es verkündet einen Zwang für alle Arbeiter, deren Einkommen weniger als 2000 Mark beträgt, einer Krankenkasse anzugehören. Allerdings sind noch grosse Gruppen ausgeschlossen, so z. B. das Ge¬ sinde und die Heimarbeiter. Das Gesetz gestattet das Be¬ stehen mannigfaltiger Arten von Kassen, die aber vor allem gewisse einheitliche Mindestleistungen aufweisen müssen, ins¬ besondere verlangt es eine Unterstützungsdauer im Falle der gänzlichen Arbeitsunfähigkeit von nicht unter 13 Wochen, in allen Fällen aber freien Arzt und freie Medizin. Die Beiträge werden zu 2 / 3 von den Arbeitern, zu Va von den Arbeitgebern aufgebracht Für die Versicherung gegen Invalidität, welche mit dem 1. Januar 1890 in Kraft trat, erschien es aber nicht angängig, Arbeitgeber und Arbeitnehmer allein aufkommen zu lassen. Es wurden Versicherungsanstalten für grössere Bezirke einge¬ richtet, z. B. für je eine Preussische Provinz, welche unter Kontrole des Reiches selbständig sind; ihre Einnahmen bestehen einer¬ seits aus Beiträgen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber, die je einen gleichen Beitrag zahlen, andererseits aus einem Zuschuss von Seiten des Reichs. Im Bedürfnissfalle erhalten die Versicherten eine dauernde Rente. Das Unfallversioherungsgesetz ist vom 1. Oktober 1885 in Kraft.*) Bezüglich der Unfälle, d. h. Schädigungen der Gesundheit, die durch ein plötzliches äusseres Ereigniss einge¬ treten sind, bestand schon lange in Form der Haftpflicht, für diejenigen, die für das Zustandekommen des Unfalls eine Schuld traf, eine Entschädigungspflicht gegenüber dem Verletzten. So muss auch gegenwärtig z. B. der Hausbesitzer dafür einstehen, wenn Jemand in Folge mangelhafter Beleuchtung der Treppen zu Schaden kommt. Vor Allem bestand seit dem 7. Juni 1871 das ReichB-Haftpflichtgesetz, betreffend die Verbindlichkeit zum Schadenersatz für die bei dem Betriebe von Eisenbahnen, Berg¬ werken, Steinbrüchen, Gräbereien und Fabriken herbeigeführten Tötungen und Körperverletzungen. Die meisten Unfälle entstehen aber durch Fahrlässigkeit des Arbeiters selbst oder durch Zufälligkeiten, an denen Niemand die Schuld trägt. Bleibt hier der Verletzte und in seiner Erwerbs¬ fähigkeit dauernd Herabgesetzte, oder seine Hinterbliebenen gänzlich ohne Unterstützung, so erleiden nicht nur diese, son¬ dern wiederum auch die Allgemeinheit Schaden. Das Gesetz setzt nun fest, dass der Verletzte je nach dem Grade seiner Erwerbsunfähigkeit eine Rente bezieht, bezw. wenn der Unfall den Tod zur Folge hatte, die von ihm ernährten Hinterbliebenen. Im Lauf der Jahre ist das Gesetz mehrfach ausgebaut und auf immer mehr Berufsgruppen ausgedehnt worden. Die Kosten werden ausschliesslich von den Arbeitgebern getragen. Gleichartige Berufe sind regionär zu Berufsgenossen- schaften zusammengeschlossen. Diesen liegt die Zahlung der Rente ob. Sie beziehen von den einzelnen zugehörigen Be¬ trieben Beiträge, deren Höhe jährlich, entsprechend der Höhe der Ausgaben, wechselt, und im Uebrigen von der Zahl der in dem einzelnen Betriebe Beschäftigten und der Gefährlichkeit des betreffenden Betriebes abhängt. Die Berufsgenossenschaften haben erklärlicherweise ein lebhaftes Interesse daran, möglichst wenig Renten zu zahlen. Diesen Zweck suchen sie auf zweier¬ lei Weise zu erreichen. Einmal durch Verminderung der Un¬ fälle überhaupt. Zu diesem Behufe steht ihnen das Recht zu, Unfallverhütungsvorschriften zu erlassen, z. B. die Arbeitgeber zur Anbringung von geeigneten Schutzvorrichtungen zu zwingen und dergleichen. Hierauf ist wohl zurückzuführen, dass nach einer Veröffentlichung von Bödiker, aus dem Jahre 1895, seit 1887 die Zahl der Todesfälle von 0,77 auf 0,67 %o zurückge¬ gangen ist. Andererseits bemühen sich die Berufsgenossen¬ schaften, der Heilung der Verletzten eine besondere Sorgfalt zuzuwenden, und dadurch eine Erhöhung der event. herabge¬ setzten Arbeitsfähigkeit zu erzielen. Auch zur Erreichung dieser Ziele sind ihnen durch das Gesetz besondere Rechte verliehen. Aus diesem Grunde ist ersichtlich, dass das Unfallversiche¬ rungsgesetz die Veranlassung für ausgedehnte therapeutische Bestrebungen geworden ist. Indem die Berufsgenossenschaften nur dann zahlungspflich¬ tig sind, wenn der Zusammenhang zwischen Erwerbsvermin¬ derung und Unfall feststeht, ist es erklärlich, dass sie in zweifelhaften Fällen zu einer Ablehnung des Zusammenhanges *) Auf Deutschland folgte Oesterreich am 28. Dezember 1887 mit einem Unfallversicherungsgesetz, 23. Juli 1894 Norwegen, wäh¬ rend in der Schweiz 1875 ein Gesetz erlassen wurde über Haftpflicht der Eisenbahn- und Dampfschiffahrts-Unternehmungen, 1881 über Haftpflicht im Fabrikbetrieb, ergänzt 1887. Digitized by Google 1. Dezember 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 471 geneigt sind; auf der anderen Seite bemühen sich manchmal Verletzte, angebliche Folgen des Unfalles zu simuliren. Um beiden Parteien gerecht zu werden, ist daher die Festsetzung der Zahlungspflicht nicht ausschliesslich den Berufsgenossen¬ schaften überlassen, vielmehr sind für die einzelnen Berufs- genossenschaften innerhalb gewisser Bezirke (Sektionen) Schieds¬ gerichte eingerichtet, über welchen wiederum für ganz Deutsch¬ land als einheitliche höchste und endgültig entscheidende Instanz das Reichsversicherungsamt steht. Diese Gerichte sind in ihrer Urtheilsfassung absolut selbst¬ ständig. Zur Urtheilsfindung sind sie aber ganz wesentlich auf die Sachverständigkeit der Aerzte angewiesen. Berücksichtigt man, dass im Jahre 1894 in Deutschland 18060000 gegen Unfall versicherte Personen vorhanden waren, von welchen 266400 Versicherte wegen erlittener Unfälle Entschädigungen in einer Gesammthöhe von 64200000 Mark erhielten, so lässt sich ermessen, welch’ ungeheures Feld der Arbeit durch die Unfallver8icherung8gesetzgebung der ärztlichen Sachverstän- digenthätigkeit eröffnet worden ist. Die grösste Zahl der Unfälle betrifft, wie leicht verständ¬ lich, das Gebiet der Chirurgie, und hier ist es, wie ebenso verständlich, verhältnissmässig leicht möglich, sich über den Zusammenhang von Unfall und Erkrankung bezw. Folgezustand klar zu werden. Aber auch die Zahl der durch Unfall bedingten Erkrankungen des Nervensystems und der inneren Organe ist eine sehr grosse; zudem giebt es fast ga t keine Krankheit, über deren möglichen Zusammenhang mit einem Unfall nicht ge¬ legentlich eine ärztliche Meinungsäusserung verlangt wird. Sehen wir von denjenigen Erkrankungen, insbesondere chirurgischen, ab, deren Entstehung unter allen Umständen eine Verletzung zur Ursache hat, so traf die neue Gesetzgebung die Aerzte ziemlich unvorbereitet, da früher im Allgemeinen nur in Folge gelegentlicher Beobachtungen eine Verletzung als meist nebensächlich neben anderen Ursachen in Betracht gezogen wurde. Die hinfort von den Aerzten zu lösenden umfangreichen neuen Aufgaben nöthigten aber zu einer systematischen Er¬ forschung aller Möglichkeiten, unter denen eine Verletzung ursächlich in Frage kommen kann. Zu diesen beiden neuen Aufgaben, spezielle ätiologische Forschung und auf spezielle Punkte gerichtete therapeutische Maassnahmen, gesellte sich eine dritte, welche ebenfalls der grossen Masse der Aerzte neu war und noch dauernd grosse Schwierigkeiten darbietet, die prozentuale Abschätzung des Grades der beeinträchtigten Erwerbsfähigkeit. Die Entwickelung der neuen Disziplin nahm nun folgenden Gang: Die Berufsgenossenschaften, die erste und zunächst am meisten in Frage kommende Instanz, betrauten mit der Begutachtung ihrer Verletzten einzelne bestimmte Vertrauensärzte. Diese waren anfänglich auf die in der Literatur bereits niedergelegten Beobachtungen angewiesen. Im Lauf der Zeit machten sie eigene Beobachtungen und sammelten durch die Fülle des Krankenmaterials bestimmte Erfahrungen. Gleichzeitig bemühten sie sich um Auffindung und Ausbildung geeigneter Heilmethoden; so entstanden in wachsender Zahl besondere mechano-therapeutische Institute. Die neuen Beobachtungen wurden hier und da in wissen¬ schaftlichen Zeitschriften mitgetheilt; vor allem gelangten Gut¬ achten über interessante Fragen zur Veröffentlichung. Ins¬ besondere war das Reichs versicherungsamt bemüht, Gutachten, denen es eine grundlegende Bedeutung beimass, sowie grund¬ legende Entscheidungen zu veröffentlichen. Auch in Oester¬ reich erfolgten ähnliche Veröffentlichungen. So entstanden u. A. die amtlichen Nachrichten des Reichsversiche¬ rungsamts, die mit d. J. 1885 beginnend zu einer Anzahl werthvoller Bände angewachsen sind; die Sammlung der die Unfallversicherung betreffenden Bescheide, Be¬ schlüsse und Rekursentscheidungen des Reichsver¬ sicherungsamts nebst den wichtigsten Rundschreiben des¬ selben, systematisch zusammengestellt von J. Schmitz, dann von Emil Götze. — Amtliche Nachrichten des K. K. Ministeriums des Inneren, betreffend die Unfall- und Krankenversicherung der Arbeiter: Wien, von 1889 an. — Anleitung für die Herren Aerzte, welche zur Theil- nahme an Unfallerhebungen berufen werden, verlautbart durch die Arbeiter - Unfallversicherungsanstalt für Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg in Salzburg. Salzburg 1891. — Instruktion für die ärztliche Bestimmung der Er¬ werbsfähigkeit von auf Grund des Gesetzes vom 28. De¬ zember 1887 versicherten Personen für die Arbeiter-Unfall¬ versicherungsanstalt für Steiermark und Kärnten in Graz. Graz 1890. — Instruktion für die Herren Vertrauens¬ ärzte der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für Niederöster¬ reich in Wien. Wien 1890. — Mittheilungen der Arbeiter - Unfallversicherungsanstalt für Nieder¬ österreich in Wien. Von 1890 an. — Erkenntnisse und Bescheide der im Grunde des Gesetzes vom 28. Dezember 1887 betr. die Unfallversicherung der Arbeiter errichteten Schiedsgerichte von Richard Kaan. Wien 1895. — Inzwischen hatte sich das Bedürfniss nach einer eigenen Zeitschrift für Unfallheilkunde herausgestellt, dem zuerst 1894 durch Begründung der Monatsschrift für Unfallheil¬ kunde durch Thiem Rechnung getragen wurde. Diese Monatsschrift ist inzwischen zu einer höchst werthvollen Sammelstelle für die einschlägige Materie geworden. 1895 folgte die Aerztliche Sachverständigen-Zeitung von L. Becker und Leppmann, welche neben der Unfallheilkunde das gesammte Gebiet ärztlicher Sachverständigenthätigkeit umfasst, — 1896 wurde in Stuttgart das Archiv für Unfall¬ heilkunde, Gewerbehygiene und Gewerbekrank¬ heiten begründet. — Auch die Veröffentlichungen der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen enthalten manche werthvolle Mittheilung. — Den Zwecken der öffentlichen und privaten Unfallversicherung zugleich dient das Organ des Deutschen Versicherten-Verbandes, die Unfall- Versicherungspraxis. Mit der zunehmenden Zahl der Begutachtungen und der Begutachter stellte sich auch das Bedürfniss nach Feststellung der bei der Begutachtung zu berücksichtigenden Gesichts¬ punkte heraus. Auf Grund ihrer bereits grossen Erfahrungen kamen demselben entgegen die sehr empfehlenswerthen Werke von: E. Golebiewski: Aerztlicher Kommentar zum Unfall- vereicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. — H. Blasius: Unfall¬ versicherung und Arzt. — L. Becker: Anleitung zur Be¬ stimmung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit nach Verletzungen. — Das Handbuch der Unfallversicherung. Leipzig. Allmählich war in den zerstreut veröffentlichten Gutachten, den Entscheidungen der Gerichte und in den verschiedenen Zeitschriften eine solche Fülle von neuem Material nieder¬ gelegt, dass es dem Einzelnen nicht mehr möglich wurde, im Bedarfsfälle dasselbe zu prüfen und zu sichten. Da erschien 1892 das vortreffliche Handbuch der Unfallverletzungen von Kaufmann in Zürich, welches seither schon eine zweite Auflage erlebt hat. Es zerfällt in 2 Theile: allgemeine Ge¬ sichtspunkte für die Untersuchung und Beurtheilung; zweitens die Unfallverletzungen mit besonderer Berücksichtigung ihrer Heilung und ihrer Folgen. Dieses Buch stützt sich im Wesent¬ lichen auf die Entscheidungen der Unfallgerichte. — Ebenso erschien im Jahre 1895 als Erweiterung der früher gebrachten „Anleitung“ das „Lehrbuch der ärztlichen Sachver- ständigen-Thätigkeit für die Unfall- und Invaliditäts- Digitized by Google 472 Aerztllche Sachverständigen-Zeitung. No. 23. Versicherung“ von L. Becker, welches in seinem 1. allge¬ meinen Theil in erschöpfender Weise die einschlägigen gesetz¬ lichen Bestimmungen und die Rechtsprechung des Reichs - Versieherungsamts vorführt, und im 2. speziellen Theil die einzelnen Verletzungen nach Organen und Körperregionen behandelt Von diesem vortrefflichen Buch ist in kurzer Zeit bereits die 4. Auflage erschienen. Ferner das grosse Handbuch der Unfallkrankheiten von Thiem, welches vor 2 Jahren erschienen ist und das ganze Gebiet der Unfallheilkunde in klarer, übersichtlicher Weise und ausgezeichneter Darstellung umfasst. Vor Kurzem erschien in der Sammlung Lehmann'scher Altlanten eine auf Grund reichster persönlicher Erfahrungen und sorg¬ fältigster Berücksichtigung der Literatur, mit vielen vorzüglichen Illustrationen ausgestattete Bearbeitung der Materie von Go- lebiewski. Aus dem Gebiet der Unfallkrankheiten hebt sich als schwierigstes Kapitel das der inneren Krankheiten her¬ aus. Diese fanden einen hervorragenden Bearbeiter in Stern: Ueber traumatische Entstehung innerer Krank¬ heiten, ein Buch, welches sich sowohl durch die Fülle und Uebersichtlichkeit des Materials auszeichnet, wie insbesondere durch die streng wissenschaftliche Kritik vieler Gutachten und Entscheidungen. Sehr grosB ist die Zahl der Monographien und speziellen Bücher, wie z. B. die ganz ausgezeichnete Anleitung von Schuster zur Untersuchung und Begutachtung Un¬ fallverletzter Nervenkranker, auch das kürzlich er¬ schienene Buch von Müller. Auf die Zahl der Einzelbeobachtungen einzugehen, ist ganz unmöglich. Stützt sich doch Stern in seinem nur die inneren Krankheiten behandelnden Buche auf 595 Autoren, die er an 1695 Stellen citirt. Ich will daher hier nur wenige Arbeiten erwähnen, denen gewissermassen eine grundlegende Bedeutung beizumessen ist. Hier ist vor allem zu erwähnen die Piqüre Claude- Bernard’s, der Zuckerstich; der Nachweis, dass durch Ver¬ letzung des Bodens des IV. Ventrikels Zuckerharnruhr hervor¬ gerufen werden kann. Die funktionellen Störungen des Nervensystems nach Trauma fanden ihren ersten Bearbeiter in dem Engländer Erichsen, der die nach Eisenbahnunfallen entstehenden Krankheitserschei¬ nungen als railway-Bpine beschrieb. Es folgte die Hysterie nach Trauma von Charcot, die traumatische Neurose Oppen- heim’8. Die Zahl der Veröffentlichungen, gerade auf neurolo gischem Gebiete ist eine unendlich grosse; in hervorragendem' MaasBe sind an ihnen betheiligt: v. Strümpell, Jolly und seine Schüler, Mendel und seine Schüler, Goldscheider, Eulen¬ burg, Bernhard, Schulze, u. v. A. Von Infektionskrankheiten — abgesehen etwa vom Wundery¬ sipel — wurde zuerst bei der Pneumonie der Nachweis der Verletzung als Aetiologie erbracht. Nachdem schon früher hin und wieder ein ätiologischer Zusammenhang betont worden war, konnte ich bereits 1882 1 ) eine Reihe von 14 Fällen trau¬ matischer Entstehung veröffentlichen, die ich als Kontusions¬ pneumonien bezeichnete, ein Name, der sich seitdem das Bürgerrecht erworben hat. Es folgte die traumatische Phthise Mendelssohn’s 1886. Bezüglich der Herzkrankheiten sind grundlegend geworden *) cfr. M. Litten. Ueber die durch Kontusion erzeugten Erkrankungen der Brustorgane etc. Zeitschr. f. klinische Med. Bd. V. 1882. die Lehre vom weakened heart, die Beobachtungen Fr an t- zels, die Veröffentlichungen über Klappenrupturen etc. Werth- volle Beiträge lieferten von Leyden über die Herzkrankheiten infolge von Ueberanstrengung, Albu, Rosenbach, Riedinger und viele andere. Von traumatischer Endocarditis, deren Be¬ stehen lange ansezweifelt wurde, gelang es mir in wieder¬ holten Vorträgen, 3 ) eine Reihe einwandsfreier Fälle mitzutheilen. So weist jedes Spezialgebiet der Medizin eine stets zu¬ nehmende Zahl von Veröffentlichungen über den Zusammen¬ hang bestimmter Erkrankungen mit Unfall auf. Hervorragend haben sich an diesen vor allem die Autoren betheiligt, welche später das Gesammtgebiet einer Bearbeitung unterzogen haben, Becker, Thiem, Golebiewski, Kaufmann, Blasius, Stern etc. Ihnen reihen sich an: Bähr, Sachs, Reichel, Seeligmüller, Löbker, Vulpius, Mohren, Schütz, Goldberg, König, Hildebrand etc. etc. Zur Zeit ist die Zahl der Autoren und Veröffentlichungen bereits eine so grosse, dass vom nächsten Jahre an unter Herausgabe von Placzek ein eigener Jahresbericht der Unfallheilkunde und der ärztlichen Sachverständigenthätigkeit er¬ scheinen wird. Stellte anfänglich die Unfallgesetzgebung nur Ansprüche an die bereits praktizirenden Aerzte, die z. T. schon über eine gewisse Erfahrung verfügten, so zeigte sich bald, dass auch die heranwachsenden Mediziner einer diesbezüglichen Unter¬ weisung bedurften. Vom ersten Moment der Verletzung an erfordern die Unfallverletzten eine besonders genaue Beobach¬ tung; mit Sorgfalt und Sachkenntnis müssen sie weiter be¬ handelt werden. Die Abfassung der Atteste stellt ganz ausser¬ ordentliche Anforderungen an den Arzt. So begannen denn Universitätslehrer freiwillig den Unterricht; bereits seit 1892 las ich über innere und nervöse Unfallkrankheiten; ausserdem begann hier in Berlin Hildebrand mit Vorlesungen über chirur¬ gische Unfallkrankheiten. Das preussische Kultusministerium, die höchste Unterrichtsbehörde, verfolgte die neue Disziplin mit lebhaftem Interesse, welches sie zunächst durch Errichtung einer eigenen Station für chirugische Unfallkranke in der Charitö bekundete. Nachdem nunmehr die Aufgaben, welche die Unfallkrankheiten an den Unterricht stellen, durch die Erfahrungen einer Reihe von Jahren festgestellt sind, that das Kultusministerium einen wei¬ teren Schritt durch Ertheilung eines eigenen Lehrauftrages in Berlin. Wir hoffen, dass diesem bald weitere folgen werden, so dass der junge Arzt bereits mit einer festen Grundlage die Praxis beginnen kann, und die Verletzten, die Wissenschaft und die Rechtsprechung in gleicher Weise hierdurch Förderung erfahren werden. Myxoedem und Unfall. Von Dr. Borntraeger- Danzig, Regierung»* and Medisinalr&th. Nachfolgenden Fall möchte ich, obwohl ich den Kranken selbst nicht gesehen, vielmehr meine Kenntniss darüber nur bei Abgabe eines Ober-Gutachtens aus den Akten geschöpft habe, der Oeffentlichkeit übergeben, lediglich zur Anregung, damit bei Wiederkehr eines ähnlichen weitere und genauere Beobachtungen angestellt werden mögen. Einem 18jährigen Glasergesellen W. wurde 1881 wegen Kropfes die Schilddrüse völlig entfernt. Im Laufe der Jahre entwickelt sich ein mässiges Myxoedem. 1895 fällt W. in a ) cfr. M. Litten. Verhandlungen des Vereins für innere Med., Berlin 1897 und 1898, und Kongress für innere Med. Wiesbaden 1900 Digitized by Google 1. Dezember 1900. Aerztliche Saohverst&ndigen-Zeitung. 473 eine Glasscheibe and verletzt sich leicht am linken Daumen. In wenigen Tagen entwickelt sich eine schwere Phlegmone, welche vom Daumen auf Unter- und Oberarm, ja anscheinend noch auf den Rücken fortschreitet und zu zahlreichen Inci- sionen bei 8 monatlicher Krankenhausbehandlung Anlass giebt. Wichtig ist nun, dass sich während dieses Arm¬ leidens und Krankenhausaufenthaltes das Myx- oedem sehr bedeutend verschlimmerte. Während vor dem Unfälle W. durchaus arbeitsfähig gewesen war und an¬ scheinend im Wesentlichen nur eine gewisse Gedunsenheit des Gesichts und vielleicht auch der Arme gezeigt hatte, bot er später das Bild schweren Myxoedems: Haut und Schleim¬ häute sind blassgelb, erstere schuppt stark. Gesicht, Hals, Brust und Arme sind stark aufgeschwollen, die Schwellung fühlt sich weich an, ist leicht eindrückbar, der Fingereindruck bleibt nicht stehen. Der linke, verletzt gewesene Arm ist in dieser Weise viel stärker angeschwollen als der rechte, ohne jede Faltenbildung der Haut. Von Muskulatur ist hier kaum etwas zu fühlen. Die Knochen, zumal des linken Unterarms, erscheinen verdickt. Bauch und Beine sind von der Schwel¬ lung nur wenig ergriffen, anscheinend auch der Rücken. Zunge und Schleimhaut des Mundes wie des Kehlkopfes sind geschwollen, die Sprache, die Bewegung von Händen, Armen und Beinen ist schwerfällig, das Gefühl in den Händen stirbt leicht ab, die Intelligenz erscheint herabgesetzt. Im Verlaufe geeigneter Behandlung hat sich dann das Myxoedem zunächst wieder erheblich zurückgebildet, anschei¬ nend wohl bis auf den vor dem Unfälle bestandenen Grad, jedoch mit Ausnahme des linken Armes, der abnorm geschwollen geblieben ist, wenn auch nicht wie zur Zeit der grössten Ausdehnung, immerhin 3 cm an Umfang grösser als der rechte Arm. In den Jahren 1897—1900 hat das Myxoedem seinen langsamen Fortgang genommen: die Züge des Mannes sind stumpfsinnig geworden, die Stimmung anscheinend rührselig, die allgemeine Schwellung scheint langsam zuzunehmen, die Hände und die Zunge zittern, der Haarwuchs in der Bart- wie in der Schamgegend ist mangelhaft, die grossen Zehen zeigen Valgusstelluug; der linke Arm ist fortgesetzt um 3 cm dicker als der rechte. Die Beurtheilung hat mit Recht zuuächst die ganze Steigerung des Myxoedems, später nur die Schwellung des linken Armes als Unfallsfolge angesehen und demnach eine Rente von erst 75 Prozent, dann 50 Prozent, dann 30 Prozent befürwortet. Dass zur Zeit noch der letztere Zustand fort¬ besteht, ist zweifellos; dagegen muss es nach der Aktenlage und nach den medizinischen Erfahrungen zweifelhaft er¬ scheinen, ob durch den Unfall und die dadurch hervorgerufene Armeiterung das Fortschreiten des Myxoedems dauernd und fortgesetzt beschleunigt worden ist; es kann in diesem Fall für eine solche Annahme ein greifbarer Unter¬ grund nicht gefunden werden. Auf alle Fälle erscheint es beachtenswerth, dass ein be¬ stehendes Myxoedem durch eine Armphlegmone gesteigert wird und zwar anscheinend vorübergehend allgemein am Körper, dauernd aber lokalisirt an der ergriffenen Extre¬ mität; denn auch die heutige Schwellung des linken Armes kann nach den Beschreibungen nnr als Myxoedem gedeutet werden. Eb wäre von Interesse zu erfahren, wie weit auch sonst Eiterungsprozesse oder andere Krankheiten von übler Einwir¬ kung auf die Entwicklung des Myxoedems, allgemein oder lokal, sich erweisen. Die Mittheilung8befugnls8 ärztlicher Gutachten. Vortrag gehalten im Aerzteverein Luisenstadt zu Berlin am 12. November 1900. Voo Dr. Plaozek, Nerfenant Am 30. Juni h. a. wurde im Reichsgesetzblatt die Novelle zum Unfallversicherungsgesetz veröffentlicht Hiermit ist eine Bestimmung Gesetz geworden, die den Grandforderungen jedes ärztlichen Gutachtens, Zuverlässigkeit und Objektivität, verhängnisvoll werden kann. Sie ist enthalten in der zweiten Hälfte des § 9 und hat folgenden Wortlaut: „Den Schiedsgerichten eingereichte Ur¬ kunden sind sowohl der Berufsgenossenschaft, alsauch dem Verletzten rechtzeitig mitzutheilen; inwieweit ärztliche Zeugnisse mitzutheilen sind f unterliegt zunächst der Entscheidung des Vor¬ sitzenden. Das Schiedsgericht ist befugt, anzu¬ ordnen, dass die unterlassene Mittheilung nach¬ zuholen ist Die Entstehungsgeschichte dieses Gesetzes datirt wohl von einem konkreten Falle, der im Jahre 1892 oder 93 sich ereignete und, indem er die möglichen verhängnisvollen Wirkungen zeigte, die eine uneingeschränkte Mittheilung ärzt¬ licher Gutachten an den Rentenbewerber haben kann, die bisher bestehende Gepflogenheit solcher Mittheilung bean¬ standen liess. Ein in einer Kleinstadt der Mark lebender Arzt hatte sich gutachtlich für Simulation eines Unfallverletzten ausgesprochen, natürlich ohne zu ahnen, dass sein Urtheil in der Originalform dem Betreffenden vor Augen käme. Er erstaunte daher nicht wenig, als eines Tages der Patient in seiner Wohnung erschien, ihn wegen seines Attestes zur Rede stellte und Rache drohte. Trotzdem hier so offenkundig sich zeigte, welche Missstände ein derartiges unbeschränktes Offen¬ barungsrecht zur Folge haben kann, fällte das Reichsver¬ sicherungsamt die befremdende Entscheidung, dass Bahn¬ verwaltungen, Berufsgenossenschaften, etc. den Inhalt des ärztlichen Attestes ohne Weiteres dem Patienten mittheilen dürften, dass diese Handlungsweise durchaus befugt wäre. Schon damals schrieb ich in meinem Buche: „Das Be- rufsgeheimniss des Arztes“*), Seite 110: „Welcher Arzt wird angesichts einer drohenden Offenbarung des Inhalts ein wahrheitsgetreues Attest ausstellen? Droht ihm nicht, falls es sich um eine einflussreiche Person handelt, und eine solche ist in einem kleinem Ort ein Jeder, die Gefährdung und Ver¬ nichtung seiner ganzen Existenz?“ Die ganz natürliche Folge, dass die mit ihren Renten¬ ansprüchen abgewiesenen Rentenbewerber dem begutachtenden Arzte die Schuld an ihrem Misserfolge beimessen und ihn anfeinden, veranlasste die Aerztekammer von Brandenburg und Berlin, das Reichsversicherungsamt um eine Bestimmung anzugehen, wonach dem Rentenbewerber nicht das gesammte Gutachten, sondern nur das Endgutachten bekannt werde. Dieses Verlangen wurde von dem Reichsversicherungsamt in einer eingehenden Antwort vom 23. September 1893 als un. ausführbar bezeichnet. Ich will nur kurz die Beweggründe Bkizziren, auf welche das Reichsversicherungsamt sein ab¬ lehnendes Verhalten stützte: Nach § 57 Abs. 3 des Unfallversioherungsgesetzes, „ § 62 Abs. 3 des landwirtschaftlichen Unfallver¬ sicherungsgesetzes, „ § 37 Abs. 1 des Bauunfallversicherungsgesetzes, „ § 67 Abs. 3 des Seeunfallversicherungsgesetzes, *) Leipzig, Georg Thieme. Digitized by Google 474 Aerztliche Saohverständigen-Zeitung. No. 21 ist dem Entschädigungsberechtigten vor Feststellung der Ent¬ schädigung durch Mittheilung der Unterlagen, auf Grund deren die Entschädigung zu bemessen ist, Gelegenheit zu geben, sich binnen einer Woche zu äussem. Das Gesetz verlangt also ausdrücklich, dass das gesammte Thatsachenmaterial den streitenden Parteien überwiesen werde. Danach hält es das Reichversicherungsamt für rechtlich bedenklich, diejenigen Theile ärztlicher Gutachten, auf welche das erkennende Gericht bei der Entscheidung Gewicht legt, und welche bei Absetzung der UrtheilBgründe verwerthet werden müssen, von der Mit¬ theilung an die Parteien auszuschliessen. So glaubt es auch in der Regel die Mittheilung desjenigen Theiles des Gut¬ achtens, welcher dem Kläger Uebertreibung oder Simulation vorwirft, nicht vermeiden zu können, wenn diese Thatsache für die Beurtheilung von Bedeutung ist. Nur das Endgut¬ achten mitzutheilen, erscheint den Reichsversicherungsamt rechtlich nicht zulässig, weil dieses in der Regel nur einen logischen Schluss enthält, während das Gesetz gerade die Mit¬ theilung der vorhergehenden Thatsachen verlangt. Trotzdem also das Reichsversicherungsamt die Mittheilung des ärztlichen Gutachtens im ganzen Umfange für noth- wendig hält, glaubt es unbedenklich weglassen zu können, 1. solche Theile, die für die Entscheidung un¬ wesentlich sind, 2. Bemerkungen, die einen für den Verletzten beunruhigenden Inhalt haben, sachlich aber entbehrlich sind, 3. Wendungen, die den Arbeiter leicht verletzen, 4. gestattet das Reichs versicherungsamt, Gut¬ achten für den speziellen Zweck der Mittheilung umändern zu lassen. Wie man erkennt, war bisher das R.-V.-A. sorgsam be¬ müht, die Forderung des Gesetzes, soweit irgend angängig, mit der Wahrung der berechtigten ärztlichen Interessen in Ein¬ klang zu bringen. Mag auch mitunter die Feststellung der offenbar unwesentlichen oder den Gutachter ge¬ fährdenden Theile eines Gutachtens schwierig gewesen sein, sicherlich werden die Herren Vorsitzenden der Schieds¬ gerichte weitgehend von den Einschränkungen der Mittheilungs¬ forderung Gebrauch gemacht haben. Wie anders wird das jetzt werden, nachdem die Novelle Gesetz geworden istl Wohl hat auch jetzt noch der Vorsitzende des Schiedsgerichtes zu entscheiden, „inwieweit ärztliche Zeugnisse mitzu¬ theilen sind“, aber, wie der Schlusssatz des §9 lautet „das Schiedsgericht ist befugt anzuordnen, dass die unter¬ lassene Mittheilung nachzuholen ist.“ In diesen Worten liegt die wesentliche Aenderung gegen den bisherigen Usus. Bisher konnte der Vorsitzende durch Klage an das R.-V.-A. gezwungen werden, das Fortgelassene mitzutheilen, jetzt kann der Vorsitzende vom Schiedsgerichte zur Mittheilung ge¬ zwungen werden, und er wird sicherlich oft genug dazu ge¬ zwungen werden, denn die anderen mitentscheidenden Faktoren werden sicher nicht die feinfühlige Rücksicht üben, die ein Schiedsgerichtsvorsitzender einer Körperschaft wie der Aerzte- welt gegenüber walten lässt, die ja der integrirende Bestand¬ teil in dem komplizirten Apparat zur Ausführung des Unfall¬ versicherungsgesetzes ist. Vielleicht wird der in der Grossstadt lebende Arzt seltener und nicht gleich hart im Einzelfalle gefährdet sein, wie der im engeren Menschenkreise wirkende Kleinstadtarzt, die Gefahr besteht jedenfalls. Mehr als bisher werden daher die Aerzte den guten Rath befolgen, den das R.-V.-A. schon unter den bisher obwaltenden Verhältnissen zu geben für nöthig erachtete und der darin gipfelt, bei Formulirung des Gutachtens der Mittheilungsbefugniss an den Rentenbewerber eingedenk zu sein. Ob hiermit aber die nothwendige „Zuverlässigkeit und Objektivität“ streng vereinbar ist? Sicherlich wird es der Arzt, der ja auch sonst nicht die der eignen Person drohende Gefahr zu scheuen pflegt, nicht an der wahrheitgemässen Bekundung der gefundenen Thatsachen fehlen lassen, aber unmerklich, ihm selbst unbewusst, kann die ihm vorschwebende Mahnung sich geltend machen und seine „nach bestem Wissen und Ge¬ wissen“ abgegebenen Schlussfolgerungen nach Form und Inhalt beeinflussen. Hierin aber, in dieser nicht blos theoretisch konstruirten Möglichkeit, liegt die verhängnisvolle Wirkung des § 9 der Novelle, die wiederum und nur zu deutlich zeigt, wie wenig die Aerztewelt, speziell ihre Aerztekammern auf Wahrung ihrer Lebensinteressen bedacht sind. Statt mit zahl¬ losen, vielfach unfruchtbaren Diskussionen sich abzugeben¬ hätten die Aerztekammern geschlossen Vorgehen und eine Aenderung des Gesetzes, zum Mindesten ein Verharren bei dem Status quo erzwingen sollen. Von einem solchen Vor¬ gehen verlautete aber nichts, obwohl das Gesetz doch vor der endgültigen Annahme im Wortlaut veröffentlicht und diskutirt worden war. Jetzt, da der Paragraph Gesetzeskraft erlangte, dürfte eine Abänderung schwierig, aber nicht unmöglich zu erzwingen sein. Doch nicht das Interesse der Aerzte allein gebietet diese Aenderung, das Interesse der Unfallverletzten gebietet es nicht minder. Wie muss eine derartige Lectüre ärztlicher Gutachten auf den Unfallkranken wirken? Er wird nicht nur sich ge¬ kränkt fühlen, nicht nur feindlich gesinnt dem ärztlichen Gut¬ achten, nein, er wird auch körperlich und seelisch Schaden leiden. Jeder Neurologe kennt die unheilvollen Wirkungen populär-medizinischer Lectüre auf Neurastheniker und weiss, wie schwer ausrottbar die Eigenbeziehungen sind, die man¬ gelnde Fachkenntniss hier aus gleichgültigsten Symptomen zu züchten pflegt. Gleich ungünstig muss es wirken, wenn der Unfallverletzte die ärztlichen Gutachten kennen lernt, und deren Angaben autosuggestiv auf sich wirken lässt Hierfür liefert einen trefflichen Beleg die fünfte Krankengeschichte in einer jüngst veröffentlichten Arbeit Sei ff er's. Ein Arbeiter hatte in dem ihm übermittelten Gutachten einen Exkurs über „traumatische Neurose“ gelesen, und dass er nicht daran leiden könnte, weil die und die charakteristischen Symptome fehlten. Was zu erwarten war, traf ein; bei der erneuten, vom Reichsversicherungsamt angeordneten Untersuchung fanden sich mehrere Symptome, die vorher als fehlend bezeichnet waren, ja, sogar stark ausgesprochen. Schon diese gefahrvolle suggestive Kraft ärztlicher Urtheile genügt Seiffer,*) um die Abschaffung des bisherigen Mittheilungsusus als „dringend wünschenBwerth“ zu erachten, der Patienten und Aerzten gleich unheilvoll sich erweist. Nicht unterlassen möchte ich schliesslich zu betonen, wie sehr die ohnedies schon genügend verminderte Achtung und Bewerthung des ärztlichen Könnens weiter geschmälert werden muss, wenn der Arbeiter bei der Lectüre ärztlicher Gutachten die oft weit divergirenden Ansichten und Begründungen kennen lernt und so zum unfreiwilligen „Obergutachter“ wird. Was dem Fachmann erklärlich ist, weil in den Naturgesetzen be¬ gründet, dass das gleiche Vorkommniss zu widersprechenden Urtheilen Anlass giebt, kann und muss bei dem Arbeiter nur den Glauben an die Unumstösslichkeit, oder besser gesagt, Un¬ fehlbarkeit der ärztlichen Urtheile erschüttern, und das ist um so bedeutungsvoller, weil so eine Grundbedingung für den ärztlichen Erfolg ins Wanken kommt. Es könnte vielleicht zu Gunsten des § 9 eingewendet werden, dass er, ein unumgängliches Erfordemiss geordneter Berl. kl. Wochenschr. 1900. No. 37. Digitized by Google 1. Dezember 1900. Aerztliche 8achverständigen-Zeitung. 475 Rechtspflege, nur selten zu den geschilderten Konsequenzen führen wird, dass nur selten das Schiedsgericht den Vorsitzen¬ den zu einem andersartigen Handeln zwingen wird, als dieser für gut hält. Das mag sein, doch ist es für die Beurtheilung des Gesetzes gleichgültig, ob es häufig oder selten so wirkt, wie geschildert. Schon die vereinzelte Möglichkeit genügt. Referate. Allgemeines. Beitrag zur Frage der Spermanntersnchnng nach der Methode von Florence. Von Dr. Mari. (Rnukt Archiv PathologU, kllniUcheskoj Mediciny i Bacteriologii 1900, Bd. 10, H. 1.) Verfasser hat eine Reihe von Untersuchungen behufs Nach¬ prüfung der von Florence-Lyon zur Feststellung von Samen¬ flecken angegebenen Reaktion*) ausgeführt und ist dabei zu folgenden Resultaten gelangt: 1. Wird mit dem Florence’schen Reagens Samen bear¬ beitet, der direkt aus den Nebenhoden von Thieren gewonnen ist, so erhält man keine Krystalle. 2. Wird aber mit diesem Reagens eine Flüssigkeit bear¬ beitet, die bei Aufweichung von Samenflecken gewonnen ist, so erhält man stets eine positive Reaktion, wenn es sich um Samen vom Ochsen handelt. Mit dem Samen anderer Thiere erhält man ceteris paribus entweder gar keine Florence’sche Reaktion oder nur bei längerem (24 Stunden) Aufweichen der Samenflecke. 3. Ein aus den Nebenhoden von Thieren hergestellter wässeriger Extrakt giebt stets, selbst bei Azoospermie, eine positive Reaktion. 4. Mit dem Uebergange des Hodenextraktes oder der beim Aufweichen von Samenflecken gewonnenen Flüssigkeit in Fäul- niss verschwindet die Reaktion. 5. Soeben ejakulirtes Sperma von Menschen giebt eine ebensolche typische Reaktion, wie auf Geweben eingetrockne¬ tes Sperma. 6. Samenflecke, die von menschlichem bezw. Ochsensamen herrühren, geben eine positive Reaktion unbeschränkt lange, jedoch unter der Bedingung, dass die Samenflecke trocken auf¬ bewahrt werden. 7. Die Bildung der Florence’schen Krystalle geht deut¬ licher vor sich, wenn sich der zu untersuchende Tropfen mit dem Tropfen des Reagens nicht vermengt, sondern wenn sich die beiden Tropfen nur berühren. 8. Das Florence’sche Reagens muss nicht weniger als 1,27 g Jod, 1,65 g Jodkali und 30,0 g Wasser enthalten. 0. Ein nur aus Samen hergestellter wässeriger Extrakt giebt keine Florence’sche Reaktion. 10. Werden mehrere Untersuchungen auf Florence’sche Reaktion hintereinander angestellt, so ist dafür zu sorgen, dass *) Das von Florence angegebene Verfahren ist bekanntlich folgendes: Aus dem verdächtigen Fleck wird ein kleines Stück heraus¬ geschnitten, auf den Objektträger gelegt, mit einem Tropfen Wasser angefeuchtet und dann nach einigen Minuten entfernt. Zu dem auf dem Objektträger zurückbleibenden Wassertropfen wird ein Tropfen von dem von Florence zu diesem Zwecke angegebenen Reagens (1,65 g Jodkali, 2,54 g Jod und 30,0 g destillirten Wassers) hinzuge¬ setzt. Beide Tropfen werden hierauf mit dem Deckgläschen bedeckt, wobei sie sich natürlich vermischen. Das Präparat wird nun mikro¬ skopisch untersucht. Handelt es sich wirklich um einen Samenfleck, so erblickt man grosse Mengen von braunen Krystallen in Form von Strichen, Nadeln oder rhomboiden Täfelchen, die grosse Aehnlichkeit mit Häminkrystallen besitzen. die etwa bei den vorhergehenden Analysen gewonnenenKrystalle nicht auf die folgenden Präparate verschleppt werden. 11. Dem Samen des Menschen steht der des Ochsen am nächsten. Letzterer unterscheidet sich von dem ersteren jedoch dadurch, dass er im frischen Zustande keine Florence’sche Reaktion giebt. 12. Die Ansicht Johnston’s, dass der thierisohe Samen eine „Pseudoreaktion“ giebt, ist unbegründet. Lb. Zur forensischen Bedeutung der durch chemische Mittel erzeugten Eiterung. Von Kreiswundarzt Dr. Moritz Mayer-Simmem. (Vierteljahrsschrift fttr gerichtl. Mediiin etc. S. Folge, XVn, 2.) Die pyogenen Mittel kommen für den Gerichtsarzt theo¬ retisch insofern in Betracht, als durch die Frage der Auf¬ saugung differenter Stoffe von der unverletzten Haut, wie von frischen und granulirenden Wunden her die Unterschiede von der rein bacillären Eiterung berührt werden, praktisch aber deshalb, weil einerseits schon seit Langem die Kurpfuscher allerdings nur bestimmte Mittel dieser Gruppe anwenden, andererseits hier und da die eitererregende Wirkung in forensischen Fällen innerer Vergiftung als diagnostisches Hilfs¬ mittel verwerthet werden kann. Verfasser bespricht die ganze Frage im Zusammenhang und giebt zunächst eine allgemeine Uebersicht über Eiterungen nach Anwendung pyogener Mittel In Frage kommen hier das Quecksilber, Argentum nitricum. Crotonöl, Cantharidin, Morphium- und Opiumeinspritzungen.- Ein besonderer Abschnitt ist dem Terpentinöl gewidmet, dessen Einwirkung auf die äussere Haut und das Unterhautgewebe besprochen wird. Wir behalten uns vor, auf Einzelheiten zurückzukommen, wenn der zweite angekündigte Artikel zu der Frage erschienen ist. —y. Chirurgie. Ueber die Behandlung der akuten primär-synovialen Eiterungen der grossen Gelenke. Von Privatdozent Dr. Hartmann. Aus der chirurgischen Klinik zu Jena. (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 67, Heft S und 4. 1900.) Hartmann hat an der Hand von 61 beobachteten Fällen in einer ausführlichen Arbeit die in der chirurgischen Klinik zu Jena übliche Behandlungsweise der primären Gelenkeite- rungen einer eingehenden Besprechung unterzogen. — Durch unsere Behandlung müssen wir ohne verstümmelnde Opera¬ tionen ein möglichst bewegliches Gelenk zu erhalten suchen; die Resektionen können in den meisten Fällen bis zuletzt auf¬ gespart werden; eine Amputation ist kaum jemals erforderlich. Am besten lässt sich die Art der Behandlung bei den verschiedenen Abstufungen der Entzündung und Vereiterung am Kniegelenk verfolgen. Handelt es sich um ganz leicht inflzirte Gelenke, in deren Flüssigkeit sich Fasern und zarte Häutchen nur in geringer Menge finden, so wird zunächst das Gelenk punktirt und fünfproz. Karbolsäure eingespritzt. Bei milder Infektion kommt man durch dieses Verfahren stets zum Ziel; nöthigenfalls ist die Ausspülung und Einspritzung zu wiederholen. Die zweite Instanz der Behandlung besteht in Punktion mit nachfolgender Einführung kleiner Drains in das Gelenk. Diese Behandlungsweise soll nach Verf. die besten Erfolge geben, ist jedoch nur bei mässig starker Infektion zu empfehlen; bei schwereren genügen die sehr engen Oeffnungen zum Ab¬ fluss der Absonderungen nicht. Besteht schon Schwellung in der weiteren Umgebung des Gelenks und höheres Fieber, so soll man sich mit den Punk¬ tionen nicht aufhalten, sondern in das Gelenk durch einen Ein- Digitized by Google 476 Aerztliche 8aohverständigen-Zeitung. No. 23. schnitt zu jeder Seite der Kniescheibe eindringen und für freien Abfluss des Eiters Sorge tragen. Mit kleinen Schnitten kommt man in diesen Fällen nicht aus, man muss vielmehr zu beiden Seiten der Kniescheibe das Gelenk durch einen grossen Längsschnitt eröffnen, der auch die oberen Ausstülpungen desselben völlig freilegt. Riedel hat in letzter Zeit diesen beiden Schnitten noch einen Querschnitt hinzugefügt, welcher ähnlich dem Volkmann’schen Resektionsschnitt quer über die Kniescheibe verläuft und zu beiden Seiten nach Durchtrennung der Seitenbänder an den hintersten Ausladungen der Ober¬ schenkelknöchel in der Höhe der hinteren Kapselwand endigt. Durch zwei in die Wundwinkel gelangte Drains ist ein völliger Abfluss der Eitermassen aus dem Gelenk gesichert. Durch diese Schnitte werden allerdings die in grosser Anzahl um das Gelenk angeordneten und theilweise mit ihm in Verbindung stehenden Sohleimbeutel nicht sämmtlich er¬ öffnet. Besteht also in diesen eine hartnäckige Eiterung, ohne dass ein Abfluss möglich wäre, so kann vielleicht die nach Volkmann ausgeführte Resektion, welche einen vollen Einblick in alle Winkel und Taschen des Gelenks und seine Schleimbeutel gestattet, noch Heilung bringen. Die Ampu¬ tation sollte als letztes Hilfsmittel für die verschleppten Fälle aufbewahrt bleiben, in denen der Eiter an verschiedenen Stellen die Gelenkkapsel durchbrochen hat und in grosser Ausdehnung zwischen die Muskelmassen gelangt ist. Auch bei den Vereiterungen des Fussgelenks können die Grenzen der konservativen Chirurgie im Grossen und Ganzen sehr weit ausgedehnt werden, während die Eiterungen der Fusswurzelgelenke ungünstiger verlaufen und meistens eine Abtragung des Fusses nothwendig machen. Bei starker Eiterung im Sprunggelenk eröffnet Riedel mit den auf den vorderen Rändern beider Fussknöchel verlaufenden König’schen Längsschnitten das Gelenk und löst die zwischen beiden Wunden gelegenen Weichtheile ab. Dann folgen zwei hintere, bogenförmig um die Knöchel herumlaufende, gleichfalls 12 bis 15 cm lange Längsschnitte, welche unter sorgfältiger Schonung der Nerven und Gefässe die hinteren Theile des Gelenks frei- legen. Nach schräger Durchschlagung beider Knöchel lässt sich das Fussgelenk luxiren und die erkrankte Gelenkkapsel leicht entfernen. Tritt die Erkrankung weniger heftig auf, so führt zuweilen schon die Eröffnung des Gelenks durch diese vier oder auch nur die beiden hinteren Schnitte und Einführung von Drains in die Wundwinkel zum Ziele. Ist die Infektion jedoch eine sehr schwere, so bleibt nur die Abtragung des Fusses übrig, wenn mau nicht durch den vorderen Querschnitt nach Hueter, welcher von einem Knöchel zum anderen verlaufend alle Sehnen, Nerven und Gefässe durchtrennt, einen letzten Versuch machen will, den Fuss zu retten. Bei leichten Eiterungendes Ellenbogengelenks werden allgemein Einschnitte zu beiden Seiten der Strecksehne empfohlen, welche jedoch einen genügenden Abfluss aus dem vorderen Gelenksack nicht gestatten. Auch ein Einschnitt an der Vorderseite zwischen Oberarm und dem Köpfchen der Speiche gewährt nur mangelhaften Abfluss. Bedeutend besser wirkt die Eröffnung des Gelenks durch den Langenbeck’schen Resektionsschnitt auf der Kante der Elle mit nachfolgender Ablösung der Knochenhaut und Einführung eines Drains in den vorderen Sack des mässig gebeugten Gelenks. Riedel hat durch den Ellenbogenfortsatz eine Abflussöffnung für den vorderen Gelenksack gebohrt und war in einem von zwei Fällen mit dem Erfolge sehr zufrieden. Recht ungünstig liegen die Drainageverhältnisse bei dem Hüftgelenk. In manchen Fällen kommt man mit der Er¬ öffnung des Gelenks sowie Abmeisselung eines Theiles der hinteren Pfannenwand und Einführung eines dicken Drains zwecks Herstellung besserer Abflussverhältnisse zum Ziele; in den meisten Fällen wird jedoch eine Resektion nicht zu ver¬ meiden sein. Bei derselben ist gleichzeitig der grosse Roll¬ hügel in grösserer Ausdehnung abzutragen, damit er nicht die Gelenkhöhle von der Aussenwelt abschliesst und den Abfluss von Eiter aus derselben unmöglich macht. Das Schultergelenk eröffnet man am besten am hin¬ teren Rande des dreieckigen Muskels und sorgt von hier aus für gute Entleerung des Eiters. Auch an diesem Gelenk wird eine Resektion oder Exartikulation oft nicht zu umgehen sein. Bei den Vereiterungen des Handgelenks wird in der Jenenser Klinik stets sofort zur Resektion des Gelenks ge¬ schritten, da die Anordnung desselben eine Drainage nicht zulässt. Nhs. Beitrag zur Frage der freien Gelenkkörper. Von Stabsarzt Dr. Franz. (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 67, Heft 3 und 4. 1900.) Ein erblich nicht belasteter, bis dahin völlig gesunder Mann von 20 Jahren bekam beim Bajonettiren einen Stoss vor die Brust, so dass er mit dem rechten Knie nach innen umknickte und nach hinten auf den Rücken fiel. Er fühlte sofort einen heftigen Schmerz und ging hinkend nach Hause, wo er eine starke Schwellung des Gelenks bemerkte. Bei der ärztlichen Untersuchung fand sich ein hochgradig ge¬ spannter Erguss im Gelenk, nach dessen Aufsaugung (14 Tage nach der Verletzung) an der Aussenseite des Gelenks dicht neben dem oberen Rande der Kniescheibe ein beweglicher Körper von 2 cm Länge und Breite festgestellt wurde. Bei der Operation konnte ein völlig freies Knorpelstück von der angegebenen Grösse aus dem Gelenke entfernt werden, welches seiner Gestaltung nach der vorderen oder hinteren Fläche des äusseren Oberschenkelknöchels angehörte. Band¬ verbindungen besass es nicht. Die Verletzung heilte mit Hinterlassung geringer Beschwerden. Die Krankengeschichte lehrt, dass auch ohne eine erheb¬ liche Gewalteinwirkung und zwar auf indirektem Wege eine schwere Zerstörung der Gelenkoberfläche, bestehend in Ab¬ sprengung einer Knorpelplatte entstehen kann. König macht bekanntlich für die meisten derartigen Fälle eine spontane Osteochondritis dissecans verantwortlich. Nhs. Veber Fremdkörper in Gelenken, nebst einer Bemerkung zur Asepsis der Operationen und der Behandlung der Meniscusablösung. Von Dr. Katzenstein. (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 57, Heft 3 und 4. 1900.) K. beobachtete eine kleine Patientin, bei welcher er, ohne dass eine sichere Vorgeschichte vorlag (nur ein Fall auf das Kniegelenk war bekannt), aus der lange andauernden Schwellung des Gelenks, dem oft plötzlich auftretenden sehr heftigem Schmerz u. s. w., die Diagnose auf einen Fremdkörper im Gelenk stellen konnte. Die vorgenommene Röntgen-Photo¬ graphie bestätigte die Vermuthung, da sie deutlich das Bild einer halben Nähnadel im hinteren Theile des Gelenks zeigte. Trotz genauer Feststellung des Sitzes der Nadel musste das Gelenk unter Aufklappen der Kniescheibe breit geöffnet wer¬ den, ehe die an der Hinterseite des Gelenks liegende Nadel entfernt werden konnte. Die Gelenkwunde heilte, ohne irgend welche Störungen zu hinterlassen. Verf. bespricht im Anschluss an diesen Fall die Technik der Gelenkeröffnung und kommt unter Anderem zu folgenden Schlussfolgerungen. Ein im Anschluss an eine Verletzung entstandener und Digitized by Google 1. Dezember 1900. Aentliehe Sach verständigen-Zeitung. 477 trotz entsprechender Behandlung lange bestehender Erguss eines Gelenkes muss uns auf eine besondere, im Gelenk be¬ stehende Veränderung hin weisen. Die Entfernung von Fremdkörpern aus Gelenken ist, wenn sie Erscheinungen machen, dringend geboten und muss nöthi- gen Falls durch breite Eröffnung des Gelenks mit Durch¬ schneidung der Bänder und systematischer Absuchung des Ge¬ lenks ausgeführt werden. (Eine genaue Feststellung des Sitzes des Fremdkörpers durch Röntgen-Aufnahmen in verschiedenen Ebenen dürfte unserer Erfahrung nach auch beim Kniegelenk breite Eröff¬ nung zwecks Entfernung unnöthig machen. Allerdings ist man gezwungen, gleich im Anschluss an die Aufnahme zu operiren, damit nicht inzwischen ein Wandern des Fremdkör¬ pers stattfindet. Ref.) Die Voraussetzung dazu ist eine sichere Beherrschung der Asepsis (Operiren mit Instrumenten und nicht mit Händen) und der Technik (exakte Naht). Bei der durch Verletzung entstandenen Ablösung des halbmondförmigen Knorpels von der Unterfläche ist seine An- nähung an die Gelenkkapsel als die Normaloperation zu be¬ zeichnen. Nhs. Zur Frage der Blutergelenke. Aus der chirurgischen Klinik in Greifswald. Von Prof. Dr. Tilmann. (Deutsche Aerste-Zeitung, 1900, No. 19. (1. X) Ein 22jähriger Schneider, nicht aus einer Bluterfamilie stammend, hatte 3 Jahre vor der Aufnahme im Krankenhaus auf Stoss eine Anschwellung des 1. Knies gehabt, welche, nach¬ dem sie sich von selbst zurückgebildet hatte, bei den Anstren¬ gungen des Militärlebens 2 Jahre später wieder auftrat, sodass sie zur Entlassung des Patienten führte. 2 Monate vor dem Krankenhausaufenthalt schwoll nach einem Marsche das Knie wieder an und die Schwellung blieb bestehen. Schmerzen und Schwellung sollen in der Zwischenzeit wechselnd gewesen sein. Die Untersuchung des stark angeschwollenen, in der Streckung gamicht, in der Beugung über den rechten Winkel behinderten, Knies, lieBS bei festem Bandapparat, neben Fluk¬ tuation in der oberen Tasche und an der Innenseite beweg¬ liche, mittelharte Körper durchfühlen, welche, da eine Tuber¬ kulininjektion (0,001) negatives Ergebniss hatte, als „Lipoma arborescens“ gedeutet wurden. Die Operation förderte von einem 10 cm langen, an d. Innenseite geführten Schnitt aus neben normaler Geleukschmiere, 36 erbsen- bis mandelgrosse, glatte, graurothe, weiche, elastische Körper hervor, welche lose im Gelenk lagen, 2 in der Gegend der Kreuzbänder festgewach¬ sene konnten durch Zug leicht entfernt werden. Die ganze Synovialhaut war glatt, glänzend, dunkelbraunroth gefärbt. Jodoformglycerinspülung, Naht. Schmerzen zwangen am 4. Tage zum Verbandwechsel, bei welchem sich aus dem Gelenk, ohne dass spritzende Gefässe sich fanden, grosse Massen arteriell gefärbten Blutes entleerten. Tamponade und Druckverband brachten die Blutung zum Stehen, doch wiederholte sich die¬ selbe jedesmal beim Lösen des Druckverbandes, sodass trotz Gelatineinjektion und Spülungen mit Ferrum sesquichloratum und Wasserstoffsuperoxyd der Pat. 3 Wochen nach der Ope¬ ration an Erschöpfung zu Grunde ging. Die Sektion ergab neben zahlreichen, bis linsengrossen, gestielten Fibringerinnseln, welche, leicht entfernbar, an den Kreuzbändern festsassen, Füllung der erweiterten Gelenkhöhle mit zum Theil vereiternden Blutgerinnseln, stark blaurothe, auf erhöhtem Gefässreichthum beruhende Färbung der ganzen Synovialhaut und fleckweise Trübung des, theils mit fibrinösen, theiis mit eitrigen Massen belegten Knorpels. Die Gelenkkörper erwiesen sich als ge¬ schichtete Gerinnsel mit einzelnen eingestreuten Endothelzellen und amorphem Blutpigment, die neuen Auflagerungen der Ge¬ lenkauskleidung enthielten noch erkennbare Blutkörperchen, die alten nur Pigment und Haematoidinkrystalle. Verfasser vermuthet, dass unter früher beschriebenen Fällen von Lipoma arborescens auch Blutergelenke mitin¬ begriffen sein können, sein Fall dient zur Warnung, nicht vor¬ schnell zum Messer zu greifen. Die Entstehung der freien Gelenkkörper glaubt Verf. auf losgelöste Fibringerinnsel zu¬ rückführen zu müssen, welche als Folge einer durch die mehrfachen Blutergüsse eingetretenen Entzündung der Syno¬ vialhaut aus serofibrinösen Niederschlägen sich entwickelten. Seelhorst. Ceber einen operirten nud einen nicht operirten Fall von Coxa vara traumatica. Von Sprengel. (Arch. f. klio. Chirurgie. Bd. 59. H. 4.) Sprengel hatte als erster an zwei Präparaten von Coxa vara, die er durch Resektion oberhalb des Trochanters ge¬ wonnen hatte, nachweisen können, dass das typische, klinische und anatomische Bild der Coxa vara nicht bloss durch statische, sondern auch durch traumatische Veränderungen zu Stande kommen kann. Nach seinen Erfahrungen an drei Fällen kommt die traumatische Lösung der Kopfepiphyse des Femur und die Wiedervereinigung mit dem Schenkelhals an abnormer Stelle sogar viel häufiger vor, als man bisher annahm. S. zeigt an seinem einen unoperirten Falle, dass man die Diagnose der traumatischen Coxa vara aber auch vor der Operation stellen kann. Dass Coxa vara vorliegt, ergiebt sich aus der reellen Verkürzung des Beines durch Hochstand des Trochanters, der Aussenrotation und der Adduktion. Die Beweglichkeit ist in dem speziellen Falle, wie häufig, nicht nur bezüglich der Einwärtsrotation und Abduktion, sondern in jedem Sinne eingeschränkt. Für Coxa vara spricht, dass es sich um ein männliches Individuum am Ende der Wachsthums¬ periode handelt. Dafür, dass es sich um eine Veränderung an der Stelle der subkapitalen Epiphysenlinie handelt, spricht vor allem die Ho 'hgradigkeit der Gelenkkontraktur, die natürlich um so be¬ trächtlicher sein muss, je näher die Fraktur oder Lösung im Schenkelhälse dem Hüftgelenke liegt; ferner spricht dafür das Roentgenbild, auf welchem deutlich zu sehen ist, dass der Schenkelhals bis zu der Stelle, wo er mit scharfem Knicke nach unten abzubiegen scheint, völlig unverändert ist. Für Coxa vara traumatica spricht nun in dem unope¬ rirten Falle Sprengels 1. die absolute klinische Ueberein- stimmung mit den beiden operirten und anatomisch unter¬ suchten Fällen, 2. der Nachweis des Traumas. Da letzteres erfahrungsgemäss häufig so geringfügig ist, dass die Kranken selbst gar keinen Werth darauf legen, so müssen wir bei der Anamnese hauptsächlich dann nach einem Trauma forschen, wenn die Krankheit plötzlich aufgetreten ist; wenn im Anfang der Erkrankung heftige Schmerzen bestanden, die relativ schnell wieder verschwanden, wenn die Erkrankung einseitig auftritt und andere Belastungsdeformitäten fehlen. Bei beiden operirten Fällen wurde im orthopädischen Sinne ein tadelloses Resultat erreicht, indem die Verkürzung durch Beckensenkung zum grössten Theile ausgeglichen wurde und das neue Gelenk in beiden Fällen fest und hinlänglich beweglich wurde. Mit einem Stock vermögen die beiden operirten Kranken gut zu gehen, während sie ohne Stock auf der operirten Seite doch Btark hinken. Bei dem nicht operirten Kranken hat sich die funktionelle Verkürzung allmählich auf 11 cm gesteigert (reelle Ver- Digitized by Google 478 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No 23. kürzung 6 cm und Erhebung der krankeu Beckenhälfte 5 cm), wodurch er doch in seiner Bewegungsfähigkeit sehr geschädigt ist, so dass es immerhin berechtigt erscheint, den ernsten Eingriff der Hüftresektiou zur Erreichung des orthopädischen Resultates auszuführen. Stabei. Die Osteotomie bei der Behandlung der Hfiftgelenks- deformitaten. Von A. Hoffa. (Separatabdruck ans der Festschrift der Phys.-med. Gesellschaft in WUrzburg.) In der kleinen Broschüre behandelt H. die neuerdings immer häufiger ausgeführte Operation mit der ihm eigenen Klarheit und anerkennenswerthen Objektivität. Nach einer kurzen Be¬ sprechung der Geschichte der Osteotomie am Hüftgelenk geht Hoffa ganz genau ein auf die allgemeine Technik und die Prognose der Osteotomie. Er führt auf der Aussenseite des Vastus externus einen Schnitt bis auf den Knochen, setzt dann am unteren Pole der Wunde einen breiten König’schen Meissei etwas schief zur Längsachse des Knochens ein und dringt mit leichten Schlägen soweit vor, bis nur noch wenige Knochen¬ lamellen stehen bleiben. Dann zieht er den Meissei heraus und zerbricht den letzten Rest der Knochenbrücke mit den Händen. Die Wunde wird dann ohne Naht und Drainage mit einem aseptischen Verbände versehen. Bei dieser Methode ist eine Gefährdung durch die Osteotomie fast ausgeschlossen. Die lineäre Osteotomie hat Hoffa in dieser Weise ausser bei Deformitäten durch tuberkulöse Coxitis, auch bei solchen, die durch Lues, Rheumatismus articulorum acutus, Osteomye¬ litis und Scarlatina hervorgerufen waren ausgeführt, ferner bei Patienten, bei denen vorher die blutige Reposition der ange¬ borenen Hüftgelenkluxation erfolglos ausgeführt worden war. Da bei Kranken, die das zehnte Lebensjahr überschritten haben, die blutige Reposition nach Hoffa’s Methode wegen der anatomischen Veränderungen am Schenkelkopf überhaupt nicht mehr ausführbar ist, hat er bei diesen von vornherein die Osteotomia sustrochanterica obliqua zur Ausführung gebracht, wenn bei einseitiger Luxation eine stärkere Adduktionsstellung und Verkürzung des Beines bestand. Endlich empfiehlt Hoffa die Osteotomia subtrochanterica auch bei den Fällen von Coxa vara, welche von vornherein mit grossen anatomischen Ver¬ änderungen und Gebrauchsstörungen einhergehen. Es gelingt, durch die Operation die reelle Verkürzung zu verringern und die Abduktion wieder in ausgiebigster Weise zu ermöglichen. Stabei. Ceber blutige Reposition von pathologischen nnd ver¬ alteten traumatischen Luxationen des Hüftgelenks bei Erwachsenen. Von Privatdocent Dr. Payr. Aus der K. K. Chirurg. Klinik des Prof. Dr. Nik oladoni-Graz. (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. B. 57, Heft 1 und 2. 1900.) In zwei Fällen von Spontanluxation nach Gelenkrheuma¬ tismus und bei einer veralteten traumatischen Luxation des Hüftgelenks wurde die blutige Reposition mit Glück ausgeführt. Auf Grund von Literaturstudien und unter Berücksichtigung seiner eigenen Erfahrungen kommt Verfasser zu folgenden Schlüssen. Die meisten im Anschluss an Scharlach, Typhus, Gelenk¬ rheumatismus, Masern u. s. w. auftretenden Hüftgelenksluxa¬ tionen bei Kindern und Erwachsenen sind, eine Ausheilung des sie veranlassenden Krankheitsprozesses vorausgesetzt, ganz derselben Behandlungsmethode zu unterwerfen, wie die trau¬ matischen. Stets ist zunächst unblutige Reposition zu versuchen, welche zuweilen auch in veralteten Fällen noch gelingt, in anderen jedoch wegen Zwischenlagerung von Kapseltheilen, Ausfüllung der Pfanne mit festen, derben Kallusmassen, Verkürzung der Weichtheile u. s. w. unausführbar ist. Nach einiger Zeit hat sich die blutige Reposition, am besten mit der Kocher’schen Schnittführung anzuschliessen. Die blutige Reposition nicht nur der traumatischen, sondern auch der pathologischen Hüftgelenksluxationen giebt oftmals sehr gute funktionelle Resultate (völlige oder partielle Wieder¬ kehr der Beweglichkeit); aber auch in jenen Fällen, in denen das Gelenk nach langem Bestehen, nach tiefen Veränderungen an den Gelenkenden steif wird, sind die statischen Folgen der gewöhnlich hochgradigen Verkürzung (Luxatio iliaca) vermie¬ den, und ist der Gang ein ungleich besserer. Grosses Gewicht ist in allen Fällen darauf zu legen, dass keine erhebliche Adduktionsstellung entsteht; leichte Abduktion ist das Beste. Zur blutigen Reposition eignen sich besonders die im Anschluss an die erwähnten Infektionskrankheiten entstandenen Luxationen, und zwar besonders jene Formen, welche die Folge eines mächtigen Gelenkhydrops sind. Hier sind die Veränderungen an den Gelenken meist nicht hochgradig. Lange Zeitdauer der Luxation verschlechtert die Prognose für die blutige Reposition erheblich. An den ausser Berührung stehenden Gelenkenden entstehen, auch wenn sie primär nicht verletzt oder erkrankt sind, schwere sekundäre Veränderungen, wie Knorpelschwund, Deformation u. s. w. Nhs. Ein Fall von Luxation der Patella nach Abriss der Qnadricepssehne. . Von Dr. Ernst Schmidt, Aas.-Arst der cliir. Abthlg. Aus dem Knappschaftslazareth zu Völklingen a. Saar, dirig. Arzt Dr. Hausmann. (CeDtralblatt fttr Chirurgie. 1900. No. 41.) Ein 16jähriger Bergarbeiter zog sich die Verletzung durch Ausgleiten und Fall zu, indem er mit dem linken Knie auf die Kante einer Schiene aufschlug. Rechtwinklige Beugestel¬ lung des linken Knies, Bluterguss in der oberen Gelenktasche; Einkeilung des oberen Kniescheibenrandes zwischen die Gelenk¬ flächen der Ober- und Unterschenkelknochen macht aktive und passive Bewegungen fast unmöglich, der untere Knie¬ scheibenrand springt stark vor. Ein wohlgelungenes Röntgen¬ bild erläutert diese Verhältnisse. Die Rückführung der Knie¬ scheibe in ihre richtige Lage gelang erst auf blutigem Wege, dabei wurde die gänzliche Abreissung der Sehne des vierköpfi¬ gen Streckmuskels festgestellt. Auf Sehnennaht wurde ver¬ zichtet, die Wunde genäht, ein Druck verband für sechs Tage an¬ gelegt. Sodann wurde sofort mit passiven Bewegungen und Fara- disation des Quadriceps begonnen. Nach 14 Tagen waren aktive Bewegungen möglich, Ende der fünften Woche geht Patient ohne Stock, Ende der siebenten vermag er bereits Laufschritt zu machen. Bei Sehnennaht würde die Möglichkeit, Bewegungen vorzunehmen, erheblich verzögert worden sein. Seelhorst. Zar operativen Behandlung der habituellen Schulter- luxation. Von cand. med. Josef Müller-Beckenried. Aus d. Chirurg. Ambulatorium des Herrn Dr. Krona eher-München. (Münchener medizinische Wochenschrift No. 40. 1900.) Die Dauerheilung einer habituellen Luxation kann nur von energischem operativen Eingreifen erwartet werden, welches bei intaktem Knochenapparat in Verkleinerung der erweiterten Kapsel, bei Knochenabnormitäten zweckmässiger Weise in Re¬ sektion des Oberarmkopfes zu bestehen hat. Digitized by Google 1. Dezember 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 479 Es wird ein Fall mitgetheilt, in welchem eine immer- wiederkehrende Oberarmluxation nach vierjährigem Bestehen mit vollem Erfolg operirt wurde, indem die stark erweiterte Gelenkkapsel von einem von vorn und der Achselhöhle aus das Gelenk freilegenden Schnitte durch Ausschneidung eines 4 cm langen und iy 2 cm breiten Stückes und Faltennaht der oberen, vorderen und axillaren Partien verkleinert wurde. Pri¬ märe Heilung, nach fünf Wochen Beginn der Bewegungen. Seelhorst. Eine Kontraindikation der Esmarch’schen Blutleere, hergeleitet ans den Beobachtungen nach einer Doppel¬ amputation der Oberschenkel (mit einer Anmerkung über Fremdkörperpathologie). (Aus dem Stadt, u. Bezirkskrankenhause in Ohrdrup.) Von Dr. A. Stüber. (Correspondenibl. des allgem. Krztl. Vereins von Thüringen, 19, Heft 5.) Verf. hatte Gelegenheit, mit einem Kollegen zusammen bei einem Manne mit Altersbrand an beiden Füssen, die Am¬ putation beider Oberschenkel gleichzeitig auszuführen, indem jeder der Aerzte ein Bein vornahm. Verf. operirte rechts nach dem Rose’schen Verfahren, der andere Arzt, Dr. Weigel, linkerseits mit Esmarch’scher Blutleere. Der rechte Stumpf blieb an dem einen Tage, an welchem Pat. noch lebte, reak¬ tionslos, links schwoll der Stumpf an und belegte sich schmie¬ rig. Bei der Sektion fand sich ausser der missfarbigen Schwellung und Durchtränkung des linken Stumpfes noch eine gasproduzirende entzündliche Veränderung des Lebergewebes. Da Verf. eine Infektion des linken Stumpfes begründeter- massen ausschliessen kann, so kommt er zu dem Schluss, dass „das Esmarch’sche Verfahren kontraindizirt ist bei Am¬ putationen wegen primärer idiopathischer Erkrankungen der Gefässwände, weil durch den temporären Blutabschluss und durch Thrombenbildung in den Gefässen erhebliche Schädi¬ gungen der Gewebe des Amputationsstumpfes bewirkt werden können, in besonders erhöhtem Masse dann, wenn gleichzeitig angenommen werden muss, dass in den Geweben des betref¬ fenden Gliedes Bakterien in erheblicherer Menge vorhanden sind“, die bei Lösung des Schlauches sehr leicht in den Kreis¬ lauf verschleppt werden können. Er empfiehlt aus diesem Grunde allgemeinere Anwendung des Rose’schen Verfahrens. Seelhorst. Innere Medizin. Ein Fall von chronischem (angeborenem) Volvulus coeci. Von Dr. Theodor Haus mann- Brest-Litowsk. (Centralblatt für Chirurgie, 1000, No. 42.) Ein 28jähriger, von jeher an Hartleibigkeit und damit ver¬ bundenen Schmerzen leidender Landmann wurde nach 8 Tage lang anhaltender, mit Schmerzen und zeitweiligem Erbrechen verbundener Stuhl- und Gasverhaltung der Klinik überwiesen. An dem sehr aufgetriebenen Abdomen linkseitig Dämpfung und Resistenz, rechtseitig vom Nabel grösste Schmerzhaftigkeit. Bei der sofort vorgenommenen Operation wird vor der linken Biegung des Colon das Coecum durch 2 alte Verwachsungen an Zwerchfell und grossem Netz angeheftet vorgefunden, nach rechts verlaufend, nach unten bogenförmig gekrümmt das enorm erweiterte, kolossal dickwandige Colon, welches auf der rechten Seite unter dem straff gespannten Mesenterium des Dünndarms verschwindet und von ihm völlig komprimirt wird. Das für Dünndarm, Coecum und Colon ascendens gemeinsame Meten- terium war an der Stelle der Abklemmung unterbrochen, der Dickdarm an dieser Stelle in 8 cm Länge festgewachsen, ge¬ schrumpft, seine Lichtung aufgehoben, seine Wandung theils nekrotisch, theils narbig verändert, ein federkieldicker Narben¬ strang zieht, von rechts aussen nach links innen spiralig ge¬ wunden, über die unterernährte Partie. Nach Resektion des nekrotischen Theils wird das proximale Darmstück geschlossen, das Schnittende des distalen in die Hautwunde genäht. Tod 1 / 2 Std. nach der Operation. Seelhorst. Beitrag zur Frage der extragenitalen Infektion an Viens molle. Ulcus molle des Mastdarms. Von Dr. A. Chitrowo, Assistent an der Klinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten von Prof. A. Ge zu Kasan. (Medicinskoe Oboerenie 1900, Bd. 53, H. 4) Dem Beitrag liegt ein Fall zu Grunde, der doppeltes In¬ teresse beansprucht. Erstens handelt es sich hier um Ulcus molle der höher gelegenen Parthien des Mastdarms, was an und für sich ein sehr seltenes Vorkommniss ist; zweitens ist der Infektionsmodus in diesem Falle ein in hohem Masse un¬ gewöhnlicher und von solcher Art, dass man kaum berechtigt sein könnte, den Infektionsmodus, wie es Verf. thut, als einen „extragenitalen“ zu bezeichnen. Der Fall betrifft einen 40jährigen Arbeiter, der, als er einmal stark betrunken im Freien eingeschlafen war, von Persern (der Vorfall spielte im Kaukasus) überfallen und zum Coitus per anum missbraucht wurde. Am folgenden Tage verspürte der Patient Schmerzen bei der Defäcation. Bald darauf stellten sich auch Blutungen aus dem Mastdarm ein. Nach zehn Tagen wurden die Schmerzen im Anus so stark, dass der Patient weder sitzen noch gehen konnte. Gleichzeitig begann mit der Defäcation Eiter abzugehen. Im Krankenhause zu Baku wurde weicher Schanker diagnostizirt und entsprechende Behandlung mit Suppositorien und Aus¬ spülungen des Mastdarms eingeleitet. Der Erfolg blieb jedoch aus, ebenso wie bei der nach einem Monat erfolgten Behand¬ lung im Krankenhause zu Astrachan. Nach weiteren zwei Monaten kam der Kranke nach Kasan. Spiegeluntersuchung des Mastdarms ergab nun auf der vorderen und hinteren Darmwand in einer Entfernung von 4 cm vom Anus zwei Geschwüre, welche sich 3 cm weit nach oben ausdehnten, auf die Seitenwände des Mastdarms übergiugen und hier teil¬ weise konfluirten. Die Form dieser Geschwüre war unregel¬ mässig, der Grund uneben und mit reichlichen Eitermengen bedeckt. Die Geschwüre sind ziemlich tief, namentlich auf der vorderen Mastdarmwand. Bei Betastung fühlen sich so¬ wohl die Ränder als auch der Grund der Geschwüre weich an und sind sehr schmerzhaft. Behandlung: Täglich Verab¬ reichung von Abführmitteln, Jodoformsuppositorien, täglich mehrmalige sorgfältige Ausspülungen des Mastdarms (nach der Defäcation), zunächst mit konzentrirter Borsäurelösung und dann mit Karbolsäure (Ac. carbol. 1.0, Spirit, serpyl. 10.0, Aq. plumbi 200.0). Unter dieser Behandlung trat inner¬ halb 14 Tagen fast vollständige Heilung ein. Im vorstehenden Falle machte die Diagnose natürlich gar keine Schwierigkeiten. Es ist aber zweifellos, das Ulcera mollia des Mastdarms auch wenig charakteristische Merkmale darbieten können. Man muss also, dieses Umstandes einge¬ denk, bei der Differentialdiaguose von ulcerösen Pro¬ zessen des Mastdarms ausser Tuberkulose, Syphilis, Carcinom etc. auch Ulcus molle in Betracht ziehen, das zwar selten vor¬ kommt, aber zu ernsten Komplikationen führen kann. Lb. Digitized by Google 480 Aerztllohe Sachverständigen-Zeitung. No. 28. Ueber die gegenseitigen Beziehungen von Alkoholmiss¬ brauch und Unfall als Ursachen geistiger Erkrankung. Von Dr. Erdmann Müller-Zittau. (Arcb. f. UDf&llheUk. 111. Bd. H.2.) Das gesammte grosse Material der Anstalt Dalldorf — etwa 8000 Krankengeschichten — hat als Grundlage der mit ungemeinem Fleiss ausgeführten Arbeit gedient, welche dem¬ entsprechend ein wahres kasuistisches Nachschlagewerk ge¬ nannt werden kann. Sie ist, soviel uns bekannt ist, die letzte gewesen, die zu vollenden dem jungen Autor beschieden war — er weilt nicht mehr unter den Lebenden. Im Folgenden soll, da die Berücksichtigung der Kasuistik einen zu breiten Raum einnehmen würde, nur der Gedanken¬ gang des Aufsatzes den Hauptzügen nach wiedergegeben werden. Fs wäre verfehlt, anzunehmen, dass unter den Ursachen krankmachender Verletzungen die einmalige Trunkenheit eine grosse Rolle spielt. Gewiss werden viele Verletzungen in der Trunkenheit erworben, aber nur fünf Mal hatte es den Anschein, dass sich Geistesstörungen an solche Verletzungen angeschlossen haben. In zweien dieser Fälle war die Krank¬ heit als Lähmungsirrsein gekennzeichnet, welches durch die Verletzung wahrscheinlich nur verschlimmert wurde. Auch in der Literatur sind die Fälle dieser Art spärlich. Vielleicht ver¬ hindert sogar zuweilen der Rausch das Zustandekommen eines seelischen ungünstigen Einflusses, des Schreckens. Der Feststellung entziehen sich meistens die Fälle, in denen chronischer Alkoholismus die Entstehung der krank¬ machenden Unfälle begünstigt, indem er dem Meuschen die Muskelsicherheit raubt, sogar ev. zu Schwindelanfällen führt. Fassen wir nun das umgekehrte Verhältnis ins Auge: der Unfall als Ursache des Alkoholmissbrauchs. Hier können mancherlei Umstände mitspielen: Auf der einen Seite steht der durch den Unfall bedingte Müssiggang als Veranlassung zu erhöhtem Alkoholverbrauch — auf der andern die durch die Verletzung unmittelbar verursachte Störung des seelischen Gleichgewichts, der Verlust der Herrschaft über die Triebe. Dazwischen stehen die mit dem Rentenkampf mehr oder minder eng zusammenhängenden ungünstigen Einflüsse, die zum Alkoholmissbrauch führen: gesteigerte Begehrlichkeit, hypochondrische Verstimmung. Dazu kommt oft mangelhafte Ernährung und Verpflegung. In einem Falle sollen die Schmerzen den Verletzten zum Trinker gemacht haben. Die Folgen des Unfalls und des Trunkes bringen in verderblicher Wechselwirkung schliesslich den Betroffenen ins Irrenhaus. Betrifft ein Unfall einen chronischen Alkoholisten, so wird er oft zur Veranlassung des Ausbruchs einer spezifisch alko¬ holischen Geistesstörung, wie das bezüglich des Delirium tremens allgemein bekannt ist. Die Hauptmasse bilden diejenigen Fälle, in denen Alkohol und Verletzung Zusammenwirken, um chronische Geisteskrank¬ heiten zu erzeugen, sei es nun, dass der Alkoholismus oder dass die Verletzung die erstvorhandene Schädlichkeit darstellt. Es ist schwer, solche Störungen nach dem Ueberwiegen be¬ stimmter Erscheinungen jeweils in die Gruppe der trauma¬ tischen oder der alkoholischen Störungen einzureihen. Eine Vergleichung der für die alkoholischen und für die trauma¬ tischen Seelenstörungen als bezeichnend angesehenen Momente ergiebt viel gemeinsames: Die übermässige Reizbarkeit, die Kopfschmerzen in verschiedenster Form, die epileptischen Zu¬ stände, die Ueberempfindlichkeit gegen Alkohol, ferner allerlei Störungen des Hautgefühls, der Sinne und der Bewegung. Für den Alkoholismus allein bleibt der Eifersuchtswahn übrig, auf körperlichem Gebiete die an den inneren Organen und am Gefässsystem auftretenden Zeichen vorzeitiger Verbrauchtheit. Bei dieser Sachlage wird man naturgemäss eine objektive Scheidung selten ausführen können. Bei Besprechung dieses Gegenstandes bringt Verfasser eine längere Reihe von Krankengeschichten, in denen, so verschieden sie sonst sind, immer der chronische Alkoholismus mit dem erlittenen Unfall, der durchaus nicht den Kopf zu treffen braucht, zur Hervorbringung schwerer Geistesstörungen zusammenwirkt. Besonders lehrreich ist ein Fall mit folgendem Verlauf: Ein Arbeiter, der täglich etwa für 40 Pf. „Nordhäuser mit Glühwein“ trank, ohne in seiner Leistungsfähigkeit beein¬ trächtigt zu werden oder sonst das Wesen eines Trinkers zu haben, erleidet 1890 einen schweren Unfall. Er verfällt in chronisches 8iechthum, trinkt weiter regelmässig, worauf immer deutlicher seelische Störungen hervortreten. Er stirbt 1897 im akuten Delirium an Blutung unter die harte Hirn¬ haut. Das Reich sversicherungsamt erkannte, nachdem der Verletzte im Leben Vollrente bezogen hatte, auch seinen Tod als entschädigungspflichtige Unfallfolge an. „Es genügt, dass der Unfall eine von mehreren an dem Erfolg erheblich mit¬ wirkenden Ursachen ist.“ Dieser Fall leitet über zu dem Einfluss des nach dem Unfall fortgesetzten regelmässigen Alkoholgenusses auf die Gesundheit der Verletzten. Wenn Unfall und früherer, Alkoholismus noch nicht genügten, Seelenkranheiten auszulöseu, so ist später oft schon geringer Alkoholgenuss hierzu im Stande. Diese Erscheinung kehrt so häufig wieder, dass man bei auffälliger Ueberempfindlichkeit gegen Alkohol gut thut, stets nach vorangegangenen Verletzungen zu forschen. Je mehr späterer Alkoholmissbrauch zu den Folgen des Unfalls hinzukommt, um so schwieriger wird es, diese richtig abzuschätzen. Bietet auch die oben angeführte Praxis der Rechtsprechung eine Erleichterung bei der Lösung der Frage, ob ein Zusammenhang zwischen jetzigem Leiden und Unfall vorliegt, so tritt die Schwierigkeit sofort wieder ein, wenn die Höhe der Rente geschätzt werden soll. Im Interesse der Kranken und der Berufsgenossenschaften würde es liegen, die verunglückten Alkoholiker sofort einer Entziehungskur zu unterziehen. Man würde alsdann das Bild der Unfallfolgen rein, ohne Beimischung alkoholistischer Stö¬ rungen, erkennen können, und der Verletzte hätte es in der Hand, durch Beibehaltung der Alkohol-Enthaltsamkeit den Er¬ folg der Kur festzuhalten. Thäte er es nicht, zöge er sich durch Wiederverfall in Alkoholismus eine neue Verschlimme¬ rung zu, so würde die Berufsgenossenschaft eventuell nicht zu einer Rentenerhöhung, sondern zu einer Rentenherabsetzung berechtigt sein. (Dieser allerletzte Theil der Ausführungen scheint uns doch mit den Schwierigkeiten der Praxis nicht genügend zu rechnen. Ref.) Beitrag zur Pathogenese der Epilepsie. Von Dr. Byschowski. (Medycyna 1900, No. 36.) Verf. beschreibt einen Fall von Epilepsie, der in ätiolo¬ gischer Beziehung von ganz besonderem Interesse ist, weil er sich anscheinend auf der Grundlage einer Nikotinver¬ giftung entwickelt hat. Der Fall betrifft einen 28jährigen Tabakarbeiter, dessen Arbeit darin besteht, dass er in einem kleinen Zimmer, das dicht verschlossen ist und selten oder sogar niemals gelüftet wird, den Rohtabak in gewisser Weise verarbeitet. Er muss denselben theilweise in einem Kessel unter Zusatz von verschiedenen chemischen Substanzen kochen, um aus den Tabakblättern einen Theil des in denselben ent¬ haltenen Nicotins zu entfernen und gleichzeitig dem Tabak ein gewisses Aroma zu verleihen. Das ganze Zimmer ist Digitized by Google 1. Dezember 1900. Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. 481 während der Arbeit mit ätzenden Ausdünstungen gefüllt, so dass der Patient stets eine Schutzbrille tragen muss. In dieser Atmosphäre verweilte der Kranke täglich 6—8 Stunden, wobei er die Kochmasse häufig riechen, bisweilen auch schmecken muss. Das Verfahren ist Erfindung und Geheimniss des Pa¬ tienten und wirft demselben einen grossen Gewinn ab. Aus diesem Grunde lässt der Patient keinen sein Arbeitszimmer betreten und arbeitet bei geschlossenen Thüren und Fenstern. Vor zwei Jahren stellten sich bei dem bis dahin voll¬ kommen gesunden Patienten zum ersten Male plötzlich Schwindel und Verlust des Bewusstseins ein. Der Anfall dauerte 30—40 Minuten, ohne, wie die Angehörigen ver¬ sichern, von Krämpfen begleitet zu sein. Acht Monate später wiederholte sich der Anfall, der diesmal schon länger dauerte. Nach weiteren vier Monaten fand ein dritter Anfall statt. Die Gesammtzahl der Anfälle betrug 5—6, wobei jeder nächst¬ folgende Anfall stets länger und heftiger war, als der voran¬ gehende. Der letzte Anfall dauerte einige Stunden. Der Kranke behauptet, das Herannahen des Anfalles zu fühlen. Gleichzeitig bestehen Kopfschmerzen und hartnäckige Obsti¬ pation. Syphilis wird negirt, desgleichen Missbrauch alko¬ holischer Getränke. Patient ist verheirathet und bat drei ge¬ sunde Kinder. Seine Eltern sind am Leben und gesund. Die Psyche ist normal, von Seiten des Nervensystems keine Ab¬ normitäten, Pupillen gleichmässig, reagiren gut auf Licht und zeigen normale Accomodation. Kniereflexe beiderseits mässig; im Harn weder Eiweiss noch Zucker. Durch näheres Be¬ fragen stellte Verf. fest, dass während des Anfalles unwill¬ kürlicher Abgang von Harn stattfand und dass nach dem An¬ fall ein längeres Gefühl von Schwäche zurückblieb. Unter Berücksichtigung des gesammten Krankheitsbildes und der Beschäftigungsart des Patienten gelangte Verf. zu der Ueberzeugung, dass es sich in vorstehendem Falle um Epilep¬ sieanfälle gehandelt habe, deren Ursache in chronischer Ni¬ kotinvergiftung zu ei blicken sei. Da an eine Aufgabe der un¬ gesunden Beschäftigung nicht zu denken war, musste sich Verf. damit begnügen, dass er dem Patienten verschiedene Vorschläge bezüglich der Einrichtung seines Arbeitszimmers machte, bei deren Befolgung der Patient der schädlichen Ein¬ wirkung des Nikotins am wenigsten ausgesetzt wäre. Gleich¬ zeitig empfahl er ihm längeren Aufenthalt im Freien und ver- ordnete Abführmittel. Seit Beginn der Behandlung sind nun fünf Monate vergangen, ohne dass es zu einem neuerlichen Anfall gekommen ist. Ob der Patient dauernd geheilt ist, lässt sich vorläufig natürlich noch nicht sagen. Lb. Neurose im Gebiete des plexus cervicalis und brachialis in Folge eines kranken Zahns. Von Prof. Dr. F. Hesse, Direktor des zahnärztlichen Instituts der Universität Leipzig. (Neur. Centr. 19U0, Nr. 22.) Eine bisher gesunde junge Dame heisst auf ein Schrot¬ korn. Anfänglich merkt ßie keine üblen Folgen, mit der Zeit aber stellen sich Kieferschmerzen ein, die oft zu völliger Schlaflosigkeit führen. Der Schmerz reicht vorn genau bis zur Mittellinie, nach hinten bis zum Hinterkopf. Er ergreift später die rechte Schulter und Brustseite, den rechten Arm. Sein Auftreten erfolgt anfallweise, in wechselnden Pausen, mit einer Dauer von t/a bis 4 Stunden. Gemüthsbewegungen, Genuss heis8eroderkalterGetränke,leichteKörpererschütterungen wirken als auslösende Ursache. Es bleibt nicht bei Schmerzen allein. Nach einer Reihe von Wochen tritt eine Lähmung des rechten Armes ein, dessen Gebrauchsfähigkeit binnen drei Monaten fast aufgehoben ist. Verfasser untersuchte den Zahn, von dem nach Angabe der Kranken die Schmerzen ausgegangen waren. Er hatte denselben Zahn, der äusserlich ausser geringer Beweglichkeit nichts abnormes zeigte, früher eiDmal gefüllt. Die Extraktion wurde vorgenommen, es ergab sich, dass die Pulpa brandig zerstört, und dass die Wurzelhaut etwas entzündet war. Die Beschwerden verschwanden fast plötzlich. Aus der Literatur konnte H. neun ähnliche Fälle sammeln. Bemerkenswertä an dem mitgetheilten ist noch, dass die Dame an einen Zusammenhang ihreB Nervenleidens mit dem kranken Zahn nicht dachte und nur zum Verfasser kam, um, wie alljährlich, ihr Gebiss untersuchen zu lassen. Vergiftungen. I. Ein Fall von Idiosynkrasie gegen Arsenik. Von Dr. Puchowski. (Jeschenedelnlk 1900, No. 41). II. Fall von stark ausgesprochener Idiosynkrasie gegen Arsenik. Von Stud. med. Katschkatschew. (Ibidem). Als die höchste Dosis der Solutio Fowleri gelten 10 Tropfen, als mittlere Dosis 5 Tropfen. Letztere Dosis wird sehr häufig bei Malaria und bei verschiedenen Hautaffektionen verordnet. Wenn auch diese Dosis in den meisten Fällen von gar keinen Nebenerscheinungen begleitet wird, so beweisen doch die von den Verfassern beobachteten Fälle, dass die Verordnung der Solutio Fowleri immerhin die grösste Vorsicht erheischt. In dem Falle P.’s handelt es sich um einen 23 jährigen Patienten, der an Malaria litt und bei dem Dosen von 0,75 g Chinin wegen Gewöhnung an das Mittel nicht mehr wirkten. Der Patient bekam infolgedessen folgende Medi¬ kation: Solutio Fowleri 10,0, Aqua menthae piperita 20,0. MDS. dreimal täglich 5—15 Tropfen. Die Medikation hatte auch den gewünschten Erfolg. Nach einiger Zeit wurde die Dosis der Mixtur auf 18 Tropfen gesteigert, so dass der Patient jedesmal 6 Tropfen Solutio Fowleri zu sich nahm. Nach einigen Tagen begann der Patient sich unwohl zu fühlen, nach 8 Tagen konnte er das Bett nicht mehr verlassen. Es stellten sich gleichzeitig starkes Erbrechen und Schmerzen in der Mageugegend, Lebervergrösserung, gelbe Verfärbung der Skleren und Beschleunigung des Pulses ein. Kurz, der Patient bot das vollständige Bild von Kollaps. Die sorgfältigste Unter¬ suchung ergab für die Erklärung dieses schweren Zustandes gar keine Anhaltspunkte. Unter diesen Umständen wurde der Verdacht rege, dass der Krankheitszustand durch das Arsenik bewirkt sein könne. Diese Vermutung fand vollständige Be¬ stätigung: sämtliche Symptome verschwanden nach dem Aus¬ setzen des Arsenikgebrauchs. Nach 14 Tagen war der Patient ziemlich wiederhergestellt. In dem Falle K.’s trat die Idiosynkrasie noch viel krasser hervor. Auch hier handelte es sich um einen Patienten, dem wegen Malaria Solutio Fowleri verschrieben war. Drei Stunden nach der ersten Dosis, die nur 2 Tropfen betragen hat, stellten sich bei dem Patienten Symptome einer akuten Arsenikver¬ giftung ein: heftige Erscheinungen von akuter Gastroenteritis, Nausea, schleimige und selbst blutige Stühle, heftige Schmerzen im Gebiete des Dünndarms, sowie konvulsive Zuckungen in den Waden. Kurz, der Patient bot das Bild eines an der Cholera Erkrankten dar. Nach einigen Stunden gesellten sich zu diesen Symptomen trockener Husten und Erscheinung von Arsenikparese hinzu. Sämmtliche Erscheinungen verschwandeu erst am nächsten Tage. In der Hoffnung, dass es diesmal Digitized by G 3gle 482 Aerztllohe Sachverständigen-Zeitung. No. 28. vielleicht besser gehen würde, war der Patient unvorsichtig genug, wieder 3 Tropfen von der Solutio Fowleri zu nehmen. Sämmtliche Krankheitserscheinungen des vorhergehenden Tages stellten sich nun wieder ein, und zwar noch in weit heftigerer Form, so dass zu einem Antidot (Ferr. oxydat. hydric. in aqua) gegriffen werden musste. Die Erscheinungen der akuten Vergiftung gingen allmählich zurück, jedoch blieb eine leichte Enteritis noch mehrere Tage bestehen. Hervorzuheben wäre, dass der Patient niemals zuvor an Magenkatarrh gelitten hatte, und dass das Arsenikpräparat durchaus guter Qualität war. Lb. Ueber Pikrinsäure-Vergiftung. Von Dr. Josef Winterberg - Wien. (Wien. med. Pr. 1900/44.) Die Pikrinsäure-Vergiftung kennt man so lange, als die Säure in der ärztlichen Praxis Eingang gefunden hat. Wogegen immer man sie anwandte, bei Malaria und Trichinose, bei Hautkranken und Tuberkulösen, fast immer nahm man uner¬ wünschte Nebenerscheinungen wahr, viel regelmässiger traten diese als der gewünschte Erfolg ein. Desto seltener sind jedoch ernste Vergiftungen durch Pikrinsäure bekannt ge¬ worden, und nirgends findet sich bisher ein Todesfall ver¬ zeichnet. Bei vier Fällen, die W. genauer beschreibt, war das Gift in selbstmörderischer Absicht genommen worden. Wir geben als typisches Beispiel eine vom Verfasser selbst gemachte Beobachtung genauer wieder. Ein 22jährige8 Mädchen trank eine Lösung von 25 Gramm Pikrinsäure. Alsbald stellte sich Erbrechen mit geringer blutiger Beimischung ein, bald auch Stuhldrang und Durch¬ fall. Nach zwei Stunden waren Haut und Schleimhäute gelb gefärbt. Das Allgemeinbefinden wurde schlecht, heftige Magen¬ schmerzen bestanden. Auch der Kehlkopf war etwas schmerz¬ haft. Die gelbe Färbung war selbst am Augenhintergrund, ebenso am Stuhlgang wahrnehmbar; in diesem, dem roth- gelben Harn und der gelben Magen-Spülflüssigkeit liess sich Pikrinsäure, im Harn nebenbei auch Pikraminsäure nachweisen. (Pikrinsäure wird nach Robert*) bei Erwärmen mit Cyankalium und Natronlauge durch Blutrothfärbung, Pikraminsäure bei Erwärmen mit Natronlauge und Traubenzucker durch Roth- färbung erkannt. Mit ammoniakalischer Kupfervitriollösung bilden sich stark polarisirende gelbgrüne Krystalle von Sarg- deckelform. Ref.) Eiweiss und Zucker fehlten. Während die Beschwerden allmählich nachliessen und schon am neunten Tage verschwunden waren, verschwand die Gelbfärbuug sehr langsam; noch fünf Tage war sie wahrnehmbar. Der Fall veranschaulicht den gewöhnlichsten Typus der Pikrinsäurevergiftung. Zu den hier vorhandenen Störungen können nun noch andere kommen: tonische Krämpfe in den oberen Gliedmassen (Adler), Zeichen von Nierenreizung, fleckige Hautausschläge mit starkem Jucken. Gallenfarbstoff fehlt im Harn, wie es scheint, regelmässig. Einmal wurde hohes Fieber, einmal eine Anzahl von Augeustörungen, u. A. Netzhautblutungen und Glaskörpertrübungen beobachtet. Das Krankheitsbild ist durch die Färbung der Haut und der Schleimhäute und den Urinbefund ausserordentlich gut gekennzeichnet und leicht zu deuten. Es wird gut sein, wenn das Interesse der Aerzte sich mehr als bisher dieser Ver¬ giftung zuwendet; denn, wie Winterberg zwar nicht betont, wohl aber Robert, und wie noch jüngst ein Aufsehen er¬ regender Prozess gezeigt hat, zur Vortäuschung schwerer Krankheit eignet sich dieser für das menschliche Leben ver¬ hältnismäßig ungefährliche Körper ungemein gut. Die Ent- *) Lehrbuch der Intoxicationen. Stuttgart 1893. larvung solcher Simulanten wird freilich dem Arzte, der das oben geschilderte Vergiftungsbild kennt und daran denkt, ein Leichtes sein. Hygiene. Handhabung der Gesundheilspolizei in der Stadt Hildes¬ heim während der Jahre 1892 bis 1899 und ihre Erfolge. Von 0. Gerland. (Deutsche Vierteljahmohrift für öffentl. Gesundheitspflege. Bd. 32, 8. 505 u. f.) Der Verf. giebt in der vorliegenden Arbeit eine Fort¬ setzung seines den gleichen Gegenstand betreffenden Aufsatzes im 25. Bd. derselben Zeitschrift. Nach einander werden die Gesundheitsverhältnisse, die Wohnstätten, das Wasser, die Nahrungs- und Genussmittel, die gewerblichen Anlagen, die Fürsorge für Kranke und Gebrechliche, Bäder u. s. w. be¬ sprochen und die dazu ergangenen Polizeiverordnungen mit- getheilt. Der Bericht legt Zeugniss ab von der zielbewussten Handhabung der Gesundheitspolizei auf den beregten Gebieten. Als Anhang ist der vorliegenden Arbeit die Dienstanweisung für die Desinfectoren an der städtischen Desinfektionsanstalt Hildesheim vom 3. November 1895 beigefügt. (Vergl. auch Hygienische Rundschau, Jahrgang 1897, Seite 1 u. f.) Roth, Potsdam. Einiges über Ziele und Aufgaben der Berliner Gesell¬ schaft abstinenter Aerzte. Von Wulffert. Vortrag, gehalten in der ersten Sitzung der Berliner Gesellschaft abstinenter Aerzte am 25. Juni 1900. (Deutsche VterteljAhrsschrift für öffentl. Gesundheitspflege Bd. 32, 8. 024.) Die Berliner Gesellschaft abstinenter Aerzte, die sich vor Kurzem gebildet, ist eine Orts- oder Landesgruppe des grossen, über das ganze deutsche Sprachgebiet sich erstreckenden Ver¬ eins abstinenter Aerzte. Der Verein bezweckt, die durch die Alkoholforschung gewonnenen sicheren Ergebnisse unter Aerzten und Nichtärzten bekannt zu machen und darauf hinzuwirken, dass in ihrem Bezirke diejenigen sozialen und wirthschaftlichen Vorbedingungen geschaffen werden, die für eine erfolgreiche Behandlung der Trinker nothwendig sind, während die sozial¬ ethische und wirtschaftliche Behandlung der Frage und die hieraus sich ergebenden praktischen Aufgaben anderen Ver¬ einen überlassen bleiben. Verf. beginnt mit einer kurzen Erörterung über die wissen¬ schaftlichen Ergebnisse der Alkoholforschung, namentlich die Frage nach dem Nährwerth des Alkohols und seiner therapeu¬ tischen Bewerthung, letzteres unter Beschränkung auf einige chronische Krankheiten. Bei der Besprechung der praktischen Aufgaben des Vereins und seines eigentlichen Ziels, der Trinker¬ heilung, erklärt der Verf. als geeignet für die Heilung von Trinkern nur diejenigen Anstalten, die in sich, in der Gesamrat- heit ihres Personals einen kleinen Abstinenzverein darstellen und deren Terrain zugleich als „alkoholfreie Insel“ im Sinne Kahlbaum’s gelten kann. Hierin wird dem Verfasser ebenso beizustimmen sein, wie in seinen Ausführungen über die frag¬ würdige Beschaffenheit der meisten der in den Handel ge¬ brachten Limonaden und Fruchtsyrupe Nach der Entlassung aus der Anstalt ist wiederum der Abstinenzverein für die meisten geheilten Trinker unentbehrlich. — Daraus, dass der Verf. den Abstinenzverein nicht für alle erforderlich hält, ist zu schliessen, dass der Verf. unter Umständen auch eine Dauer¬ heilung ohne Zwang und ohne das Beispiel völliger Abstinenz für möglich hält. Der zweite Theil der praktischen Aufgabe bezweckt, die Umgebung zu bessern, die terroristische Herrschaft der Trink - Digitized by LjOOQie 1. Dezember 1900. Aerztliche Sachverständigen*Zeitung. 483 sitten zu brechen und die Gesellschaft vom Alkoholismus zu befreien. Wenn die intellektuell und ethisch hervorragenden Kreise der Gesellschaft an dem Kampf gegen den Alkoholis¬ mus nicht ein reges Interesse bekunden, wenn sie sich gleich¬ gültig oder gar widerstrebend verhalten, werden auch die besten Gesetze zur Erreichung des erstrebten Ziels als unzu¬ reichend sich erweisen. Hierbei darf nioht vergessen werden, dass aller Fortschritt auf sittlichem Gebiet nur ein langsamer und allmählicher ist, dass auch hier viele Wege zum Ziel führen, uud dass, wo das Ganze nicht zu erreichen, auch unter dem Zeichen der Massigkeit Siege errungen und Existenzen gerettet werden können. Beide, Enthaltsamkeit und Massig¬ keit, erstreben das gleiche Ziel, die Bekämpfung der Trunk¬ sucht, beide sollen sich deshalb ergänzen und gegenseitig zu fördern suchen. (Ref.) Jedenfalls wird man vom Standpunkt der Volksgesundbeit den Bestrebungen des Vereins abstinenter Aerzte nur besten Erfolg wünschen können. Wenn irgendwo, ist gerade auf diesem Gebiet das Beispiel von ausschlaggebender Bedeutung. Roth, Potsdam. Ueber den Einfluss von flüssiger Luft auf Bacterien. Allan Macfayden. (The lancet, 24. März.) Macfayden hat die Experimente anderer Forscher wieder¬ holt und die Einwirkung von flüssiger Luft auf Bakterien ver¬ schiedenster Art nachgeprüft. Zu seinen Untersuchungen be¬ nutzte er Kulturen von Typhusbazillen, Bacterium-Coli, Diphtherie, Cholera, Milzbrand, Milchsäure-Bazillen Staphylococcus, pyogenes aureus etc., nur junge und virulente Kulturen, und zwar so¬ wohl auf festem wie flüssigem Nährboden von verschiedener Art. Diese Kulturen wurden zu gleicher Zeit der Temperatur von flüssiger Luft das heisst also — 182 Grad bis 190 Grad C. 20 Stunden lang ausgesetzt. Die Resultate waren folgende: Alle Bakterien behielten ihre Lebensfähigkeit in ungeschwächtem Masse. Frische Kulturen, welche von so behandelten abgeimpft worden waren, zeigten ebenfalls unverminderte Virulenz. So z B. wurde durch Bacterium-Coli nach wie vor Milch zu Ge¬ rinnung gebracht, Zucker vergohren und Indol produzirt. Staphylo¬ coccus pyogenes aureus behielt seine Farbe. Zu erwähnen ist noch der folgende interessante Versuch. 50 Liter Luft des Laboratoriums wurden verflüssigt, sodass die Temperatur — 210 Grad C. erreichte. Die so behandelte Luft wurde zu Platten-Kulturen auf verschiedenem Nährboden unter aöroben und anaöroben Bedingungen benutzt, die Platten zum Theil bei 22 Grad zumTheil bei 37 GradC. während 10 Tagen beobachtet. Die anaöroben Kulturen blieben steril, auf den aöroben entwickelten sich 44 Arten von Keimen, welche aus Bazillen, Coccen, Sarcinen und Hefe bestanden. Eine Hefe¬ sorte z. B. (Buchner's Zymase) behielt ihre Fähigkeit, aus Zucker Alkohol und Kohlensäure zu produziren. Damit ist wiederum der Beweis erbracht, dass Bakterien bis zu einer Dauer von 20 Stunden unter 190 Grad C. abge¬ kühlt werden können, ohne dadurch in ihrer Lebensfähigkeit geschwächt zu werden. Franz Meyer-Berlin. Bemerkung über den Einfluss der Temperatur flüssiger Luft auf Bakterien. Allan Macfadyen and S. Rowland. (The lancet 21. April.) Im Anschluss an den Bericht von Macfadyen vom 24. März über den Einfluss der Temperatur flüssiger Luft auf Bakterien, worüber ich bereits referirt habe, werden nun von Macfadyen und Rowland neuere Resultate über diese Unter¬ suchung mitgetheilt. Die Bakterien wurden dabei derTemperatur von flüssiger Luft (— 183 Grad C — 192 Grad C) für eine viel längere Zeitperiode, nämlich für sieben Tage ausgesetzt Zum Versuch wurden wieder Typhus-Bazillen, Bactorium coli Diphtherie-, Milzbsand-, Milchsäure-Bazillen, Cholera-Spirillen Staphylococcus pyogenes aureus, Sarcine, Saccharomyces, nicht sterilisirte Milch etc. gewählt und zwar wurde dabei noch unter grösseren Cautelen gearbeitet. Auch diesmal blieb das Wachsthum dieser Organismen danaoh unbeeinflusst, und auch die Culturen, welche von so behandelten Bakterien ab¬ geimpft wurden, zeigten ein ungeschwächtes Wachsthum. Franz Meyer-Berlin. Eine weitere Mittheilung über denEinfluss derTemperatur von flüssigem Wasserstoff auf Bakterien. Allan Macfadyen and Sydney Rowland. (The lancet 28. Juli.) Im Anschluss an die früheren Versuche (cf. Referate the lancet 24. Mai und 21. April), durch welche bewiesen wurde, dass die Temperatur der flüssigen Luft keinen nachweisbaren Einfluss auf das Wachsthum und die Lebensfähigkeit der Mikroorganismen hat, haben die beiden Forscher die Wirkung einer noch niedrigeren Temperatur studirt und zwar derjenigen, welche der Temperatur von flüssigem Wasserstoff entspricht. Es wurden dieselben Bakterien verwandt wie bei den letzten Versuchen, Typhus-, Milchsäure-, Diphtherie-, Milzbrand-Bazillen, Cholera-Spirillen, Proteus vulgaris, Bacterinincoli, Staphylococcus pyogenes aureus, eine Sarcine- und eine Hefe-Art etc. Die Kulturen waren auf Bouillon angelegt, sie wurden einer Tempe¬ ratur von 252 Grad C ausgesetzt. Am Ende des Versuchs wurden die Röhrchen geöffnet und der Inhalt sowohl mikro¬ skopisch untersucht als auch zur Weiterimpfung benutzt. Auch in diesem Falle konnte ein Einfluss der Temperatur in keiner Weise nachgewiesen werden. Franz Meyer-Berlin. Aus Vereinen und Versammlungen. 72 . Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Aachen vom 16. bis 22 . September. 35. Abtheilung: Unfallheilkunde. (Monatsschr. f. Unf&Uheilk.) (Schluss.) Kreisphysikus San.-R. Hensgen-Siegen: Wie haben wir Aerzte uns den bei Unglücksfällen erste Hilfe leistenden Nothhelfern gegenüber zu stellen? Vortr. setzt auseinander, dass die ärztlich ausgebildeten Sanitätskolonnen sowohl ihrer Ausbildung nach als in An¬ betracht der Gefahr einer Grossziehung des Pfuscherthums den Samaritervereinen vorzuziehen seien. In der Diskussion nimmt Herr Düms die Samariter, ins¬ besondere den Deutschen Samaritdrbund, gegen den Vortr. in Schutz, nicht ohne zu betonen, dass das Thema sioh für eine andere Stelle besser geeignet hätte. Hensgen-Siegen: Zwei Fälle von Nierenverletzun¬ gen in Folge übermässiger Muskelkontraktionen. Ein Fabrikant hatte seine erkrankte, sehr beleibte Frau aus einem Bett in das andere gehoben, wobei er den Rumpf nach rechts drehen musste. Hierbei empfand er Schmerzen im Rücken und hatte drei Tage lang blutigen Harn. Nach drei bis vier Wochen, als H. den Verletzten sah, war Alles wieder normal. Eine Krankheit der Harnwege hatte nie be¬ standen. Die Nierenverletzung [eine solche wird ohne weiteres angenommen, trotzdem über die Art der Blutbeimischung und Digitized by Google 484 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 23. den mikroskopischen Befund kein Wort gesagt ist. Ref.] musste als Unfall entschädigt werden. Ernster war der zweite Fall. Ein kräftiger junger Bursche hatte mit einem andern zusammen eine Bretterlast zu heben. Der andere Arbeiter hob nicht rechtzeitig mit an, so dass der Erstgenannte eine unerwartet schwere Arbeit zu leisten hatte. Sofort stellte sich ein Schmerz in der rechten Lendengegend ein, der immer schlimmer wurde. Seitdem bestand blutige Beimischung im Harn, trotzdem arbeitete der Verletzte noch fünf Tage weiter. Als ihn H. nachher untersuchte, fand er die rechte Nierengegend druckschmerzhaft bei starkem Blut¬ gehalt des Harns. [Auch hier ist leider der mikroskopische Befund nicht erwähnt. Ref.]. Die Blutung hielt noch länger als eine Woche an. Auch z. Z. des Vortrags war der Harn stark eiweisshaltig. Der Verletzte wurde nach Wildungen geschickt. Thiem-Cottbus: Verschlimmerung eines Falles von spastischer Cerebralparalyse (angeborener spasti¬ scher Paraplegie) durch 6ine periphere Verletzung. Die Little’sche Krankheit, die entweder als einfache Spannungslähmung der Beine oder als solohe Lähmung im Verein mit seelischen Entwicklungsmängeln auftreten kann, hat wahrscheinlich ihren Sitz nicht immer im Gehirn, sondern gelegentlich auch im Rückenmarkstheil der Pyramidenbahnen. Dies wird zum Verständniss des vorliegenden ungemein inter¬ essanten Falles beitragen können. Ein geistig gesunder Mann, der, ohne besondere Schwie¬ rigkeiten und ohne Kunsthilfe geboren, erst mit vier Jahren gehen gelernt hatte und eine Unbehilflichkeit und Steifheit besonders im linken Bein andauernd zurückbehielt, aber im landwirtschaftlichen Betriebe alle vorkommenden Arbeiten leisten konnte, erlitt mit 31 Jahren einen rechtsseitigen Unterschenkelbruch. Jetzt bildete sich eine ganz typische, schwere, doppelseitige Gliederstarre aus. Nur mit zwei Krücken, die FÜ886 am Boden schleifend, die Kniee eingeknickt, konnte er sich noch fortbewegen. Der Schwerkranke entging nicht dem Vorwurf der Simu¬ lation. Thiem aber verkannte natürlich das ausgesprochene Krankheitsbild nioht und billigte ihm Vollrente wegen Arbeits¬ unfähigkeit und Hilflosigkeit zu. Besonders bemerkenswert ist der Fall als Gegenstück zur Verschlimmerung der Tabes dorsalis nach Gliedmassen¬ verletzungen. Bettmann - Leipzig: Demonstration von Röntgo- grammen und Krankengeschichte von drei Ellbogen- rusektionen. Der erste Fall — eine nicht eingerenkte und daher mit ungünstigem Ergebniss abgelaufene Verrenkung des Radius¬ köpfchens mit Bruch der Elle (Parirbruch) — soll zeigen, eine wie schwere Unterlassungssünde die Versäumung rechtzeitiger Durchleuchtung ist, wenn der Nachweis einer zu vermuten¬ den Knochen- oder Gelenkverletzung auf andere Weise nicht möglich ist [war das hier der Fall? Ref.]. Eine Abtragung des Radiusköpfchens besserte die Beweglichkeit einigermassen. Die in der Streckstellung versteiften Finger boten der Be¬ handlung unüberwindliche Schwierigkeiten. Erst durch ge¬ waltsame Beugung in Narkose — wozu die Verletzten immer schwer zu bewegen sind — gelang es, eine hoffentlich auf die Dauer festzuhaltende Beugestellung zu erreichen. Man sollte bei Armbrüchen mehr, als es bisher üblich ist, darauf Rücksicht nehmen, dass schlimmstenfalls die Finger nicht in Streck-, sondern in Beugestellung versteifen. Im zweiten Falle lag nach einem Sturz aus 7 m Höhe auf den linken Ellbogen nach etwa fünf Monaten eine völlige Gelenk Versteifung vor. Das Röntgenbild zeigte Verrenkung der Elle nach hinten, Einkeilung des abgebrochenen äusseren Rollhügels in das Radiusköpfchen, Abbruch des inneren Roll¬ hügels, Flächenverwachsung zwischen Speiche und Elle. Eine ausgiebige Entfernung aller hindernden Knochentheile und sorgfältigste Nachbehandlung vermochte dennoch auf die Dauer nur mässige Bewegungsmöglichkeit zu bewirken. Bei so lange versteift gewesenen Gelenken ist wahrscheinlich die Neigung zu Kapselschrumpfungen unüberwindlich. Man soll daher lange versteifte Gelenke, wenn die Stellung nur günstig ist, in Ruhe lassen. Bei frischen Gelenkbrüchen aber soll man mit blutigen Eingriffen nicht zu sparsam sein. Der dritte Fall stellt einen knöchernen Körper dar, der nach Fall auf die ausgestreckte Hand auf der Vorderfläche des Ellbogengelenks erschienen ist, aber erst nach sechs bis acht Woohen völligen Wohlbefindens. B. hält ihn für ein Produkt von Muskelverknöcherung im innern Armmuskel. In der Diskussion giebt Thiem seiner Ansicht Ausdruck, dass solche Körper, wie der von Bettmann gezeigte, häufig durch Muskelzug abgerissene, später grösser gewordene Stücke von Knochen darstellen. Er zeigt im Röntgenbilde einen im Oberarm8treoker sitzenden Knochenkörper, der ganz offen¬ kundig vom Ellbogen abgerissen ist. Schulze-Duisburg zeigt orthopädische Apparate zur Behandlung von Ober- und Unterschenkelbrüchen, von Klump- fuss und Hohlfuss und zur Korrektur der Kyphose. Dfims: Ueber die Beziehungen der costalen Herz¬ dämpfung zur linken Brustwarzenlinie. Bei der Untersuchung gesunder Soldaten fand Vortr. bei 30 Prozent den Spitzenstoss in der Brustwarzenlinie, bei 8 Prozent links von derselben. Die Leute wurden genau im Auge behalten, aber es fand sich während der ganzen Dienst¬ zeit nichts Krankhaftes an ihnen. Thatsächlich besteht auch durchaus kein gleichmässiges Verhältniss zwischen der Entfernung beider Brustwarzen von einander einerseits und Körpergrösse, Körpergewicht, Breite des Brustkorbes andererseits, während mit der Körpergrösse die Grösse des Herzens zuzunehmen pflegt. Wenn also die Herzdämpfung über die linke Brustwarzen¬ linie verbreitert gefunden wird, muss man den Abstand der linken Brustwarze von der Mitte des Brustbeins berücksich¬ tigen. In^der Diskussion betont Guder-Laasphe die Wichtigkeit dieser Untersuchungen für die Lebensversicherungs - Gesell¬ schaften, die bisher alle Untersuchten, deren Spitzenstoss in oder links von der Brustwarzenlinie lag, ausschlossen. Thiem: Ueber Thermalbehandlung Unfallver¬ letzter und Invalider. Nach einer längeren Einleitung, in der den Aerzten die selbständige Handhabung der physikalischen Heilmethoden drin¬ gend an’s Herz gelegt wird, theilt Vortr. seine weiteren Er¬ fahrungen mit der Wärmebehandlung (cf. Nr. 7 dieser Ztschr.) mit. Sie beziehen sich auf 86 Kranke im Alter zwischen 13 und 72 Jahren, die theils an Gelenkleiden verschiedenster Art, theils an Versteifungen nach Knochenbrüchen und Zell¬ gewebsentzündungen, theils an Ischias litten. Meist, besonders bei Ischias, waren die Ergebnisse recht befriedigend. Nur bei tuberkulösen Gelenkentzündungen erfolgte regelmässig eine Verschlimmerung. Bei gonorrhoischen Entzündungen wurde Anfangs die Schwellung stärker, aber der Schmerz liess nach und die Beweglichkeit wurde besser; später schwollen die Gelenke ab. Bei allen Erkrankungen des Gefässsystems ist die Methode unanwendbar, selbst gut kompensirte Herzfehler erfuhren sofortige Verschlimmerung durch Heisssand-Vollbäder. Vortr. giebt weiterhin Genaueres über das Verhalten von Puls und Temperatur bei den einzelnen Formen der Wärme Digitized by LjOOQie 1. Dezember 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 485 behandlung an. Eine tabellarische Uebersicht über diese An¬ gaben würde sich folgendermassen gestalten: I ! 1 Pulssteigerung 1 _ 1 ! Temperatursteigerung J min. raax. Durchsebn. ^ I | min. max. Durchschn. 1 Dampfbad . ! . 12 ! 6 Schläge 0,1 0,6 0,3 Grad Sand-Theil- bad. 2 18 j 6 0,1 0,5 0,26 , Sand - Voll¬ bad . 2 46 26 , 0.2 1,2 0,52 , Fangopackg. (Viertei¬ körper) . . i i 8 24 13 . 0,4 1,1 0,5 „ Fango-Hand- od. Fussbad 1 2 1 24 9 1 1 0,1 0,6 0,35 , Heissluft . . j 0 1 20 j 9 . 1 ° 1,0 0,23 , Die höchsten Wärmegrade, die bei strömendem Dampf vertragen wurden, betrugen 53 bis 62, bei heisser Luft ver¬ hielten sich die verschiedenen Körpergegenden verschieden, am wenigsten empfindlich war das Knie (62—148, im Durch¬ schnitt 93°), am empfindlichsten Kreuzgegend und Hüfte (45 bis 76, im Durchschnitt 60°). J. Riedin ger-Würzburg: Vorzeigung eines Gehirns mit Zeichen von Kontrakontusion (Contrecoup). C. Schindler-Berlin: Ueber die Mitwirkung derAerzte bei der Abschätzung des Unfallschadens nach Prozenten der Erwerbseinbusse. Vortr. knüpft an die Aeusserung des Staatssekretärs Grafen Posadowsky an: Die Aerzte seien nicht geeignet, die rein technische Frage zu beurtheilen, zu welchen Arbeiten Unfallverletzte noch fähig seien; diese Frage sei ausschliess¬ lich von Männern der praktischen Arbeit zu lösen und die Berufsgenossenschaften hätten sich viel Aerger und Geld er¬ spart, wenn sie sich nicht so sklavisch an die Renten¬ abschätzungen der Aerzte hielten. (Vergl. die gegentheiligen Aeusserungen des Landesraths Meyer, vorige Nummer S. 462.) Vortr. weist, was die Berufsgenossenschaftsärzte betrifft, die Ausführungen des Herrn Staatssekretärs zurück. Die Aerzte haben sich nicht dazu gedrängt, die Renten abzu¬ schätzen, sondern die Laien haben sie um ihre Hilfe gebeten, weil sie eben allein nicht mit der Abschätzung fertig wurden. Zu Sklaven der Aerzte haben sich aber nicht die Berufs¬ genossenschaften gemacht, sondern die Berufungsinstanzen. Hier bringt Vortr. einige durch fetten Druck hervorgehobene Seitenhiebe auf die von den Schiedsgerichten angezogenen beamteten Aerzte, die, sofern sie nicht bekannte [warum be¬ kannte? Red.] Spezialärzte seien, ganz und gar nicht mehr von der Sache verstünden als die Berufsgenossenschaftsärzte. Zum Schluss schlägt Schindler vor: 1. Im Allgemeinen sollen nur Krankheitsberichte zur Auf¬ klärung der Unfallangelegenheit über den früheren und augen¬ blicklichen Zustand der Verletzten von den Aerzten einge¬ fordert werden. 2. Im Verlauf des ganzen Verfahrens bis zum Reichs- Versicherungsamt sollen nur zweimal Aerzte um einen Renten- Voranschlag gebeten werden, einmal der Vertrauensarzt der Berufsgenossenschaft, einmal der des Schiedsgerichts. In der dritten Instanz soll kein Arzt mehr einen Abschätzungsvor¬ schlag machen. Wagner - Aachen: Ueber ambulante Beinbruch¬ behandlung und Beinverbände. Vortr. zeigt und empfiehlt Leimverbände Für Beinbrüche und Brüche kleiner Knochen. Mehrere Redner sprechen in der Diskussion ihre Meinung dahin aus, dass der praktische Arzt bei grösseren Knochen¬ brüchen immer noch am besten mit dem Gipsverband aus¬ kommt. Den Schluss der Sitzung bildete eine Erörterung darüber, wie der nicht genügend umfassende Name „Unfallheilkunde" für die Thätigkeit des Arztes bei der Durchführung der Ver- sicherungsgesetze zweckmässig zu ersetzen wäre. Thiem schlägt bedingt den Namen „soziale Medizin" oder „soziale Heilkunde" vor. Düms hält diese Bezeichnung für nicht eindeutig und räth, vorläufig den alteingebürgerten Namen beizubehalten. Derselben Ansicht ist Riedin ger. Bähr stellt den Namen „Versicherungsmedizin" zur Diskussion. Die Erledigung der Frage wird vertagt. Jahresversammlung des Vereins der Bahn- und Kassen¬ ärzte im Bezirke der Königlichen Eisenbahndirektion Halle a. S. am 12. Oktober a. c. in Berlin. (Offizieller Bericht.) Der Vorsitzende Satlow-Leipzig eröffnet die Versammlung, indem er den Vertreter der Königl. Eisenbahndirektion Halle, Herrn Regierungs-Assessor Grünow, begrüsst, theilt mit, dass durch Tod 3 Mitglieder ausgeschieden sind, zu deren Ehren sich die Versammlung von ihren Sitzen erhebt, sowie dass durch Austritt von 3 und Neueintritt von 10 Mitgliedern die Zahl der Mitglieder von 65 auf 69 gestiegen ist; gleichzeitig, dass eine Anzahl von Neuanmeldungen vorliegt. In Folge von Erkrankung des Kassenführers muss der Kassenbericht ausfallen. Zum neuen Kassenführer wird der bisherige Schriftführer Herr Cie me ns-Halle ernannt; die Herren Gröger-Brehna und Zeiss-Jessnitz i/A. werden zur Ergänzung des Vorstandes neu gewählt, Letzterer als Schrift¬ führer. Als Ort der nächstjährigen Versammlung wird wiederum Berlin gewählt. Hierauf berichtet Herr Clemens-Halle über die vom 27. bis 29. März a. c. in Berlin für Bahnärzte abgehaltenen Vör¬ ie ungen über Tuberkulose. Hieraus ist zunächst hervor¬ zuheben, dass der deutliche Nachweis von Lungenverdichtungen, Cavernen etc. durch Vervollkommnung der Röntgenphotographie sehr wohl gelingt, wie dies die Demonstrationen des Herrn Grummach darthun. Aus den Vorlesungen der Herren S t r au s s, Brieger, Brandenburg und Pannwitz ergiebt sich die Nothwendigkeit der Frühdiagnose, Für welche die physikali¬ schen Untersuohungsmethoden gegenüber der bakteriologischen bevorzugt werden, und die Noth wendigkeit der Anstalts¬ behandlung im frühesten Stadium, die über % Heil¬ erfolge bei VJähriger Behandlungsdauer und circa 300 Mark Kosten pro Fall auf weist. Der Vorsitzende berichtet sodann über den allgemeinen deutschen Bahnärztetag in Baden-Baden am 23. und 24. Juni a. c., der ebenfalls die Tuberkulosefrage behandelte. Es geht aus den Verhandlungen hervor, dass, Dank der vor¬ sichtigen Auswahl, das Eisenbahnpersonal minder gefährdet ist, als die Gesammtbevölkerung; dass die Morbidität und Morta- lität an Tuberkulose proportional dem geringeren oder grösse¬ ren Luftgenuss im Dienste steigt und fällt, und dass zur Ver¬ minderung der Tuberkulose Alles darauf ankommt, die Wider¬ standsfähigkeit zu erhöhen und die Schädlichkeiten zu ver¬ mindern. Herr Herzfeld-Berlin weist sodann darauf hin, dass die geforderte Frühdiagnose der Tuberkulose meist nicht möglich ist, weil die Patienten den Arzt zu spät aufsuchen; er fordert Digitized by Google 486 Aerztliehe Sachverständigen- Zeitung. No. 28. deshalb regelmässige Lungenuntersuchungen der sämmtlichen Eisenbahnbediensteten. Nach lebhafter Debatte hierüber wird beschlossen, den angeregten Gedanken festzuhalten und in der nächsten Versammlung darüber weiter zu verhandeln. Hierauf folgt ein Vortrag von Herrn Professor Mendel- Berlin über Epilepsie und Unfall, der an anderer Stelle in diesem Blatte veröffentlicht werden wird. Der Vortrag des Herrn Köhler-Leipzig über die Karenz¬ tage bei den Krankenkassen, insbesondere bei der Eisenbahn¬ betriebskrankenkasse Halle, musste wegen vorgerückter Zeit vertagt werden. Satlow-Leipzig-Gohlis. Gerichtliche Entscheidungen. Am dem Reichs-Versicherungsamt. Obergutachten, betreffend die traumatische Entstehung eines Wasser¬ bruchs (Hydroceie.) (Amtl. Nachrichten des R. V. A.) In der Unfallversicherungssache des Arbeiters Friedrich S. in Sch. gebe ich auf Antrag des Reichs-Versicherungsamts folgendes Gutachten ab: Bei der am 24. Mai vorgenommenen Untersuchung des S. fand sich bei dem kräftig gebauten, im Uebrigen gesunden Mann eine Vergrösserung der rechten Hodensackhälfte. In derselben fühlt man, dem normal grossen Hoden aufliegend, den bis zur Kleinfingerdicke verdickten Nebenhoden. Derselbe ist verhärtet, hat eine knollige Oberfläche und ist auf Druck etwas schmerzhaft. Ein Erguss um den Hoden, Wasserbruch (Hydroceie), ist nicht nachweisbar. Anlage zu Leistenbruch besteht nicht. Die Frage, ob die vom Reichs-Versicherungsamt bezüglich der Entstehung von Leistenbrüchen angenommenen Grund¬ sätze auch bezüglich der Entstehung von Wasserbrüchen Gel¬ tung haben, ist zu verneinen. Die Wasserbrüche (Hydrocelen) stellen anatomisch eine völlig andere Erkrankung dar, als die Leistenbrüche. Sie ent¬ stehen theils von selbst (oft angeboren), theils in Folge chro¬ nischer Entzündung des Hodens und Nebenhodens, schliesslich können sie auch durch Verletzungen, und zwar sowohl einma¬ lige grössere, als auch häufige kleinere, wie Druck, häufige Reibung etc. entstehen, welche den Hodensack direkt treffen. Dass Wasserbruch in Folge Hebens von Lasten entstehe, ist nicht bewiesen und auch unwahrscheinlich. Diese Annahme ist also auch für den vorliegenden Fall nicht statthaft. Die nach den ärztlichen Berichten (Blatt 2 der Berufs¬ genossenschafts- und Blatt 2 der Schiedsgerichtsakten) vor¬ handen gewesene Hydroceie kann nicht in Folge des angeb¬ lichen Unfalls entstanden sein. Es hätte sich dann, wie in dem ärztlichen Bericht (Blatt 11 der Berufsgenossenschafts¬ akten) ausgeführt wird, bei der am 28. Mai 1898 ausgeführten Punktion Blut oder doch blutige Beimischung zum Inhalte finden müssen. Vielmehr geht aus der Thatsache, dass nach der Punk¬ tion sich der „Hoden“ bedeutend verdickt vorfand (Blatt 2 V der Berufsgenossenschaftsakten), sowie dass auch jetzt noch sich ein stark entzündlich verdickter Nebenhoden bei dem S. vorfindet, hervor, dass der Wasserbruch (Hydroceie) als in Folge der chronischen Entzündung entstanden anzusehen ist und nicht durch den „Unfall“ hervorgerufen war. Berlin, den 27. Mai 1899. Professor Dr. W. Körte, dirigirender Arzt des städt. Krankenhauses am Urban. Nach dem vorstehenden Obergutachten hat das Rekurs¬ gericht zwar entgegen der Auffassung des Schiedsgerichts an¬ genommen, dass die vom Reichs-Versicherungsamt bezüglich der Entstehung von Leistenbrüchen beobachteten Grundsätze bei Prüfung der Frage, ob ein Wasserbruch sich als Folge eines Betriebsunfalls darstellt, keine Anwendung zu finden haben. Die übrigen Darlegungen des Gutachters haben aber dazu geführt, dass auch in letzter Instanz der ursächliche Zu¬ sammenhang des Wasserbruchs sowie der sonstigen Hoden¬ erkrankung mit der dafür vom Kläger verantwortlich ge¬ machten Betriebsthätigkeit (Heben eines eisernen Rohres) ver¬ neint, und deswegen seinem Ansprüche der Erfolg versagt worden ist. Bronohltls und Blutvergiftung. Rek.-Ent8cheidung vom 16. Dezember 1899. Franz C. bezog seit dem 1. April 1898 auf Grund des Be¬ scheides der Fuhrwerks-Berufsgenossenschaft vom 19. Juli 1898 in Folge eines am 3. Dezember 1897 erlittenen Betriebs¬ unfalls, bestehend in einer Quetschung des linken Mittel¬ fingers mit nachfolgender Zellengewebsentzündung, die Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit. Durch Bescheid der Berufs¬ genossenschaft vom 28. September 1898 ist die Rente vom 1. Oktober 1898 ab auf 50 Prozent der Vollrente herabgesetzt worden, weil in den Verhältnissen des Rentenempfängers, die für die Feststellung der Entschädigung massgebend gewesen sind, nach dem Gutachten des Dr. Sch. vom 27. September 1898 eine dementsprechende Aenderung eingetreten sei. Gegen den erwähnten Bescheid legte der Verletzte Berufung beim Schiedsgericht ein, welches noch ein Gutachten des Physikus Dr. B. zu M. einholte. Der Kläger soll im Dezember 1897 eine schwere Erkrankung durchgemacht haben; im Verlauf dieser Krankheit hat sich bei dem Kläger ein Lungenleiden ausgebildet, das dem Patienten im Winter die grösste Schonung auferlegen soll. Unter diesen Umständen erachtete das Schiedsgericht den Kläger für völlig erwerbsunfähig und ver¬ urteilte die Berufsgenossenschaft zur Weiterzahlung der vollen Rente. Gegen diese Entscheidung legte die Berufsgenossen¬ schaft Rekurs beim Reichs-Versicherungsamt ein und trat namentlich der Auffassung entgegen, dass das Lungenleiden des Klägers mit seinem Unfälle vom 3. Dezember 1897 ur¬ sächlich Zusammenhänge. Auf Beschluss des Reichs - Ver¬ sicherungsamts ist Prof. Dr. T. in B. um ein Gutachten dar¬ über ersucht worden, ob und wann in den Verhältnissen, die für die Festsetzung der vollen Rente massgebend gewesen sind, eine wesentliche Veränderung eingetreten ist, worin diese Veränderung besteht und in welchem Grade der Kläger nunmehr durch die Unfallfolgen in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt wird etc. Prof. Dr. T. führt u. A. aus, der Kläger mache nicht den Eindruck eines Simulanten; seine linke Hand sei verstümmelt und fast unbeweglich. Der ganze Arm sei abgemagert; es besteht ferner eine Behinderung der Be¬ wegungen im Fussgelenk. Der Patient hustet nur selten, Tuberkelbazillen befänden sich nicht im Auswurf. Es bestehe ein mässiger chronischer Bronchialkatarrh mit leichter Lungen¬ erweiterung. Es sei möglich, dass ein tuberkulöser Prozess zum Ausdruck komme. Es sei auch möglich, dass die Eiter¬ vergiftung des Blutes zu einer Verschleppung von Eitererregern in die Lungen geführt habe; ein bedeutender Brandherd habe offenbar nicht Vorgelegen. Prof. T. erklärte sich aber ausser Stande, mit Bestimmtheit zu entscheiden, ob der chronische Bronchialkatarrh in der schweren Blutvergiftung wurzle oder nicht. In den Verhältnissen, welche für Festsetzung der Voll¬ rente massgebend gewesen sind, sei trotz der Versicherung Digitized by Google 1. Dezember 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 487 des Klägers eine wesentliche Besserung eingetreten. Diese habe sich offenbar im Sommer 1898 vollzogen. Während Dr. Sch. im Mai noch Schwellung der Hand f eiternde Fisteln, Schulterschmerzen und Fussschwellung nach längerem Gehen feststellte, waren Ende September die Fisteln beseitigt, Fuss- und Schulterbeschwerden erledigt. Das sei auoh noch der Fall, nur dass die Funktion des rechten Fusses massige Störungen aufweise. Dafür habe sich aber der Husten und Auswurf gebessert. Prof. Dr. T. bewerthet die Einbusse, die Kläger an seiner Erwerbsfähigkeit in Folge der Verstümmlung der linken Hand erlitten, auf 50 bis 60 Prozent, diejenige aus Anlass der Fussaffektion auf 5—10 Prozent. Hierzu würde noch, falls die juristische Behörde sich für eine Abhängigkeit der Brustbeschwerden vom Unfall entscheiden würde, 10 bis 15 Prozent kommen, so dass sich im günstigsten Falle der Ge8ammtverlust auf 75 Prozent stellen würde. Jedenfalls er¬ scheine es angezeigt, den Kläger, der über einen kräftigen rechten Arm mit normaler Hand verfüge, dessen Gehstörungen bei leichteren Anstrengungen ebensowenig ins Gewicht fallen, als ein Lungenleiden, arbeiten zu lassen, bevor seine Musku¬ latur stärker schwinde und mehr psychische Hemmungen durch Brustschmerzen einen festeren Halt gewinnen. Das Reichs- Versicherungsamt unter dem Vorsitz des Präsidenten G. änderte darauf die Vorentscheidung aus folgenden Gründen ab: Es handelt sich darum, ob in den Verhältnissen, welche die Genossenschaft am 19. Juli 1898 veranlasst hatten, dem Kläger die Rente für völlige Erwerbsunfähig¬ keit zu gewähren, eine wesentliche Veränderung derge¬ stalt eingetreten ist, dass der Kläger seit dem 1. Oktober 1898 nicht mehr völlig erwerbsunfähig ist. Alle Zweifel, die nach dieser Richtung im Hinblick auf den Ausspruch des Kreisphysikus Dr. B. vom 2. November 1898 noch bestehen konnten, müssen durch das überzeugende Gutachten des Pro¬ fessors Dr. F. vom 18. August 1899 als gehoben gelten. Da¬ nach unterliegt es keinem Bedenken, den Eintritt einer Besse¬ rung im bezeichneten Sinne als erwiesen anzunehmen. Die Besserung hat sich der Hauptsache nach offenbar im Septem¬ ber 1898 vollzogen. Während Dr. Sch. zu Berlin im Mai 1898 Schwellung der linken Hand, eiternde Fisteln, Schulterschmerzen sowie Anschwellung des rechten Fusses nach längerem Gehen feststellte, waren Ende September 1898 die Fisteln, die Schul¬ ter- und die Fussbeschwerden geschwunden; auch gegenwärtig sind solche Krankheitserscheinungen nicht vorhanden, nur weist die Funktion des rechten Fusses noch mässige Störungen auf. Hiervon abgesehen, bestehen die erweisbaren Unfall¬ folgen nur noch in völliger Unbrauchbarkeit der linken Hand Ausserdem leidet der Kläger allerdings auch an einem Bron¬ chialkatarrh (Brustbeschwerden). Dass diese Krankheit in der durch den Unfall verursachten schweren Blutvergiftung wur¬ zelt, ist in Anbetracht der nicht widerlegten Angabe, wonach der Kläger bis zum Unfall gesund gewesen und das Brust¬ leiden offenbar im Anschluss an den Unfall aufgetreten sei, zwar möglich, aber nicht erwiesen und naoh Lage der Sache um so weniger anzunehmen, als die Bronchitis chronisch ge¬ worden ist, eine Erscheinung, die gegen den Zusammenhang zwischen jener Blutvergiftung und der Brochitis spricht, weil ein durch derartige Eiterprozesse herbeigeführter Bronchial¬ katarrh mit der Heilung der Eitervergiftung aufzuhören pflegt. Die Einbusse, die der Kläger an seiner Erwerbsfähigkeit durch die Verstümmelung der linken Hand erlitten hat, bewerthet Professor Dr. F. auf 50 bis 60 pCt., während er die durch die Fus8affektion bedingte Verminderung der Erwerbsfähigkeit auf 5 bis 10 pCt. veranschlagt. Im Anschluss hieran hat das Reichs-Versicherungsamt den Grad der durch die gesammten Unfallfolgen verursachten Erwerbsunfähigkeit des Klägers für die Zeit vom 1. Oktober 1898 auf 66 2 /3 pCt. geschätzt und dem entsprechend festgesetzt. M. Tod von vier Arbeitern durch Genuss von Sprengbl — als Folge eines Unfalles beim Betriebe erklärt Der Vorarbeiter H. hatte in einem Granitwerk bei Meissen ohne Wissen der Betriebsleitung Sprengungen mit einer aus chlorsaurem Kali und Nitrobenzol hergestellten Mischung vor¬ genommen und das hierzu erforderliche Nitrobenzol, ein stark wirkendes Gift, in einem Schränkchen der Frühstücksbude der Arbeiter in einer mit der Bezeichnung Gift versehenen Flasche aufbewahrt. Eines Tages hatten vier in dem Betriebe beschäftigte Arbeiter aus dieser Flasche getrunken und sind in Folge davon an demselben Tage gestorben. Wie die Untersuchung ergab, waren die Arbeiter, nach¬ dem sie ihr Frühstück in der Frühstücksbude verzehrt hatten, wieder an die Arbeit gegangen. Nach kurzer Arbeit leisteten sie der Aufforderung eines Arbeiters Folge und begaben sich nochmals in die Frühstücksbude, um dort noch einen Schnaps zu trinken, und hatten dabei von dem in einer Bierflasche befindlichen Sprengöl getrunken. Das Unglück ist dadurch möglich geworden, dass der Vorarbeiter den Schlüssel im Thürschloss der verschlossenen Frühstücksbude hatte stecken lassen, und dass ferner das Sprengöl in einer allen Arbeitern zugänglichen Weise von dem Vorarbeiter in der Frühstücks¬ bude aufbewahrt worden war. Ob nun die Arbeiter gewusst hatten, dass sie Sprengöl tranken, oder ob dasselbe nur ver¬ sehentlich von denselben getrunken wurde, ist nicht fest¬ gestellt worden. Die Hinterbliebenen des Verunglückten R. haben An¬ spruch auf Gewährung von Angehörigenrente gestellt; sie sind aber mit ihren Ansprüchen von der Sektion abgewiesen worden, weil ein „Betriebsunfall im Sinne des Gesetzes" nicht vorliege. Das Schiedsgericht hat den vorliegenden Fall ebenfalls nicht für einen „Betriebsunfall“ angesehen und den ab¬ lehnenden Bescheid des Sektionsvorstandes bestätigt. Das Reichs-Versicherungsamt hat dagegen das schieds¬ gerichtliche Urtheil und den Sektionsbefund aufgehoben und die Steinbruchs-Berufsgenossenschaft zur Entschädigung der Angehörigen verurtheilt. In den Gründen heisst es unter Anderem: Es muss mangels entgegenstehender Umstände angenommen werden, dass die Arbeiter nur aus Versehen von dem Sprengöl ge¬ trunken haben; da nun ein versehentliches Trinken von Gift unbedenklich einen Unfall darstellt, und da die Entschädigungs¬ ansprüche für Unfälle nach den Bestimmungen des Unfall- versioherungsgesetzes nicht dadurch ausgeschlossen werden, dass die davon betroffenen Arbeiter dieselben durch Leicht¬ sinn oder grobes Verschulden selbst herbeigeführt haben (Handbuch II. Auflage Anmerkung 39 zu § 1 des Unf.-Vers.- Ges. Seite 34), so hängt die Entscheidung lediglich davon ab, ob der streitige Unfall sich bei dem Betriebe ereignet hat, und diese Frage hat das R.-V.-A. im Gegensatz zu dem Schieds¬ gericht bejaht. Weiter heisst es in den Gründen, die Arbeitsbude, in welcher das Sprengöl aufbewahrt wurde, war eine zur Be¬ triebsstätte gehörige Einrichtung. Die Aufbewahrung des Sprengöls in derselben geschah zu Betriebszwecken und bildete, wegen der Möglichkeit einer Verwechselung der Flaschen mit den die Getränke der Arbeiter enthaltenden, eine Gefahr für die Arbeiter. Der verunglückte R. ist also durch den Trunk aus der Sprengölflasche auf der Betriebsstätte einer Betriebs¬ gefahr erlegen. Er hatte sich auch durch den Weg, den er von seinem Arbeitsplätze zur Bude unternahm, nicht ausser- Digitized by Google 488 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 23. halb des Betriebes gesetzt, weil die Zeit der Arbeitsunter¬ brechung (höchstens 10 Minuten) zu kurz war, um in dieser Beziehung in Betracht zu kommen. Der von dem Vorarbeiter bekundete Umstand, dass die Arbeiter ausserhalb der Arbeitspausen nichts in der Frühstücks¬ stube zu suchen hatten, schliesst die Annahme eines Betriebs¬ unfalles ebenfalls nicht aus, weil nichts dafür erbracht ist, dass den Arbeitern das Betreten der Bude ausserhalb der Arbeitspausen verboten, und dass das Verbot ernstlich durch¬ geführt worden war (zu vergleichenden Rekursentscheidungen 631 und 1148, Amtliche Nachrichten desR.-V.-A. 1888 Seite 346 und 1892 Seite 313). Hiernach mussten den Klägern die beanspruchten Hinter¬ bliebenenrenten zugesprochen werden. (Monatsschr. f. d. Steinbruohs-Bg.) Aus dem bayrischen LandesversicherungsAmt. Progressive Paralyse als Unfallfelge. I. Gutachten des erstbehandelnden Arztes vom 23. Febr. 1899. Auf Ansuchen bestätige ich, dass J. S. mit einer schweren Contusio dorsi vom 8. bis mit 16. Mai 1896 arbeitsunfähig in kassenärztlicher Behandlung stand; der Verletzte wurde von mir besucht, da er das Bett nicht verlassen konnte; seit 16. Mai 1896 erinnere ich mich nicht, denselben wieder gesehen zu haben, aber bei der Schwere der Prellung der Mitte der Wirbelsäule ist es nicht ausgeschlossen, dass sich in späterer Zeit eine Erkrankung der Medulla spinalis und der Meningitis derselben ausgebildet hat. II. Gutachten derKreisirrenanstaltE. vom 9. Juni 1899. Die . . . Berufsgenossenschaft requirirt ein Gutachten da¬ rüber, ob bei dem in der Kreisirrenanstalt befindlichen Maurer J. S. die geistige Störung im Zusammenhang mit einem am 8. Mai 1896 erlittenen Unfall stehe, resp. welohes etwa die Entstehungsursache des dem S. anhaftenden Leidens sei. Was zunächst den in Rede stehenden Unfall anbelangt, so ist darüber Folgendes konstatirt: Am 8. Mai 1896 Nachmittags liess beim Neubau eines Kamines ein Maurer durch Unvorsichtigkeit Steine herabfallen, welche den S. beim Vorübergehen trafen und im Rücken ver¬ letzten. Infolge dieser Verletzung, welche von dem behan¬ delnden Arzte als „schwere contusio dorsi* bezeichnet wird, war S. 8 Tage arbeitsunfähig und bettlägerig. Jener Arzt hält es nicht für ausgeschlossen, dass sich in Folge dieser Rücken¬ markverletzung eine Erkrankung der Medulla spinalis und Meningitis derselben ausgebildet hat. Am 20. April 1897, also fast ein Jahr danach, wurde S. in das Krankenhaus München r. d. J. verbracht. Seine Frau machte bei der Aufnahme über seine Erkrankung folgende Angaben: Ihr Mann klage seit einem Monat über Kopfweh, schlafe sehr wenig, habe jedoch seine Arbeit wie gewöhnlich ver¬ richtet. Seit 15. April 1897 vernachlässige er seine Arbeit oder mache sie verkehrt, so z. B. habe er eine Wand zum Theil gelb, zum Theil roth, zum Theil grün gestrichen. Am Tage der Aufnahme (19. April 1897) habe S. sinnlose Einkäufe gemacht, zwei Velocipede und einen Sportanzug für seine Frau bestellt, verschiedenen Bekannten den Auftrag ertheilt, Wagen und Pferde für ihn zu kaufen; er könne sich Alles leisten, sei ein Baumeister, Millionär, und brauche nicht mehr zu arbeiten. Frau S. deponirte ferner noch, dass ihr Gatte früher einen Typhus zu überstehen hatte, nach sechsmonatlicher Dienstzeit vom Militär wegen eines Herzleidens frei wurde, und dass seine Eltern und Geschwister gesund waren. S. blieb bis zum 3. Mai 1897 im Krankenhaus in München r. d. J. — Er war daselbBt heiterer Stimmung, sang und pfiff sprach von seinem grossen Vermögen, maohte unsinnige Pro¬ jekte, entleerte Harn und Stuhl ins Zimmer und entkleidete sich. Am 3. Mai 1897 erfolgte seine Aufnahme in die hiesige Anstalt Seine psychische Erkrankung, allgemeine fortschreitende Paralyse, war schon damals deutlich ausgesprochen und hat inzwischen weitere Fortschritte gemacht. Die bereits bei Auf¬ nahme vorhanden gewesene geistige Schwäche ist allmählich in vollständigen Blödsinn übergegangen. Während er Anfangs noch GrösBenwahnsinnsideen pro- duzirte und in gehobener Stimmung sich befand, ist er nun¬ mehr ganz theilnahmslos geworden. Er sitzt, blöde lachend, apathisch herum, hat keine Ahnung mehr von seiner Lage, weiss nicht, wo er sich befindet, giebt nur zögernd und höchst mangelhaft Antwort, delirirt bisweilen, dass er keinen Körper mehr habe, und lässt, während er sich in der ersten Zeit rein¬ lich und ordentlich gehalten, jetzt Koth und Urin unter sich gehen. Von motorischen Symptomen sind hervorzuheben: schmie¬ rende, fast unverständliche Sprache, mehrfache Innervations¬ störungen, Pupillendifferenz und Pupillenstarre, schwankender, unsicherer Gang, Ataxie der oberen und unteren Extremitäten, fibrilläre Zuckungen der mimischen Muskulatur, paralytische Handschrift. S. leidet an allgemeiner fortschreitender Paralyse (Gehirn¬ erweichung), ist unheilbar und wird in absehbarer Zeit seinem Leiden erliegen. Die Ursache seiner Erkrankung vermögen wir nicht anzu¬ geben, da in den sehr nothdürftigen anamnestischen Angaben die wichtigsten Momente (überstandene Syphilis, Alkoholexcesse) unberücksichtigt geblieben sind und der derzeitige körperliche Befund keine Rückschlüsse gestattet. Die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen dem am 8. Mai 1896 erlittenen Unfall und der Geistes¬ störung besteht, müssen wir verneinen, und zwar aus folgenden Gründen: Die Ehefrau datirt den Beginn der geistigen Erkrankung auf Mitte März 1897. Bis dahin war S. erwerbsfähig und hat seine Maurerarbeiten ordentlich versehen. Erst von da ab zeigten sich die charakteristischen Merkmale der allgemeinen Paralyse. Wenn der genannte Unfall, resp. die damals erlittene Ver¬ letzung der Ausgangspunkt für die jetzt bestehende Paralyse gewesen wäre, so müsste die ganze Entwickelung der Krank¬ heit eine andere gewesen sein und S. hätte nicht fast noch ein ganzes Jahr lang arbeits- und erwerbsfähig geblieben sein können. Wir begutachten daher, dass ein Causalnexus zwischen der am 8. Mai 1896 erlittenen Contusio dorsi und der nun be¬ stehenden geistigen Erkrankung (Paralyse) nicht besteht HI. Obergutachten von Obermedizinalrath Dr. Grashey vom 26. April 1900. S. J. 26 Jahre alt, verheiratheter Kesselmaurer von Mün¬ chen, erlitt am 8. Mai 1896 zu Ammerthal eine starke Prel¬ lung des Rückens durch einen aus beträchtlicher Höhe herab¬ fallenden Stein. Nach dem Zeugniss des praktischen Arztes Dr. F., welcher ihn behandelte, bestand eine sohwere Con¬ tusio dorsi (Prellung des Rückens). S. stand deshalb vom 8. bis inkl. 16. Mai 1896 in ärztlicher Behandlung. Ende Mai 1896 war er wieder arbeitsfähig. Am 20. April 1897 wurde S. wegen Geistestörung in das Krankenhaus München r. d. J. Digitized by Google 1. Dezember 1900 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 489 verbracht und am 8. Mai 1897 in die Kreis-Irrenanstalt G. Nach dem Gutachten des kgl. Direktors genannter Anstalt vom 9. Juni 1899 ist nicht zu bezweifeln, dass S. an allgemeiner fortschreitender Paralyse erkrankt war. Bezüglich der Ursache dieses Leidens ist in erwähntem Gutachten bemerkt dass die Angaben über die Vergangenheit des Kranken sehr dürftig Reien und über die wichtigsten ur¬ sächlichen Momente, nämlich über etwa vorausgegangene syphilitische Erkrankung und über etwa stattgehabte Alkohol- excesse keinen Aufschluss geben. Gleichzeitig ist erwähnt, dass der körperliche Befund nicht der Art sei, dass man aus ihm auf vorausgegangene syphilitische Erkrankung oder Alko- holexcesse schliessen könne. Es ist demnach zweifelhaft, ob S. früher einmal an Syphilis litt, und ob er Alkoholexcessen ergeben war. Da nun traumatische Erschütterungen des Gehirns und solche des Rückenmarks ebenfalls zu den Ursachen der allgemeinen fort¬ schreitenden Paralyse gehören, so entsteht die Frage, ob die paralytische Erkrankung des S. durch den erlittenen Unfall hervorgerufen sei. In dieser Beziehung ist Folgendes zu be¬ merken: Mag S. früher an Syphilis gelitten haben oder nicht, und mag er Alkoholexcessen ergeben gewesen sein oder nicht, so muss der traumatischen Erschütterung des Rückenmarks, wie er sie erlitten hat, doch auf alle Fälle eine ursächliche Bedeutung beigemessen werden, denn solche Erschütterungen können die allgemeine Paralyse sowohl vorbereiten als auch, wenn sie anderweitig schon vorbereitet ist, zum Ausbruch bringen. Aus dem Umstande, dass S. erst ein Jahr nach dem Unfälle deutliche, auch für den Laien wahrnehmbare Er¬ scheinungen der Paralyse zeigte, und dass er in der Zwischen¬ zeit arbeitsfähig war, folgt nicht, dass ein ursächlicher Zu¬ sammenhang zwischen Unfall und Paralyse nicht bestehe, denn erstens pflegt die allgemeine Paralyse in der Regel sich langsam zu entwickeln, zweitens hat die Krankheit in der Regel schon eine geraume Zeit früher begonnen, ehe Krank¬ heitserscheinungen auftreten, welche auch dem Laien als solche erkennbar sind, und drittens kann nicht bloss ein Ar¬ beiter im Anfang88tadim der Paralyse noch vollkommen ar¬ beitsfähig sein, sondern es können selbst Personen des Olfizierstandes, des Künstlerstandes, des Gelehrtenstandes, also Personen, an welche höhere geistige Anforderungen gestellt werden, noch arbeitsfähig und dienstfähig sein, obwohl sie der paralytischen Krankheit bereits verfallen sind. Demnach erkläre ich gutachtlich, dass anzunehmen sei, dass die Geisteskrankheit des J. S. in ursäch¬ lichem Zusammenhang stehe mit seinem Unfälle vom 8. Mai 1896. (Unf. Vers. Pr.) Aus dem Ober-Yerwaltungsgerlcht. Nervöse Personen und Geräusche. Entsch. vom 9. Juni 1900. Der Kaufmann R., Inhaber der Firma A. M. zu L., betreibt auf seinem Grundstück den Eisenhandel. In Folge von Be¬ schwerden über die unerträglichen Geräusche, die beim Ver¬ laden und Zerkleinern der eisernen Träger verursacht würden, erging an R. eine Verfügung, in welcher er aufgefordert wurde, beim Transport, Verladen und Bearbeiten von Eiseuwaaren, solche Einrichtungen zu treffen, welche einem lauten Geräusch Vorbeugen. Ein Geschäftsbetrieb ohne solche Vorsichtsmass- regeln werde verboten. Diese Verfügung beruht auf dem Gut¬ achten eines Kreisphysikus, welcher erklärt hatte, durch das Abladen und Durchhauen von Schienen, Trägern etc. entstehe ein markerschütterndes, im höchstem Grade unangenehmes Geräusch. In der Nähe des Eisenlagers wohnen kranke, blut¬ arme und nervöse Damen; durch das fragliche Geräusch würden zweifellos sämmtliche Anwohner arg belästigt und die kranken, nervösen Damen direkt an der Gesundheit geschädigt. Nach erfolgloser Beschwerde erhob R. Klage beim Oberverwaltungs¬ gericht und bestritt die Zulässigkeit der Verfügung im Hinblick auf die Vorschriften der Gewerbeordnung und stellte in Abrede, dass er durch die Art seines Geschäftsbetriebes die Anwohner in ihrer Ruhe gestört oder ihre Gesundheit gefährdet habe; auch sei in der Verfügung nicht angegeben, was er zu unter¬ lassen habe. Das Oberverwaltungsgericht entschied auch zu Gunsten des Klägers und machte u. A. geltend, die Entschei¬ dung ist davon abhängig zu machen, ob die von dem Betriebe des Klägers ausgehenden Geräusche die Gesundheit oder gar das Leben der Anwohner zu gefährden geeignet sind. Ist dies nicht der Fall, dann ist die Verfügung zu Unrecht ergangen, weil es nicht Aufgabe der Polizei ist, die Anwohner vor Ge¬ räuschen zu schützen, die ihnen lästig fallen, ohne dass sie davon Schaden an Leben und Gesundheit nehmen können, vielmehr den durch die Geräusche belästigten Anwohnern zu überlassen ist, ihre vermeintlich verletzten Rechte gegenüber dem Kläger im ordentlichen Rechtswege zu verfolgen. Die Polizei ist an Uebung ihrer landesgesetzlich begründeten Auf¬ gabe, Gefahren für Leben und Gesundheit von dem Publikum abzuwenden, durch die Gewerbeordnung nicht behindert. Nach dem Ergebniss der Beweisaufnahme konnte jedoch nicht aner¬ kannt werden, dass das fragliche Geräusch Leben und Ge¬ sundheit der Anwohner gefährdet; eine Anzahl Nachbarn haben die Geräusche in ihren Räumen nicht einmal als belästigend empfunden. Besonders krankhaft angelegten Personen bleibt die Wahl eines anderen Aufenthaltsortes anheimgestellt. M. Bücherbesprechungeii und Anzeigen. Bresgen-Wiesbaden, Dr. M. Die Reizung und Entzündung der Nasenschleimhaut in ihrem Einfluss auf die Athmung und das Herz. Halle a. S. Verlag von Carl Marhold. 1900. Preis 1,50 Mark. (Bresgen’s Sammlung, IV. Band, No. 9). Die bekannte Thatsache, dass gewisse Erkrankungen der Nase auf Athmung und Herzthätigkeit einen nachtheiligen Einfluss auszuüben vermögen, hat dem Verfasser Veranlassung gegeben, diese Störungen auf Grund seiner mehr als 25jährigen Erfahrungen einer näheren Prüfung zu unterwerfen. Er erörtert zuerst kurz die Störungen der Athmung und der Herzthätigkeit, die durch eine vorübergehende Reizung der Nasenschleimhaut ausgelöst werden können: Stillstand der Athmung in Ausathmungsstellung, Pulsverlangsamung und Aussetzen des Pulses. Dann wendet er sich denjenigen Störungen in der Funktion der Lungen und des Herzens zu, die bei dauernden Nasenleiden auftreten und zieht hier be¬ sonders die Erkrankungen der Nase, die mit einer Behinderung der Nasenathmung einhergehen, in Betracht. Oberflächlichkeit der Athembewegungen bei Mundathmung, ihr schädlicher Einfluss auf die Entwickelung der Lungen und des Brustkorbes und schliesslich dadurch bedingte asthmatische Anfälle und neurasthenische Zustände werden hervorgehoben; Verfasser spricht direkt von „Nasen-Neurasthenikern.“ Solche Kranke werden, wenn sie die fünfziger Jahre überschritten haben, ge¬ wöhnlich für Emphysemat'ker gehalten und als solche be¬ handelt, während ihrem Leiden in Wirklichkeit schwere Ver¬ änderungen in der Nase zu Grunde liegen, von denen sie selbst häutig gar keine Ahnung haben. Zum Bilde dieser Neurasthenie gehören dann auch die Störungen, die von der erkrankten Nase aus auf das Herz und seine Thätigkeit aus Digitized by Google 490 Aerztliohe Saohverständigen-Zeitung. No. 28. geübt werden: Herzklopfen, Herzbeklemmung, ja, wirkliche Schmerzen und Stiche in der Herzgegend werden hier genannt. Nicht selten ist schliesslich Hypertrophie des Herzens die Folge seiner durch die Nasenerkrankung herbeigeführten überan¬ strengten Thätigkeit. Zur Beseitigung der ursächlichen Schäden in der Nase hat Verfasser vielfach das einfache * Brennen* der Nasen¬ muscheln angewendet und damit auch gute Erfolge erzielt. Da aber häufig nicht eine blosse chronisch entzündliche Schwellung der Schleimhaut, sondern oft auch Verbiegungen und Missbildungen der Nasenscheidewand und Hypertrophie des knöchernen Muschelgerüstes der behinderten Nasenathmung zu Grunde liegen, und das einfache «Brennen* dann radikaleren operativen Eingriffen weichen muss, so wäre es erwünscht gewesen, wenn Verfasser auch dieser Thatsache, sowohl in der Ueberschrift wie in den Ausführungen, mehr Rechnung getragen hätte. Unbedingt wird man aber nach seinen Darlegungen dem Verfasser beistimmen, wenn er die grundsätzliche Forderung aufstellt, dass bei Unregelmässigkeiten der Athmung und der Herzbewegung neben den anderen in Betracht kommenden Körpertheilen auch der Nasenhöhle eine sachverständige Unter¬ suchung und je nach Lage des Falles auch eine entsprechende örtliche Behandlung unter Zugrundelegung unserer neuesten Erfahrungen zu Theil werde. Für besonders wichtig erklärt er es ausserdem, dass vorbeugend schon in frühester Kind¬ heit darauf geachtet werde, dass die Nasenluftwege Tag und Nacht stets frei durchgängig für die Luft seien und, wenn nöthig, durch zielbewusste örtliche Behandlung von jeder Be¬ hinderung der Nasenathmung befreit werden. Richard Müller. Hoffa, A., Die moderne Behandlung der Spondylitis. München, Seitz & Schauer. 2 Mark. Die flott geschriebene Broschüre ist aus einem Vortrage entstanden, den der Verf. vor den deutschen Aerzten Böhmens gehalten hat. Nach einer kurzen Einleitung, in welcher Hoffa die pathologische Anatomie der Spondylitis und ihre Statik be¬ handelt, wendet er sich der Therapie zu. Er betont die Wichtig¬ keit einer allgemein tuberkulösen Behandlung und eines medi¬ zinisch diätetischen Verfahrens. Eine trockene, sonnige Woh¬ nung, kräftige Kost, bestehend aus Fleisch, Milch und Eiern, langes Verweilen im Freien, wenn möglich an der See, appetit¬ anregende und tonisirende Mittel, besonders Leberthran sind von grosser Bedeutung. Hoffa giebt ausserdem innerlich Tinct. Kreosoti 0,5 —1,0 : 100,0, dreimal täglich einen Theelöffel und lässt wöchentlich 3 mal 30 g Sapo kalinus venalis vom Nacken bis zu den Kniekehlen wie graue Salbe auf dem Rücken des Patienten einreiben. Das Einreiben dauert etwa 15 Minuten, dann bleibt die Seife weitere 20 Minuten liegen, worauf sie mit einem Schwamme abgewaschen wird. Einen augenblicklichen Erfolg merkt der Patient erst, wenn zur diätetischen Behandlung die richtige mechanische Behand¬ lung hinzu kommt; erst durch diese verschwinden die Schmerzen fast unmittelbar. Die zweite Aufgabe des mechanischen Ver¬ fahrens ist, die Ausheilung des lokalen Prozesses zu ermög¬ lichen und die Gibbusbildung auf das Mindestmass zu be¬ schränken. Dies wird erreicht durch die Entlastung der erkrank¬ ten Parthien der Wirbelkörperreihe von dem Drucke des subra- gibbären Rumpfsegmentes und durch die exakte Fixation der ganzen Wirbelsäule in der entlasteten Haltung derselben. Um im floriden Entzündungsstadium die Lordosirung der ganzen Wirbelsäule zu erreichen, in welcher Lage die grösste Entlastung stattfindet, verlangt Hoffa, dass das Spondylitis- Kind im Anfang so lange in ruhiger Bettlage verbleibt, bis die Schmerzen vollständig verschwunden sind nnd die Konsolidi- rung der kranken Wirbel begonnen hat Die Kinder müssen aber so gelagert werden, dass einerseits eine absolute Fixation der gewünschten Lage stattfindet und dass sie ohne Ver¬ änderung ihrer Lage leicht transportabel sind. Wie das in dem Phelps’schen Stehbett für Spondylitis cervicalis und in dem Lorenz’schen Gipsbett oder im Coiot’schen Mumienverband für die mittleren und unteren Parthien der Wirbelsäule zu errei¬ chen ist, erläutert Hoffa in seinem Vortrage sehr anschaulich. Sobald die deutlichen Anzeichen vorhanden sind, dass die Konsolidirung der Wirbelsäule beginnt, wird die Horizontallage mit der aufrechten Haltung vertauscht und ein abnehmbar gemachtes Sayre’sches Gipscorset oder Corset aus Cellulose, Celluloid oder, wo es angeht, ein Hessing’sches Stoffcorset eventuell mit einer Kopfstützvorrichtung angelegt. Diese Cor- sets müssen die Patienten dann oft noch Jahre lang tragen und während dessen müssen durch energische Pflege der Haut, durch Bäder, durch Massage und Gymnastik die Rückenmus¬ keln so gekräftigt werden, dass die Kranken sioh schliesslich auch ohne jeden Apparat gerade zu halten vermögen. Selbst bei sorgfältiger Behandlung können zu der Spondylitis zwei Komplikationen hinzutreten: Abscesse und Lähmungen. Die Behandlung der Abscesse ist jetzt allgemein so üblich, dass man an einer noch unveränderten Hautparthie mit der Punktionsnadel eingeht und von da aus den Abscess aussaugt. Dann injicirt man durch die Hohlnadel unmittelbar darauf von einer 10 Prozent Jodoformsuspension in Glycerin 30 —100 g. Der Abscess füllt sich in der Regel langsam wieder und muss durchschnittlich 3 — 4 mal in Zwischenräumen von etwa vier Wochen ebenso behandelt werden. Nur Abscesse, welche gar keine Neigung zur Resorption haben, den Kranken sehr herunter¬ bringen und spontan durchzubrechen suchen, soll man incidiren. Das beste Mittel zur Behandlung der spondylitischen Kom¬ pressionslähmung ist die permanente Extension, die entweder mit Hilfe der Glisson*schen Schwebe und Gegenzügen an Schulter und Becken oder bequemer im Reklinationsgipsbett ausgeführt wird. Hoffa erläutert die Technik aller angeführten Massnahmen in sehr anschaulichen Abbildungen, worauf ich speziell hin- weisen möchte. Stabei. Jessner, S. Kompendium der Hautkrankheiten ein¬ schliesslich Syphilide und Kosmetik. Zweite Auflage. Verlag von Thomas und Oppermann. Königsberg i. Pr. 1900. Die praktischen Vorzüge, welche dem Jessner’schen Kompendium der Hautkrankheiten in seiner ersten Auflage zahlreiche Freunde unter den Dermatologen und ärztlichen Praktikern erworben haben, finden sich in dieser voll¬ ständig umgearbeiteten und sehr erweiterten zweiten Auflage in erhöhtem Masse. Insbesondere ist der Differentialdiagnose und der ausführlicher behandelten Therapie ein weiterer Spiel¬ raum gegeben. Während in der Erkenntniss der ursächlichen Momente der Hautkrankheiten in dem letzten Dezennium keine aussergewöhnlichen Fortschritte gemacht wurden, ist die Lehre von der Behandlung derselben nach allen Richtungen hin ausgebaut worden und das vorliegende Werk des fleissigen und durch seine fruchtbare, schriftstellerische Thätigkeit be¬ kannten Königsberger Dermatologen hat allen diesbezüg¬ lichen Fortschritten Rechnung getragen. Da die Haut¬ syphilis bei der Differentialdiagnose zahlreicher Hautkrank¬ heiten eine wichtige! Rolle spielt, so ist ihr ein besonderes Kapitel gewidmet. Ebenfalls hat die Kosmetik, welche einen integrirenden Theil der Hygiene der Hautkrankheiten bildet. Digitized by Google 1. Dezember 1900. Aerztliohe Sachverständig en-Zeitung. 491 eine kurzgefasste, für den Praktiker aber vollständig aus¬ reichende Besprechung gefunden. So kann das Buch, welches dem Referenten in seiner alten Form oft vortreffliche Dienste geleistet hat, in seinem neuen, verbesserten Gewände erst recht allen denen empfohlen werden, welche sich über alles Wissenswerthe auf dem Gebiete der Hautkrankheiten orientiren wollen. Ledermann. Förster, A. Die Preussische Gebührenordnung für approbirte Aerzte und Zahnärzte vom 15. Mai 1896. Mit Einleitung, Anmerkungen und Sachregister nebst einem Anhang: Der ärztliche Gebührenanspruch und seine gericht¬ liche Geltendmachung. Vierte vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin, 1901. Verlag von Richard Schoetz. Preis 1,80 M. Von dem bekannten Kommentar zur Preussischen Gebühren¬ ordnung, der seit seinem Erscheinen mehr und mehr als un¬ entbehrlicher Rathgeber bei der Aufstellung und Prüfung der Liquidationen für Aerzte und Medizinalbeamte sich erwiesen hat, liegt bereits die vierte Auflage vor, die an zahlreichen Stellen Vermehrungen und erläuternde Ergänzungen erfahren hat. Diese Erläuterungen sind überall auf den seit dem 1. Januar 1900 veränderten Stand unserer Gesetzgebung zurückgeführt. Wer, wie der Berichterstatter, von Amts wegen mit der Prüfung ärztlicher Liquidationen häufiger zu thun hat, begrüsst es mit Freuden, dass die Aerzte mehr und mehr sich daran gewöhnen, bei der Aufstellung ihrer Liquidationen die in dem vorliegenden Kommentar für den einzelnen Fall gegebenen Erläuterungen zu berücksichtigen, um auf diese Weise Streitig¬ keiten und anderweite Festsetzungen zu vermeiden. Deshalb sind die Aerzte und Medizinalbeamten dem Verfasser für die Ergänzung des bewährten Kommentars zu besonderem Dank verpflichtet. Roth (Potsdam). Gesetz betreffend die Bekämpfun g gemeingefähr¬ licher Krankheiten. Vom 30. Juni 1900. Text-Ausgabe mit Anmerkungen und Sachregister von Dr. Burkhardt, Reg.-R., Mitgl. d. Kais. Ges.-A. Guttentagsche Sammlung deutscher Reicbsgesetze No. 56. Berlin 1900. J. Guttentag. 121 S., Pr. 1,40 M. Das in die handliche Form der Guttentagschen Sammlung gekleidete Werkchen, das das neue Gesetz, von kundiger Seite kommentirt, und als Anhang die vorläufigen Ausführungsbe- Stimmungen vom 6. Oktober 1900 enthält, gehört in jede ärzt¬ liche Bibliothek. C. Arnold, Prof. d. Chemie a. d. kgl. tierärztl. Hochsch. z Hannover. Repetitorium der Chemie. 10. Auflage. Hamburg und Leipzig. 1900. L. Voss. 606 S. 7 M. Das ArnoldscheRepetitorium ist so manschen von denen, die jetzt mitten in der ärztlichen Praxis oder Wissenschaft stehen, schon in den ersten Studienjahren ein vertrauter Be¬ gleiter gewesen. Die Fülle des Stoffes bat freilich bei dem immerhin kleinen Format des Buches eine stilistische Zu- sammendrängung notwendig gemacht, die für den Lernenden das Lesen grösserer Abschnitte erschwert. Dafür aber ist der „Arnold“ ein vorzügliches Nachschlagebuch, in dem besonders der Mediziner schwerlich einen ihn interessirenden Gegenstand vergeblich suchen wird. Bei dem Einfluss, den die chemische Industrie heutzutage auf die Gestaltung des Arzneischatzes hat, und andrerseits bei dem Gewicht, das die moderne medizinische Forschung auf chemische Untersuchungen legt, kann es nicht fehlen, dass das Werk nicht blos unter den Studirenden, sondern auch unter den Aerzten manchen neuen Freund finden wird. Nicht wenig wird hierzu übrigens auch die ungemein geschmackvolle und gediegene äussere Ausstattung beitragen. Schönichen, Dr. Walther und Kalberlah, Dr. Alfred. B. Ey- ferth’s einfachste Lebensformen des Thier- und Pflanzenreiches. Naturgeschichte der mikroskopischen Süsswasserbewohner. Dritte, vollständig neubearbeitete und vermehrte Auflage. Braunschweig 1900. Benno Goeritz. 525 S. Pr. 20 Mark. In einer Zeit, in der der praktische Mediziner und der Hygieniker die Kenntniss einer grossen Zahl einfachster Lebe¬ wesen nicht entbehren können, in der eine Menge wissen¬ schaftlich arbeitende Fachgenossen sieb ganz in dieses Sonder¬ gebiet der Naturforschung vertiefen, verdienen Werke wie das vorliegende auch in ärztlichen Kreisen Beachtung. Es handelt sich — um jedes Missverständnis zu vermeiden — nicht etwa um ein für das grosse Publikum oder für Aerzte besonders zugeschnittenes Buch, sondern um ein rein spezial¬ wissenschaftliches, systematisches Werk. Als solches wollen wir es der Aufmerksamkeit derjenigen unserer Leser, die über die kleinsten Lebensformen im Süsswasser — etwa zum Zweck von Forschungen über Krankheitsursachen — eine genauere Kenntniss zu erwerben wünschen, nahebringen. Nicht uner¬ wähnt sollen hierbei die 700 Abbildungen bleiben, die, nach Zeichnungen eines der Verfasser, dem Werke beigegeben sind. Das Ganze trägt auch in seiner äusseren Form den Stempel der Vornehmheit und Gediegenheit. Tagesgeschlchte. Das Arzneibuch für das Deutsche Reich. Vierte Ausgabe. Am ersten Januar 1901 tritt die vierte Ausgabe der ehe¬ maligen Pharmacopoea germanica in Wirkung. Das wichtigste, was sie für die Aerzte bringt, ist die Veränderung zahlreicher Maximaldosen, meist im Sinne einer Herabsetzung der höch¬ sten zulässigen Tagesgaben. Fast durchweg ist die Tagesdosis auf das dreifache der Einzeldosis herabgesetzt worden, wenn sie vorher das vier-, fünf- oder mehrfache betrug, so bei Ace- tanilid (statt 4,0 — 1,6!), bei Arsenik, Karbolsäure, Apomor¬ phin, Codein, Extr. Belladonnae und Colocyntbidis, den Queck¬ silberpräparaten, dem Phenacetin, Phosphor, essigsauren Blei u. s. w. Die Einzelgaben wurden herabgesetzt bei Fructus Colocynthidis (0,5—0,3), Extr. Hyoscyami (0,2—0,1), und einigen weniger gebräuchlichen Mitteln, erhöht bei Skopolamin, dessen winzige Maximaldose verdoppelt wurde (0,0005—0,001), und bei Kreosot (früher 0,2—1,0, jetzt 0,5—1,5)- Unter den neu eingeführten Mitteln stehen als erste Adeps lanae anhydricus und Adeps lanae cum Aqua (Lanolin), es folgt, einem wirklichen Bedürfniss entsprechend, Aetber pro narcosi, ein besonders reiner Aethylaether. Weiter begegnen wir u. A. dem Bismutum subgallicum (Dermatol), dem Bromo- form (Maximaldosis 0,5 —1,5), Coffeinum natriosalicylicum (M. D. 1,0—3,0), Hydrastinin (M. D. 0,03—0,1), Methylsulfonal (Trional, M. D. wie bei Sulfonal 2,0—4,0), Oleum camphoratum forte (4: 10), Sandelöl, Blaud’sche Pillen, Serum antidiphthe- ricum, Tuberculinum Kochii. Die alt vertrauten Namen Antipyrin, Salipyrin und Salol haben dem Bedürfniss nach erhöhter Wissenschaftlichkeit weichen müssen. Der in die Geheimnisse der organischen Chemie Digitized by LjOOQie Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 28. 483 minder eingeweihte wird dafür nicht ohne Staunen die Namen Pyrazolonum phenyldimethylicum, allein und mit dem Zusatz salicylicum, und Phenylum salicylicum lesen. Eine Reihe stark wirkender Extrakte und Drogen wird künftig auf einen Mindestgehalt an Alkaloiden geprüft sein müssen. Aqua carbolisata wird 2 — statt 3 prozentig. Unter Emplastrum Adhaesivum ist nicht mehr Wachs-, sondern das bessere Kautschukheftpflaster verstanden. Secale cornutum darf nicht über ein Jahr aufbewahrt werden. Tinctura digitalis ist nicht mehr aus frischen, sondern aus getrockneten Blättern zu bereiten. Damit dürften die für den Arzt wichtigsten Bestimmungen erschöpft sein. Der „Urningsparagraph“. »Dem Reichstage und Bundesrath ist vom wissenschaftlich¬ humanitären Komitee eine Petition zugegangen, die eine Ab¬ änderung des § 175 R.-St.-G.-B. (Urningparagraphen) anstrebt.“ So meldeten die Tageszeitungen lakonisch. Wir kennen den Wortlaut der Petition nicht und haben uns daher jeder Meinungsäusserung über dieselbe vorläufig zu enthalten. Nur darauf möchten wir aufmerksam machen, dass der Ausdruck „Urningparagraph“ von einer völlig schiefen Auffassung ent¬ weder des Wortes Urning oder des Paragraphen zeugt. Ein „Urning“ ist ein geschlechtlich Verkehrter — § 175 richtet sich gegen Unzucht zwischen Männern. Dass es aber viele selbst gewerbsmässig prostituirte Männer mit normalem Ge¬ schlechtstriebe giebt, die ihr schimpfliches Gewerbe aus an¬ deren Gründen treiben, weise der mit dem grossstädtischen Verbrecherthum Vertraute geuau — ganz zu schweigen von der Gelegenheits-Unzucht in Internaten und Gefängnissen. Die künstlichen Süssstoffe. Der Verein der deutschen Zuckerindustrie hat beantragt, den Verkauf künstlicher Süssstoffe auf die Apotheken zu be¬ schränken. Die Vorlage wird zur Zeit vom Ausschuss des deutschen Landwirthschaftsraths berathen. Man kann gespannt sein, zu erfahren, welches das Schicksal der nationalökonomisch ja recht wichtigen Frage sein wird. Sicher ist, dass allein die Ergebnisse medizinischer Forschung für eine solche Ent¬ scheidung massgebend sein dürfen. Vorschriften für Bleifarben- und Bleizuckerfabriken. Regierungsseitig ist eine Erhebung über eine Aenderung der Arbeiterschutzvorschriften in Bleifarben- und Bleizuckerfabriken eingeleitet worden. Der preussische Handelsminister hat dabei in Anregung gebracht, für die in diesen Gewerbszweigen beschäftigten Arbeiter d:eselbe Be¬ schränkung der Arbeitszeit auf 8 bezw. 6 Stunden einzuführen, wie sie in den Akkumulatorenfabriken gilt. Der Minister geht dabei von der Ansicht aus, dass die Gefahr der Bleivergiftung in den genannten Betrieben ebenso gross sei wie in den Akku¬ mulatorenfabriken. Eine grössere Anzahl betheiligter Industrieller Westdeutschlands ist, wie wir gleichfalls bereits mitgetheilt haben, gegen die beabsichtigten Neuerungen beim Minister vorstellig geworden. (Vossische Zeitung.) Bewilligung eines Gebisses durch die Landesversicherungs¬ anstalt. Ein Arbeiter B. in M. litt an schlechter Verdauung, die auf sein mangelhaftes Gebiss, das erhebliche Lücken aufwies, zurückzuführen war. Der Arzt bekundete, dass, wenn sich Patient kein künstliches Gebiss einsetzen lasse, sich später Invalidität einstellen würde. Da die Krankenkasse, der der Erkrankte angebört, sich weigerte, die Kosten des Gebisses zu tragen, da ein solches nicht zu den „Heilmitteln“, wie sie das Krankenversicherungsgesetz vorsieht, gehört, wurde die Landes¬ versicherungsanstalt darum angegangen. Der Patient berief sich auf den bekannten § 18 des Invalidenversicherungsgeuetzes, nach dem die Versicherungsanstalt ein „Heilverfahren“ über¬ nehmen kann, wenn Invalidität zu besorgen und die Heilung des Erkrankten möglich erscheint. Die Versicherungsanstalt bewilligte die Einsetzung eines vollständigen Gebisses auf ihre Kosten. (U nf. -V ers.-Pr.) Unfallversicherung in Spanien. Seit dem laufenden Jahre hat auch Spanien seine staat¬ liche Arbeiter-Unfallversicherung, über die in der Zeitschrift i der Centralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen nähere j Mittheilungen gemacht werden. Die Aufgabe des Gesetzgebers war in einem Lande, dessen i innere Verhältnisse so schwierige sind wie die Spaniens, keine einfache, und man darf sich daher nicht wundern, wenn das Erreichte hinter den deutschen und österreichischen Ver¬ sicherungsgesetzen zurückbleibt. Die Zahlung der Entschädi¬ gung wird nämlich lediglich dem einzelnen Arbeitgeber auf- erlegt, der natürlich nur verhältnissmassig bescheidene Summen bieten kann. Bei Arbeitsunfähigkeit bis zu einem Jahre in Folge Unfalls ist neben den Kosten der gesammten Behandlung täglich der halbe frühere Tagelohn zu zahlen. Länger dauernde Unfall¬ folgen gelten als „dauernd“. Ist der Verletzte so lange zu gar keiner Beschäftigung mehr fähig, so erhält er eine dem dop¬ pelten Jahreslohne entsprechende, ist er erwerbsunfähig, aber noch beschäftigungsfähig, eine um ein Viertel geringere Ab¬ findungssumme. Ist der Tod herbeigeführt, so erhalten die Hinterbliebenen entweder gleichfalls eine Abfindungssumme oder eine Rente. Um sich gegen solche Schäden zu sichern, darf d er Arbeit¬ geber seine Arbeiter bei einer staatlich genehmigten Anstalt versichern. Er muss aber allein die gesammten Beiträge zahlen, und die Versicherungssumme muss seiner event. Pflichtleistung entsprechen. Das Gesetz umfasst alle Industriearbeiter, die der Land- und Forstwirtschaft aber nur soweit als sie mit Kraftmaschi¬ nen arbeiten. Es sieht schliesslich noch die Schaffung eines technischen Beiraths für Arbeiterschutzvorrichtungen vor. Verein für Volkshygiene. Ein mit dem Deutschen Verein für Volkshygiene in Berlin in Verbindung stehender Verein mit gleichen Zielen hat sich in München gebildet. Er bezweckt durch Eintreten in Wort und Schrift, besonders durch belehrende öffentliche Vorträge und Kurse, für die Abstellung von Missständen auf dem Gebiete der Volk8ge8undheitspflege und zu Gunsten richtigerer hygie¬ nischer Anschauungen und rationeller Lebensgewohnheiten zu wirken. Verantwortlich für den Inhalt:Dr. F. Leppmnnn in Berlin. - Verlag und Bigenümm von Richard Schoeta in Berlin. - Druck ron Albert Dameke, Btriln-Bohöneherf. Digitized by Google Die „AMxtllch^SachYerstäudlgen.Zeiiung“ erscheint monatlich zweimal» Dieaelba lat an bestehen durch dan Buohhandel, die Post (No. 86) oder duroh die Yorlagabuchhandlung Ton Richard Schoetz, Berlin NW., Luise na tr. 86, «um Prelae Yon Mk. 6 .— pro Vieneijahr. Aerztliche Alle Manuskripte, Mitthoilungcn und redaktionellen An frage u beliebe man zu senden an Dr. F. Leppmann, Berlin W., Kurfürstenstr. No. 8. Korrekturen, Rezension*-Exemplare, Sondarabdrilcke an die VerlaRahnchhandlnug, Inserate und Beilagen an die Annoncenexpedition von Rudolf Moese* Sachverständigen-Zeitung Organ für die gesammte Sachverständigenthätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene nnd Unfall-Heilkunde. Herausgegeben TOR Dr. L. Becker Dr. A. Leppmann Dr. F. Leppmann Geh. Sanltlterath, Könlgl. Pbyaikua, Vertrauenaarst Sanitltsrath, KSnlglioher Phjsikus, Amt der Beobaehtungsanatalt für gellte*. Arzt. Yon Barufkgenoasensohaftan und Schiadsgerichten. kranke Gefhagane in Moabit-Berlin, Spezialarzt für Narren- u. Geisteskranke. P Verlag von Richard Schoetz, Berlin, NW., Luisenstrasse 36. YL Jahrgang 1900. M24, Ansgegeben am 15. Dezember. Inhalt: Originalton: Litten, Ueber traumatische Endocarditis. S. 493. Placzek, Zur Mechanik der doppelseitigen Serratuslähmung. S. 498. Glücks mann, Ist der Arzt als Inhaber einer Privatirrenanstalt Kaufmann ? S. 501. Referate : Allgemeines. Schnitzler, Beitrag zur Kenntniss der latenten Organismen. 502. Chirurgie. Watten, Beitrag zur operativen Behandlung von Stich¬ wunden des Herzens. S. 503. Neck, Stauungsblutungon nach Rumpfkompressionen. S. 504. Kirstein, Kasuistik der subkutanen Darmverletzungen. S. 504. Innere Medizin. Kis singer, Ueber die Beziehungen von traumatischen Einflüssen zur Entstehung von Gelenkrheumatismus und über den pyogenen Ursprung desselben. S. 504. Franke, Ueber einen eigentümlichen Fall traumatischer adhae- siver Peritonitis. S. 505. Jessen, Ein Fall von Ulcus ventriculi traumaticum. S. 505. Vergiftungen. Dämmer, Mittheilung über einen Fall von Tetanie nach Intoxikation. S. 505. Zorn, Ueber einen Fall von Formalinvergittung. S. 505. Ohren. Killian, Die Thrombophlebitis des oberen Längsblutleiters nach Entzündung der Stirnhöhlenschloimhaut. S. 506. Körner, Ein Colesteatoma verum in der hinteren Schädelgrube, durch eine akute Mittelohreiterung inflzirt u. vereitert. S. 506. Aus Vereinen und Versammlungen. 72. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Aachen vom 16. bis 22. September. (AbtheilungNeurologieu. Psychiatrie.) — Aerzte- verein Hamburg. (Unfallneuroso.) — Berliner Gesell¬ schaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. (Sit¬ zung vom 12. November 1900.) S. 506. Gerichtliche Entscheidungen: Aus demReichs-Versichernngs-Amt: Ein Bruch als Betriebsunfall. S. 509. Ans dem Oberverwaltungs-Gericht: Gesundheitsgefahr der Ziegeleien. S. 509. BOoherbesprechungen: Stolper, Guder’s Gerichtliche Medizin für Medi¬ ziner und Juristen. — Springfeld, Die Rechte nnd Pflichten der Drogisten und Geheimmittelhändler. — Blattern und Schutz- pockenimpfnng. — Schelenz, Frauen im Reiche Aeskulaps. — Joseph nnd Loewenbach, Dermato-histologische Technik. — Jess, Kompendium der Bakteriologie und Bluterumtherapie für Thierärzte und Studirende. S. 510. Tagesgesohichte: Die Wiederbeschäftigung Unfallverletzter. — Eine Unfallstatistik für die Land- und Forstwirtschaft. — Die Inva- liditäts- und Altersversicherung im Reichshaushalts-Etat. — An¬ staltskuren für Trinker auf Kosten der Invalidenversicherung. — Gesetzlicher Schutz der Arbeiterinnen. — Die Pocken in War¬ schau. S. 511. An unsere Leser. S. 512. Ueber traumatische Endocarditis. Von Dr. M. Litten, a. o. Professor an der Universität Berlin und dirigirender Arzt des städt. Kranken¬ hauses Gitschinerstrasse. Ich werde mich bei der Besprechung dieses Thema, der trau¬ matischen Endocarditis, auf deren Existenz ich seit einer grossen Reihe von Jahren immer wieder und wieder mit grösster Bestimmt¬ heit hingewiesen habe, aufs strengste an den eigentlichen Gegen¬ stand halten und von vornherein absehen von den unmittel¬ baren Folgen der Herz Verletzung, den Wunden des Herzens und Herzbeutels, und nur in Betracht ziehen diejenigen se¬ kundären entzündlichen Affektionen des Endocards, welche sich an das Trauma anschliessen. Nur eine Thatsache sei hier schon hervorgehoben, dass die schwersten Verletzungen, selbst mit Zerreissung des Herzens Vorkommen können, ohne dass sich an den Weichtheilen und Knochen der Thoraxwand irgend welche Spuren des stattgefundenen Trauma auffinden lassen. Die analoge Beobachtung ist gelegentlich der Be¬ schreibung der Contu8ionßpneumonie von mir bereits im Jahre 18*2 l ) nachdrücklichst hervorgehoben worden. l ) cf. M. Litten. Zeitschr. für kl in. Medizin. Bd. V. Die sich an ein Trauma sekundär anschliessende Endo¬ carditis kann auf zwei verschiedene Weisen zu Stande kommen. Einmal kann eine Endocarditis direkt durch das Trauma be¬ dingt sein; in anderen Fällen kann die Verletzung au irgend einer Körperstelle die Invasionsstätte für die Infektionserreger schaffen, die eine (septische) allgemeine Infektion mit sekun¬ därer Betheiligung des Endocards erzeugen. Da hier der Endocarditis, wie in anderen Fällen von Sepsis nur eine unter¬ geordnete, symptomatische Bedeutung zukoramt, so werden wir sie bei dieser Besprechung ganz aus dem Spiele lassen, wie die durch das Trauma unmittelbar bedingte Zerreissung von Klappen und Papillarmuskeln, sowie die Abreissuug von Sehnenfäden, welch’ letztere den Gegenstand eines demnächst nachfolgenden, besonderen Aufsatzes bilden soll. Die hier zu besprechende, an ein Trauma direkt sich an¬ schliessende entzündliche Affektion des Endocards bietet im Grossen und Ganzen die Charaktere der gutartigen (be¬ nignen) Endocarditis dar und führt analog der entsprechenden Form im Verlauf des akuten Gelenkrheumatismus oder der Gonor¬ rhoe entweder zur Heilung oder zur Bildung vou Klappenfehlern. Ich möchte zunächst an einer Reihe von Fällen meiner Beobachtung den Verlauf der Krankheit demoustrireu: Digitized by AjOOQle 494 Aorztlicho Sachverständigen-Zeitung. No. 24. Fall I. E. 0., 47 Jahr und Arbeiter, erleidet sein Trauma am 30. August 1893. Vorher gesunder Mann, acquirirt in Folge seines Trauma eine anfangs sub¬ akute Erkrankung des Endocards, an welche sich eine Insufficienz der Aortaklappen anschliesst. Dass Pat. vorher bezügl. des Herzens gesund war, erhellt u. A. aus folgenden Aktenstücken: einmal aus einem ZeugnisB, welches Dr. A. H., der ihn vom 1.—11. September unmittelbar nach dem Unfall vom 30. August des Jahres 1893 behandelte, aus¬ gestellt hat, worin er bestätigt: „Der pp. 0. litt an trauma¬ tischer Neurose; von einem abnormen Befund am Herzen fand ich in meinen Aufzeichnungen nichts verzeich¬ net.“ Ferner besitze ich eine beglaubigte Abschrift eines Zeugnisses der Kgl. Charite-Direktion vom 14. Dezember 1893, worin Herr Stabsarzt Sch., der damalige Oberarzt der Gerhardt’schen Klinik, folgendes schreibt: „Der Arbeiter E. 0. leidet an einer traumatischen Neurose, welche auf den am 30. August 1893 erlittenen Unfall zurückzuführen ist. Die bestehenden Beschwerden, meist nervöser Art, ohne objek¬ tive Unterlage, sind so verschiedenartig, dass sie selbst nicht leicht in ein einheitliches Krankheits¬ bild zusammengefasst werden können. Vielleicht bringt der weitere Krankheitsverlauf noch nähere Klarheit über das bestehende Leiden.“ Ich bitte also, hieraus die Thatsache zu entnehmen, dass 1. eine objektiv nachweisbare Unterlage der Krankheit nicht vorhanden war, d. h. ein nachweisbarer Herzfehler noch am 14. Dezember bestimmt nicht bestand, und 2., dass ein Symptomenkomplex vorlag von derartig unbestimmten Be¬ schwerden, dass sie sich nicht in ein einheitliches Krankheits¬ bild zusammenfassen Hessen. Das Fehlen eines Herzfehlers bei der Aufnahme in die Charite (am 13. September 1893) wird ausserdem durch den daselbst aufgenommenen und von mir wiederholt durchgelesenen Status sichergestellt. Die Hauptsätze daraus lauten folgendermassen: Der p. 0., 47 Jahre alt, seit 13 Jahren verheirathet, Vater von sechs Kindern, ist bis zu dem Unfall vom 30. August 1893 immer gesund gewesen, hat Syphilis nicht gehabt und will im Genuss von Spirituosen mässig gewesen sein. An jenem Tage stürzte er, von einem Karrenband, das sich um seinen Hals gewickelt hatte, hinabgerissen, in eine Kanali- sationsgrube, schlug mit der linken Brust auf die Steife der Grube auf und fiel in die annähernd 4 m tiefe Grube hinunter. Er ist bewusstlos in der Grube aufgefunden worden. Zum Bewusstsein zurückgekehrt, spürte er einen Schmerz unter¬ halb der linken Brustwarze, besonders beim Athmen. Drei Tage nach dem Unfall steigerten sich die Schmerzen, welche ihn auch im Gebrauch des Hnken Arms hinderten, und Schwindel¬ anfälle traten hinzu. — Am 13. September 1893 wurde er in die Charite aufgenommen, wo die Diagnose: „trau¬ matische Neurose“ gestellt wurde. In einem ferneren Bericht aus der Charitö vom 12. Fe¬ bruar 1894 — ich bitte auf die Daten zu achten 1 — wird er¬ wähnt, dass wieder „erhebliche Störungen“ der Herzthätigkeit bei 0. aufgetreten seien. Am 25. April 1894 wurde er aus der Charite entlassen. Während seines Aufenthalts daselbst war er von Herrn Dr. R. ain 19. Dezember wieder untersucht worden. Dabei war eine Beschleunigung der Herzaktion bis auf 120 Schläge in der Minute nachgewiesen worden. Ich muss erwähnen, dass ich eine authentische Abschrift der Krankengeschichte in den Händen gehabt habe, und dass ich in der Zeit vom Tage der Aufnahme in die Charit^, d. h. vom 13. September 1893 an bis zu dem Tage der Ausstellung dieses Attestes, dem 19. Dezember 1893, nichts von einer Herzvergrösserung, noch von einer Veränderung der Herztöne darin vermerkt gefunden habe, sondern, dass nur Bemerkungen mehr allgemeiner Natur, wie stürmische Herzaktion und Schmerz in der Herzgegend, Schwindel beim Bücken und später auch beim Aufrechtsitzen, Steigerung der Pulsfrequenz bis auf 120 Schläge darin vermerkt sind. Aber weder von einem Geräusch, noch von sonstigen Erscheinungen einer Herzver¬ grösserung finde ich daselbst Angaben. Am 26. April 1894 (dem Tage nach der Entlassung aus der Charite) erklärte derselbe Kollege, Dr. R., der dieses Attest abgab, den p. O. für völlig erwerbsunfähig; ob¬ jektiv bot er eine Verdickung am Rücken dar, ausserdem die Zeichen eines Herzfehlers. Nachdem also Monate lang, d. h. vom Ende August bis April „unbestimmte Krankheitser¬ scheinungen“ vorausgegangen waren, die aufs Herz, d. h. auf eine Endocarditis hinwiesen, wurde am 26. April 1894 der Herzfehler zum ersten Male nachgewiesen. Nun liegt noch ein weiteres Gutachten (vom 27. Juni 1894) von einem Vertrauensarzt der Berufsgenossenschaft, Dr. G., vor, welcher ebenfalls von einem ausgesprochenen Herzfehler spricht, und schliesslich heisst es weiter in einem neuen Gut¬ achten eines Berliner Professors M. vom 8. Februar 1895*. „Mein Befund deckt sich im Wesentlichen mit dem des Herrn Dr. G. vom 27. Juni 1894: Mit ihm finde ich Spuren der sog. traumatischen Neurose nicht; der einzig positive Be¬ fund, welcher aus der Charite mitgetheilt wird, „die erheb¬ lichen Störungen der Herzthätigkeit“, lassen mich mit Rücksicht auf den jetzigen Befund yermuthen, dass es sich auch dort nicht um eine Nervenkrankheit, sondern um eine Herz- affektion gehandelt habe.“ Daraus haben wir also folgende Thatsachen kennen ge¬ lernt: Der Mann, der am 30. August 1893 verunglückt war, wurde Mitte September desselben Jahres, nachdem er bis dahin vom Dr. H. behandelt worden war, in die Charite ge¬ bracht, wo bei intakten Herzklappen Erscheinungen unbe¬ stimmter Art nachgewiesen wurdeu, die grösstentheils aufs Herz hinwiesen. Ende April des nächsten Jahres wurde der Herzfehler (Insuff. valv. Aortae) mit aller Bestimmtheit nach¬ gewiesen und dann von einem andern Arzt in demselben Monat bestätigt. In einem neuen Attest aus dem Jahre 1895, welches etwas später abgegeben worden war, finden wir allerdings kein Geräusch, sondern nur dumpfe Herztöne erwähnt, aber es wird ausdrücklich ausgesprochen, dass Hypertrophie und Dilatation des linken Ventrikels und starke Unruhe in den peripheren Arterien bestanden. Das Insufficienzgeräusch war damals vielleicht nicht so sehr prägnant, ist aber von den beiden Aerzten, den Herren Dr. R. und G. mit Sicherheit konstatiert worden. Danach hat sich eine Aorteninsufficienz vom Tage des Unfalls, dem 30. August 1893 bis zum Ende April des nächsten Jahres, d. h. innerhalb eines Zeitraumes von ungefähr sieben bis acht Monaten entwickelt. Während dieser Zeit sind unbe¬ stimmte Erscheinungen einer schleichend verlaufenden Endo¬ carditis vorhanden gewesen, die vorzugsweise als trauma¬ tische Neurose gedeutet wurden, und seitdem ist der Mann vollständig arbeitsunfähig. Ich habe später den Auftrag bekommen, ein Obergut¬ achten über ihn abzugeben, welcher Auftrag sich im Jahre 1896 wiederholte, so dass ich Gelegenheit hatte, den p. O. wiederholt aufs genaueste zu untersuchen, wobei ich jedes Mal zu dem Resultat kam, dass er das typische Bild einer hochgradigen Aorteninsufficienz darbot (Pulsus celer, Ca- pillarpuls, Spritzen und Hüpfen der Arterien etc.) Digitized by LjOOQie 15. Dezember 1900. Aerztliohe Saohverständigen-Zeitung. 495 Wir haben in diesem Fall drei Thatsachen zu berück¬ sichtigen: 1. Dass der Mann vor dem Unfall bestimmt und sicher nachgewiesenermassen keinen Herzfehler hatte und bis zu diesem Tage vollständig arbeitsfähig war. 2. Dass er bestimmt im Frühjahr des Jahres 1894 eine deutlich nachweisbare Aorteninsufficienz hatte, die ich selbst aufs sicherste konstatirt habe, und welche mindestens bis zum Neujahr 1897 noch bestand, und 3. dass zwischen dem Stadium der vollen Gesundheit und dem Beginn des nachgewiesenen Herzfehlers eine lange, viel monatliche Krankheitsperiode lag, welche als sub akute Endo- carditis aufgefasst werden muste, während welcher sich der Herzfehler entwickelte. Endlich die Thatsache, dass Jemand durch einen Unfall eine schleichende entzündliche Endocarditis bekommen kann, die zu einem Herzfehler (in diesem Falle einer Aorteninsuffioienz) führt. Der Einwand, dass möglicherweise durch die Einwirkung des Trauma auf das Herz eine Zerreissung einer Aortenklappe eingetreten, oder eine Klappe an ihrer Insertion abgerissen sein könnte, ist ganz auszuscbliessen, denn, wie ich bei früheren Gelegenheiten, namentlich in meinen Vorträgen im Verein für innere Medizin auseinandergesetzt habe, tritt in solchen Fällen ganz plötzlich und jäh, ebenso wie beim Experiment, bei welchem man mit einem eingefiihrten Ka¬ theter die Aortenklappen durchstösst, das laute diastolische Geräusch und das Schwirren in den peripheren Arterien auf, gerade so wie es klinisch in den Fällen beobachtet wird, in denen infolge eines Trauma eine plötzliche Abreissung einer Aortenklappe entsteht. Also jene Möglichkeit muss ich absolut von der Hand weisen und ich komme nochmals darauf zurück, dass es lediglich der Ausgang der Endocarditis war, welcher hier zur Aorteninsufficienz führte. Fall II. v. D. V. 23jähr. Referendar, acquirirte eine Mitralinsuffizienz in Folge einer Quetschung des linken Thorax durch Hufschlag eines Pferdes. Anfangs der neunziger Jahre kam ein junger Herr aus W. in meine Sprechstunde mit der Bitte, ihn zu unter¬ suchen und ihm dann ein Gutachten über seinen Herzbefund auszustellen. Ich untersuchte ihn zunächst, ohne eine Ana¬ mnese aufzunehmen und fand an der Herzspitze neben einem systolischen Frömissement ein lautes systolisches Geräusch, eine erhebliche Vergrösserung des rechten Ventrikels neben einer geringeren des linken, einen verstärkten 2. Pulmonalton und ein sehr lautes, scharfes, rauhes Geräusch systolischer Natur an den Aortaklappen, das sich von dem an der Mitralis gefundenen aufs deutlichste unterschied. Der Puls war kräftig, regelmässig und von hoher Spannung. Die Arterie schwer zu komprimiren, so dass an eine bestehende Stenose eines links¬ seitigen Ostium nicht wohl gedacht werden konnte. Die Diagnose, welche ich stellte, lautete: Mitralinsuffizienz und noch nicht abge¬ laufene Endocarditis aortica, von der ich annahm, dass sich daselbst im Laufe der Zeit wahrscheinlich eine Aortenstenose entwickeln würde. Als ich dem Kranken meinen Befund sehr schonend mitgetheilt hatte und ihn fragte, ob er ein darauf bezügliches Attest ausgestellt wünsche, wurde er sichtlich verstimmt und verneinte diese Frage. „Es läge ihm nichts daran, dies Schwarz auf Weiss zu besitzen; er wäre vielmehr in der Hoffnung gekommen, dass ich sein Herz gesund finden und ihm dies attestiren würde.“ Bei der weiteren Unter¬ haltung theilte er mir folgendes mit, was ich später Gelegen¬ heit hatte, auch von anderer Seite glaubwürdig bestätigt zu erhalten. Er sei ein Mitglied eines alten Adelsgeschlechtes aus W. und wäre vor dem Antritt seines einjährigen Militär¬ dienstes militärärztlich genau untersucht und für tauglich be¬ funden worden. Daraufhin sei er in ein Kavallerieregiment eingestellt worden. Da er schon von früher her ein ausge¬ zeichneter Reiter war, so zeichnete er sich durch sein schneidiges, unerschrockenes Reiten so aus, dass er ein ganz besonderer Liebling des Regiments wurde. Eines Tages, beim Pferdeputzen, wurde er zunächst von seinem etwas unbändigen Pferde von hinten her heftig mit der Brust gegen den Stallpfosten gequetscht, worauf er zunächst einen heftigen Schmerz in der linken Brustseite empfand, aber das Pferd noch weiter be¬ sorgen konnte. Bei dieser Gelegenheit erhielt er noch einen Hufstoss, ebenfalls gegen dieselbe Brustseite, aber so heftig, dass er zu Boden geschleudert wurde und eine Weile in leicht be¬ nommenem Zustand liegen blieb. Von den anwesenden Kameraden aufgehoben, wurde er zunächst bequem gebettet und von einem hinzugerufenen Arzte nach Hause gebracht. Als ihn der Oberstabsarzt nach wenigen Stunden sah, be¬ stimmte er seine Ueberführung nach dem Lazareth. Dort stellte sich im Laufe der nächsten Tage eine unzweifelhafte Endocarditis heraus. Nach einer Abschrift des Krankenjour¬ nals, die mir später auf meine Bitte überlassen wurde, be¬ stand damals: Angstgefühl, Beklemmung und Oppression, Herz¬ klopfen, gesteigerte Herzthätigkeit, Dyspnoö, ausstrahlende Schmerzen nach dem Nacken und Steigerung der Eigenwärme. Diese Symptome blieben zunächst bestehen oder nahmen so¬ gar zu, bis nach Verlauf von mehreren Wochen die Oppression und die Dyspnoö sich besserten. Nur das Herzklopfen und die gestei¬ gerte Herzthätigkeit, verbunden mit Arythmie bei unbedeutenden Bewegungen und Anstrengungen dauerten noch fort, als Pat. nach 6 wöchentlichem Aufenthalt das Lazareth verliess. Die Tem¬ peraturkurve wies ein mehrwöchentliches leichtes Fieber mit geringen morgendlichen Remissionen auf. Objektiv war zu¬ nächst die sehr verbreitete, sicht- und fühlbare Herzthätigkeit aufgefallen, ohne dass die Dämpfungsgrenzen als verändert nachgewiesen werden konnten. Mitte der zweiten Woche be¬ merkte man zum ersten Male ein hauchendes systolisches Ge¬ räusch an der Herzspitze, welches noch bestand, als Patient das Lazareth verliess. In dem Brief deB Oberstabsarztes, welcher die Abschrift der Krankengeschichte begleitete, fand sich die Notiz, dass zur Zeit der Entlassung des Pat. kein Herzfehler bestanden hätte. Pat. wurde, nachdem er das La¬ zareth verlassen hatte, zunächst als vorübergehend unbrauch¬ bar von seinem Truppentheil entlassen, mit der Bestimmung, dass er sich nach längerer Zeit (ich glaube, nach 6 Monaten) wieder zu erneuter Untersuchung vorstellen sollte. Diese Zeit war noch nicht gänzlich abgelaufen, als der Herr, welcher in¬ zwischen als Referendar gearbeitet hatte, zu mir kam. Er war in der Hoffnung gekommen, dass ich sein Herz als ge¬ sund erklären und ihm ein günstiges Attest ausstellen würde, welches ihm bei der militärärztlichen Untersuchung nützen sollte, denn er betrachtete es geradezu als Sohande für sich und seine Familie, dass ein Mitglied dieses alten Adelsge¬ schlechts nicht Reserveoffizier würde. Auf mein Befragen äusserte er, dass er in der Zwischenzeit oft versucht hätte, wieder auf das Pferd zu steigen oder anderweitigen Sport zu treiben, dass er aber alle diese Versuche hätte aufgeben müssen, weil er stets nach kurzer Zeit heftiges Herzklopfen bekommen hätte. Als er sich dann zur bestimmten Zeit der Militärbehörde zur Untersuchung stellte, wurde er auf Grund seines Herzfehlers als dauernd unbrauchbar entlassen. Ich hatte schon im Beginn der Krankengeschichte er¬ wähnt, dass Pat. zur Zeit, als ich ihn sah und untersuchte, ausser einem lauten Frömissement und einem blasenden systolischen Geräusch eine erhebliche Vergrösserung des rechten neben einer geringeren Vergrösserung des linken Ventrikels dargeboten hatte, so dass an der Existenz eines Herzfehlers Digitized by Google 496 Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. No. 24. (Mitralinsufficienz) nicht gezweifelt werden konnte. Ich glaube daher, es wird in diesem Falle nicht beanstandet werden können, dass sich bei einem bis dahin gesunden Menschen, welcher alle Strapatzen des Militärdienstes bei einem Kavallerie¬ regiment anstandslos durchgemacht hatte, im Anschluss an eine Quetschung der linken Brustseite durch das gewaltsame Andrängen des Pferdes gegen einen Stallpfosten und ferner noch durch einen Hufstoss gegen die Herzgegend, eine akute fieberhafte Krankheit entwickelt hatte, die wir als Endocarditis auffassen müssen, und welche im Verlaufe von mehreren Monaten zu einer sicheren Mitralinsufficienz führte. Fall III. Dieser betrifft einen 32jährigen, vorher nach¬ weisbar gesunden Arbeiter, welcher bei dem Bau der B...- brücke beschäftigt war. Es wurde das Material dazu z. Th. auf Oderkähnen herangebracht und musste mittels Krähnen von den Schiffen heruntergeschafft werden. Der Mann hatte eine der Winden zu bedienen. Durch Unaufmerksamkeit liess er die Kurbel der sich aufwickelnden Winde aus der Hand gleiten diese schlug mit grosser Heftigkeit zurück und dem Mann ein paar Mal gegen die linke Brustseite. Er fiel zu Boden, war anfangs benommen, erholte sich aber nach kurzer Zeit und wurde dann von seinen Kameraden auf den Rasen der Böschung gelegt und, nachdem er die ersten Schmerzen und den ersten Choc überwunden und sich soweit erholt hatte, dass er transportfähig war, in einer Droschke nach Hause gefahren. Hier behandelte ihn ein zu seiner Kasse gehöriger Kassenarzt, der ihm bekannt war, und der ihn schon bei einer früheren Gelegenheit vor Jahren behandelt hatte, 4 oder 5 Tage lang mit Eis und beruhigen¬ den Mitteln. Der Kranke klagte hauptsächlich über das Ge¬ fühl, als ob etwas in seiner Brust zerrissen wäre, über Schmer¬ zen in der Herzgegend, die nach der linken Schulter aus- strahlten, über Athemnoth, Herzklopfen, Oppression und all¬ gemeine Unruhe. Der Puls war sehr frequent, klein, flatternd und unruhig; der Kranke machte einen schwer leidenden Ein¬ druck und war nach Angabe des Arztes leicht cyanotisch und kurzathmig. Am Herzen war nach Angaben des Letzteren nichts Krankhaftes naohzuweisen, nur waren die Herztöne sehr leise und schwach wahrnehmbar. So blieb der Befund etwa die ersten fünf Tage, dann besserte er sich unter der Eis¬ behandlung. Am 13. Tage post trauma kam er auf Wunsch des behandelnden Kollegen, Dr. S., in meine Poliklinik. Ich konnte bei der Untersuchung noch eine erhebliche Dyspnoö und leichte Cyanose konstatiren, sehr starkes Herzklopfen und leise Herztöne. Pat. klagte über ausstrahlende Schmerzen nach der linken Schulter. Die wenigen Schritte von der Droschke in das Haus seien ihm sehr schwer geworden; er hätte wiederholt stehen bleiben müssen, weil ihm der Athem ausgegangen sei. Alsdann klagte er über grosses Angstge¬ fühl in der Brust und über Schmerz in der Praecordialgegend. Bei der Untersuchung des Herzens fand ich reine, aber sehr schwache Töne. Der Puls war klein, flatternd, 84 in der Minute, etwas unregelmässig. Dieser Befund hielt ungefähr bis zum 18. Tage an, an welchem ich den Pat. zum 2. Male sah. Bald darauf konnte ich ein leises, aber unzweifelhaftes Geräusch systolischer Natur an der Spitze erkennen. Dieses blieb einige Zeit bestehen, nahm dann zu, wurde immer mehr hauchend, und hatte schliesslich einen sehr intensiven Charakter. — Nach der 13. Woche, bis zu welcher dieses Geräusch nach seinem Auftreten unverändert bestehen blieb, aber ohne dass sich gleichzeitig eine Vergrösserung des Herzens hätte nachweisen lassen, wurde Pat. aus der Krankenkasse entlassen und fiel dem „Unfall“ zu. Ich habe ihn noch lange Wochen danach wiederholt gesehen und immer wieder dieses Geräusch konstatiren, aber keine sichere Hypertrophie des rechten Ventrikels feststellen können. Diese ist auch später nicht eingetreten. — Nach einer Reihe von Monaten bekam ich von der Berufsgenossenschaft den Auftrag, ein Gutachten über den Verletzten abzugeben. Ich äusserte mich dahin, dass er in Folge seines Unfalls eine Herzkrankheit acquirirt hätte, welche ihn vorläufig vollständig arbeitsunfähig mache. Diesem Gutachten wurde Folge gegeben. — Neun Monate nach dem erlittenen Trauma bekam ich von Neuem die Akten zugeschickt mit dem Ersuchen, den Rentenempfänger wieder¬ um zu untersuchen und ein neues Gutachten über den jetzigen Stand der Krankheit, und namentlich über den Grad der Er¬ werbsfähigkeit abzugeben. Ich untersuchte ihn darauf hin und war äusserst erstaunt, dass das Geräusch in der Ruhe verschwun¬ den war. Ich liess den Mann darauf anstrengende Bewegungen ausführen, mehrere Treppen rasch steigen u. a. Dies habe ich mehrere Male an verschiedenen Tagen wiederholt und dabei übereinstimmend feststellen können, dass das Geräusch, welches in der Ruhe nicht wahrnehmbar war, jedesmal deutlich auftrat, sobald die Herzaktion erheblich gesteigert war. Alsdann trat vorübergehend dasselbe laute hauchende Geräusch an der Herzspitze und über dem unteren Theil des Sternum auf, welches ich früher regelmässig gehört hatte. Eine Hyper¬ trophie des rechten Ventrikels war auch inzwischen nicht ein¬ getreten. Der Kranke äusserte sich auf mein Befragen dahin, dass es ihm viel besser gehe, und er in der Ruhe keinerlei Beschwerden empfinde; nur sobald er sich anstrenge, dann träten Beschwerden von Seiten des Herzens auf, welche ihn zwängen, jede Beschäftigung (selbst die unbedeutendste Haus¬ arbeit) einzustellen. Ich schätzte daher den Grad seiner Er¬ werbsunfähigkeit vorläufig noch auf 60 %, welche ihm auch von der Berufsgenossenschaft anstandslos zugebilligt wurden. Leider habe ich den Kranken später nicht wiedergesehen, da er Berlin verliess. Ich habe diesen zuletzt mitgetheilten Fall aufgefasst als eine subakut verlaufende Endocarditis, die allmählich chro¬ nisch wurde und dann eine Rückbildung einging der Art, wie man sie unter gleichen Bedingungen (anatomischer Art, wobei die Aetiologie gleichmütig ist) nicht allzuselten antrifft, wöbe sich am freien Rand der Mitralis eine Verdickung ausbildet welche klinisch nur ganz geringe oder überhaupt gar keine Erscheinungen macht. Jedenfalls ist dies einer der wenigen in der Literatur verzeichneten Fälle von einfacher, wie ich sie auffasse, verrucöser Endocarditis traumatischen Ursprungs, welcher nicht in einen Herzfehler, sondern in Heilung mit Verdickung des freien Randes der Klappe überging. Ich will damit nicht gesagt haben, dass es nicht öfters Vorkommen mag, dass in Folge von Traumen, die das Herz betreffen, sich Verdickungen des Klappenrandes ausbilden; das ungleich Häufigere bei der Ausbildung einer traumatischen Endocar¬ ditis verrucosa ist aber jedenfalls die secundäre Schrum¬ pfung, die zur Bildung eines bleibenden Herzfehlers führt Da wir ja fast niemals Gelegenheit haben, solche Fälle zur Sektion zu bekommen, so sind wir hier lediglich auf die kli¬ nische Beobachtung und Erfahrung angewiesen. Fall IV. Traumatische Pericarditis und Endo¬ carditis mit Ausgang in Mitralinsufficienz. Der letzte Fall, den ich für werth halte, um ihn hier zu erwähnen, betrifft einen jugendlichen Kranken, den ich zu¬ fällig von früher her kannte, einen 21jähr. Arbeiter, der ein Divertikel des Oesophagus hatte und deswegen früher wieder¬ holt in meine Poliklinik gekommen war, wo ich ihn mehrere Male in meinen klinischen Cursen wegen seines „Vormagens“ demonstrirt hatte. Da ich ihn bei dieser Gelegenheit wegen seiner Klagen über Dysphagie vor Einführung der Sonde in den Oesophagus jedesmal aufs sorgfältigste untersucht hatte, ob nicht vielleicht ein Aneurysma der Aorta vorläge, so kannte ich die Verhältnisse seines Herzens ganz genau, die überdies Digitized by Google 15. Dezember 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitnng. 497 protokollarisch festgelegt worden waren. Das Herz war bei dieser Gelegenheit wiederholt ganz gesund befunden worden. Auch nicht lange vor dem Unfall war das Herz gelegentlich einer solchen Demonstration wieder untersucht und gesund befunden worden. — Er acquirirte seinen Unfall auf folgende Weise: Er arbeitete als Steinträger und trug Steine (Ziegel) in einer Mulde, die er auf der linken Schulter hatte, auf einen Neubau. Bei dieser Gelegenheit „verhaperte er sich an seinen Holzpantinen“ (seinem eigenen Ausdrucke zu Folge) und blieb beim Uebergang von der ersten auf die zweite Leiter, ungefähr in der Höhe eines Stockwerks, an einer Leiter¬ sprosse haften; er fiel rücklings herunter, kam auf den Rücken die zu liegen, wobei die Steine natürlich von der Schulter herunter und zum grossen Theil ihm auf die Brust fielen. Der Ver¬ letzte hatte zunächst einen Zustand von Benommenheit und Choo und lag ziemlich lange Zeit bewusstlos da, bis er von seinen Kameraden etwas Schnaps zugeführt bekam. Allmäh¬ lich besserte sich sein Zustand, und er erholte sich soweit, dass er von ihnen nach Hause gebracht werden konnte. Es wurde ein mir befreundeter Kollege geholt, der ihn unter¬ suchte und vor allen Dingen, was mir das Wichtigste zu sein scheint, am Herzen reine Töne konstatirte. Es stimmte dies demnach mit den früher von uns erhobenen Befunden überein. Der weitere Verlauf der Erkrankung war ungefähr gleicher Art, wie beim vorigen Fall. Der Kranke hatte starke Dyspnoö, einmal auch vorübergehend hämorrhagischen Auswurf. Da¬ neben bestand starkes Herzklopfen, Angstgefühl, Oppression und auch der nach der Schulter hin ausstrahlende Schmerz. Es war bei den täglichen Untersuchungen in den ersten Tagen nach dem Unfall kein Geräusch am Herzen nachweisbar. Der Kollege bat mich, den Verletzten anzusehen. Ich sah den¬ selben zum ersten Male am 5. Tage nach dem Unfall. Ich fand ebenfalls anfangs kein Geräusch. Dann aber trat am 3. Tage meiner Beobachtung (dem 8. post trauma) eine trockene Pericarditis auf, deren Schaben auch von dem Kollegen an¬ erkannt wurde, und Tags darauf sehr deutlich zu fühlen und zu hören war. Während dieser Zeit bestand bei leichter Temperatur¬ steigerung vermehrte Herzthätigkeit, Dyspnoö und Oppression, bei unbedeutenden Anstrengungen; z. B. nach Gängen auf das Kloset, klagte er über Herzklopfen und ein eigentümliches beängstigendes Gefühl in der Herzgegend. Der PuIb wurde alsdann deutlich arythmisch, was in der Ruhe nicht nachweis¬ bar war. Das pericardiale Reiben verlor sich nach einigen Tagen, jedoch erschien alsdann der systolische Ton an der Spitze gedehnt und wie gespalten. Während wir uns anfangs über diese Erscheinung noch keine Rechenschaft geben konnten, trat alsbald ein unzweifelhaftes Geräusch an Stelle des gespaltenen Tones, welches blasenden Charakter hatte und sich unverändert, nur mit zunehmender Intensität, erhielt. Gleichzeitig schien auch die Herzdämpfung über den linken Sternalrand herüber nach rechts zuzunehmen. Während wir anfangs auch darüber noch im Zweifel waren, konnten wir im Laufe der nächsten 10—12 Tage eine deutlicher werdende Dämpfung auf dem unteren Theil des Sternum wahrnehmen. Ich sah den Pat., welcher bisher noch unverändert bettlägerig war, einige Zeit nicht, bis mich der behandelnde Kollege bat, ihn wieder einmal zu besuchen. Es war die sechste Woche nach dem Unfall; ich traf den Verletzten ausserhalb des Bettes, in der Ruhe regelmässig und ruhig athmend, ohne wesentliche Beschwerden, mit 72 regelmässigen Pulsen. Als ich nach der Untersuchung, die ein blasendes, systolisches Geräusch an der Herzspitze, einen verstärkten zweiten Pulmonal¬ ton und eine Verbreiterung des rechten Ventrikels bis zum rechten Sternalrand ergeben hatte, den Pat. aufforderte, einige Male durch das Zimmer zu gehen, änderte sich das Bild wesentlich: der Mann klagte sofort über Herzklopfen und Oppressionsgefühl; in der Herzgegend sah man die weit ver¬ breitete Pulsation an der Brustwand, den SpitzenstoBS näher der Mamillarlinie, als normal, sehr verbreitet und hebend, den Puls auf 86 gestiegen, etwas dicrot und arythmisch, das Ge¬ räusch wesentlich lauter, als vorher. Nach einiger Zeit der Ruhe schwanden diese Erscheinungen wieder, und es trat das zuerst geschilderte Bild an deren Stelle. Der Kollege theilte mir mit, dass es dem Patienten in der Ruhe gut ginge, dass aber bei der geringsten Bewegung Arythmia cordis mit Palpi- tationen und dem Gefühl von Herzangst einträten. Ich hatte später den Fall forensisch zu begutachten, wobei ich mein Urtheil dahin abgab, dass Pat. in Folge seines Unfalles eine Mitralinsufficienz acquirirt hätte, welche ihn z. Z. vollständig arbeitsunfähig machte. Meine Argumentation wurde anerkannt, und der Verletzte erhielt Vollrente. Nach Jahr und Tag erfuhr ich von dem behandelnden Kollegen, dass sich in dem Zustand des Kranken nichts wesentliches geändert habe, dass er seinen Herzfehler nach wie vor besitze und zu anstrengender Arbeit, bei der er sich viel bewegen müsse, untauglich wäre. Er stand damals an einer viel frequentirten Strassenecke Berlins und bot den vorübergehenden Passanten Reklamezettel an. In ähnlicher Weise verlaufen alle derartigen Fälle und führen nicht ausnahmslos, aber relativ häufig zu chronischen Klappenfehlern, am häufigsten zu Mitralinsuffizienzen, seltener zu Aorteninsuffizienzen und nach Angaben in der Litteratur gelegentlich auch zu Mitralstenosen. Ueber den Verlauf der Endocarditis als solcher brauche ich nichts besonders hinzuzufügen, da sie im Grossen und Ganzen denselben Charakter hat, wie die entsprechende Endo¬ carditis beim akuten Gelenkrheumatismus und der Gonorrhoe. Bei der Würdigung des einzelnen Falles hängt Alles von der unbefangenen Kritik und dem lückenlosen Beweise ab, dass ein bis dahin herzgesunder Mensch in Folge eines Trauma wirklich einen Klappenfehler acquirirt hat. Da die Individuen, welche eine traumatische Endocarditis erlitten haben, in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle am Leben bleiben, so können wir uns nur Vorstellungen bil¬ den über die pathologischen Prozesse, welche vor sich ge¬ gangen sind, dieselben aber nicht beweisen. Natürlich müssen wir uns bei Abschätzung derselben auf die in der Literatur vorhandenen Sektionsprotokolle von letal verlaufenen Fällen traumatischer Läsionen des Herzens stützen, und danaoh scheint es keinem Zweifel zu unterliegen, dass in der That wirkliche typische, entzündliche Endocarditis mit Excrescenzen- bildung vorkommt; Excrescenzen, aus denen man in schweren, septisch verlaufenen Fällen traumatischer Endocarditis Strepto¬ kokken hat züchten können. Ich stelle mir weiter den Prozess so vor, dass eine Blutung oder eine Koutinuitäts- trennung, vielleicht nur minimaler Art, eine Abhebung des Endothels, in schwereren Fällen eine Ablösung, Quetschung oder Zerreissung des Endocards stattfindet, welche die In¬ vasionsstätte für die Entzündungserreger darstellt. Die Ent¬ zündung führt zur Bildung der warzenähnlichen Vegetationen, auf welchen sich thrombotische Massen aus dem Blute ab¬ scheiden. Diese sind der hauptsächliche Sitz der Mikrobien, welche ich auch für diese Fälle annehme. Woher dieselben stammen, ist schwer zu sagen, da man annimmt, dass im Blut gesunder Menschen Mikroorganismen nicht kreisen. In- dess ist ein Mensch, der ein erhebliches Trauma erlitten hat, nicht mehr als gesunder anzusehen, sondern vor Allem als ein solcher, dessen Widerstandsfähigkeit erheblich abgenommen hat; ausserdem hätte es keine Schwierigkeiten, anzunehmen, Digitized by Google 498 Aerztliohe Baohverständigen-Zeitung. No. 24. dass in Folge des Trauma Mikrobien ans andern Organen (bei¬ spielsweise dem Darm oder den Lungen, welche vielleicht ebenfalls kleinste Kontinnitätstrennnngen erlitten haben) zu¬ nächst ins Blut übertreten und sich weiter auf den Klappen ansiedeln, wo sie gedeihen, sich weiter entwickeln und in Folge der günstigen Entwicklungsbedingungen eventuell sogar eine höhere Virulenz erlangen, als sie ursprünglich besassen. — Noch günstiger für die Entwicklung einer traumatischen Endocarditis werden die Verhältnisse in denjenigen Fällen liegen, in denen die Erkrankung schon von früher her kranke Klappen befällt. Die Frage nach der Herkunft der Mikro¬ organismen dürfte denselben Schwierigkeiten begegnen, wie in einer Reihe von anderen Krankheitsfällen. Ich denke hierbei an alte abgelaufene Klappenfehler, die jahrelang keine besonderen Erscheinungen hervorgerufen haben. Plötzlich treten ohne manifeste Symptome an anderen Stellen des Körpers die Er¬ scheinungen einer akuten Endocarditis auf. Dazu gehört ausser der Existenz von Mikroorganismen noch dasjenige Mo¬ ment, welches wir gewöhnlich als Disposition bezeichnen. Diese kann eine durchaus örtliche sein, doch ist sie keineswegs immer nachweisbar. Ganz analoge Verhältnisse liegen auch bei der Osteomyelitis vor, wo sich plötzlich von einem alten, seit Jahren erscheinungslos (obsolet) gebliebenen Herde aus neue akute EntzündungserBcheinungen entwickeln. — Auch hier wird man sich die Frage vorlegen müssen, ob die im Depöt gelegenen Bakterien plötzlich wieder virulent geworden sind, resp. von woher sonst die Krankheitserreger stammen. Aber daran, glaube ich, darf nicht gezweifelt werden, dass in sol¬ chen Fällen, wie den mitgetheilten, sich eine Endocarditis entwickeln kann, welche zur Bildung der pathologischen Pro¬ dukte führt, wie wir sie von der akuten Endocarditis benigna rheumatica und gonorrhoica her so wohl kennen. Die Häufig¬ keit der Bildung von Klappenfehlern in diesen traumatischen Fällen ist auf die Tendenz der benignen Endocarditis, zu schrumpfen, zurückzuführen. Dass auch in Anfangs benignen Fällen traumatischer Pro¬ venienz durch eine sekundäre Infektion mit Eiterkokken ge¬ legentlich eine schwere septico-pyämische Form entstehen kann, die unter allen Erscheinungen der Pyämie jäh zum Tode führt, kann nach unseren anderweitigen Erfahrungen nicht be¬ fremdlich erscheinen. Ich habe in diesem kurzen Essay über die traumatische Endocarditis viele wichtigen Fragen theils nur gestreift, theils gar nicht berührt. Hierher gehören u. A. die kritische Be¬ sprechung des literarisch vorliegenden Materials über trauma¬ tische Endocarditis, das Verhältniss der bakteriologischen Be¬ funde bei ätiologisch anderwerthigen Formen der Endocarditis in Beziehung zur traumatischen Form, die Besprechung der Frage, ob in Folge von Traumen Stenosen der Ostien ent¬ stehen können, die durch Trauma bedingten Zerreissungen von Klappen, Papillarmuskeln und Sehnenfäden, die trauma¬ tische Myocarditis etc. Ich behalte mir vor, auf diese und andere Fragen von Interesse in einem zweiten Artikel zurück¬ zukommen. Zur Mechanik der doppelseitigen Serratuslähmung. Von Dr. Placzek, Nervenarit. Zu den vielfältigen Neuforderungen, welche dem ärztlichen Wissen und Können seit dem Bestehen der Wohlfahrtsgesetz¬ gebung erwuchsen, gehört neben der vertieften Kenntniss von den ursächlichen Wechselbeziehungen zwischen Trauma und Krankheit eine gesicherte Anfangsdiagnose. Weniger sind es therapeutische Rücksichten, die letztere Forderung heutzutage weit dringender betonen lassen, obwohl auch sie mitsprechen, als vielmehr die möglichen späteren Rentenansprüche, da deren Berechtigungsnachweis zu einer untrüglichen, klaren Früh¬ diagnose eine wünschenswerte Grundlage erhält. Hiergegen wird nun bei neurologischen Fällen ganz besonders oft gefehlt, oft so schwer, dass selbst die strikteste Wahrung kollegialer Rücksicht und der allgemein-ärztlichen Interessen nicht ein herbes Urtheil vermeiden lässt. Wenn eine Facialislähmung als Schlaganfall gebucht wird, obwohl die Entstehungsart, das Mitbefallensein des Stirnastes, die elektrischen Veränderungen, die periphere Natur der Affek¬ tion bestimmt darthun, so mag das noch hingehen. Wenn aber eine Radialislähmung durch Tricepskontraktion als Ver¬ renkung des Handgelenkes, eine doppelseitige Radialislähmung nach Bleiintoxikation als Rheumatismus, eine Peroneuslähmung als Sehnenscheidenentzündung gedeutet wird, — ich citire nur einige persönliche Erfahrungen aus letzter Zeit, — so sind das Fehldiagnosen, die bei einem späteren Gutachten eigenthümlich beleuchtet werden müssen und schwer entschuldbar sind. Den direkten Anlass zu diesen Ausführungen bietet eine trau¬ matisch entstandene doppelseitige Serratuslähmung, die trotz ihres auffälligen Symptombildes ein volles Jahr als »kleiner Geburtsfehler“ und »Schulterverstauchung“ bezeichnet wurde. Da solche in ihren Konsequenzen schwerwiegenden Irrthümer geeignet sind, das Vertrauen des Laienpublikums auf das ärztliche Wissen zu erschüttern, da ausserdem in diesem Falle das ausserordentlich seltene Vorkommniss zu kon- statiren ist, dass die Lähmung doppelseitig, und ihr Entstehungs¬ modus selten klar ist, erscheint es mir nicht unangebracht, die Beobachtung mitzutheilen. Vielleicht trägt das bei, in Zukunft ähnliche »Kunstfehler“ zu verhüten. Das 17jährige Dienstmädchen Marie F. fiel ihrer jetzigen Herrin dadurch auf, dass sie trotz besten Willens nicht hoch langen konnte und bei manchen Bewegungen wie „bucklig* 1 erschien. Die Veränderungen sollten seit einem Jahre be¬ stehen und trotz verschiedener ärztlicher Massnahmen und — natürlich — schliesslicher Behandlung durch den „Ziehmann“ unverändert geblieben sein. Ueber die Entstehungsweise des Leidens ermittelte ich Folgendes: „Das stets gesund gewesene, aus gesunder Familie stam¬ mende Mädchen diente zuvor auf dem Lande. Hier sollte sie eines Tages einen schweren Korb mit Kartoffeln tragen. Um den Korb bequemer auf den Rücken zu bringen, stellte sie ihn auf zwei horizontale Leitern, stellte sich mit der Rückseite davor und ergriff mit beiden Armen über die Schultern hinweg den Korbrand. Da der Korb abzurutschen drohte, klammerte sie die Hände fest, obwohl die Arme stark hinten¬ über gezogen wurden, konnte aber nicht verhindern, dass ein Theil der Kartoffeln verschüttet wurde. Schmerz hatte sie in dem Augenblicke nicht verspürt und nur losgelassen, weil sie die Kartoffeln auflesen wollte. Erst ein Vierteljahr später merkte sie, dass sie schwer hoch langen konnte, und der Rücken „so aDders“ wurde. Die Untersuchung ergab, dass in Ruhestellung bei herabhängenden Armen beide Schulterblätter höher und von der Wirbelsäule 9,2 cm entfernt stehen, gemessen am oberen inneren Winkel. Der untere Schulterblattwinke] ist in der Höhe des 5. Rückenwirbels und etwa 1 1 / 2 cm vom Brust¬ korb ab, links etwas weniger weit. Der innere Schulterblatt¬ rand verläuft von unten innen nach oben aussen. Das akromiale Ende des Schulterblattes hängt beiderseits, rechts etwas mehr als links. Wenn die Patientin die Arme seitwärts hebt, so treten beide Scapulae höher, bis schliesslich der processus coracoideus in der Mitte des oberen äusseren Trapeziusrandes fühlbar wird. Digitized by LjOOQie 15. Dezember 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 499 Sie nähern sieh nicht der Mittellinie, entfernen sich im Gegentheil noch etwas nach aussen. Gleichzeitig verstärkt sich die Schaukelstellung. Die mittlere und obere Sektion des Trapezius spannt sich hierbei sichtbar und fühlbar an, ebenso der Deltorides. Stellt man diese Stellungsänderung im schematischen Bilde der bei gleicher Bewegung eintretenden, normalen Schulterblattstellung gegenüber, so findet man, dass die obere Seite der Schulterblätter schon in der Ruhe schräg von oben innen nach unten aussen läuft und diese Richtung behält, bis der Arm seitwärts zum V 2 R erhoben ist. Nun erst nähert er sich immer mehr der Horizontalen, die er erreicht, wenn der Arm im rechten Winkel seitwärts gestreckt ist. Er erreicht übrigens die rechtwinklige Stellung voll nur, wenn man etwas nachhilft. Selbständig gelingt es der Patientin nur bis etwa 80 Grad, obwohl Deltoides und Pectoralis major sich prall anspannen. Sollen die Arme weiter bis zur Vertikalen gehoben werden» so ist das nur so zu erreichen, dass künstlich die Schulter¬ blätter nach aussen gedreht werden und auf diese Weise die fehlende Zugwirkungdes grossen Sägemuskels ausgeglichen wird. Hebt Patientin beide Arme nach vorn, so treten die Schulter¬ blätter flügelförmig vom Brustkorb ab, so dass man die ganze Hand in die entstehende Höhlung einlegen kann. Wie be¬ trächtlich die Stellungsänderung ist, lehrt sehr anschaulich das folgende Bild, auf dem der weit über die Mittellinie hinüber¬ fallende Schatten des rechten Schulterblattes, — es handelt sich um eine Blitzlichtaufnahme — beweist, wie weit es nach hinten vorragt. Die Schulterblätter treten in toto höher, ohne sich der Mittellinie zu nähern. Man nimmt deutlich wahr, wie die mittlere Portion des Trapezius, sowie die am processus coracoideus inserirenden Mm. coracoideus, langer Bicepskopf sich anspannen und das Schulterblatt nach vorn überzukippen suchen. Dass die untere Portion des Trapezius oder die Mm. rhomboides und Levator scapulae hierbei thätig wären, ist nicht zu bemerken, auch nicht abzutasten. Patientin kann beide Schultern aktiv gut erheben, auch leidlich einander nähern, doch nicht so weit, dass nur ein dicker Muskelwulst sich zwischen ihnen vorbaucht. Beide treten hierbei höher. Die Berührungs-, Schmerz-, Temperaturempfindung ist im Gebiet des Schultergürtels unversehrt. Vom Reizpunkte des N. thoracicus longus, in dem Winkel zwischen äusserem Cucullarisrand und Clavicula, ist der grosse Sägemuskel beider¬ seits bei stärkeren Strömen erregbar. Was die Beobachtung für uns zunächst interessant macht, ist die doch zum Mindesten auffällige Thatsache, dass sie trotz des augenfälligen, eindeutigen, in der Entstehung leicht er¬ kennbaren Symptombildes ein volles Jahr als „kleiner Ge¬ burtsfehler“ oder „Schulterverstauchung“ gehen konnte. Es ist dieser Irrthum um so verwunderlicher, als ja einseitige Serratuslähmungen und hier besonders die traumatisch be¬ dingten durchaus nicht selten sind. Steinhausen konnte aus den Sanitätsberichten der deutschen Armee 1882—94 fest¬ stellen, dass eine Serratuslähmung auf 288 Erkrankungen der peripheren Nerven kommt. In der Literatur wurden in den letzten zwei Jahrzehnten 42 Fälle mitgetheilt, als deren Ursachen ausser dem Trauma verschiedenster Art Rheumatismus, Gelenk¬ rheumatismus, Influenza, Typhus, Muskelatrophie genannt werden. Die traumatischen Einwirkungen waren direkte Verletzung des Nervus thoracicus longus durch Stich (Jolly), Schnitt bei Ausschälen von Drüsentumoren (Köhler), Fall auf Schulter oder Arm (Sperling), Druck von Lasten (Bern¬ hard, Düms, Souques und Mörstadt), Zerrung oder Dehnung (Morf, Placzek zweimal, Landgraf), gewaltsame Muskelanstren¬ gung (Placzek). Auffällig ist es, dass die letztgenannten Ur¬ sachen, Zerrung oder Dehnung und gewaltsame Muskelanstren¬ gung so ausserordentlich selten die Lähmung doppelseitig ent¬ stehen Hessen, obwohl sie doch häufig auf beiden Seiten gleich¬ zeitig und gleich stark einwirkten. In der Literatur schildert nur Sperling eine doppelseitige Form, doch hatte nicht das gleiche Moment die Doppelseitigkeit verschuldet. Ein Holzblock hatte erst die eine Schulter getroffen, dann schlug Patient mit der anderen Schulter auf eine Eisenbahnschiene auf. Bei unserer Patientin musste die Unmöglichkeit, die Arme über die Horizontale zu erheben, sofort Verdacht auf eine Er¬ krankung der grossen Sägemuskeln erwecken, wobei allerdings betont werden muss, dass die Erkrankung auch bestehen kann, wenn der Arm bis zur Vertikalen gehoben wird. Steinhausen stellte fest, dass unter den 42 Beoabchtungen der Literatur Digitized by Google 500 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No. 24. in 24 die Armerhebung höchstens bis znr Horizontalen, in 19 bis zur Vertikalen möglich war. Schwieriger ist nur, und ist es in jedem Falle, — die Feststellung, ob der Serratus allein befallen ist, oder andere Muskeln miterkrankt sind. Nament“ lieh Trapezius und Deltoideus kommen hier in Frage. Die dififerenzirende Feststellung bot so lange keine Schwierigkeiten, als eine mehr schematische Auffassung von dem Bewegungs¬ effekte des Trapezius einerseits, und des Deltoideus anderer¬ seits gültig war. Man nahm einfach an, dass der Deltoideus den Arm allein bis zum rechten Winkel erhob, dann erst der Serratus anticus einsetzte und durch Schulterblattdrehung den Arm zur Vertikalen emporschleuderte. Der Bewegungsvorgang ist jedoch, wie jetzt festgestellt ist, viel komplizirter. Die Dreher der Scapula wirken bei der Abduktion des Armes von Anfang an mit und halten gleichmässig bis zum Schlüsse an. Thöle und Mollier. Ausserdem soll bei isolirter Serratus- lähmung der ungeschädigte Deltoideus im Stande bleiben, den Arm bis zu 120 Grad zu erheben, und wenn dann eine geringe vom Trapezius besorgte Drehung der Scapula hinzukommt, so soll die Erhebung 130 Grad und mehr erreichen, ja auf Augenblicke durch Eingreifen des Pectoralis major bis zur Senkrechten gehen. Um nun bei diesem komplizirten Mechanismus festzustellen, ob der Deltoideus, d. h. der ihn innervirende N. axillaris mit¬ betroffen ist, könnte man sich an die allgemein gültigen Cha¬ rakteristika halten, dass Leute mit „Deltoideuslähmung“ den Arm fast gar nicht heben, nicht allein essen, die Hand auf die andere Schulter legen können. Die vordersten Fasern, welche noch Aeste von den N. thoracici bekommen, sollen bei Läh¬ mung des N. axillaris sich zwar noch zusammenziehen, aber auch mit Hülfe des coraco-brachialis den Arm nur eine Spur nach vorn in die Höhe bringen. Unsere Patientin kann nun allein essen, den Arm nach allen Seiten bis fast zur Horizontalen heben, die Hand aufs Kreuz legen. Wenn sie die Hand auf die andere Schulter legen will, kommt sie mit den Fingerspitzen bis an die Clavicula und muss dann erst tastend auf die Schulter hinaufklettern. Genügt dieser letzte Bewegungsdefekt, um wenigstens eine lähmungsartige Schwäche in den Mm. deltoidei anzunehmen? Ich glaube nicht, denn der Muskel ist beiderseits kräftig ge¬ wölbt, fühlt sich elastisch an und wird bretthart, wenn er in Thätigkeit tritt. Er reagirt auch auf beide Stromesarten. Wenn die Hand nicht ganz auf die Schulter der anderen Seite ge¬ bracht werden kann, so lässt sich das durch den Ausfall der beiden nachweisbar betroffenen Muskeln, des Serratus anticus und der mittleren und unteren Portion des Trapezius erklären. Indem das acromiale Ende des Schulterblattes so weit herab¬ sinkt, dass es wenig höher als der untere Winkel steht, wenn das Schulterblatt nicht mehr an den Brustkorb angepresst wird, ist der Humeruskopf nicht mit der erforderlichen Stärke im Schultergelenk festgestellt, es kann daher der Deltoideus nicht mit voller Kraft wirken. Einfacher zu beantworten sind die Fragen, ob der Trapezius überhaupt, ob er ganz oder in einzelnen Portionen betroffen ist. Der Höherstand und das flügelförmige Abstehen des Schulterblattes besagen allein hierfür nichts, wohl aber die Vergrösserung des Abstandes von der Wirbelsäule und das Herabsinken des äusseren Schulterblattwinkels. Während unter normalen Verhältnissen in der Ruhestellung der obere Schulterblattwinkel 7 3 / 4 , der untere 8 cm von der Wirbel¬ säule entfernt ist, beträgt hier der Abstand 9,2 cm. Diese Entfernung bleibt, wenn die Arme seitwärts erhoben werden, während normal sich die Schulterblätter hierbei auf 3, resp. 4 cm nähern. Beim Vorwärtsheben der Arme weichtdas Schulterblatt in unserem Falle noch weiter nach aussen ab, während es in der Norm in der Ruhestellung verharrt, und bei unkomplizirter Serratuslähmung sich der Wirbel¬ säule beträchtlich nähert. Wie im letzteren Falle das Schulter¬ blatt der vereinten Wirkung von Cucullaris, Rhomboides und Levator scapulae folgt, also an die Wirbelsäule herangezogen wird und höher steigt, zeigen sehr instruktiv die Abbildungen zweier Fälle, über die ich im Jahre 96 (Deutsch, med. Woch.) und 98 (Sitzungsber. d. Berl. m. Gesellsch.) berichtete. Es erübrigt nun noch festzustellen, in welchem Theile seines Verlaufes der Nervus thoracicus longus geschädigt wurde. Zumeist wird er ja an einer mehr endwärts gele¬ genen Stelle getroffen, woher es kommt, dass die oberen Zacken des Sägemuskels entgehen. Hier dürfte er schon hoch oben in oder dicht an der Austrittsstelle verletzt sein, denn der Säge¬ muskel ist ganz betroffen, auch spricht der Vorgang bei der Verletzung dafür. Sicherlich sind in dem Augenblicke, wo die über die Schultern gebeugten Arme den über den Rücken ab¬ rutschenden schweren Kartoffelkorb zu halten versnehten, beide Schlüsselbeine beträchtlich nach oben und rückwärts gezerrt werden. So mussten sie den Nerven oben treffen. Digitized by Google 15. Dezember 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitnng. 501 Wie es kommt, dass zuweilen der Cucullaris, — hier in mittlerer und unterer Portion, — betroffen ist, ist ja einwands¬ frei anatomisch noch nicht erklärt. Mir erscheint es nicht undenkbar, dass hier, bei dem eigenartigen Mechanismus der Druckwirkung, auch der N. Accessorius, wenn auch weniger stark betroffen wurde. Ist der Arzt als Inhaber einer Privatkrankenanstalt Kaufmann? Von Dr. jur. Alfred QIOckemann-Görlitz. Das am 1. Januar 1900 in Kraft getretene Handelsgesetz¬ buch hat in dem Bestreben, den Anforderungen des modernen Verkehrs Rechnung zu tragen, den Kaufmannsbegriff stark erweitert und den Kreis derer, die als Kaufleute zur Ein¬ tragung ihrer Firma in das Handelsregister verpflichtet sind, viel weiter gesteckt als das bisherige Recht. Es erklärt zum eintragungspflichtigen Kaufmann jeden, der ein Handelsge¬ werbe betreibt. Als Handelsgewerbe aber lässt es nicht nur jeden Gewerbebetrieb gelten, der eine der aufgezählten Arten von Handelsgrundgeschäften zum Gegenstände hat (§ 1 Abs. 2 des Handelsgesetzbuchs), sondern auch jedes gewerbliche Unternehmen, das nach Art und Umfang einen in kauf¬ männischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb erfordert (§ 2 ibid.). Der Gesetzgeber wollte damit diejenigen Kategorien von Gewerbetreibenden treffen, die die öffentliche Meinung dem Kaufmannsstande zuweist, ohne dass sie die Grundgeschäfte des Handels betreiben, wie besonders die Bauunternehmer, die Inhaber von Auskunftsbureaux u. dergl. Aber die vom Gesetz gewählte, allgemeine Fassung bedeutet, wie Gierke in Beurtheilung des Entwurfs*) mit Recht bemerkte, einen Sprung ins Dunkle, und es wird sich erst herausstellen, was alles darunterfällt. Dies in Praxi zu prüfen, liegt dem Register¬ richter ob, der gemäss § 14 des Handelsgesetzbuches in Ver¬ bindung mit §§ 132 ff. des Gesetzes über die Angelegen¬ heiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit von Amtswegen die Eintragung der verpflichteten Personen zu betreiben und nöthigen Falls durch Ordnungsstrafen zu erzwingen hat. Der Aufforderung des Registerrichters, der Eintragung in das Register der Kauf leute sich zu unterwerfen, wird sich auch der Arzt, wiewohl sein Beruf doch mit dem Handel nichts zu thun hat, nicht in allen Fällen entziehen können. Das bezieht sich allerdings nicht auf den praktischen Arzt, der Kranke in ihrer Wohnung behandelt oder in seiner Wohnung sich konsultiren lässt. Sein Betrieb hat keine Handelsgeschäfte, sondern ausschliesslich fachwissenschaftliche Leistungen zum Gegenstände, macht niemals kaufmännische Einrichtungen erforderlich. Insoweit bemerkt also die Denk¬ schrift zum Entwurf eines Handelsgesetzbuchs mit Recht, dass die Ausübung des ärztlichen Berufs auszuschliessen sei. Allein die Begründung, die die Denkschrift für diese These giebt, dass nämlich der Ausdruck „gewerblich* schon genüge, um den ärztlichen Beruf auszuschliessen, ist nicht zutreffend. Für die Beurtheilung der Frage, ob der Beruf des Arztes ein Gewerbe sei, — sie ist für die Lösung der hier ex professo aufgeworfenen Frage propädeutisch —, darf man nicht etwa Standesrücksichten walten lassen, mit denen sie nichts zu thun hat. Bei der Vieldeutigkeit des Begriffes „Gewerbe* in Sprachgebrauch und Wissenschaft ist hier vielmehr lediglich zu prüfen, was das Handelsrecht unter Gewerbe versteht. Die Bedeutung des Wortes, welche Gewerbe mit kleinbetrieb- *) Vortrag in der Gehe-Stiftung 1897. lioher Produktion oder auch mit Handwerk identifizirt und der gros8betrieblichen Produktion, der Industrie, gegenüber¬ stellt, ist heute von der Volkswirtschaftslehre reprobirt, und dass das Handelsrecht mit ihr nichts zu thun hat, zeigt schon der Ausdruck „Handels-Gewerbe“. Wenn wir von diesem Sprachmissbrauch absehen und uns an die Begriffsbestimmung halten, die heute in der volkswirtschaftlichen Theorie aner¬ kannt und von ihr in die moderne Gesetzgebung übernommen ist, so stehen wir einer doppelten Bedeutung des Wortes „Gewerbe“ gegenüber, einer weiteren und einer engeren. Gewerbe im weiteren Sinne nennt man jede bestimmte, be¬ rufsmässig auBgeübte Thätigkeit zum Zwecke des Güter- erwerbs oder jede selbständig betriebene, wirthschaftche Thätigkeit, die ihre Leistungen gegen Entgelt im Verkehr an¬ bietet. Unter Gewerbe im engeren Sinne ist der Theil der Produktion zu verstehen, der in der Formveränderung von Rohstoffen zur Erzeugung von tauschwerthen Leistungen be¬ steht. Auch diese engere Wortbedeutung verhält sich zu den Geschäften der Distribution, zum Handel, gegensätzlich und kann daher der Begriffsbestimmung des Handelsrechts nicht zu Grunde gelegt werden. Es bleibt also nur übrig, das Wort „Gewerbe“, wo es das Handelsrecht verwendet, im weitesten Sinne zu fassen, und zwar geschieht dies im Einklänge mit anderen juristischen Disziplinen.*) Wenn wir so unter Gewerbe im Sinne des Handelsrechts jede auf Gewinnerzielung be¬ rechnete, selbständige, berufsmässige Arbeitsthätigkeit im wirt¬ schaftlichen Verkehr begreifen, so gehört zu den Gewerbe¬ treibenden auch der mit der berufsmässigen Ausübung der Heilkunde befasste Arzt. Gleichwohl kann der Betrieb des praktischen Arztes schlechthin aus den schon erörterten Gründen nie zum ein¬ tragungspflichtigen Handelsgewerbe werden. Es muss eine besondere Betriebsform hinzukommen, die die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 oder § 2 des Handelsgesetzbuches erfüllt. Um nun in erster Linie zu prüfen, ob der Arzt, der eine Privat¬ krankenanstalt inne hat, ein Gewerbe, das Handelsgrund- geschäfte zum Gegenstände hat, betreibt, braucht auf den Begriff dieser Grundgeschäfte nicht näher eingegangen zu werden. Das wichtigste und im Handelsgesetzbuch an erster Stelle genannte Geschäft dieser Art, die Anschaffung und Weiterveräusserung von beweglichen Sachen, wird in der Privatkrankenanstalt, in der den Insassen Kost aus gekauften Rohstoffen entgeltlich verabfolgt wird, häufig vorgenommen. Bilden nun diese Geschäfte den Gegenstand seines Gewerbe¬ betriebes? Für die Beantwortung dieser Frage kommt es nicht darauf an, welche Einnahmen die Grundlage für die soziale Existenz des Arztes bilden. Bei dem Arzt, der aus der Ge¬ währung von Unterhalt an seine Klinikpensionäre mehr Gewinn erzielt, als deren ärztliche Behandlung ihm einbringt, bilden trotzdem nicht die mit der Beköstigung verbundenen Geschäfte den Gegenstand des Betriebes, sondern die Aus¬ übung des ärztlichen Berufs, die im Mittelpunkte seiner ge¬ werblichen Thätigkeit steht Andererseits aber macht es auch keinen Unterschied, ob die Grundgeschäfte im Neben- oder im Hauptgewerbe vorgenommen werden, wenn sie nur sich zu einem geschlossenen Betriebe vereinigen, in welchem sie die Hauptsache bilden. Der Arzt also, der etwa in einem Bade¬ orte ein Logirhaus besitzt, in welchem Gäste ohne Rücksicht darauf, ob sie in ärztlicher Behandlung stehen oder nicht, verpflegt werden, betreibt ein Handelsgewerbe, auch wenn er in Hauptsache der ärztlichen Praxis sich widmet. Er ist dann *) So bes. Gewerbe- und Gewerbesteuer-Reoht. Die Reichs¬ gewerbeordnung und das preussische Gewerbesteuergesetz räumen übrigens ausdrücklich dem ärztlichen Beruf eine Sonderstellung ein. Digitized by Google 502 Aerztliohe Saohverständlgen-Zeitung. No. 24. nicht alB Arzt, sondern als Inhaber des Logirhauses ein¬ tragungspflichtiger Kaufmann, gerade wie dies ein Angehöriger jedes anderen Berufsstandes und auch der Staat unter Um¬ ständen sein kann. Den Gegenstand des ärztlichen Ge¬ werbebetriebes aber bilden nie die Grundgeschäfte des Handels, und der Arzt als solcher wird, auch wenn er seine Kranken in seiner Anstalt aufnimmt, nie zu den sogenannten Muss¬ kaufleuten des § 1 Abs. 2 des Handelsgesetzbuches gehören. Dagegen wird er den durch § 2 geschaffenen, sogenannten Sollkaufleuten seine Zugehörigkeit nicht in allen Fällen ver¬ sagen können. Die Frage, ob die Privatkrankenanstalt ein „gewerbliches Unternehmen“ darstellt, ist ohne Weiteres zu bejahen. Dass der Betrieb des erwerbstätigen Arztes ein Gewerbe ist, das ist oben naohgewiesen. Das Wort „Unter¬ nehmen“ unterscheidet sich begrifflich vom „Betriebe“ in keiner Weise. Es hat sich jedoch ein Sprachgebrauch heraus¬ gebildet, der einerseits ein von bloss manueller Thätigkeit ab¬ gesondertes, sachliches Substrat für die Verwendung des Be¬ griffs „Unternehmen“ erheischt, andererseits einen quantitativen Unterschied macht — man spricht von Handwerksbetrieb, aber Fabrikunternehmen. Das sachliche Substrat ist in der Klinik vorhanden, und da mit Rücksicht auf das nachher zu erörternde weitere Erforderniss nur bei grösseren Anstalten die Eintragungspflicht in Betracht kommt, so kann auch aus dem zweiten Gesichtspunkte ein Bedenken gegen das Vorliegen des „gewerblichen Unternehmens“ nicht hergeleitet werden. — Staub, der Kommentator des neuen Handelsgesetzbuchs, lässt allerdings *) die ärztlichen Heilanstalten nicht schlechthin als gewerbliche Unternehmungen gelten, sondern macht einen Unterschied zwischen der an die ärztliche Praxis sich an¬ lehnenden Anstalt, bei der mit der Gewährung von Aufenthalt und Unterhalt höchstens eine mässige Verzinsung des Anlage¬ kapitals, keinesfalls aber ein Gewinn erstrebt wird, und der auf Gewinn abgesehen von ärztlicher Thätigkeit, berechneten Anstalt. Er knüpft dabei an ein in einer Gewerbesteuersache ergangenes Urtheil des Oberverwaltungsgerichts vom 5. Mai 1898 **) an, welches die Anstalt im ersteren Falle für steuer¬ frei, im letzteren für steuerpflichtig erklärt. Abgesehen aber davon, dass diese subtile Unterscheidung unpraktisch ist, ist sie ausschliesslich den Bestimmungen des Gewerbesteuer- gesetzes angepasst, keineswegs aber liegt sie im Begriffe des gewerblichen Unternehmens begründet. Ohne Rücksicht da¬ rauf, nach welcher Seite hin die Gewinnabsicht zielt, wird man in der Privatkrankenanstalt ein gewerbliches Unternehmen erblicken müssen, wie dies auch das Oberverwaltungsgericht in seinem Urtheil vom 5. Januar 1893***) thut. Das gewerbliche Unternehmen ist aber nur dann ein- tragungspflichtiges Handelsgewerbe, wenn es nach Art und Umfang einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Ge¬ schäftsbetrieb erfordert Was darunter zu verstehen ist, hat das Gesetz nicht näher ausgesprochen. Es hat die Grenze nicht zu ziehen versucht, die ausserordentlich flüssig ist und eine Beurtheilung von Fall zu Fall nothwendig macht. Unter den Momenten, die hierfür massgebend sind, ist in erster Linie eine nach kaufmännischen Grundsätzen eingerichtete Buchführung, d. h. eine übersichtliche, den Stand und Inhalt der Einnahmen und Ausgaben jederzeit klarlegende Buch¬ führung, zu nennen; ferner kommt in Betracht das Halten kaufmännischen Personals, die Behandlung der geschäftlichen Briefe, die Art der Correspondance, der Kassenführung u. A. *) Kommentar Anm. 2, 3 zu § 1 in Verbindung mit Anm. 16 zu § 1. **) Abgedruckt in der »Deutschen Juristenzeitung“ 1898, S. 331. ***) Abgedruckt in den gesammelten Entscheidungen dieses Ge¬ richts, Bd. 24, S. 321 ff. Hierbei ist zu beachten, dass es nicht darauf ankommt, ob diese kaufmännischen Einrichtungen thatBächlich vorhanden sind, sondern ob sie nothwendig sind, ob das Unternehmen ohne diese Einrichtungen nicht in gehöriger Ordnung gehalten werden kann. Natürlich wird aus dem Vorhandensein solcher Einrichtungen meist ein Schluss auf ihre Nothwendigkeit zu ziehen sein. Das Erforderniss kaufmännischer Einrichtungen wird bei einer Krankenanstalt nur festzustellen sein, wenn sie in grossem Stile angelegt ist. Ein kaufmännisch eingerichteter Geschäftsbetrieb fällt dann mit dem zusammen, was man bei Anstalten der hier in Rede stehenden Art gemeinhin als Ver¬ waltung zu bezeichnen pflegt. Wenn eine Krankenanstalt den Umfang erreicht hat, dass ihr Organismus einen richtigen Verwaltungsapparat, Führung von Büchern, abgesehen von den für die Krankengeschichte erforderlichen, Registrirung der Ein- und Ausgänge, Anstellung eines von allen sanitären Funktionen befreiten Personalstandes oder wenigstens eines lediglich mit der Geschäftsführung befassten Beamten etc., nothwendig macht, dann ist sie, zwar nicht nach der Natur der Sache, wohl aber kraft der positiven Gesetzesvorschrift, in die Rubrik „Handelsgewerbe“ einzureihen, macht sie ihren Inhaber zum eintragungspflichtigen Kaufmann. Referate. Allgemeines. Beitrag zur Kenntniss der latenten Organismen. Von Julius Schnitzler. (Archiv f. klin. Chirurgie, 60. Bd. 4. H. 1800.) Schnitzler giebt in seiner interessanten Arbeit zunächst einen ziemlich vollkommenen historischen Rückblick über die Lehre der latenten Organismen. Nach Kochs grossen Ent¬ deckungen war man zunächst zu der Anschauung gekommen, dass Bakteriengehalt eines Organes gleichbedeutend sei mit Erkrankung desselben. Dann fand man auf der Schleimhaut und der Oberfläche verschiedener Organe lange nach Ablauf spezifischer Erkrankungen (Diphtherie, Pneumonie) noch die pathogenen Mikroorganismen. In neuester Zeit haben dann Carri&re und Dauverts festgestellt, dass nach Abschnürung des Milzstieles bei Kaninchen oder Hunden keine Atrophie, sondern Gangraen unter Bildung eines Eitersackes entsteht. Parez fand bei seinen ausgedehnten Untersuchungen über latente Mikroorganismen beim Menschen und den verschieden¬ sten Thiergattungen zum Unterschied von allen anderen Or¬ ganen im Parenchym der normalen Lymphdrüsen 78 mal unter 88 untersuchten Fällen Bakterien. Er kommt in Folge dessen zu dem Schlüsse, dass die Lymphdrüsen beim normalen Thiere der gewöhnliche Sitz der latenten Mikroorganismen seien. Es erhalten sich nach seinen Beobachtungen Staphylococcen in den Drüsen des Menschen 40 Tage und Typhusbacillen 60 Tage. Für den Chirurgen ist die Frage der klinisch symptomen- losen Symbiose der in den menschlichen Körper eingebrochenen Bakterien für das Verständnis zweier Krankheitsbilder von grösstem Interesse: der Späteiterungen nach Einheilung von Fremdkörpern und der recidivirenden Osteomyelitis. Brunner betont schon die Schwierigkeit, beim Bestehen einer akuten Eiterung, nach einer vor Jahren erfolgten Ver¬ letzung zu entscheiden, ob die nun nachweisbaren Mikro¬ organismen neu eingedrungen oder latent zurückgeblieben seien. Nur bei ganz spezifischen Mikroorganismen, z. B. Typhus- Digitized by Google 15. Dezember 1900. Aerztliohe Saohverständigen-Zeitung. 508 bacillen, kann die bakteriologische Untersuchung allein ent¬ scheiden. Während im Stadium der manifesten Eiterung die Frage kaum einwandsfrei beantwortet werden kann, verhält es sich ganz anders, wenn die Mikroorganismen im klinischen Ruhe¬ stadium, in ihrer Latenzzeit nachgewiesen werden können. Tavel konnte Staphylococcen in Seidenligaturen, die ein Jahr reaktionslos im Abdomen gelegen hatten, bei einer neuerlichen Laparatomie nacbweisen. Kocher fand bei Gelegenheit einer orthopädischen Hüft¬ gelenksresektion, 17 Jahre nach der klinischen Ausheilung der Coxitis, in dem Mörtel des alten Krankheitsherdes noch infektionstüchtige Tuberkelbacillen. Schnitzler selbst hatte Gelegenheit, zweimal Staphylo¬ coccen in ihrer Latenzzeit nachzuweisen. Im ersten Falle handelte es sich um die Radikaloperation einer recidivirenden Leistenhernie nach zwei Jahren, nachdem mehr als ein Jahr jede Eiterung, welche die erste Operation begleitet hatte, ver¬ siegt war, während im zweiten ganz ähnlichen Falle seit der ersten Operation Monate verstrichen waren. Schnitzler beschreibt dann ausführlich einen Fall von recidivirender Osteomyelitis, der zeigt, dass auch ein tödtlich verlaufendes Recidiv nicht, wie viele Autoren wollen, auf eine Neuinfektion bezogen werden muss. Durch Zufall konnte Schnitzler aber auch aus einem seit U /2 Jahren geschlossenen osteomyelitischen Herde im Stadium klinischer Latenz Staphylococcen züchten. Es handelte sich um ein 22 jähriges Mädchen, welches schon seit einigen Jahren an einer sehr milde verlaufenden Osteomyelitis der rechten Tibia litt. Es waren zwei kleine Knochenherde eröffnet wor¬ den, die staphylococcenhaltigen Eiter enthielten. IV 2 Jahre war die Patientin ganz gesund, als ohne besondere Ver¬ anlassung wieder Schmerzen im Bereich der unteren Narbe eintraten, während die obere ganz unverändert blieb. Es musste jetzt wiederum operirt werden, und diese Gelegenheit benutzte Schnitzler, um auch an der oberen reaktionslosen Narbe eine kleine Incision zu machen und aus der Tiefe mit gern scharfen Löffel eine geringe Menge lockeren Knochen¬ gewebes herauszunehmen. Hierin fanden sich nun virulente Staphylococcen. Um der durch klinische Erfahrungen und bakteriologisch¬ klinische Untersuchungen bis zu einem gewissen Grade sicher gestellten Latenz der Bakterien auch experimentell näher zu treten, injizierte Schnitzler Kaninchen Staphylococcen in die Blutbahn. Meist traten dann Niereneiterungen auf, so dass die Tiere langsam abmagernd daran zu Grunde gingen. Nur bei zwei Tieren, die nicht abmagerten, gelang die Züchtung von Staphylococcen aus dem Knochenmark 10 resp. 15 Tage nach der Injektion. Diese enthielten also damals latente Mikroorganismen, welche keine Krankheitserscheinungen mach¬ ten. Da auf diese Weise die meisten Versuche misslangen, schlug S. einen anderen Weg ein. Es ist eine bekannte Thatsache, dass einzelne Thierarten sich bestimmten Mikro¬ organismen gegenüber refraktär verhalten, wenn nicht durch besondere Schädlichkeiten bei dem Versuchsthier eine Dis¬ position für die betreffende Infektion geschaffen wird. Schnitzler infizirte deshalb seine Versuchstiere und liess dann die dis- ponirende Schädlichkeit nach verschieden langer Zeit auf das Versuchstier wirken. Die dann auftretende Erkrankung und der Tod des Tieres und die dann leicht nachweisbare bakte¬ rielle Infektion mussten den zwingenden Beweis liefern, dass die betreffenden Mikroorganismen vom Momente der Injektion bis zum Eintreten der Erkrankung latent im Tierkörper ge¬ lebt hatten. Es wurden zwei Gruppen von Versuchen ausgeführt. In der ersten wurden Frösche, nachdem sie eine Injektion von Streptococcen in den Lymphsack oder in die Bauchhöhle er¬ halten hatten, zunächst unter ihren gewöhnlichen Lebens- bedingungen gelassen — sie blieben dann gesund — wenn man sie aber am 5., 11., 20. Tage in den Brutapparat bei 33° brachte, so wurden sie krank und krepirten am 4., 5. resp. 7. Tage. Eine andere Gruppe von Fröschen wurde ebenso injizirt und dann nach verschieden langer Zeit einer tiefen Chloroform- narkose unterworfen. Sie erwachten alle, wie nicht infizirte Tiere und verhielten sich dann zwei Tage lang ganz wie diese, nach zwei Tagen aber erkrankten alle infizirten Frösche und starben. Das Resumö seiner Ursache ist folgendes: Es gelingt, Frösche bis zu 44 Tagen nach vollzogener Streptococcen¬ infektion durch Hinzufügen einer weiteren Schädlichkeit krank zu machen und sterben zu lassen. In einer grossen Serie von Versuchen misslang der Nachweis von Mikroorganismen im Herzblut und den Organen nur zwei Mal, mehrmals waren die Streptococcen sogar so zahlreich, dass man sie mühelos im Deckglaspräparat des Herzblutes finden konnte. Dagegen misslang der kulturelle Nachweis ohne weitere Kunstgriffe mit der gewöhnlichen kulturellen Methode 10 resp. 34 Tage nach der Infektion fast stets. Auf dieselbe Weise gelang es, die Anwesenheit des latenten virulenten Bacillus pyocyaneus beim Frosche nach 42 Tagen, des Bacillus Friedländer bis zu 35 Tagen nach der intraperitonealen Infektion nachzuweisen. Von den Kaninchenversuchen möchte ich nur drei an¬ führen, bei denen durch eine lokale Schädigung das Auf¬ flackern einer latenten Krankheit bewirkt wurde. Bei drei Kaninchen, welche eine intravenöse Injektion von 1 ccm einer dünnen Staphylococcus Suspension erhalten und ohne consecutive Abmagerung ertragen hatten, wurde nach drei, vier resp. fünf Wochen die rechte Niere in Narkose stark gequetscht. In allen drei Fällen trat in den nächsten Tagen eine Geschwulst auf, die Tiere magerten nun rapid ab und die Sektion, welche zwei bis sechs Tage nach der Quetschung ausgeführt wurde, ergab jedesmal eine ausge¬ dehnte Pyonephritis Pyopserinephritis, während die un¬ berührte linke Niere einmal gar keine, in den beiden anderen Fällen zwei ganz kleine Infarkte aufwies. Wenn auch die mitgetheilten Versuche nicht alle Fragen der latenten Mikroorganismen lösen, so tragen sie doch wesentlich zur Klärung bei und beweisen eindeutig, dass die in den lebenden Organismus eingedrungenen Bakterien durch¬ aus nicht immer so schnell verschwinden, wie man bisher an¬ nahm und wie es manche Autoren heute noch lehren. Stabei. Chirurgie. Beitrag zur operativen Behandlung von Stichwunden * des Herzens. Von Dr. Watten-Lodz, ordinirender Arzt an der chirurgischen Abtheilung des Fabrikhospitals zu Lodz. (Gaseta lekarska, 1900, No. 37.) Dem Beitrag liegt folgender interessanter Fall zu Grunde: Ein 23jähriger Fabrikarbeiter erhielt in der rechten Seite einen Stich mit einem grossen Schaftmesser. Er verspürte dabei keinen Schmerz, verlor aber das Bewusstsein. Nach 3 V 2 Stun¬ den erfolgte die Einlieferung in das Krankenhaus. Status: Athmung erschwert und beschleunigt, häufiger Husten. Der Patient ist bei Bewusstsein, wenn er auch die an ihn gerichte Digitized by Google 504 Aerztliohe Saohverständigen-Zeitung. No. 24. ten Fragen kaum beantwortet In der linken A. radialiß schwacher, beschleunigter und ungleichmässiger Puls. Im rechten vierten Interkostalraum sieht man eine schräg ver¬ laufende Stichwunde von 3y 2 bis 4 cm Länge, die am unteren Rande des Knorpels der vierten Rippe in einer Entfernung von 2 cm vom Brustbein beginnt und in der Richtung nach aussen und unten verläuft Bei der Athmung tritt aus der Wunde geräuschvoll Luft hervor, während des Hustens sickert auch Blut durch. Herzdämpfung nicht vergrössert. Rechts ergiebt die Perkussion von der dritten Rippe beginnend, tym¬ panischen Schall. Die nähere Untersuchung ergab sowohl im Herzbeutel, wie im Herzmuskel an der rechten Hälfte des Herzens eine Oeffnung, die den Zeigefinger durchliess. Die Behandlung war nun folgende: Verlängerung der Wunde einerseits bis zum Brustbein, andererseits um einige Centimeter nach aussen. Excision des ganzen Knorpels der vierten Rippe. Unterbindung der A. mammaria, Verlängerung der Hautwunde bis zum Niveau der zweiten Rippe, Vergrösse- rung der Wunde des Herzbeutels bis auf 5 cm, Durchziehung zweier Fäden durch die Ränder der Herzbeutelwunde. — Durch vermittels dieser Fäden ausgeübten Zug gelang es dem Verf., den Herzbeutel sammt dem Herzen ziemlich nah an die Ober¬ fläche zu bringen. Nunmehr konnte Verf. auch die Wunde im Herzbeutel sehen und näher untersuchen. Sie war 2 cm lang und zeigte gerade Ränder, die bei der Systole etwas auseinander¬ gingen und tief dunkles Blut im schwachen, regelmässigen Strom austreten Hessen. Die ersten Versuche, die Herzwunde mittels Naht zu schhessen, misslangen wegen der stürmischen Herzaktion, die den Operateur verhinderte, die Nadel durchzu- stechen. Verf. sah sich schiessHch veranlasst, mit zwei Fingern der Hnken Hand in den Herzbeutel einzugehen, das Herz zu erfassen und so lange festzuhalten, bis es ihm gelang, die erste Naht am oberen Winkel der Herzwunde anzulegen. Am Faden der ersten Herznaht ziehend, gelang es, das Herz bis dicht an die Oeffnung im Herzbeutel heranzuziehen. Solange der Faden stramm angezogen blieb, waren die Herzkontrak¬ tionen seltener. Unter Zuhilfenahme dieses Umstandes konnte die Naht der Herzwunde bis zu Ende geführt werden. Die Blutung sistirte nach Anlegung der Naht vollkommen, und die Herzkontraktionen nahmen bald ihr regelmässiges Tempo wieder an. Nunmehr wurden auf die Wunde des Herzbeutels drei Nähte angelegt. — Verband. — Postoperatorischer Verlauf günstig. Fünf Wochen nach dem Unfall war der Verletzte vollkommen hergesteUt. Die Herzaktion war vollständig normal, die Pulszahl betrug 80 bis 82 in der Minute. Der überaus günstige Ausgang des Falles ist um so höher anzuschlagen, als die Verletzung des Herzens mit einer solchen des rechten Pleurasacks und Lufteintritt in denselben ver¬ bunden war. Lb. lieber St&uungsblutungen nach Rnmpfkompreesionen. Aus dem Krankenhause Bergmannstrost in Halle a. 8. (Prof. Dr. Oberst) und dem Stadtkrankenhaus zu Chemnitz (Oberarzt Dr. Reichel). Von Dr. Neck. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie B. 67, Heft 1 und 2. 1900. N. bereichert die Kasuistik des von Perthes zuerst be¬ schriebenen Krankheitsbildes um zwei weitere Fälle. Im ersteren waren zu den Blutaustritten in die Gesichts- und Schädelhaut, die Konjunktiven u. s. w. noch solche in das Innere des Augapfels erfolgt, die zu erhebHchen Seh¬ störungen geführt hatten. Meistens wurden letztere be- kanntHch durch retrobulbäre Blutergüsse und Druck auf den Sehnerv verursacht. Der zweite Fall zeichnete sich durch grosse Ausdehnung der Blutextravasate aus; es war ausser dem Kopf noch die Vorder- und Rückseite des Brustkorbes befallen. Theoretisch ist eine BetheiUgung aller von der Vena cava superior ver¬ sorgten Theile denkbar. Nhs. Zar Kasuistik der subkutanen Darmverletzungen. Von Stabsarzt Dr. Kirstein. Aus der Königl. Universitätsklinik zu Königsberg (Prof. Dr. Freiherr von Eiseisberg). (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. B. 57, Heft 1 und 2. 1900.) Ein 21 Jahre alter Mann war 2 m hoch von einer Leiter gefallen und mit dem Bauch auf eine hölzerne Barriere auf¬ geschlagen; er wurde sofort zur Klinik verbracht. Es bestand Erbrechen, Aufgetriebensein des Leibes, grosse Druckempfind¬ lichkeit und brettharte Spannung des Abdomens. Wegen Ver¬ dacht auf Darmverletzung wurde sofort laparotomirt und zwei Löcher im Dünndarm vernäht. Der durch die Perforationen ausgetretene Koth wurde durch reichhche Spülung mit Koch¬ salzlösung (20 Liter) entfernt und die DarmschHngen gesäubert Trotz anfängHch bedrohlicher Erscheinungen trat Heilung ein. Von grosser Wichtigkeit ist in solchen Fällen die mögfichst frühzeitige Erkennung der Darm Verletzung; hier ist aufDruck- empfindHchkeit des Bauches und besonders auf brettharte Spannung der Muskeln der grösste Werth zu legen. Je früher operirt wird, desto besser sind die Resultate. Bis jetzt wurden einschliesslich der Spätoperirten 45 Prozent Heilungen erzielt Die im Eingang des Aufsatzes vertretene Ansicht, dass bei Bauchverletzungen „eine bereits bestehende Wunde ohne Weiteres zur Untersuchung ihrer Tieferwirkung auffordere“, dürfte nicht bei allen Chirurgen Anklang finden. Nhs. Innere Medizin. lieber die Beziehungen von traumatischen Einflüssen zur Entstehung von Gelenkrheumatismus und über den pyo¬ genen Ursprung desselben. Von Philipp Kissinger. (Sammlung klinischer Vorträge. Nene Folge, No. 281. Leipslg. Verlag yoh Breitkopf and Härtel 1900. In jüngster Zeit hat sich im Anschluss an eine Mit¬ theilung von Müller aus dem Wagner'sehen Knappschafts- lazareth in Königshütte eine Reihe von Arbeiten mit dem „ traumatischen Gelenkrheumatismus * beschäftigt. Verfasser bringt ein zusammenfassendes Referat über diese Frage, wobei er auch ausführHch auf die Aetiologie des Gelenkrheumatismus, insbesondere auf die bekannten Untersuchungen über die Be¬ deutung der Eiterkokken als Erreger dieser Krankheitsgruppe eingeht Woher die Infektionserreger in denjenigen Fällen, in denen keine offene Verletzung durch das Trauma hervor¬ gerufen wurde, stammen, ist unbekannt; Verfasser erinnert an die „kryptogenetische Septicopyämie“ Leube's. Von den drei eigenen Beobachtungen des Verfassers seien zwei hier kurz wiedergegeben: 8jähriger Knabe, früher angeblich immer gesund, fiel am 8. 11. auf das linke Kniegelenk. Er ging noch etwas umher, hatte aber Schmerzen, die in der Nacht stärker wurden. Wahr¬ scheinlich schon am nächsten Nachmittag, sicher am 10. 11. Fieber; deutliche schmerzhafte Schwellung des linken Knie¬ gelenks; am 12. 11. weiteres Fieber, jetzt auch Schwellung des rechten Kniegelenks und beider Fussgelenke. Unter Sali- cylbehandlung Besserung; nach einem Recidiv vollständige Heilung. 40jähriger Häuer; Weichtheilwunde am Hnken Hand¬ rücken mit Zerreissung der Strecksehnen des vierten und fünften Fingers; Eröffnung mehrerer Handwurzelgelenke. Rei¬ nigung der stark beschmutzten Wunde, Sehnennaht. Zunächst Digitized by Google 15. Dezember 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 505 Eiterung und Schwellung in der Umgebung der Wunde; etwa nach fünf Wochen ist die Heilung vollendet. Nach weiteren 13 Tagen Schmerzen im Handrücken und im rechten Knie¬ gelenk mit Schwellung; leichtes Fieber. Unter Salicylbe- handlung allmälige Heilung. Nach Ansicht des Referenten dürfte jedenfalls noch wei¬ teres Beobachtungsmaterial nothwendig sein, um die Annahme einer traumatischen Entstehung des Gelenkrheumatismus in derartigen Fällen zu stützen. R. Stern. Ueber einen eigenth&mlichen Fall traumatischer adhae- siver Peritonitis (Perihepatitfs). Von Dr. F. F r a n k e - Braunschweig. (Monatschr. f. Unfallheük. 1900. No. II.) Eine 26jährige Dame klagte über Schmerzen in der Leber¬ gegend, welche plötzlich unter Erbrechen, jedoch ohne Fieber entstanden waren. Die Untersuchung ergab ausser einer festen, wenig empfindlichen Ausschwitzung in der Umgebung der Gebärmutter keinen rechten objektiven Befundi Als keine konservative Behandlung half, wurde ein blutiger Eingriff vor¬ geschlagen und angenommen. Dieser ergab einzig und allein an der Leber etwas Bemerkenswerthes. Dieselbe verschob sich nämlich während der Athmung nicht gegen den Rippen¬ bogen, und als Ursache dieser Abweichung wurde eine Ver¬ wachsung der vorderen Leberfläche mit dem gegenüberliegen¬ den Bauchfell ermittelt. Die Verwachsungen waren ziemlich frisch und liessen sich leicht lösen. Nach ihrer Lösung be¬ wegte die Leber sich völlig frei. Es wurde bei der Nachbe¬ handlung eindringlich darauf gehalten, dass die Kranke trotz erheblicher Schmerzen immer gut durchathmete. Allmählich trat vollständige Heilung ein. Wie war nun diese merkwürdige Verletzung entstanden. Mit Sicherheit objektiv festgestellt wurde ein schädliches Mo¬ ment: die Schnürung. Das Korsett der Betreffenden war auf 50 cm eingestellt. Das allein genügt jedoch nicht, um die Entzündung des Leberbauchfelles zu erklären. Es muss noch ein zweites hinzukommen. Thatsächlich hat die Kranke nicht lange vor ihrer jetzigen Erkrankung eine Verletzung erlitten. Sie ist vom Rade auf die linke Schulter gefallen und hat in dieser eine Zeit lang Schmerzen empfunden. Sie könnte bei dieser Gelegenheit wohl eine kleine Verletzung der Leber er¬ litten haben. Es fragt sich weiter, ob eine derartige Verletzung genügen würde, eine umschriebene Entzündung des Leberbauch¬ felles hervorzurufen. Im Allgemeinen ist das nicht sehr wahr¬ scheinlich, weil die Athembewegungen es an der Leber selten zu ausgedehnteren Verwachsungen kommen lassen. Anders im vorliegenden Falle. Hier war die Leber sowohl während des Unfalles als nachher durch die starke Schnürung einge¬ engt und festgehalten. Es ist der Kranken sogar zuzutrauen, dass sie selbst nachts das Corsett nicht abgelegt hat. Es ist also in diesem Falle nicht unwahrscheinlich, dass bei dem Sturz zunächst einmal durch die Einbiegung des Rippenbogens die Leber gequetscht und an irgend einer Stelle eingerissen wurde, und dass sich dann von dem Riss aus die Entzündung ent¬ wickelt hat. Ein Fall von Ulcus ventriculi traumaticum. Von Oberarzt Dr. Jessen-Hamburg. (MoüAtachr. f. Unfallheilk. 1900. No. 8.) Ein bisher völlig gesunder 30jähriger Mann fuhr mit seinem Fahrrad gegen einen Baumstamm und prallte dabei mit der Magengegend gegen die Lenkstange. Die verletzte Stelle schmerzte, und ein Gefühl von Vollsein stellte sich ein. Nach 36 Stunden wurden grosse Mengen zum Theil zersetzten Blutes ausgebrochen. Rechts neben der Mittellinie fand sich eine auf Druck schmerzhafte Stelle, ohne dass sich die Blutung wieder¬ holte, blieb der Druckschmerz noch drei Wochen bestehen. J. weist zur Begründung der Diagnose Magengeschwür einmal darauf hin, dass die Blutung nicht unmittelbar nach der Verletzung auftrat, also nicht aus einem einfachen Schleim- hautriss erfolgte, andererseits aber auch auf die lange Dauer der Druckschmerzhaftigkeit, welche wohl nur durch eine Ge¬ schwürbildung erklärlich ist. Vergiftungen. Mittheilung über einen Fall von Tetanie nach Intoxikation. Von F. Damraer-Jena. (Münch. medii. Woch. 1900. No. 46.) Eine Frau, die schon einmal eine Bandwurmkur mit Wurm- farrenextrakt durchgemacht hatte, ohne Nachtheile davon zu verspüren, wurde mehrere Jahre später einer zweiten eben¬ solchen Kur unterworfen. Sie bekam im Ganzen 8 Gramm Extractum filicis aethereum und 8 / 10 Gramm Calomel. Der Wurm ging prompt ab. Bald darauf aber empfand die Frau ein eigentümliches Kribbeln, dass sich von den Oberarmen durch den ganzen Körper fortpflanzte. Eine ganz kurze Be¬ wusstlosigkeit folgte. Nach dem Erwachen nahm die Frau eine Steifheit der Gliedmassen wahr. Gleichzeitig konnte sie nichts deutlich erkennen, hatte Ohrensausen und starken Schweissausbruch. Am selben Tage hatte sie noch zwei ähn¬ liche Anfälle, am nächsten Tage einen weiteren, der durchaus die Kennzeichen der Tetanie darbot. Auch das Choostek’sche Zeichen (Zuckungen im Gesicht nach kräftigem Ueberstreichen desselben) war vorhanden, und der Anfall liess sich durch Druck auf die grosse Halsschlagader, nach Trousseau, leicht auslösen. Die Anfälle wurden im Laufe der nächsten Woche seltener und waren nach drei Wochen verschwunden. Es fragt sich, auf welcher Ursache diese vorübergehende Tetanie beruht hat. Dass die Krankheit sich mit Vorliebe auf der Grundlage von Magen- und Darmstörungen entwickelt, ist bekannt. Solche Störungen bestanden aber garnicht. Auch durch Bandwürmer kann Tetanie hervorgerufen werden. Sie stellt sich dann aber nicht erst ein, wenn der Bandwurm fort ist. Als Theilerscheinung der Calomelvergiftung ist sie nie beschrieben. Es bleibt also nur der Wurmfarrenextrakt als Krankheitsursache übrig, und thatsächlich fehlt es nicht an Beobachtungen tetanie-ähnlicher Erscheinungen bei Wurm- farrenvergiftung. Nur fehlt bei allen früheren Fällen jede Andeutung, ob die für Tetanie kennzeichnenden Prüfungen angestellt worden sind. Der Dammer’sche scheint in dieser Richtung eine Ergänzung unserer Kenntnisse über die Tetanie und über die Wurmfarrenvergiftung zu bedeuten. Ueber einen Fall von Formalinvergiftnng. Von Dr. Ludwig Zorn-München. (Münch, medii. Woch. 1900. No. 46.) Ein 44jähriger Dienstmann wurde in schlechtem Allge- meinzustand, aber bei vollem Bewusstsein in die Münchener medizinische Klinik eingeliefert. Er hatte ungefähr 15 ccm einer Flüssigkeit getrunken, die er nach dem Geruch für Hoffmannstropfen gehalten hatte. Durch den scharfen Ge¬ schmack bekehrt, hatte er Milch nachgetrunken und erbrochen. Er war bei normaler Körperwärme, hatte kühle bläuliche Lippen, Hände und Füsse, schnellen Puls und schnelle Athmung, würgte und brach viel. Beim Aufstehen wurde er schwindlig, die Blase blieb 24 Stunden leer. Sechsmal erfolgte in dieser Zeit unter heftigem Drängen Stuhlgang von dunkelbraunrother Digitized by Google 506 Aerztliche Sach verständigen-Zeitung. No. 24. Farbe und syrupartiger Beschaffenheit, der viel Schleim, aber kein Blut, mikroskopisch u. A. Charcot-Leyden’sche Krystalle enthielt. Der spärliche Harn, der am nächsten Tage entleert wurde, war eiweisshaltig und liess zahlreiche Cylinder, spär¬ liche Nierenzellen erkennen. Der Heilungsverlauf dauerte im Ganzen eine Woche. Der Rest der Flüssigkeit, von der der Mann getrunken hatte, roch stark nach Formalin, hinterliess beim Verdampfen einen weissen Rückstand (Paraformaldehyd), färbte ammoniaka- lische Silberlösung schwarz und gab, mit Ammoniak behandelt, beim Verdunsten einen weissen krystallinischen Rückstand (Hexamethylentetramin), aus dem durch Säure wieder Formalin abgespalten wurde. Es handelte sich also um eine Formal- dehydlösung und zwar wahrscheinlich um die vierzigprozentige, die im Handel als Formalin bezeichnet wird. Es ist sehr interessant, wie verschieden dieser Fall sich in seinem Verlauf von dem durch Klüber beschriebenen ge¬ staltet hat. Wären nicht die Nierenstörungen einander ähnlich — man würde kaum begreifen, dass es sich um ein und die¬ selbe Vergiftung handele. Ohren. Die Thrombophlebitis des oberen Längsblntleiters nach Entzündung der Stirnhöhlenschleimhant. Von Prof. Dr. G. Killian-Freiburg i. Br. (Zeittchr, f. Ohrenbeillr., XXXVII. Bd., 4. Heft.) Nach einer kurzen Besprechung der anatomischen Be¬ ziehungen des grossen Längsblutleiters zu den venösen Bahnen der Stirnhöhlen giebt Verf. eine Zusammenstellung von 5 in der Litteratur Vorgefundenen Fällen von entzündlicher Ver¬ stopfung des Sinus longitudinalis superior im Anschluss an Stirnhöhleneiterung und kommt nach einer kritischen Be¬ leuchtung der in den einzelnen Fällen beobachteten Symptome zu dem Ergebniss, dass von einer — meist chronischen — eitrigen Entzündung der Stirnhöhlenschleimhaut in der That eine Thrombophlebitis des oberen Längsblutleiters ursächlich ihren Ausgang nehmen kann. Eine Symptomatologie dieser Thrombophlebitis lässt sich aus den vorliegenden 5 Krankheits¬ berichten nur sehr mangelhaft aufstellen, da sie einen zu fragmentarischen Charakter haben. So viel aber ist zu sagen, dass die auf den Sin. longit. sup. beschränkte Entzündung keine schweren Hirnsymptome macht, ohne indessen gänzlich symptomlos zu verlaufen. Jedenfalls muss dem Verf. vom Standpunkte des ärztlichen Sachverständigen darin beige¬ stimmt werden, dass es wünschenswerth ist, bei allen Sek. tionen von Personen, die an intrakraniellen Komplikationen nach Sinuitis frontalis gestorben sind, die oberen Längsblut¬ leiter genau zu untersuchen. Richard Müller. Ein Cholesteatoma verum in der hinteren Schädelgrube, durch eine akute Mittelohreiterung inflzirt und vereitert Operation. Heilung. Von Prof. Dr. 0. Körn er-Rostock. (Zeitacbr. f. Ohreoheilk., XXXVII. Bd., 4. Heft.) Die langsame Entwickelung der Geschwulst und die da¬ mit einhergehenden, seit Jahren auftretenden heftigen Kopf¬ schmerzen machen den Fall auch für den ärztlichen Sach verständigen hochinteressant. Es handelte sich bei der Operation um ein doppelt hühnerei- grosses Cholesteatom in der hinteren Schädelgrube zwischen der knöchernen Schädelwand und der Dura der Kleinhirn’ hemisphäre sowie des Hinterhauptlappens; die Geschwulst er¬ streckte sich vom Felsenbein bis fast zum Torcular Herophili. Bedenklichere Erscheinungen fing der Tumor erst an zu machen, als eine linksseitige Mittelohreiterung in Folge von Influenza hinzugetreten war und ihn durch die lufthaltigen Nebenräume der Paukenhöhle hindurch, die der wachsende Tumor durch KnochenuBur bereits erreicht hatte, infizirte. So war aus der zunächst nur durch ihre Druckwirkung schädlichen Geschwulst ein das Hirn und damit das Leben gefährdender Eiter- heerd geworden, dessen operative Beseitigung dem Patienten das Leben rettete. R. M. Aus Vereinen und Versammlungen. 72. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Aachen Yom 16. bis 22. September. Abtheilung Neurologie und Psychiatrie. (Neurol. Centr.) Erlenmeyer-Beudorf. Ueber die Bedeutung der Arbeit in der Behandlung von Nervenkrankheiten. Dass Geisteskranke — also die Insassen der geschlossenen Anstalten, — durch Beschäftigung günstig beeinflusst werden, ist seit Jahrzehnten bekannt. Möbius bat die Anregung dazu gegeben, die Arbeits-Behandlung auf „Nervenkranke“, also die im engeren Sinne Nervenleidenden und die leicht Gemütlis kranken oder Verstimmten, auszudehntm. Vortragender hat bei rein Nervenkranken keine günstigen Erfolge von der Arbeitsbehandlung gesehen, die gleiche Erfahrung haben Rieger und Monnier gemacht, Möbius selbst hat weder eigene noch fremde Erfahrungen zu Gunsten seiner Ansicht beigebracht. Die Neurasthenischen, Erschöpften vertragen die Arbeit nicht; Nervöse müssen anfangs ruhen, dann aber wirkt die Arbeitsbehandlung günstig. Hysterische können arbeiten, aber die Krankheit wird dadurch nicht beeinflusst. Bei Epilepsie, Migräne u. dergl. wirkt in der anfallsfreien Zeit die Arbeit kräftigend, aber nicht spezifisch. Bei manchen Leiden des Hirns und des Rückenmarks können einzelne Störungen durch Arbeit beseitigt werden. Sänger-Hamburg richtet an den Vortragenden die nahe¬ liegende Frage, wie es sich denn mit Unfallnervenkranken verhalte. Er habe bei diesen, auch bei Neurasthenikern, gute Erfolge von der Arbeit gesehen. Gilbert-Baden betont, dass die durch Nichtsthun neurasthe- nisch Gewordenen durch Arbeit günstig beeinflusst werden. Erlenmeyer ist bei Unfallkranken zu keiner sicheren Anzeige für Arbeitsbehandlung gekommen. Sicher sei, dass Leute, die an schwere Arbeit gewöhnt sind, von ihr günstiger beeinflusst werden, als die Angehörigen der wohlhabenderen Stände. Auf die Gemüthsverstimmung wirke die Arbeit günstig, daraus erkläre sich ihr Erfolg bei sonst verschiedenen Krankheitsformen. Edinger-Frankfurt. Ueber die Lokalisation des Kopfschmerzes. Selten, mit Ausnahme echter Neuralgieen, hat der Schmerz seinen Sitz in der Kopfhaut, häufig in der Sehnenhaut und ihren Muskeln (Massagebehandlung). Knochenschmerzen sind nicht häufig. Bei % aller Fälle ist die Ursache des Schmerzes im Schädelinnem zu suchen. Gowers und Möbius behaupten neuerdings wieder, dass vom Gehirn selbst aus schmerzhafte Empfindungen nach dem Kopf verlegt werden können. Das ist falsch, denn es giebt im Gehirn keine Stelle, deren Er¬ krankung eine so begrenzte Schmerzempfindung auslösen könnte. In den Fällen, die M. und G. meinen, liegt die Störung wahrscheinlich in den Gefäss-Gefässen oder Nerven der Hirnhaut. Digitized by Google 15. Dezember 1900. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. 507 Sänger unterstützt die Kopfmassage durch Salicylpräparate und lässt bei kahlem Kopf Perrücke tragen. Lilienstein meint, die Kopfschmerzen aus blosser Ueber- empfindlichkeit der Kopfhaut seien doch nicht so selten. Edinger erklärt auf Anfrage Sängers, er halte, so häufig auch Hysterische Kopfschmerzen haben, das Vorkommen rein hysterischen Kopfschmerzes nicht für erwiesen. Meist scheine Ueberempfindlichkeit vorzuliegen. Gilbert-Baden-Baden: Ein weiterer Fall von Pseudo¬ tabes mercurialis. Leyden hat 1893 eine auf chronischer Quellsilbervergiftung beruhende, der Rückenmarksschwindsucht ähnelnde Nerven¬ entzündung beschrieben. G. hat über einen gleichen Fall zu berichten. Ein Offizier, der 1890 bis 1896 wegen Syphilis zahlreiche Quecksilberkuren durchgemacht hatte, zeigte Er¬ scheinungen von Tabes. Sofort wurde eine energische Schmier¬ kur eingeleitet, die aber nur eine wesentliche Verschlimmerung zur Folge hatte. Als Vortragender den Kranken sah, hatte dieser rechts keinen, links etwas verstärkten Kniereflex, keine Achilles¬ reflexe, Rombergscbes Zeichen, Ataxie, Störungen der Tast- und Temperaturempfindung, an den Beinen Druckschmerz, am Schenkelnerv, gestörte Blasenthätigkeit, aber freie Pupillen. Unter kräftigender Allgemeinbehandlung genas der Kranke völlig. Lilienstein-Nauheim. Ueber Herz-Neurosen. Der Name Herz-Neurosen kommt nur den selbständig, ohne Verbindung mit Herz- oder anderen Nervenkrankheiten auftretenden Störungen zu. Diese sind jedoch häufig. Sie kennzeichnen sich durch Aetiologie, durch die Ausbreitung der Schmerzen über den ganzen Körper, durch Fehlen aller Stauungserscheinungen, oft genug durch Mangel an objektiven Erscheinungen überhaupt. Nervöse Herzschwäche, lautet die Diagnose des Verfassers in einem Fall, in dem eine Frau nach einer Fehlgeburt erst Monate lang allgemein nervöse Erscheinungen, dann anfalls¬ weise heftiges Beklemmungsgefühl, wühlenden Schmerz in der Herzgegend hatte. Von allen Mitteln wirkte nur Baldrian etwas erleichternd. Nach einigen Monaten hörten die Anfälle von selbst auf. Als „Pseudoangina“ wird die Krankheit eines Schlossers bezeichnet, der, früher schon „magenleidend“, nach einer Brustquetschung ein halbes Jahr an „Asthma“ gelitten hatte. Seit dieser Zeit bekam er schon nach geringer Aufregung — vorher nur nach grosser Anstrengung — Anfälle, die denen der Angina pectoris glichen. Länderer. Zur Verminderung der Todesfälle durch Status epilepticus. Vortragender empfiehlt, gehäufte Anfälle durch starke Dosen von Chloralhydrat zu coupiren und selbst bei aussichtslosen Fällen die Brombehandlung zu versuchen. Sänger-Hamburg: Neuere Erfahrungen über Ner¬ venerkrankungen nach Eisenbahnunfällen. Von 13 Personen, die die Eisenbahnentgleisung zu Eschede 1897 mit durchgemacht haben, sind 6 beschwerdefrei, 4 haben leichte neurasthenische Erscheinungen, 2 Knaben angeblich seitdem schlechtere Auffassungsgabe (von einem Verunglückten fehlen die Nachrichten). Von 15 beim Eisenbahnunglück zu Hamburg 1899 schwerverletzten Soldaten ist nur einer leicht nervös erkrankt. Dagegen haben 3 Bahnansestellte, die bei einem leichten Unfall nicht schwer verletzt wurden, deutliche hysterische Er¬ scheinungen, ein Weichensteller wurde lediglich durch Angst ohne Unfall schwer neurasthenisch, ein Bremser durch den Dienst. Das Bild der Oppenheim’schen traumatischen Neurose hat sich bei keinem Verunglückten entwickelt, von denen von Eschede ist keiner arbeitsunfähig geworden. Höchstens 6 Personen hatten eine Gehirnerschütterung, etwa ebensoviel einen heftigen Schrecken erlitten. Bedeutsam ist der Unterschied in der Schwere der Er¬ krankung zwischen Privatpersonen und Bahnangestellten. Bei letzteren schaffen der schwere Dienst, die stete Verantwort¬ lichkeit, zum Theil auch noch Alkohol, Tabak und schlechte Ernährung zu schweren Nervenkrankheiten. Der Kampf um die Rente begünstigt die Hartnäckigkeit der Erkrankung. Im Ganzen sollte man bei der Rolle, die die Individualität des Verletzten spielt, den einzelnen Fall bei der Beurtheilung mehr berücksichtigen. _ Aerzteverein Hamburg. Sitzung am 16. Oktober 1900. Herr Sänger wiederholt seinen bei der Naturforscherver¬ sammlung zu Aachen gehaltenen Vortrag (s. o.). Wir geben Folgendes aus der hieran anschliessenden Diskussion wieder. Herr Einstein hat, um die Häufigkeit der Unfallneurose festzustellen, 5276 Unfälle, die innerhalb von 4 Jahren bei der Speditions-Berufsgenossenschaft angemeldet waren, durchge¬ sehen und kam zu dem Resultat, dass nur 7 pro Mille auf Grund * von Unfallneurose Anspruch erhoben. Das Vorkommen der Un¬ fallneurose ist also bei seinem Material verhältnismässig selten. Die sogenannten objektiven Symptome bieten keine sichere Grundlage für die Beurtheilung; in schweren Fällen wurden sie manchmal ganz vermisst. Für das aetiologisch wichtigste Moment hält er die Thatsache, dass der Unfall eine „Rente“ bedingt. Daher kommt es wohl, dass auch in den Sänger’schen Fällen die Angestellten, d. h. die wirtschaftlich Schwächeren, intensivere Folgen gezeigt haben, als die mitverletzten, meist gut situirten Passagiere I. und H. Klasse. E. empfiehlt dringend, wo irgend möglich, durch Kapitalabfindung zu ent¬ schädigen, und betont zum Schlüsse die Wichtigkeit der Pro¬ phylaxe der Unfallneurosen, deren Durchführung hauptsächlich Aufgabe des zuerst behandelnden Arztes ist. (Autorreferat.) Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nerven¬ krankheiten . Sitzung vom 12. November 1900. Originalbericht der Aerztlichen Sachverständigen-Zeitung. Vor der Tagesordnung stellt Herr Jolly einen Fall von Peroneuslähmung nach Gelenkrheumatismus mit nachfolgender Chorea minor vor. Ein 16jähriger Mensch, der seit drei Jahren wiederholt Anfälle von Gelenkrheumatismus mit Endocarditis gehabt hatte, erkrankte im Januar d. J. wieder an einem solchen. Nach Ablauf der Gelenkaffektion setzte Anfang März eine schwere Chorea minor ein gleichzeitig mit erneuter Gelenkerkrankung. In der choreatischen Erregung zog er sich eine Reihe von Verletzungen zu. Von einer Zeigefingerverwundung ging eine Phlegmone am rechten Arm aus, welche zu einer ausgedehnten Abscedirung am ganzen Körper mit späterer Narbenbildung führte. Erst nach längerer Zeit war Alles abgelaufen. Man sieht ausgedehnte Narben auf dem Arm, Rücken und Kreuz¬ bein, ferner eine Reihe von quer verlaufenden Streifen an der Rückseite beider Beine, ähnlich den Schwangerschafts¬ narben, welche rechts ziemlich nahe an der Peroneusgegend verlaufen. Nach dem Aufstehen wurde eine rechtsseitige Peroneuslähmung beobachtet. Es ist eine ausgesprochene degenerative Lähmung des rechten Peroneus vorhanden, wie sie nach Chorea nur vereinzelt vorkämen. J. nimmt hier als Ursache die starke Ausdehnung der Haut duich die Schwel* Digitized by LjOOQie 508 Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. No 24. lung im rechten Kniegelenk vielleicht unter Milhilfe von In¬ sulten an, die sich der Kranke während der choreatischen Erregung zugezogen hat. Die starke, durch die Striae ange¬ zeigte Schwellung mit Hautausdehnung könnte einen direkten Druck auf den Nerven ausgeübt haben, oder es könnten sich von ihnen aus entzündliche Prozesse auf ihn verbreitet haben. Tagesordnung. 1. Herr Seiffer stellt zwei Fälle von Paralysis agi- tans mit Symptomen von Tabes dorsalis vor, welche schon einmal in dieser Gesellschaft demonstrirt worden sind, der eine vor neun Jahren von Placzek, der andere vor drei Jahren von Weil. Die tabischen Erscheinungen sind inzwischen nicht vorgeschritten. In dem zweiten Fall wäre das Vor¬ handensein von Tabes höchst zweifelhaft und die einzigen dafür sprechenden Symptome: Pupillenstarre und das West- phal’sche Phänomen durch eine Sympathicusaffektion resp. Muskelrigidität zu erklären. Vortr. bespricht ausser diesen beiden Fällen vier ähnliche, die in der Literatur beschrieben sind. Er fand bei einer Durchsicht des Krankengeschichten¬ materials der Nervenklinik keine solchen Fälle, wohl aber Pupillen- und andere Störungen am Auge bei Paralysis agi- tans, mehrfach auch sensible und andere Störungen tabischen Charakters. Wenn daher schon klinisch die P. a. nicht mehr als eine Affektion der motorischen Elemente allein betrachtet werden könne, müsse man bei Berücksichtigung der freilich noch zweifelhaften anatomischen Befunde (perivasculäre Skle¬ rosen, besonders der Hinter-, dann auch der Seitenstränge) zu derselben Ansicht kommen. Vortr. fasst seine Ausführungen in folgenden Punkten zu¬ sammen : 1. Es giebt offenbar, wenn auch selten, Fälle, wo beide Krankheiten, P. a. und Tabes, gleich vollständig ausgeprägt sind, so dass an der Diagnose kein Zweifel ist. Bei ihnen sind die tabischen Symptome den Parkinson’schen längere Zeit, theils Jahre lang, vorausgegangen. II. Fälle, wo die Tabes völlig ausgebildet, P. a. nur an¬ gedeutet ist. III. Umgekehrt Fälle, wo nur tabesartige Symptome an¬ gedeutet, eine richtige Tabes aber nicht diagnostizirbar. IV. Bei der relativen Häufigkeit des reinen Vorkommens der Tabes einerseits, der P. a. andererseits, verglichen mit der Seltenheit der erwähnten Kombinationen, muss man eben diese Kombination vorläufig als zufällige Erscheinungen be¬ zeichnen. Indessen ist ein Zusammenhang doch so denkbar, dass die Läsionen des Centralorgans, welche die bisher als typisch angesehenen klinischen Symptome der P. a. bedingen, auch einmal tabesähnliche Symptome hervorrufen können. 2. Herr Bernhardt: Krankenvorstellung. B. demonstrirt ein 19jähriges Mädchen, welches als Rest einer im zweiten Lebensjahr eingetretenen spinalen Kinder¬ lähmung eine Lähmung in beiden oberen Extremitäten zurück¬ behalten hat. Vorwiegend erweist sich das Gebiet des Me¬ dianus und Ulnaris als affizirt geblieben. Es besteht eine Ab¬ magerung der Volarseiten der Vorderarme und an den Daumen- und Kleinfingerballen. Die Finger stehen in Klauen¬ stellung. Die Bewegungsfähigkeit der Hände ist stark beein¬ trächtigt, rechts mehr als links. Die atrophische Muskulatur zeigt Entartungsreaktion. Die Doppelseitigkeit der Lähmung an beiden oberen Extremitäten käme selten vor, noch seltener dabei das Fehlen von oculopupillären Symptomen, da in der Gegend des unteren Halsmarks, von der die N. medianus und ulnaris entsprängen, auch das Centrum ciliospinale liege. Trotz der Unvollkommenheit der Handbewegungen kann das Mädchen 8 owohl mit der linken Hand Spiegelschrift wie durch gleich¬ zeitigen Gebrauoh beider Hände gewöhnliche Schrift schreiben. Diskussion. Herr Weber hat einen ähnlichen Fall beobachtet, bei welchem die spinale Kinderlähmung im fünften Jahr aufge- treten war und Zwergwuchs zur Folge hatte. Das 12 jährige Mädchen machte den Eindruck eines 8jährigen Kindes. Die Lähmungen betrafen ausser beiden Peronei und einigen Mus¬ keln der unteren Extremitäten und der Schultern ebenfalls die Unterarme, das Medianus- und Ulnarisgebiet. Die Extremi¬ täten waren zum Theil verkürzt. Kleinfinger- und Daumen¬ muskulatur waren gelähmt und wiesen Entartungsreaktion auf. Trotz der atrophischen Lähmungen in den Handmuskeln ist das Mädchen ausserordentlich geschickt. 3. Herr Henneberg: Ein Fall von Thrombose der Arteria basilaris. H. demonstrirt ein Gehirnpräparat, welches von einer 25jährigen Kellnerin stammt. Dieselbe hatte 1897 Syphilis acquirirt, klagte viel über Kopfschmerz, Blutandrang und litt an Zuständen rasch vorübergehender Bewusstseinstrübungen, einmal mit Sprachstörung. Wiederholte antisyphilitische Kuren waren ohne Erfolg geblieben. Am 23. Oktober kam sie be¬ wusstlos in der Charitö zur Aufnahme. Sie hatte eine auf¬ fallende spastische Starre der gesammten Muskulatur an den vier Extremitäten, während keine Nackensteifigkeit bestand. Die Bulbi machten oscillirende Bewegungen, die Pupillen waren mittelweit und reaktionslos, die Kniereflexe lebhaft, die Athmung schnarchend. In der rechten Ioguinalgegend waren ausgedehnte Narben, an der rechten Schulter ein gummöses Syphilid vorhanden. Die Lumbalpunktion ergab schwache pulsatorische Schwankungen. Unter Schwinden der Muskel- starre und starker Temperatursteigerung trat der Tod nach 48 ständiger Beobachtung ein. Die Sektion ergab als alleiniger Hirnbefund eine erbsengrosse gelbliche Geschwulst an der Ar¬ teria basilaris, welche zweifellos eine primäre gummöse Er¬ krankung darstellte und von welcher aus sich eine Thrombose eine Strecke weit in die beiden Art. prof. und cerebelli sup. fortsetze. Während diese einzige syphilitische Veränderung im Gehirn von Interesse wäre, sei das Fehlen von Erweichungs¬ herden bei der akuten Arterienthrombose nichts ungewöhn¬ liches. Das Auftreten von epileptischen Zufällen komme in allen Fällen, wo der Blutzufluss des Hirns leide, vor. In diesem Fall habe die Athmung nicht beim Aufrichten der Kranken aufgehört, wie es Pichler bei akuter basaler Throm¬ bose beschrieben habe. H. hält diese Lumbalpunktion zur Unterstützung der Diagnose auf Basilarthrombose für geeignet, indem eine er¬ hebliche Herabsetzung der pulsatorischen Schwankungen wie in einem Falle von Krönig mit Aneurysma der Basilararterie in einzelnen Fällen ein solche Diagnose nahe legen könnte. Diskussion. Herr Oppenheim hat unter einigen Fällen von Throm¬ bose der Basilararterie einen ganz ähnlichen in Erinnerung. Ein in den Dreissigern befindlicher Mann, der Lues gehabt hatte und seitdem über Kopfschmerzen klagte, starb unter dem Bilde einer Ponsaffektion mit Lähmungen aller vier Ex¬ tremitäten. Bei der Sektion fand sich als einziger syphiliti¬ scher Befund im Gehirn eine Erkrankung der Arteria basilaris mit Thrombose. Mikroskopisch konnte auch eine Erweichung festgestellt werden. Die Beobachtung von Pichler bezöge sich auf Fälle mit Aneurysmen der Arteria basilaris. 0. stimmt darin nicht mit dem Vortr. überein, dass die Lumbalpunktion die Diagnose der Basilarthrombose zu stützen vermöge. In dem Fall von Krönig wäre das Aneurysma nach der Lumbal¬ punktion geplatzt und der Tod eingetreten. Er hält es für bedenklich, zur Stellung der Diagnose dabei die Lumbalpunk¬ tion zu machen. Digitized by Google 15. Dezember 1900. Aerztliohe Sachverständigen-Zeitung. 509 Herr Rotmann hat bei Einstichen in der Höhe der Pyra¬ midenkreuzung an Thieren einmal in Folge abnormen Gefäss- verlaufs die eine Hälfte der Basilararterie angestochen* ohne dass es nach Stehen der Blutung zu einer ernsteren Schädi¬ gung resp. Erweichung gekommen wäre. Herr Henneberg erwidert Herrn Oppenheim, dass aus der Veröffentlichung von Krönig nicht der Tod des Patienten in Folge Beratung des Aneurymas hervorgehe. Bei seinen Lumbalpunktionen hat H. nie ernstere Zufälle gesehen, hält dieselben daher bei vorsichtigem Vorgehen und langsamem Ablassen einer nur kleinen Quantität des Liquor cerebrospinalis für nicht gefährlich. Bei bewusstlosen Kranken, bei denen es sich um eine Ventrikel- oder Meningealblutung handeln könnte, sei durch die Lumbalpunktion in therapeutischer Hinsicht eine Begünstigung der Blutresorption und somit eine Lebensrettung denkbar. In dem Fall Pichler handle es sich um eine Throm¬ bose der Basilaris im Anschluss an eine aneurysmatische Er¬ weiterung. M. E. Gerichtliche Entscheidungen. Ans dem Beichs-Yersieherungsamt. Ein Bruch alt Betriebsunfall. Rek.-Entsch. vom 18. Oktober 1900. Der Brauer A. war vom Schiedsgericht mit seinem Renten- anspruch für einen Bruch abgewiesen worden. Gegen diese Entscheidung legte A. Rekurs beim Reichs Versicherungsamt ein mit dem Anträge, eine ihm günstige Entscheidung zu treffen. Er bat um eidliche Vernehmung der bereits gehörten Zeugen und behauptete, dass es sich um eine ausserordentlich schwere Arbeit gehandelt habe, als der Bruchaustritt erfolgt sei. Beim Aufstürzen des 20 hl fassenden leeren Fasses sei dies, da es mit dem oberen Rande an die Wand angeprallt sei, zurück¬ gefallen. Die anderen Braugehilfen hätten das Fass plötzlich losgelassen und er sei durch die Wucht des Anpralls und die Schwere des von ihm allein gehaltenen Fasses zu Boden ge¬ drückt worden. Auch habe er vor dem angeblichen Unfälle nie die geringsten Beschwerden gehabt und es sei auch wäh¬ rend seiner Militärdienstzeit niemals von den ihn untersuchen¬ den Aerzten eine Bruchanlage festgestellt worden. Das Reichs- Versicherungsamt hob auch die Vorentscheidung auf und sprach dem Kläger A. aus folgenden Gründen eine Rente zu: Das Rekursgericht hat schon auf Grund des vorhandenen Aktenmaterials die Ueberzeugung erlangt, dass es sich im vorliegenden Falle um einen plötzlich entstandenen Leisten¬ bruch handelt, so dass es der vom Kläger beantragten Beweis¬ aufnahme nicht mehr bedurfte. Was zunächst die in der Rekursschrift enthaltene Darstellung des Hergangs, bei wel¬ chem der Bruch ausgetreten sein soll, anbetrifft, so erscheint dieselbe an sich wahrscheinlich und in vollem Umfange glaub¬ würdig, zumal eine ganze Anzahl bereits erwiesener Umstände für ihre Richtigkeit sprechen. Der Kläger hat bei der Ge¬ legenheit des Fässerstürzens nicht allein, wie es in der Un¬ fallanzeige heisst, einen Stich im Unterleibe bekommen, es ist ihm vielmehr, wie die Zeugen Braugehilfen R. und E. be¬ kundet haben, plötzlich unwohl geworden, und dieses Unwohl¬ werden hat sich noch mehrmals innerhalb kurzer Zeit wieder¬ holt. Die Beschwerden waren derart erheblich, dass er an demselben Tage nicht mehr weiterarbeitete und bereits nach etwa einer halben Stunde die Hilfe des Kgl. Bezirksarztes Dr. V. in F. aufsuchte, dessen Befund gleichfalls im Wesentlichen für eine plötzliche Entstehung des Bruchleidens spricht, denn die Thatsache, dass der Kläger rechts eine Bruchanlage be¬ sitzt, lässt sich allein nicht als entscheidenden Umstand gegen die plötzliche Entstehung des Bruches verwerthen, da die Doppelseitigkeit der Bruchanlage beim Kläger nicht feststeht und alle übrigen vom Arzt Vorgefundenen Merkmale für die plötzliche Entstehung des Bruches sprechen. Der Arzt hat eine nicht besonders grosse, empfindliche, gespannte Ge¬ schwulst und eine sehr enge Bruchpforte vorgefunden und auf Grund eigener Wahrnehmung die Ueberzeugung erlangt, dass es sich um einen frisch und plötzlich in Folge der be¬ deutenden Anstrengung entstandenen Leistenbruch gehandelt habe. Bei dieser Sachlage erscheint die Darstellung des Klägers über den mehrerwähnten Vorgang ohne Weiteres glaubwürdig. Es hat sich um eine zwar betriebsübliche, aber doch schwere Arbeit gehandelt und dazu um eine solche, die sich unter besonders ungünstigen Umständen vollzogen hat, indem der Kläger in Folge des Anpralls des oberen Randes des Fasses an die Wand eine ganz ausserordentliche Last zu tragen hatte. Dass es sich um einen allmählich entstandenen und nur bei Gelegenheit der gewöhnlichen Betriebsarbeit aus¬ getretenen Bruch gehandelt hätte, kann bei der Erheblichkeit der Erscheinungen, die schon festgestellt sind, nicht ange¬ nommen werden. Es ist vielmehr unbedenklich, im vorliegen¬ den Falle die gegen die plötzliche Entstehung der Leisten¬ brüche sprechende Vermuthung als widerlegt zu erachten. Dem Kläger war hiernach eine Unfallrente zu gewähren, denn dass ihn der Unfall in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt, kann an sich und aus dem Grunde, weil er seinen Beruf als Braugehilfe hat aufgeben müssen, nicht zweifelhaft sein. Das Reichs-Versicherungsamt ist sogar der Ansicht, dass der Kläger, dessen Beruf die häufige Verrichtung besonders schwerer Ar¬ beiten mit sich bringt, in einem höheren Grade, als er bei zu entschädigenden Leistenbrüchen gewöhnlich angenommen wird, in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt wird, und hält eine 15prozentige Unfallrente für angemessen. M. Aus dem Ober-Yerwaltangsgericht* Gesundbeittgefahr der Ziegeleien. Oberverwaltungsgericht, 1. Dezember 1900. In einer Zeitung in Frankfurt a. M. hatten vor einiger Zeit verschiedene Personen darüber Klage geführt, dass sich am schönsten Theile der Eschersheimer Landstrasse eine Backsteinbrennerei befinde und für die Spaziergänger lästig werde. Unter Hinweis auf eine Polizeiverordnung vom 5. Juli 1899, betreffend die Errichtung lästiger Anlagen in der Stadt¬ gemarkung von Frankfurt a. M. wurde darauf dem Ziegelei¬ besitzer K. zu E. von der Polizeibehörde vom 1. August 1899 untersagt, Ziegelsteine in Feldbrandziegelöfen auf dem frag¬ lichen Grundstück bei Vermeidung der Bestrafung zu brennen. Der Regierungspräsident wies dann die von K. erhobene Be¬ schwerde zurück und führte aus, die beregte Verfügung stütze sich aus § 1 der Polizei Verordnung vom 5. Juli 1899, die all¬ gemein die Veranstaltung von Feldbränden behufs Herstellung von Ziegelsteinen in den zu den Wohnvierteln bestimmten Theilen der Stadtgemarkung untersage. Die Polizeiver¬ ordnung finde ihre Grundlage in dem Gutachten des städti¬ schen Gesundheitsraths, des Kreisphysikus in Frankfurt a. M. und des Regierungs- und Medizinalraths in Wiesbaden. Hier¬ nach müsse als feststehend angesehen werden, dass bei dem Betriebe von Feldziegelöfen sich Gase entwickeln, durch welche die menschliche Gesundheit erheblich geschädigt werden könne; abgesehen von dieser direkten gesundheits¬ schädlichen Wirkung haben die Gase eine mittelbare Schädigung der Gesundheit insofern im Gefolge, als die Bewohner der un¬ weit des Ziegelofens belegenen und durch die zufällige Wind¬ richtung mehr oder minder in Mitgliedschaft gezogenen Häuser sich gezwungen sehen, ihre Fenster geschlossen zu Digitized by Google 610 Aerztllohe Sachverständigen-Zeitung. No. 24. lassen und der Möglichkeit beraubt seien, ihre Wohnungen ordnungsmässig zu lüften. Die weitere Beschwerde K.’s wurde auch vom Oberpräsidenten abgewiesen, welcher u. A. erklärte, die Frage der Schadenersatzpflicht sei im vorliegenden Falle nicht zu entscheiden. K. beschritt schliesslich der Weg der Klage gegen den Oberpräsidenten beim Oberverwaltungsge¬ richt und behauptete, derartige Ziegeleibetriebe seien unschäd¬ lich, auch liege sein Betrieb so weit von den letzten Ge¬ bäuden der Stadt Frankfurt a. M. entfernt, dass eine Be¬ lästigung von Personen ausgeschlossen erscheine. Das Ober¬ verwaltungsgericht erachtete aber die Klage für nicht be¬ gründet, weil durch den Rauch aus der Ziegelei der Strassen- verkehr und diejenigen Personen belästigt würden, welche sich auf dem benachbarten Spielplatz aufhalten. Die polizei¬ liche Verfügung erscheine demnach gerechtfertigt. M. Biicherbesprechungen und Anzeigen. Stolper, Dr. P., Breslau. Guder’s Gerichtliche Medizin für Mediziner und Juristen. Leipzig, J. A. Barth. 1000. 339 Seiten. 6,75 M. Das im vorigen Jahrzehnt von Guder für die Abel’sche Sammlung medizinischer Lehrbücher bearbeitete Lehrbuch der Gerichtlichen Medizin hat eine Neuauflage durch einen Autor erfahren, der, ohne selbst Gerichtsarzt zu sein, auf dem Ge¬ biete der Verletzungen und Verletzungsfolgen eine bedeutende Erfahrung besitzt, und dem die Chirurgie uhd die Unfallheil¬ kunde schon manche Bereicherung verdanken. Die Aufgabe, möglichst viel Wissenswertes auf knappen Raum zusammen zu drängen, ohne doch dabei in jenen dem Leser auf die Dauer höchst unerquicklichen wissenschaftlichen Telegrammstyl zu verfallen oder vermeidbare fremdsprachliche Kunstausdrücke zu gebrauchen — diese Aufgabe ist mit un¬ verkennbarem Geschick gelöst. Es ist selbst noch Platz für einen Schlussabschnitt von fast 30 Seiten für die staatliche Arbeiterversicherung übrig geblieben, der übrigens zu den best¬ gelungenen Theilen des Buches gehört. Hier und da fanden wir bei genauer Durchsicht eine Einzel¬ heit, mit der wir uns nicht ganz einverstanden erklären konnten, z. B. scheint Verfasser bei der Untersuchung auf Samen nicht genügenden Werth auf den Nachweis unverletzter Spermatozoon zu legen. Ferner vermissen wir ganz die Erwähnung des Hungertodes unter den gerichtlich wichtigen Todesarten. Bei der Verbrennung wäre, ungeachtet der Knappheit des Werkes, das Vorkommen von Blutaustritten unter der Hirnschale wohl erwähnenswerth gewesen. Die Eintheilung der Geisteskrank¬ heiten im psychiatrischen Theil scheint uns etwas gezwungen. Bei der Besprechung des Begriffes Geistesschwäche mit Bezug auf die Entmündigung räumt der Verfasser unserer Meinung nach der Geistesschwäche ein zu weites Feld ein. All dies sind jedoch Einzelheiten, die sich zum Theil leicht korrigiren lassen. Sie treten gegenüber den Vorzügen des Buches zurück, von denen einer noch besonders hervorgehoben werden soll, der grade für den gerichtsärztlich minder ge¬ übten Praktiker wichtig ist: die Verfasser warnen immer wieder eindringlich vor Schlüssen auf ungenügender Grund¬ lage, sei es, dass das vorliegende Thatsachenmaterial zur Ab¬ gabe eines endgültigen Gutachtens nicht genügt, sei es, dass der Einzelfall eine spezialistische Untersuchung erfordert, zu welcher der Gutachter vermöge seiner Vorbildung nicht im Stande ist. Das sind Warnungen, gegen welche noch viel ge¬ sündigt wird. Springfeld, Dr«, Medizinalassessor beim Kgl. Polizei-Präsi¬ dium Berlin. Die Rechte und Pflichten der Drogisten und Geheimmittelhändler. Handhabung der Gesund¬ heitsgesetze in PreuBsen von Springfeld und Siber. Bd. V. Berlin 1900. Richard Sohoetz. 890 Seiten. Preis kart. M. 18,—. Die Schwierigkeit, sich in dem Labyrinth der Vorschriften über den Arzneiwarenhandel zurechtzuflnden, hat im Laufe der Jahrzehnte eine grosse Reihe von erläuternden Schriften entstehen lassen, die je nach dem Stande ihrer Verfasser mehr in den Kreisen der Apotheker oder der Drogisten oder der Medizinalbeamten Verbreitung fanden. Diese z. Th. recht geschickt abgefassten Büchelchen hatten aber alle einen ge¬ meinsamen Nachtheil: konnte man sich auch im Allgemeinen aus ihnen gut orientiren, so liessen sie doch oft bei speziellen Fragen im Stich. Sie waren eben alle nicht ausführlich genug. Auch fehlte ihnen wohl hier und da ein Theil des noth- wendigen juristischen Materials, das ja unter Umständen in irgend welchen Akten vergraben, dem Privatmann kaum zu¬ gängig war. Springfeld’s Buch ist das erste, welches auf diesem Ge¬ biete als lückenlos gelten kann. Alle Gerichtsentscheidungen, alle Polizeiverordnungen, die sich auf den Drogen- und Ge¬ heimmittelhandel beziehen, haben ihm zur Verfügung ge¬ standen und sind von ihm verwerthet bezw. wiedergegeben worden. Das Buch hat dadurch einen sehr erheblichen Um¬ fang gewonnen, und der oberflächliche Beurtheiler meint viel¬ leicht, dass die Folge der ausserordentlichen Ausführlichkeit, des Einstreuens zahlreicher Gerichtsentscheidungen u. s. w. nothwendiger Weise ein Mangel an Uebersichtlichkeit sein müsse. Wir sind dieser Meinung nicht. Mit Hilfe des guten Registers kann man sich bequem zurechtfinden, und wir hatten bereits persönlich Gelegenheit, uns davon zu über¬ zeugen, dass Einzelheiten, über die man in kleinen Kompen¬ dien schwerlich massgebliche Auskunft finden würde, aus dem * Springfeld“ ohne grosse Mühe zu ermitteln sind. Wir können daher das Buch den betheiligten Kreisen aufs Wärmste empfehlen. Blattern und Schutzpockenimpfung. Denkschrift zur Beurtheilung des Nutzens des Impfgesetzes vom 8. April 1874 und zur Würdigung der dagegen gerichteten Angriffe. Be¬ arbeitet im Kaiserlichen Gesundheitsamt. Dritte Auflage. Mit einer Abbildung im Text und 6 Tafeln. Berlin, Verlag von Julius Springer 1900. Preis 1,20 Mark. Die vorliegende dritte Auflage der Denkschrift «Blattern und Schutzpockenimpfung“ hat gegen die vorangegangenen nur insoweit Abänderungen erfahren, als die Fortführung der Statistik und die in der Zwischenzeit ergangenen behördlichen Anordnungen dies nothwendig machten. Dies gilt namentlich von den Beschlüssen des Bundesraths vom 28. Juni 1899, das Impfwesen betreffend, die an die Stelle der früheren Be¬ schlüsse vom 18. Juni 1885 getreten sind. Die Bedeutung der Denkschrift für die Beurtheilung des Nutzens der Schutzpockenimpfung und die Würdigung der dagegen gerichteten Angriffe ist so allgemein anerkannt, dass auch die gesetzgebenden Körperschaften bei wiederholten gegen das Impfgesetz gerichteten Angriffen sich der Wucht der hier niedergelegten Erfahrungstatsachen nicht zu entziehen ver¬ mochten. Im Interesse der öffentlichen Gesundheit und zur Förderung des Verständnisses für eine ihrer wichtigsten Mass- regeln kann der Hygieniker nur wünschen, dass die in der Denkschrift niedergelegten Thatsachen immer weiteren Kreisen nahe gebracht werden. Roth-Potsdam. Schelenz, Hermann. Frauen im Reiche Aeskulaps. Ein Versuch zur Geschichte der Frau in der Medizin und Phar¬ mazie unter Bezugnahme auf die Zukunft der modernen Digitized by Google 15. Dezember 1900. Aerztlicho Sachverständigen-Zeitung. 611 Aerztinnen und Apothekerinnen. Leipzig, Ernst Günthers Verlag. 1900. Preis M. 1,50. Der Verfasser scheint rettungslos zu den „ewig Gestrigen 0 zu gehören, denen — blind, wie sie nun einmal für die herr¬ lichen Errungenschaften der Frauenemancipation sind, — nicht zu helfen ist. Seine Schrift wird in dem Lager unserer streit¬ baren modernen Damen um so grössere Entrüstung hervorrufen, als ihre Ausführungen nicht auf theoretischen Erörterungen beruhen, denen man mit volltönenden Worten zu Leibe gehen kann, sondern die Wucht geschichtlicher Thatsachen als Waffe in dem Streit gegen die freie Frau führen, wogegen sich bekannt¬ lich schwer ankämpfen lässt. Die interessante Studie, welche ihren Stoff bis aus dem grauesten Alterthum herholt, lässt unseren Blick in manchen Abgrund der Frauenseele tauchen, und wenn man diese Dinge nimmt, wie sie eben von Natur sind, und nicht, wie man gern möchte, dass sie sein sollten, so sind diese gerichtlich beglaubigten Erfahrungen wohl ge¬ eignet, auch überzeugte Vertheidiger des freien Wettbewerbes von Mann und Frau stutzig zu machen. Freilich, aufhalten wird der Verfasser die Bewegung nicht, die schon allzusehr ins Rollen gerathen ist; aber uns Allen ist er ein dankens¬ werter Mahner, dass uns unter der Fülle der gegenwärtigen Ereignisse nicht noch mehr der Sinn für ihre historische Ent¬ wickelung abhanden komme. Wieviel Arbeitskraft wird täglich vergeudet, wieviel Fehler aufs Neue gemacht, weil wir geschicht¬ lich erhärtete Thatsachen nicht genügend in Rechnung setzen. Dass Verfasser in seinen Schlussfolgerungen diesen Boden nirgends verlässt, macht die Schrift um so beachtenswerter, schmeichelhaft sind dieselben für die moderne Frau allerdings nicht; aber nach dem Rezept: „die Anwesenden sind ausge¬ schlossen 0 sollen sie mehr den Zukünftigen gelten, während Verf. die vornehmen Eigenschaften der augenblicklichen Vor¬ kämpferinnen rückhaltlos anerkennt. Sie bleiben ihm aber immer die Ausnahmen, gegen deren breite Verallgemeinerung er begründeter Furcht einen hoffentlich nicht ganz überhörten Ausdruck verliehen hat. Preis M. 3,—. Marcinowski. Max Joseph und Georg Loewenbach. Dermato-histolo¬ gische Technik. Zweite vermehrte und verbesserte Auf¬ lage. Berlin 1900. Louis Markus, Verlagsbuchhandlung. Kaum ein Jahr ist seit dem ersten Erscheinen des Buches verflossen und schon ist die zweite vermehrte und verbesserte Auflage erschienen — dies wohl der beste Beweis, dass das Buch nicht nur einem vorhandenen Bedürfnis entsprach, son¬ dern dass es auch diese Lücke in zweckentsprechender Weise ausgefüllt hat. Und in der That haben die Verfasser es vor¬ trefflich verstanden, eine praktische, auf kritischer Auswahl vieler von ihnen persönlich geprüfter Methodeu basirende Anleitung zu histologischen Arbeiten sowohl für weniger Ge¬ übte, als auch für Fortgeschrittnere zu liefern und dadurch dem mikroskopisch forschenden Dermatologen das gesammte Rüst¬ zeug der dermato-histologischen Technik an die Hand zu geben. Mit diesen Vorzügen ausgestattet wird das Werk schnell zu seinen zahlreichen, bisherigen Freunden sich neue erwerben und bald in der Hand keines wissenschaftlich arbeitenden Der¬ matologen vermisst werden. Geb. M. 3,—. Ledermann. Jess, Dr. Paul. Kompendium der Bakteriologie und Blutserumtherapie für Thierärzte und Studirende. Berlin 1901. Richard Schoetz. 98 S. Auf keinem Gebiete wird die ärztliche und die thierärzt¬ liche Wissenschaft so eng und unauflösbar in ihrer ganzen Ent¬ wicklung und Anwendung verbunden als auf dem der Bak¬ teriologie. Das tritt so recht deutlich dem Leser des vor¬ liegenden kleinen Buches vor Augen: Eigentlich für Thierärzte geschrieben, enthält es doch nur wenig, was nicht auch für den Menschen-Arzt Interesse hätte, nur wenig fehlt darin, was die Bakteriologie menschlicher Krankheiten betrifft Da es im übrigen für den Arbeiter auf dem Gebiete der Bakteriologie und auf dessen Nachbargebieten ein trefflicher, mit glücklicher Mischung von Knappheit und Reichhaltigkeit geschaffener Rat¬ geber ist, können wir es der Aufmerksamkeit der Collegen auf¬ richtig empfehlen. _ Tagesgeschichte. Die Wiederbeschäftigung Unfallverletzter« In den Kreisen der Industriellen, aber auch in denen der Aerzte hört man oft darüber reden, dass das Unfallver¬ sicherungsgesetz unter den Unfallverletzten eine gesteigerte Begehrlichkeit, einen verminderten Antrieb zur Selbsthilfe ge¬ schaffen habe. Diese Umstände allein seien an der auffallen¬ den Vermehrung der Erwerbsbeeinträchtigungen durch Unfälle gegen früher, insbesondere auch an dem Auftreten der zahl¬ reichen Fälle von Unfallnervenschwäche, -hysterie und -hypo- chondrie schuld. Früher hätten die Leute, wenn sie nicht gar zu sehr verkrüppelt worden wäreu, eben wieder angefangen zu arbeiten und es nach und nach gelernt, ihre Unfallfolgen aus¬ zugleichen. Es ist gut, wenn die Sachlage einmal auch von einer anderen Seite beleuchtet wird, und hierzu kann der Verlauf einer Sitzung dienen, welche der Verein für Unfall¬ verletzte in Berlin vor einigen Tagen abgehalten hat. Dieser Verein, dem Industrielle, Verwaltungsbeamte, Vertrauensärzte von BerufsgenosBenschaften und Schiedsgerichten u. 8. w., im Ganzen bisher 288 Personen, angehören, hat sich bekanntlich u. A. die Aufgabe gestellt, Unfallverletzten beim Aufsuchen von Arbeitsgelegenheit behilflich zu Sein. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe hat er im ersten Jahre seines Bestehens einen traurigen Misserfolg erlitten. Lassen wir die Zahlen sprechen: Durch Bemühungen des Vereins, Unfallverletzte bei ihren bisherigen Arbeitgebern wieder unterzubringen, gelang es bis¬ her einem Bewerber Beschäftigung zu verschaffen. Ferner wurde ein Flugblatt in 900 Exemplaren an die Leiter grosser industrieller Unternehmungen versandt, worin sie ersucht wurden, das Vorhandensein leichter, für Verletzte geeigneter Arbeit gegebenen Falls dem Bureau des Vereins mitzutheilen. Es antworteten 18 Firmen, darunter 13 zustimmend. Und von diesen 13 gaben 2 bestimmte Stellen an, in die sie bereit waren, Unfallverletzte einzustellen. Ein weiterer Versuch wurde in der Erwägung angestellt, dass vielleicht bestimmte Fabrikationszweige besonders geeignet zur Unterbringung ver¬ mindert erwerbsfähiger Personen sein würden. Es wurden 218 Fabrikanten des gleichen Gewerbszweiges um Beschäftigung Arbeitsuchender angegangen, eine Antwort ging jedoch überhaupt nicht ein. So konnten also von 218 Arbeit¬ suchenden nur 6 untergebracht werden. Mit tiefem Bedauern müssen Alle, denen die Arbeitef- wohlfahrt und der Ausgleich der bei der Ausführung des Unfallgesetzes obwaltenden Schwierigkeiten am Herzen liegt, diese Mittheilungen vernehmen. Frei von aller Tendenz ist hier gewissermassen unfreiwillig der Beweis geführt worden, dass keineswegs blos die Arbeiter, sondern auch die Verhältnisse des Arbeitsmarkts und zum Theil sicher auch die Haltung der Arbeitgeber die segensreiche Wirkung der Gesetze erschweren. Wir verkennen ja garnicht, dass zahlreiche Arbeitgeber die in ihren eigenen Betrieben verunglückten Arbeiter nach Möglich¬ keit wieder beschäftigen. Viele Andere haben sicherlich für einen Erwerbsverminderten keine passende Arbeit. Manche sagen sich wohl auch, dass es vortheilhafter ist, zu jeder Arbeit Vollgesunde zu nehmen, vielleicht Jugendliche oder Frauen, die Digitized by LjOOQie 512 Aerztllohe Sachverständigen-Zeitung. No. 24. ja in grosser Zahl zur Verfügung stehen. Aber all diese Er-' wägungen helfen uns nicht über die Annahme eines gewissen Indifferentismus hinweg, der manche industrielle Kreise gegen¬ über der Arbeiterfürsorge beherrscht. Der Verein für Unfallverletzte wird seine Bemühungen in derselben Richtung wie bisher unentwegt fortsetzen. Wir Aerzte zweifeln nicht daran, dass, wenn die Industriellen die Wiedereinstellung Erwerbsverminderter als eine Art Ehren¬ pflicht betrachten werden, wie dies Einzelne jetzt schon thun, nicht nur die Arbeiter sondern auch die Berufsgenossenschaften und somit die Arbeitgeber besser fahren werden, als bisher. Eine Unfallstatistik für die Land- und Forstwirtschaft soll im Jahre 1901 erhoben werden, nachdem seit zehn Jahren eine derartige Statistik nicht aufgenommen worden ist. Die Wiederholung der Statistik nach dem Ablaufe eines zehnjähri¬ gen Zeitraums erscheint um so mehr geboten, als in dem neuen Unfallversicherungsgesetze auf die Unfallverhütung und die Ueberwachung der Betriebe grösserer Nachdruck gelegt ist, die erforderlichen Massnahmen aber zur Voraussetzung habeu, dass die Unfallhäufigkeit nach Art undUrsache der Unfälle thunlichst aufgeklärt wird. Zur Durchführung der Er¬ hebung sollen Zählkarten ausgefüllt werden für jeden Verletzten, für den eine Unfallentschädigung im Jahre 1901 zum ersten Male festgestellt worden ist. Die Zählkarten werden viertel¬ jährlich von den Berufsgenossenschaften dem Reichsversiche¬ rungsamte eingereicht und dort bearbeitet, wobei auf die Ver¬ gleichbarkeit der Ergebnisse mit der 1891er Statistik und mit der 1897 aufgenommenen Oewerbeunfallstatistik thunlichst Bedacht genommen werden soll. Die Kosten der Erhebung werden vermutlich 57 000 Mark betragen, wovon als erste Rate 20000 Mark in den Etatsentwurf für 1901 eingestellt worden sind. (Voss. Ztg.) Die Invalidität»- und Altersversicherung im Reiclis- haushalts-Etat. Die Erweiterung, welche der Reichs-Zuschuss zur In¬ validen- und Altersversicherung im Reichshaushalts-Etat für 1901 erfahren hat, ist aussergewöhnlich gross ausgefallen, weil durch das am 1. Januar 1900 in Kraft getretene neue Invalidenversicherungsgesetz die Zahl der Rentenansprüche sich gegen früher recht stark gehoben hat. Während im Jahre 1899 in jedem Vierteljahre rund 24000 Invalidenrenten und 4300 Altersrenten bewilligt wurden, belief sich deren Zahl im ersten Vierteljahre 1900 auf rund 30000 und auf 6300. Man rechnet für das Jahr jetzt auf einen Zugang von 130000 Invaliden- und Altersrenten, während 1899 nur rund 114000 Renten be¬ willigt wurden. Deshalb ist der Reichszuschuss um 4,4 Mil¬ lionen Mark gegen das laufende Jahr erhöht und mit 34,1 Mil¬ lionen Mark im Etat zum Ansatz gebracht. Dies ist aber nicht die einzige Summe, welche das Reich für die Arbeiterversiche¬ rung aufbringt. Zunächst kommt dabei noch die Ausgabe in Betracht, welche die höchste Instanz in Arbeiterversicherungs¬ sachen, das Reichs-Versicherungsamt, verursacht. Sie ist für 1901 auf 1,8 Millionen Mark veranschlagt. Ferner hat das Reich als Arbeitgeber unmittelbar Beiträge für die Versicherung der in seinen Betrieben beschäftigten Arbeiter zu zahlen. Hier kommen hauptsächlich die Militär- und die Marineverwaltung in Betracht. Bei der ersteren sind die entsprechenden Summen im Etat für 1901 mit rund 900000 und bei der letzteren mit rund 600000 Mark zum Ansatz gelangt. Dazu kommen noch die Ausgaben kleinerer Betriebsverwaltungen, wie die Reichs¬ druckerei u. s. w. Jedenfalls hat sich auch diese Ausgabe mit der Zeit erheblich gesteigert. Sie wird für 1901 bereits die Summe von l 1 /? Millionen Mark übersteigen. Diesen Summen gemäss berechnet sich die Gesammtausgabe des Reichs für Arbeiter versicherungszwecke im nächsten Etatsjahr auf mindestens 37V 2 Millionen Mark. (D. Arb.-Ztg.) Anstaltskuren für Trinker auf Kosten der Invaliden¬ versicherung. Offiziös wird daraufhingewiesen, dass die Landesversiche- rungsanstalten berechtigt und geneigt sind, Trinkern die Kosten für eine Anstaltskur zu bewilligen, wenn Aussicht vorhanden ist, dass durch eine solche dem „Eintritt der Invalidität vor¬ gebeugt werden kann. Dem Antrag ist ein ärztliches Zeug¬ nis» über die Heilungsaussicht beizugeben, ausserdem aber das schriftliche Erbieten einer geachteten Persönlichkeit bezw. eines Mässigkeits- oder Enthaltsamkeitsvereins, die dem „geheilt“ Entlassenen zur Pflicht zu machende lebenslängliche Abstinenz auf Jahre hinaus zu überwachen. Die Landesversicherungs¬ anstalt Schleswig-Holstein hat bereits in einer Anzahl von Fällen die Aufnahme von Trinkern in die Anstalt Salem ver¬ anlasst. _ Gesetzlicher Schutz der Arbeiterinnen. Im Reichstage ist seitens der sozialdemokratischen Frak¬ tion ein Antrag auf Abänderung der Bestimmungen zum Schutz weiblicher Arbeiter eingebracht worden, welcher zum Theil die rein ärztliche Seite der Arbeiterinnenfrage zum Gegenstände hat. Es sollen Arbeiterinnen nicht beschäftigt werden: 1. Bei solchen Arbeiten, die besonders dem weiblichen Organismus schädlich sind, 2. während der ersten 6 Wochen nach einer Fehlgeburt oder Niederkunft; wenn das Kind lebt, während der ersten 8 Wochen, wenn der Arzt schriftlich die Nothwendigkeit län¬ gerer Schonung bescheinigt, noch länger. (Für die ganze Zeit ihres Fernbleibens sollen sie aus einer Krankenkasse täglich mindestens den Betrag ihres Tagelohns erhalten.) 3. Während der Nachtzeit, 7 Uhr Abends bis 6 Uhr Mor¬ gens, an Sonn- und Feiertagen und an den vorhergehenden Nachmittagen, 4. länger als 10 Stunden täglich. Zu 3. ist noch hiuzugefügt, dass schwangere Arbeiterinnen berechtigt sein sollen, ohne Einhaltung der Kündigungsfrist vier Wochen vor ihrer zu erwartenden Niederkunft, auf ärztliches Erfordern noch früher die Arbeit einzustellen und dass sie in gleicher Weise wie die Entbundenen entschädigt werden sollen. Die Pocken in Warschau. Nach amtlicher Meldung sind in Warschau vom 30. Sep¬ tember bis 10. November 149 Pockentodesfälle vorgekommen. Die Todesfälle beim Müitär sind dabei noch nicht mitgerechnet. Gegen das Vorjahr ist eine Steigerung der Pockensterblichkeit von 3,4 auf 25 zu verzeichnen. Der Uebelstand wird, den Veröffentlichungen des Kaiserl. Gesundheitsamts zu Folge, noch durch einen grossen Mangel an Krankenhausbetten, be¬ sonders für ansteckende Krankheiten verschlimmert. Die Po¬ lizei fordert durch Strassenplakate die Einwohner auf, sich impfen zu lassen, von den Zöglingen öffentlicher Lehranstalten werden Impfscheine verlangt. So ganz zufällig, wie die Impfgegner meinen, scheint es doch nicht zu sein, dass gerade Deutschland fast pockenfrei ist. An unsere Leser. Wir bringen mit der heutigen letzten Nummer dieses Jahrgunges ein ausführliches Inhaltsregister desselben, aus welchem die Leser der Aerztlichen Sachverständigen- Zeitung sich über einschlägige Fragen der ärztlichen Begutachtung nach Bedarf Orientiren können. Verantwortlich für den Inhalt; Dr. F. Leppmann in Berlin. — Verlag und Eigenthnm von Richard Schoeta in Berlin. — Druck von Albert D&mcke, Berlin-Bchöneberg. Digitized by 1 Google Digitized by Digitized by Digitized by